Klaus Merz wird mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2024 ausgezeichnet.

Mit dem Grand Prix Literatur 2024 würdigt das Schweizer Bundesamt für Kultur Klaus Merz für sein Lebenswerk und verleiht ihm damit die höchste literarische Auszeichnung des Landes.

„Innenschau und sprachliche Verdichtung prägen das Werk von Klaus Merz. Mit dem Aargauer Autor wird eine eher leise, jedoch umso eindringlichere und gewichtige Stimme ausgezeichnet, die einen Echoraum weit über die Schweizer Grenzen hinaus findet.“

 

Mit den 2012 eingeführten Schweizer Literaturpreisen ehrt das Bundesamt für Kultur jährlich Kulturschaffende und würdigt ihre Werke. Die Preise und Auszeichnungen berücksichtigen alle vier Sprachregionen der Schweiz und die verschiedenen literarischen Gattungen.

Die Preisverleihung findet am Freitag, 10. Mai 2024 um 18 Uhr im Stadttheater Solothurn, im Rahmen der Solothurner Literaturtage statt.

© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des Kamels. Geschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze Durchsage. Gedichte & Prosa (1995), Jakob schläft. Eigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein. Roman (1998), Garn. Prosa & Gedichte (2000), Adams Kostüm. Drei Erzählungen (2001), Das Turnier der Bleistiftritter. Achtzehn Begegnungen (2003), Löwen Löwen. Venezianische Spiegelungen (2004), LOS. Erzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas Miniaturen. Erzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte Blick. Sehstücke (2007), Der Argentinier. Novelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem Staub. Gedichte (2010), Unerwarteter Verlauf. Gedichte (2013), Helios Transport. Gedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweitert er seine Publikationen um Noch Licht im Haus.

Eine Krimireise um die Welt: Leseprobe aus „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ von Edith Kneifl

Edith Kneifl entführt mit „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ ihre Leser*innen aus dem Alltag und nimmt sie mit auf 18 literarische Reisen zu verschiedensten Traum-Urlaubsorten zwischen Wüstenglut, Meeresbrise und Großstadtdschungel. Die Grande Dame des österreichischen Krimis weiß, was das Sommerlektüreherz begehrt: Liebe und Hass, Sehnsucht und Vergeltung, fatale Beziehungen und einen ordentlichen Schuss Humor. So genießt man Krimis aus aller Welt bequem von Balkonien aus und bekommt vielleicht sogar die eine oder andere Idee für den nächsten Urlaub. Tauch ein in eine Welt voller Spannung und hol dir einen ersten Eindruck mit dieser Leseprobe.

 

Das Haus am Fluss

Das einstöckige Haus an der Themse stand seit langem leer. Hin und wieder sah man Harry im Garten die Hecken stutzen. Er war nicht mehr der Jüngste. Sein Haar war ergraut und spärlich geworden, aber er hatte sich sein kindliches Lächeln bewahrt. Harry kam jeden Tag hierher, so wie früher, als Miss Guinney noch hier wohnte. Er war ihr Mädchen für alles gewesen.
Eines Nachts war sie von einem Ausflug nach London nicht mehr zurückgekehrt.
Nach ihrem Verschwinden tauchten zwei Polizisten auf und stellten Harry Fragen, die er nicht beantworten konnte. Er beteuerte nur immer wieder, nicht zu wissen, wo sich seine Herrin aufhielt.
Nach dem Besuch der Polizei machten viele böse Geschichten die Runde. Harry hörte den Männern im Pub aufmerksam zu, äußerte sich aber nicht dazu, obwohl er Miss Guinney als Einziger näher gekannt hatte. Selbst wenn es stimmte, was die Leute erzählten, seine Miss würde schon ihre Gründe gehabt haben.
Miss Guinney war eine attraktive Frau, groß und schlank und mit breiten Schultern wie ein Mann. Das Schönste an ihr waren ihre langen blonden Haare. Sie trug sie nie offen, sondern immer straff nach hinten gekämmt und hochgesteckt, was sie sehr streng aussehen ließ. Man konnte sich jedoch vorstellen, wie prachtvoll es sein musste, wenn sie über ihren muskulösen Rücken flossen. Harry hätte zu gerne ihr Haar einmal offen gesehen, aber er wagte es nicht, sie heimlich beim Kämmen zu beobachten.
All ihre Zimmer lagen im Obergeschoss, ein Schlafzimmer, ein Kabinett, das ihr als Ankleideraum diente, ein Bad und noch ein Raum, der immer versperrt war. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche, ein Esszimmer und ein geräumiger Salon, der einer überdimensionalen Rumpelkammer glich. Sosehr Harry sich auch bemühte, Ordnung zu schaffen, Miss Guinney gelang es immer wieder in kürzester Zeit, ein Chaos zu hinterlassen. Jeden Vormittag fand er schmutzige Gläser, leere Tonic- und Gin-Flaschen und überquellende Aschenbecher im Salon. Auf dem Orientteppich lagen die Kleider, die sie am Vortag getragen hatte. Er ließ sie jede Woche reinigen, obwohl er wusste, dass Miss Guinney sie ohnehin kein zweites Mal mehr anziehen würde.
Die Fenster des Salons gingen zum Fluss hinaus. Der Blick auf das liebliche Themse-Tal war fantastisch. Der Fluss schlängelte sich durch zwei steinerne Brücken, die von Trauerweiden umrahmt wurden. Die prächtigen Herrenhäuser am anderen Ufer ließen sich allerdings nur erahnen. Sie versteckten sich in verwunschenen Parkanlagen. Aus der Ferne grüßte ein Kirchturm. Dahinter erhoben sich sanfte grüne Hügel. Ins nächste Dorf brauchte man zu Fuß eine Viertelstunde. Doch Miss Guinney pflegte nicht oft zu Fuß zu gehen. Sie stand nie vor Mittag auf. Nachmittags saß sie dann meist draußen auf der überdachten Veranda und gab sich dem Müßiggang hin. Den prächtigen Garten, der bis zur Themse hinunterreichte, betrat sie nur selten, er war Harrys Reich.
Liebevoll kümmerte er sich um die Rosen, Hortensien und Rhododendronsträucher. Er hatte nur Blumen in Miss Guinneys Lieblingsfarben Pink und Violett gepflanzt. Verirrte sich hin und wieder ein andersfarbiges Gewächs hierher, wurde es sofort von ihm entfernt.
Während ihrer Mußestunden durfte er sich im Garten nicht blicken lassen. Als er es einmal wagte, nachmittags den Rasen zu mähen, erhob sie ihre Stimme. Es war das einzige Mal in all den Jahren, dass er ein scharfes Wort zu hören bekam. Daraufhin ließ er sich zwei Tage nicht bei ihr blicken.
Sonst sprach sie immer mit leiser Stimme, in der ein gewisses Gähnen lag. Es schien, als würde sie das Sprechen langweilen. Harry sprach auch nicht gern, nicht nur weil die meisten Leute lachten, wenn er den Mund aufmachte, sondern weil er nichts zu sagen hatte. Anfangs dachten die Dorfbewohner, Miss Guinney müsse immens reich sein oder irgendwo einen reichen Ehemann versteckt halten, denn sie besaß Unmengen von Schmuck und teuren Kleidern. Sie zog sich nicht nur täglich zweimal um, sondern trug auch jeden Tag etwas anderes. Man sah sie nie zweimal im selben Kleid. Sie hatte das Haus vor nunmehr sieben Jahren relativ günstig erstanden, weil es sehr nahe am Fluss lag, feucht war und schon halb verfallen, als sie einzog. Früher hatten Überschwemmungen Haus und Garten übel mitgespielt, doch seit flussaufwärts ein Staudamm errichtet worden war, gab es keine Probleme mehr mit dem Hochwasser. Die Grundstückspreise waren mittlerweile stark gestiegen.
Das romantische Thames Valley war eine begehrte Wohngegend, nicht nur wegen der Nähe zu Schloss Windsor und der Universitätsstadt Oxford, sondern auch, weil die Hauptstadt des Britischen Empires mit dem Auto in einer guten Stunde erreichbar war.

 

 

Das entzückende Cottage stammte aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Es war umgeben von üppiger Vegetation und sah sehr hübsch aus, nachdem Harry es renoviert hatte. Doch in letzter Zeit ließ Miss Guinney es wieder verkommen. Sie wollte ihre Ruhe haben und erlaubte Harry weder das undichte Dach zu reparieren noch die verrostete Gartenpforte zu erneuern. Die Gerüchte über ihr sagenhaftes Vermögen verstummten. Eine Frau mit Geld würde doch so ein schmuckes Häuschen nicht verwahrlosen lassen, sagten sich die Nachbarn, und die Neider wurden weniger. Miss Guinneys Alter ließ sich schwer schätzen. Sie hatte sich in den sieben Jahren, die sie hier lebte, kaum verändert. Die Meinungen über ihre Schönheit waren jedoch geteilt. Manche fanden sie früher hübscher, andere wieder behaupteten, sie würde von Jahr zu Jahr schöner. Auffällig war, dass sie keinen Mann hatte. Sie ließ sich nicht nur Miss nennen, sondern man sah sie auch nie mit einem männlichen Wesen. Außer mit Harry natürlich, aber der war ein armer Narr. Böse Zungen unterstellten ihr, dass sie nur so viel Sorgfalt auf ihr Aussehen verwendete, um sich einen Mann zu angeln. Im Dorf lebte ein Mann, der es besser wusste. Er hatte sich ein Jahr lang vergeblich um ihre Gunst bemüht. Obwohl er nicht übel aussah und sogar über das nötige Kleingeld verfügte, um einer anspruchsvollen Frau fast jeden Wunsch erfüllen zu können, hatte sie ihn ebenso abgewiesen wie alle anderen, die es bei ihr versucht hatten.

Miss Guinney war nicht unfreundlich zu ihren Verehrern, sie behandelte alle gleich oder, besser gesagt, gleichgültig. Sie war nicht arrogant, sondern einfach nur desinteressiert an anderen.
Kein Mensch, außer Harry, überschritt je die Schwelle ihrer Haustür. Sie empfing keine Gäste, hatte keine Freunde, nicht einmal Bekannte. Den Nachbarn schenkte sie ein kurzes Nicken, wenn sie ihnen zufällig auf der Straße begegnete. Da sie selten ausging, brauchte sie auch nicht oft zu nicken. Direkte Nachbarn hatte sie sowieso keine. Das nächste Haus lag mindestens hundert Meter entfernt. Ohne komplizierte Ausreden zu erfinden, lehnte sie jede Einladung ab. Während der letzten Jahre belästigte man sie nur mehr selten mit Einladungen. Das Interesse an ihr flaute ab.
Miss Guinney besaß selbst ein altes Boot mit einem Außenbordmotor. An besonders heißen Tagen fuhr sie hinaus und ließ sich von der Strömung flussabwärts treiben. Sie war dann oft stundenlang unterwegs, da die Rückfahrt mit dem schwachen Motor mühselig war. Auch während dieser Bootsfahrten war sie immer elegant gekleidet. Harry hatte sie noch nie in Shorts oder gar in einem Badeanzug gesehen.
Er genoss vor allem die Ruhe in ihrem Haus. Es gab nicht viel zu tun. Nur selten trug sie ihm Besorgungen auf. Sie war auch nicht anspruchsvoll, was das Essen betraf, sondern begnügte sich meistens mit Salat, Sandwiches oder Fish & Chips.
Wenn es draußen kühl wurde, begab sie sich in ihre Zimmer im ersten Stock und erschien erst zum Abendessen wieder, entsprechend gekleidet und noch schöner als am Tag. Harry servierte ihr das Dinner im Esszimmer. Er aß in der Küche, bekam aber das Gleiche wie sie. Nach dem Essen ging er nach Hause. Er wohnte unten am Fluss in einem vermoderten Bootshaus, das ebenfalls zum Cottage gehörte. In den Wintermonaten ließ ihn der Wirt in einem Abstellraum des Pubs schlafen. Harry war in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, Miss Guinney zu fragen, ob er nicht in der Küche auf der Bank des riesigen Kachelofens schlafen dürfe. Was sie an den langen Abenden allein zu Hause machte, wusste er nicht. Vielleicht sah sie fern? Es brannte immer sehr lange Licht im ersten Stock, aber die dunklen Vorhänge waren zugezogen, in dem einen verschlossenen Raum auch tagsüber.
An den Wochenenden hatte Harry frei. Anfangs war er auch samstags erschienen. Sie hatte ihm jedoch freundlich, aber bestimmt zu verstehen gegeben, dass sie ihn bis Montagmittag nicht zu sehen wünschte. Harry hasste die Wochenenden. Er vertrieb sich die Tage mit Fischen und hing abends meistens im Pub herum.
Die Leute waren bald dahintergekommen, dass Miss Guinney jeden Samstag das Dorf verließ. Nachmittags, immer um die gleiche Zeit, stieg sie in ihren alten pinkfarbenen Bentley und raste die Landstraße hinunter. Einer ihrer Verehrer hatte einmal versucht, ihr nachzufahren. Bis nach London war er ihr gefolgt. Am Stadtrand hatte sie ihn abgeschüttelt. Auch bei seinem zweiten Versuch war sie ihm entwischt.
Anfangs munkelte man allerlei über diese regelmäßigen Ausflüge von Miss Guinney. Dann einigte man sich darauf, dass sie schließlich irgendwann ihre Einkäufe erledigen musste. Ab diesem Zeitpunkt galt der Samstag als Miss Guinneys Einkaufstag. Allerdings kehrte sie oft erst in den frühen Morgenstunden aus London zurück. Manchmal war es bereits hell, wenn Harry den Motor ihres Wagens hörte. Den Bentley parkte sie immer neben dem Cottage unter einer alten Esche.
Der Garten war umgeben von hohen Hecken und nur von der Themse aus einsehbar. Ein besonders hartnäckiger Bewunderer hatte eine Zeitlang versucht, sich ihr vom Fluss her zu nähern. Doch sie hatte sich sofort in ihr Haus zurückgezogen, wenn sein Boot aufgetaucht war. Schließlich gab er auf. Ebenso wie die gefürchteten anglikanischen Frauenvereine bald aufgaben, Miss Guinney als Mitglied gewinnen zu wollen. Sie wurde für verrückt erklärt, nicht so verrückt wie Harry, aber auch sie schien eben nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Die Damen verloren das Interesse an ihr und ihren Ausflügen nach London.
Bis sie eines Tages nicht mehr zurückkam. Man wartete einen Tag, zwei Tage, nahm an, sie wäre verreist. Aber Harry schien nichts von einer Reise zu wissen. Als sie nach zwei Wochen noch immer nicht aufgetaucht war, begann die Polizei erneut Nachforschungen anzustellen. Sie brachen die Haustür auf, da Harry behauptete, keinen Schlüssel mehr zu haben. Miss Guinney hatte ihm alle Schlüssel abgenommen, als sie ihn hinausgeworfen hatte. Nach ihrer letzten London-Tour hatte sie Harry in ihrem Bett vorgefunden und kurzerhand vor die Tür gesetzt.
Die Polizisten machten selbst vor dem ersten Stock nicht halt. Harry versuchte, die Police officers daran zu hindern, Miss Guinneys Schlafzimmer zu betreten, denn sie hätte niemals geduldet, dass diese wildgewordene Horde in ihr kleines privates Reich eindrang. Nicht einmal er hatte den ersten Stock betreten dürfen. Aber gegen diese Meute von Scotland Yard hatte er keine Chance. Verzweifelt klammerte er sich an die Beine eines Inspektors. Dieser versetzte ihm einen heftigen Stoß und Harry stürzte die Treppe hinunter. In dem mysteriösen Zimmer im ersten Stock entdeckten die Männer von Scotland Yard dann Anzüge in allen Größen, Maßhemden, Lederschuhe, goldene Uhren und leere Brieftaschen.
Miss Guinney hatte sich ein sonderbares Museum eingerichtet. Zuerst dachte die Polizei, sie hätte diese Sachen nur gestohlen. Später stellte sich heraus, dass die Besitzer dieser hübschen Sachen als vermisst gemeldet waren, verschollen in der fernen Großstadt, manche schon vor Jahren.
Die Gerüchte überstürzten sich. Die schöne Miss Guinney musste sehr wählerisch gewesen sein.
Anscheinend hatte sie sich nur mit wohlhabenden Männern eingelassen.
Der Londoner Nobelstrich wirkte verwaist ohne sie, „die Lady im Bentley“, wie sie von ihren Kolleginnen respektvoll genannt worden war, da sie ihren Kunden immer in ihrem schönen Wagen zu einem letzten Genuss verholfen hatte.
Als Harry abends aus dem Pub in das Bootshaus zurückkehrte, erzählte er Miss Guinney, dass die Polizei heute nicht nur die Leichen von drei ihrer ehemaligen Kunden, sondern auch ihren alten pinkfarbenen Bentley im Stausee gefunden hatte.
Miss Guinney antwortete ihm nicht. Sie konnte nicht, lag sie doch unter den morschen Brettern des Bootshauses, friedlich schlummernd im Schlammbett des Flusses. In ihrem weißen langen Hals steckte eine Heckenschere. Der Knoten in ihrem Haar hatte sich gelöst. Die langen blonden Strähnen breiteten sich auf den sanften Wellen der Themse aus. Harry entfernte zwei Bretter. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem wundervollen Haar, das sie endlich offen trug.

„Hier in Venedig bin ich eine Göttin.“ – Ein geheimer Tagebucheintrag von Astrid Vollrath

Astrid Vollrath, die neue Romanheldin von Krimödien-Queen Tatjana Kruse, reist nach Venedig, um sich dort von ihrem Liebeskummer abzulenken. Wie gut es Astrid gelingt, ihren betrügerischen Ex-Partner zu vergessen und welche kuriosen Abenteuer sie in Venedig erlebt, erfährst du in diesem exklusiven Tagebucheintrag.

 

Aus dem Tagebuch der Astrid V.

Tag 1 in Venedig

Ich fühle mich großartig!
Habe heute den ganzen Tag kein einziges Mal an Hagen gedacht, diesen Arsch auf zwei Beinen.
Na gut, ein-, zweimal schon. Nach dem Aufwachen. Und ganz kurz unter der Dusche. Eingeseift, geschluchzt, geheult, weitergeseift. Aber Tränen, die augenblicklich weggespült werden, gelten nicht.

Was gilt, ist die Tatsache, dass ich jetzt in Venedig bin.

Venedig!

Schon seit immer ein Sehnsuchtsort von mir. Jetzt im Sommer einen Ticken zu schwülheiß und touristenvoll, aber trotzdem … Venedig!

Zugegeben, das mit der Männerleiche, die auf meinem Weg zum Markusplatz im Kanal dümpelte, war jetzt nicht so prickelnd. Es hieß, er soll in eine Schiffsschraube geraten sein. Aber es war ja kaum etwas von dem Toten zu sehen. Nur die Hosenbeine. Da muss ich jetzt nicht so tun, als hätte mich das auch nur annähernd so traumatisiert wie der haarige Wipphintern von Hagen zwischen den Beinen unserer Nachbarin. Trotzdem, das soll mir eine Mahnung sein, dass das Leben kurz ist und man es genießen muss!

Und ja, dass in die Ferienwohnung eingebrochen wurde, während ich unterwegs war und man mir mein Handy gestohlen hat, hinterlässt schon einen kleinen Kratzer im Lack meiner Glückseligkeit.

Aber ich habe auf einen Schlag fünfundneunzig untreue Kilo verloren – ich fühle mich leicht und frei. Und ich wurde von einem eleganten Fremden zu einer Gondelfahrt eingeladen! Er hat im Gegenzug nichts weiter von mir erwartet, als mir den Handrücken küssen zu dürfen. Voll die Hollywoodszene.

Und das mir. Einer unspektakulären Steuerfachfrau aus Süddeutschland. Die ungewohnt spontan in den Zug nach Venedig stieg, nachdem sie ihren Lebens-Schrägstrich-Kanzleipartner bei der Matratzengymnastik mit Frisöse Gabi erwischt hat.

Und jetzt liege ich hier auf dem Bett der schnuckeligen Dachkemenate, die ich last minute ergattern konnte – in einem Palazzo voller Dogenköpfe aus Gips. Mein Vermieter heißt Cesare Foscarelli – was einem quasi auf der Zunge zergeht –, und er sieht selbst aus wie ein Doge. Der Palazzo ist ein wenig in die Jahre gekommen und verratzt, und Cesares Familie erinnert an eine Freakshow. Schon deswegen, weil sie in der Küche Piranhas in einem Aquarium halten. Piranhas!

Egal. Ich wollte einfach nur möglichst weit weg und mein Unglück vergessen. Das ist mir gelungen.

Hier ist alles ganz anders als daheim. Aufregend neu und ungewohnt. Ich wage mich auf völlig neues Terrain vor, und das ganz ohne meine üblichen To-Do-Listen. Sonst habe ich immer großen Wert darauf gelegt, penibelst auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet zu sein. Nicht hier! Venedig macht aus mir eine ganz neue Frau.

Und habe ich schon geschrieben, dass mich ein Fremder zu einer Gondelfahrt eingeladen hat? Wie geil ist das denn bitteschön?!
Ich fühle mich sexy und schön und begehrenswert. Ich werde ohne Hagen nicht verdorren und einschrumpeln und altjüngferlich in ein frühes Grab sinken. Im Gegenteil! Männer werfen sich mir bereits jetzt, am Tag eins nach Hagen, zu Füßen – vielleicht keine hochgewachsenen, blonden Wikingertypen, dafür aber kleine, perfekt gebaute, dunkelhaarige, samtäugige Lockenträger aus der Lagunenstadt.

Gut möglich, dass ich im Laufe des Tages hin und wieder leise vor mich hingeschnurrt habe.
Hier in Venedig bin ich eine Göttin.

Das ist mein neues Ich.

Eine unwiderstehliche Femme fatale.

Kicher, ich hatte offenbar zu viel von dem Rotwein, den Cesare spendiert hat.

Okay, might delete later.

Nee, besser noch, ich reiße die Seite gleich aus dem Tagebuch. Wenn das jemals wer lesen sollte, wäre mir das doch voll peinlich. Sogar posthum noch.

Ich habe mich ein einziges Mal in meinem Leben für das Ungewohnte entschieden, für das Spontane, für das Abenteuer. Das macht aus mir noch keine „Bond, Jane Bond“.

Ich bin eine Astrid. Mit einem Astridleben. Und das ist voll okay so!

Obwohl …

 

Absolut suchtgefährlich: „Tagebuch einer Wasserleiche aus dem Canale Grande“ von Tatjana Kruse.

 

Astrid muss weg von daheim! Sie findet heraus, dass ihr Partner sie betrügt, und will ihren Herzschmerz in Venedig kurieren, einem Sehnsuchtsort ihrer Bucketlist. Nichts lenkt besser von einer traumatischen Trennung ab als die wunderschöne Serenissima. Denkt Astrid.
Aber: Statt romantischem Dolce Vita und köstlichem Vino findet sie in der Stadt der Gondeln und Kanäle vor allem Hitze. Und Leichen. Jede Menge Leichen. Denn die „Familie“ ihres Gastgebers Cesare handelt mit weit mehr als nur mit Dogenköpfen aus Gips. Astrid gerät unversehens in mafiöse Verstrickungen. Entführungsversuche, Verfolgungsjagden in Motorbooten, Schläger und Schmuggler – immerhin wird Astrid dadurch von ihren privaten Kümmernissen abgelenkt. Aber wird sie diese ungeplanten Abenteuer auch überleben?. 

Klick hier, um mehr über Astrids Abenteuer in Venedig zu erfahren.

„Gerade für queere Lebensrealitäten braucht es auch Fantasie, sich ein Leben über die bestehenden Normen hinaus vorzustellen“ – Luca Mael Milsch im Interview

Wie werde ich zum Menschen, der ich sein möchte? Wie kann ich überhaupt herausfinden, wie diese Person sein soll, welche Dinge ihr wichtig sind? Wie kann ich mich befreien, von Erwartungen, Einschränkungen, Denkmustern, die mich über mein ganzes bisheriges Leben hinweg so stark geprägt haben?
Im Gespräch mit Autor*in Luca Mael Milsch über Lucas Debütroman „Sieben Sekunden Luft“ wird klar, dass es nicht einfach ist, sich diesen zentralen Lebensfragen zu stellen. Aber auch, dass das Ergründen dieser Fragen ein Überlebensmittel sein kann. Wie viel Mut, Klarheit und auch Vorstellungskraft es benötigt, an so vielen vermeintlichen Gewissheiten zu rütteln, das geht aus diesem Interview hervor. Nicht zuletzt aber auch, welchen Schmerz rigide gesellschaftliche Vorstellungen verursachen – bei jenen, die sich verbiegen, um diesen Normen entsprechen zu können und bei jenen, die sich ihrer entledigen und vor den Puzzleteilen ihrer Identitätskonstruktion stehen. Wir haben uns mit Luca Mael Milsch ausführlich unterhalten – über den Roman, Glaubenssätze, Verantwortung und Sichtbarkeit.

Hallo Luca, wie geht es dir?

Ich bin aufgeregt und neugierig! Es ist kurz vor Erscheinen des Romans. Ich frage mich, wie die Menschen ihn lesen werden. Bisher habe ich schon sehr berührende Nachrichten bekommen und ich bin gespannt auf die persönlichen Begegnungen bei den Veranstaltungen.

Dein Roman thematisiert – unter anderem – die Komplexität des Menschseins und die Unmöglichkeit eines freien Selbst. Würdest du sagen, dass wir alle in irgendeiner Form nicht ehrlich „wir selbst“ sein können? Und woran liegt das?

Mit dem Roman wollte ich über die Frage nachdenken, inwieweit wir uns von Erfahrungen und Überzeugungen lösen können. Wie ist es möglich, sich wieder etwas anzunähern, das man im Laufe der Entwicklung fast verloren hätte? Und wie können wir eine Sprache für die eigene Verortung in dieser Welt finden? Anpassung funktioniert für die Hauptfigur Selah nicht, aber „sie selbst“ zu sein hat die Figur nicht gelernt. In „Sieben Sekunden Luft“ habe ich mich der Darstellung dieses innerlichen Spannungszustands gewidmet.

© Ana Maria Sales Prado

Luca Mael Milsch ist freie*r Übersetzer*in, Lektor*in, Kurator*in, Moderator*in und Autor*in. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften war Milsch in der Programmleitung des Literarischen Salons Hannover tätig. Neben zahlreichen Übersetzungen, zuletzt „Happy End“ (S. Fischer Verlag) von Andrew Sean Greer, Publikationen in Anthologien, Literaturzeitschriften und Magazinen, schrieb Milsch an dem Romandebüt „Sieben Sekunden Luft“. Für einen Auszug davon war Milsch Stipendiat*in der Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Ein vielstimmiger, eindringlicher Text, der nach Klängen in einem scheinbar unabänderlichen Raum der Stille sucht.

Der Roman erzählt auch von einer Mutter-Kind-Beziehung. Du zeigst, wie unausgesprochene Selbstverständlichkeiten und Erwartungen schon früh zu wirken beginnen. Warum hast du darüber geschrieben?

Mich hat der Gedanke beschäftigt, inwieweit Erzählungen die Entwicklung von Kindern begleiten. Wie Persönlichkeitsaspekte auch auf dem basieren, was Familien über Kinder erzählen, und wie sie in eine patriarchale und kapitalistische Gesellschaftsordnung einkategorisiert werden. Was der Mutter auffällt, was sie lobt oder rügt, hängt ja von ihrem Wertesystem und internalisierten Ordnungsmustern ab. Aber auch von Unsicherheiten, Ängsten, Sorgen und Wünschen, die erst einmal nichts mit Selahs Persönlichkeit zu tun haben müssen. Das Kind soll es leicht haben, also entspricht es in dieser Gesellschaft am besten der Norm. Jedes Abweichen muss sanktioniert werden, sei es durch Kommentare oder – und ich denke, das ist für die Beziehung der beiden zentral – durch Schweigen.

Du lässt Selah im Roman aus verschiedenen Perspektiven erzählen (ich, du, sie). Gewinnt Selah im Laufe der Handlung zusehends Distanz zu sich selbst? Sind die Perspektiven auch Ausdruck eines Abstreifens dieser gewaltvollen Zwänge?

Selah entfernt sich immer weiter von sich selbst, im Sinne einer Entfremdung, die sich auch im jeweiligen Ton widerspiegelt. „Ich“ zu sagen ist im Kontext dieses Romans die ehrlichste Erzählform. Und später verfällt Selah in eine Art schweigenden Dialog mit der sterbenden Mutter. Die beiden haben keine gemeinsame Sprache für ihre Verletzungen. Aber Selah kämpft dafür, sich irgendwann als wirkmächtiges Subjekt in dieser Gesellschaft zu begreifen. Das ist immer auch mit Loslassen verknüpft. Im Roman heißt es an einer Stelle, es sei wie einen Rucksack abzusetzen und ein anderer setzt sich auf. Ich mag dieses Bild, weil in dieser Gesellschaft freier von Zwängen und Normen zu leben immer auch mit Restriktionen verbunden ist.

In „Sieben Sekunden Luft“ schreibt Luca Mael Milsch von Fragilität, die zur Stärke wird, von einer Welt voller Ambivalenzen, von der Sehnsucht nach einer selbstbestimmten Verortung in einer starren Struktur. Und darüber, was von uns übrigbleibt, wenn alles andere verschwindet. Der Roman ist seit 14.03.2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.

 

Muss man sich deiner Meinung nach ein Stück weit von sich entfernen, um sich kennenzulernen, oder herauszufinden, wer man überhaupt sein möchte?

Ich glaube, dass ein Heraustreten aus den bestehenden Strukturen hilfreich sein kann, allerdings ist das auch ein Aufbruch in Unbekanntes, was oft mit Ängsten verbunden ist. Was erwartet mich, wenn ich mich aus Bestehendem löse? Vielleicht komme ich in die Situation, kreativ werden zu müssen, um nach den eigenen Regeln zu leben. Das kostet Kraft, und dafür braucht es auch Handwerkszeug.

Selah reagiert auf die wachsende Unvereinbarkeit zwischen dem Innen und Außen schlussendlich mit einem Untertauchen und Ausreißen aus der Umgebung: „Jetzt sitzt Selah, wie jeden Morgen, auf der Veranda, schaut auf das Meer und trinkt in die Stille hinein. Fertig.“ Ist Einsamkeit ein Ausweg, um aus gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen?

Wir sehen, dass für Selah Ruhe eher zu Anspannung anstatt zu Entspannung führt. Da wabert etwas unter der Oberfläche, zu dem Selah keinen Zugang hat, woraus Wut, Frust, Verzweiflung entstehen. Mich interessierte beim Schreiben die Frage: Warum flieht diese Figur eigentlich aus einem von außen betrachtet geordneten und sicheren Leben? Um dem nachzugehen, lasse ich Selah Distanz zum Alltag aufbauen.
In unserer Gesellschaft braucht es dafür auf struktureller Ebene die finanziellen Mittel, eine gewisse Mobilität, Zugang zu medizinischer Versorgung; und auf persönlicher Ebene die Bereitschaft, überhaupt anzuerkennen, dass man ein Problem hat und sich daraufhin Hilfe zu suchen.
Zur Frage, ob Einsamkeit für die Figur ein Weg sein kann: Das müssen die Leser*innen selbst herausfinden. Mir kommt dabei Selahs Name in den Sinn. Das Wort „Sela“ kommt aus dem Hebräischen und kann unterschiedlich gedeutet werden: als Zeichen eines Wechsels, als Pausierung, aber auch als Erhebung der Stimme.

Die Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft funktionieren sollte und wie Menschen in dieser Gesellschaft zu sein haben, basiert auf – mehr oder weniger stabilen – Konstrukten, Rollenbildern, ästhetischen Vorstellungen, Verhaltensnormen … Das alles wird uns in die sprichwörtliche Wiege gelegt, bevor wir überhaupt die Möglichkeit bekommen, uns dagegen zu wehren. Was bräuchte es, um unter weniger einengenden Bedingungen aufwachsen und leben zu können?

Im Roman habe ich mit religiösen Glaubenssätzen gearbeitet, um dies zu unterstreichen: Der Gottesglaube, der sich in Sprache und Denken und auch im Namen Selahs eingeschrieben hat, scheint der Figur gar nicht so bewusst. Ich glaube, vehement verteidigte „das haben wir schon immer so gemacht“ oder „so ist es eben“ sind Entscheidungen, aber als solche unkenntlich gemacht. Um dagegen angehen zu können, muss auf unterschiedlichen Ebenen etwas passieren. Es braucht Identifikationsmöglichkeiten, sicherere Räume, solidarische Kämpfe und eine Bereitschaft, sich von den bestehenden Normen zu lösen.

Selah befindet sich ja in jedem Kapitel auf der Schwelle zu etwas Neuem. Da sind auch Vorbilder und Hilfen notwendig, die eben nicht unbedingt durch das gewohnte Umfeld geleistet werden können. Und gerade für queere Lebensrealitäten braucht es auch Fantasie, sich ein Leben über die bestehenden Normen hinaus vorzustellen. Fantasie, die Selah ja durchaus hat.

Du bist selbst Lektor*in, Kurator*in, Moderator*in und natürlich Autor*in. Wie siehst du in deiner Arbeit die Möglichkeit, vorherrschende zwanghafte Strukturen in unserer Gesellschaft zu sprengen?

Ich halte es für zentral, sich nicht nur als vereinzeltes Individuum mit persönlichen Problemen zu sehen, sondern sich im Kontext zu betrachten, auch die eigene Verantwortung in der Unterdrückung oder Ausgrenzung anderer zu erkennen. Und diese Verantwortung auf die Straßen, in den eigenen Bezugskreis zu tragen, anstatt in altbekannte und vermeintliche Sicherheit zurückzufallen. Denn es gibt etliche Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen, die uns vordergründig dafür belohnen, uns anzupassen und still zu sein. Aber um welchen Preis?

Ich denke zum Beispiel viel darüber nach: Wer ist alles anwesend im Kulturbetrieb und wer nicht? Auch darum geht es ja in meinem Roman. Warum sind manche Stimmen sehr laut und präsent, andere werden nicht einmal bedacht? Dorthin zu schauen, unbequeme Gespräche zu führen, und gleichzeitig immer lernbereit zu sein, halte ich für immens wichtig. Ich würde mir auch wünschen, dass in der Kultur mehr Energie in unsichtbare Arbeit fließen würde: Eine solidarische Praxis sollte nichts sein, womit sich profiliert wird und wofür es Applaus oder Profit gibt.

Bücher in den Schützengräben – Andrej Kurkow über die Literatur in der Ukraine

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow schreibt über seine Landsleute und deren Schicksale, über die Ereignisse, die seine Heimat erschüttern – und das seit Jahren. Festgehalten sind seine Eindrücke unter anderem im „Tagebuch einer Invasion“ (Haymon, 2022), für das er im selben Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Im folgenden Beitrag geht der Autor auf die Literatur der Ukraine ein, weist auf aktuelle Phänomene während des Krieges hin und blickt, trotz allem, hoffnungsvoll in die Zukunft.

Es gibt wohl keine dramatischere Literaturgeschichte als die der ukrainischen Literatur.

Diese Aussage mag Sie überraschen, aber fragen Sie sich selbst: „Was weiß ich über klassische ukrainische Autor*innen?“
Sicherlich sind klassische russische Schriftsteller*innen wie Dostojewski, Tschechow und Tolstoi international bekannt. Aber nur sehr wenige Menschen in Europa oder einem anderen Teil der Welt können eine*n einzige*n ukrainische*n Schriftsteller*in des 18. oder 19. Jahrhunderts außer Mykola Gogol nennen. Diesem wird alles zugeschrieben, was die klassische russische Literatur ausmacht.
Viele russische Autor*innen, die sich einen Platz in den Reihen der Klassiker erarbeitet hatten, hatten ukrainische Wurzeln. Das ist nicht weiter wichtig, außer dass es auf einen Kontext hinweist, in dem Erfolg für jede*n Autor*in im russischen Reich bedeutete, nach St. Petersburg oder Moskau zu ziehen und auf Russisch zu schreiben. Zu der Zeit, als sie ihre Romane und Erzählungen schrieben, schrieben auch Dutzende von ukrainischen Autor*innen ihre Romane und Erzählungen in der Ukraine – auf Ukrainisch. Die Welt weiß so gut wie nichts über sie oder ihr Werk, obwohl sie in der Ukraine in Schulen und Universitäten besprochen werden, Romane und (Dokumentar-)Filme über sie geschrieben und gedreht werden.
Warum haben europäische Verlage die klassische ukrainische Literatur fast nie übersetzt oder veröffentlicht? Die Antwort ist einfach: Sie wussten nicht von ihrer Existenz. Sie glaubten, dass es auf dem Gebiet des Russischen Reiches und später auf dem Gebiet der UdSSR nichts Interessantes außer russischer Literatur gab.

Russland hat seine Kultur und seine Literatur stets gekonnt und beharrlich gefördert. Niemand bestreitet den Wert der Romane von Dostojewski und der Erzählungen von Tschechow – aber darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Literatur einer großen europäischen Nation in Europa nicht aus kulturellen, sondern aus geopolitischen Gründen unbekannt geblieben ist. Die Hauptbotschaft der russischen Politiker*innen in Bezug auf die Kultur war die Behauptung, dass in den riesigen Weiten des ehemaligen und heutigen Russischen Reiches den Leser*innen in aller Welt nichts Größeres als die russische Literatur geboten werden könne.
Die neue russische Aggression hat dazu geführt, dass die Welt die Ukraine mit Verspätung entdeckt hat. Erst jetzt erscheinen die Werke der ukrainischen Klassiker*innen – unter ihnen Lesya Ukrainka, Ivan Franko, Ivan Kotlyarevsky, Olga Kobylyanska, Mykola Khvylovy – in Übersetzungen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Sie erscheinen hauptsächlich in kleinen Auflagen, dank kleiner, unabhängiger Verlage. Es ist ein guter Anfang, besser als nichts, besser spät als nie … Trotzdem wäre es besser gewesen, dies wäre früher und vor allem ohne Krieg passiert.
Während Leser*innen weltweit versuchen, die Vergangenheit und Gegenwart der ukrainischen Literatur zu verstehen, verändert sich die Literatur erneut und versucht, sich an das Leben in Kriegszeiten anzupassen. Dieser Veränderungsprozess ist sehr schwierig, und ich muss zugeben, dass der Erfolg noch lückenhaft ist.
Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, begann sich die ukrainische Literatur sofort von der russischen durch ihre Romantik, ihren unpolitischen Charakter und ihre Liebe zur postmodernen Literatur zu unterscheiden. Der prominenteste ukrainische Postmodernist der frühen Nach-Unabhängigkeitszeit war der Romancier Juri Andruchowytsch, der mit seinem witzigen und bitteren Roman „Moscoviada“ in der ganzen Ukraine Wellen schlug. Er ist nach wie vor einer unserer bekanntesten Schriftsteller*innen – ein Vorreiter der neuen ukrainischen Literatur.
In den späten 90er Jahren erschienen in der Ukraine viele Romane über „Sex, Drugs und Rock’n‘Roll”. Die Autor*innen dieser Romane, unter ihnen die Schriftstellerin und Sängerin Irena Karpa, versammelten Hunderte von jungen Leser*innen bei ihren Lesungen. Es schien, als sei eine wunderbare neue Ära der Freiheit angebrochen.
Nachdem sie die Nische für diese Art von Literatur gefüllt hatten, zogen die ukrainischen Schriftsteller*innen weiter und begannen Anfang der 2000er Jahre, Liebesromane, historische Romane und Abenteuerromane zu schreiben.
Die Orange Revolution von 2004-2005 war das erste Ereignis, das die ukrainische Literatur zu politischen und sozialen Themen hinführte. Die Euromaidan Proteste von 2014 gaben den Anstoß zu einer fast vollständigen Politisierung der ukrainischen Literatur, die sie militant machte und endgültig von ihrer traditionellen Poetik und Romantik löste. Die Poesie, für die die ukrainische Literatur berühmt war – für diejenigen, die überhaupt etwas von ihr wussten –, blieb ein wichtiges Merkmal, obwohl sie bürgerlicher und weniger lyrisch wurde.
Seit der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbass hat sich sehr viel verändert, und die russische Aggression von 2022 hat die ukrainische Literatur schließlich völlig neu reformiert. Nicht nur das geschriebene Wort wurde verändert. Die ukrainischen Schriftsteller*innen und Dichter*innen formierten sich selbst neu, mehr als 30 von ihnen wurden getötet. Dies zwang die ukrainischen Leser*innen sofort dazu, die toten Autor*innen „wiederzubeleben”, indem sie sich bemühten, herauszufinden, wer sie waren, was sie schrieben und wofür sie standen. Dies führte zur Entdeckung einer ganzen Generation ukrainischer Schriftsteller*innen – Hunderte von Namen –, die in der Sowjetzeit unter Stalin unterdrückt und getötet worden waren. In den 1930er Jahren beschloss das kommunistische Regime, die ukrainische Kultur ausbluten zu lassen – sie war zu intelligent und zu unabhängig, auch wenn die meisten Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Dramatiker*innen jener Zeit der „richtigen” kommunistischen Ideologie anhingen.

© Concreative

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. Zuletzt erschien bei Haymon 2022 Andrej Kurkows Werk mit seinen Aufzeichnungen aus der Ukraine: „Tagebuch einer Invasion“ (aus dem Englischen von Rebecca DeWald), in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. In „Im täglichen Krieg“ (voraussichtlich 2024) schreibt Kurkow weiterhin gegen die Zerstörung an – und für die Zukunft der Ukraine.

Heute bitten Soldat*innen ihre Freund*innen, ihnen Bücher von Schriftsteller*innen dieser „hingerichteten Wiedergeburt“ zu schicken – ebendiese zerstörte Generation ukrainischer Autor*innen, deren Erwähnung zu Sowjetzeiten verboten war.
Neben Büchern hingerichteter Autor*innen fragen die Soldat*innen oft auch nach Büchern über die Geschichte der Ukraine und nach Büchern klassischer ukrainischer Schriftsteller*innen. Viele an der Front wollen die ukrainische Literatur früherer Epochen wiederentdecken, angefangen im 17. Jahrhundert mit Meletiy Smotrytsky, der auf Polnisch schrieb, und dem Philosophen, Schriftsteller und Dichter Grigory Skovoroda, der seine Werke auf Altukrainisch, Polnisch und Latein verfasste.
In überraschender Symmetrie entdecken Leser*innen weltweit die ukrainischen Klassiker gleichzeitig mit den ukrainischen Soldat*innen in den Schützengräben – Soldat*innen, die sich vor dem Krieg kaum für Literatur interessiert haben.
In der ukrainischen Literatur selbst tut sich unter dem Bombardement nicht viel. Es werden nur wenige Romane geschrieben. Die meisten Autor*innen sind zu Essays und Sachbüchern übergegangen oder haben ganz aufgehört zu schreiben und sind zu zivilen Aktivist*innen geworden.
Andriy Lyubka, ein Romanautor und Übersetzer von Balkanliteratur, begann gleich zu Beginn des Krieges, die ukrainischen Soldat*innen zu unterstützen. Er sammelt im Internet über Fundraising Spenden für den Kauf alter Jeeps und Pickups für die ukrainische Armee. Mit Gleichgesinnten reist er nach Europa, um die Fahrzeuge zu kaufen, sie durch den Zoll in die Ukraine zu transportieren und sie dann zusammen mit Freund*innen direkt an die Front zu fahren. Über seine Geschichte könnte ein Buch geschrieben werden. Vielleicht schreibt er es eines Tages selbst, aber jetzt hat er dafür keine Zeit. Seit dem 24. Februar 2022 hat er Millionen Griwna gesammelt und die Armee mit mehr als 200 Fahrzeugen versorgt.
„Während des Krieges ist es unmöglich, sich voll und ganz der Literatur zu widmen“, sagt Andriy Lyubka. „Aber gerade in diesen Monaten habe ich das Gefühl, dass die Menschen die Literatur mehr denn je brauchen. In der Ukraine besuchen heute so viele Menschen wie noch nie literarische Veranstaltungen und Vorträge. Sie brauchen diese Gelegenheiten, um sich im Raum umzusehen und Menschen zu sehen, um zu spüren, dass sie hier lebendig sind, dass sie nicht weglaufen oder aufgeben dürfen. Es ist eine Art Appell. Kürzlich traf ich mich mit Schriftstellerkolleg*innen auf dem Poesiefestival Meridian Czernowitz, das zum zweiten Mal seit der Invasion stattfand. Das Hauptthema unserer Gespräche war: Wie ist es möglich, dass die Auflage unserer Bücher im zweiten Jahr in Folge gestiegen ist, obwohl so viele Millionen Menschen das Land verlassen haben und so viele Druckereien und Buchläden bombardiert worden sind? Die Antwort ist einfach: Die Menschen brauchen Literatur in ukrainischer Sprache. Dies ist eine symbolische Art und Weise, ihre Zugehörigkeit zur ukrainischen Identität zu bekunden. Darüber hinaus kaufen viele Ukrainer*innen Bücher, um den Übergang vom Russischen zum Ukrainischen als Kommunikationssprache zu erleichtern. Dies ist ein Massenphänomen, und ein der Tat ist es ein großer Schock für uns alle“.
Vor dem Krieg hatten einige Leser*innen den Eindruck, dass Andriy Lyubka mit einem anderen ukrainischen Kultautor und Dichter, Serhiy Zhadan, um Popularität konkurrierte. Jetzt zeigt sich, dass die beiden auch in Sachen Fundraising im Wettbewerb zu stehen scheinen. Serhiy Zhadan unterstützt ebenfalls aktiv die ukrainische Armee und kauft Jeeps und Pickups für die Soldaten an der Front. Im Gegensatz zu Lyubka schreibt er weiterhin neue Gedichte und Prosa. Kürzlich sammelte der deutsche Verlag Suhrkamp Zhadans Facebook-Beiträge und veröffentlichte sie in Form eines Tagebuchs. Zhadan und seine Rockband „Zhadan and The Dogs“ reisen regelmäßig nach Europa und in die USA, wo sie Geld für die ukrainische Armee und ukrainische Flüchtlinge sammeln. Mit anderen Worten, er tut alles für den Sieg der Ukraine in diesem Krieg – genau wie Dutzende andere ukrainische Autor*innen, von denen nur sehr wenige gleichzeitig viel schreiben können. In der Geschichte der ukrainischen Literatur werden die Jahre 2022-2023 daher „mager“ sein.

Wird das literarische Leben in der Ukraine nach dem Krieg wieder an Fahrt aufnehmen? Ich denke ja. Aber es besteht die Gefahr, dass sich ein Großteil der neuen Literatur auf die russische Aggression konzentriert. Das bedeutet, dass wir das sowjetische Muster des „Siegeskults“ wiederholen würden, das in der UdSSR nach 1945 bestand. Damals ersetzten Bücher über den Krieg fast alle anderen Genres und dienten der patriotischen Erziehung der sowjetischen Jugend. Der Siegeskult des Zweiten Weltkriegs lebt in der russischen Kultur weiter und ist auch einer der Gründe für die aggressive Politik der Russischen Föderation. Heute lautet einer der beliebtesten russischen Slogans „Wir können es wieder schaffen“.
Dennoch bleibe ich optimistisch. Ich hoffe, dass die Liebesromane die Bücher über den Krieg am Ende besiegen oder zumindest dazu beitragen werden, ein Gleichgewicht und eine Harmonie in der ukrainischen Literatur zu schaffen, ohne die ein Vorankommen unmöglich ist.

Andrej Kurkow, im Herbst 2023

„Das muss man als Ösi erstmal schaffen, deutscher Beamter zu werden!“ – Wolfgang Ainetter im Interview

Wolfgang Ainetter – ehemaliger Ministersprecher, Kommunikationschef, Journalist und jetzt Krimi-Autor! Im Gespräch offenbart Wolfgang Ainetter, was ihn zu seinem satirischen Debütkrimi „Geheimnisse, Lügen und andere Währungen“ inspiriert hat, welche Parallelen es zwischen ihm und seiner Figur André Heidergott gibt und wie der berühmt-berüchtigte Wiener Schmäh in Berlin ankommt.

Ist die Idee zu deinem ersten Krimi während der Arbeit im Ministerium entstanden oder vielleicht doch eher beim Sushi-Essen?

Als ich nach gut 25 Jahren im Journalismus Kommunikationschef in einem deutschen Ministerium wurde, tauchte ich in eine für mich fremde Welt: Unterschriften- und Umlaufmappen, Aktenvermerke, Gesetzesentwürfe, exotische Marathon-Begriffe wie Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz oder Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung und nicht zuletzt opernhafte Titel wie Ministerialdirigent – genau dieser Titel stand übrigens auf meiner Visitenkarte. Schon nach wenigen Wochen kam mir die Idee, meine Eindrücke irgendwann literarisch zu verarbeiten und einen satirischen Ministeriumskrimi zu schreiben. Auf die in meinem Buch erwähnte Sushi-Foltermethode hat mich mein Lieblingskollege im Ministerium gebracht. Beim Mittagessen meinte er eines Tages: „Zum Glück gibt es bei uns in der Ministeriumskantine nie Sushi, das wäre die reinste Folter für mich.“

 

Foto: © Niels Starnick.

Was war die größte Herausforderung beim Schreiben? 

Die Zeit! Ich habe mir fast jede freie Minute und alle Urlaubstage abgezweigt, um neben meinem Hauptjob als Kommunikator an meinem Buch arbeiten zu können. Und es war eine echte Challenge, den Witz, der sich durch meinen Ministeriumskrimi zieht, auf einem gewissen Niveau halten zu können. Gute Satire ist weder laut noch derb.

 

Beim Lesen musste ich immer wieder laut auflachen, der Humor kommt im Buch wirklich nicht zu kurz. Was würdest du sagen: Ist es eher Schmäh oder Witz, den Heidergott in seine Perspektive bringt?

Kommissar André Heidergott ist gebürtiger Wiener und damit von Haus aus mit Wiener Schmäh gesegnet. Wie meine Hauptfigur Heidergott muss ich als Exil-Ösi sagen: Wien ist die Hauptstadt des schwarzen Humors, in dieser Disziplin kann Berlin leider nicht mithalten. Ich höre mindestens einmal pro Woche Qualtinger.

 

André Heidergott und dich verbindet zumindest der Umzug von Wien nach Berlin. Habt ihr weitere Gemeinsamkeiten?

Wir sind beide deutsche Beamte, er Polizeioberkommissar, ich Ministerialdirigent. Das muss man als Ösi erstmal schaffen, deutscher Beamter zu werden! Und sowohl Heidergott als auch ich haben gelegentlich Heimweh nach Wien. Wenn Heidergott und ich Heimweh haben, gehen wir zum vielleicht besten österreichischen Restaurant in Berlin, der „Nußbaumerin“, und trinken ein, zwei, drei Achterln Grünen Veltliner.

 

Lörr ist die Verkörperung des deutschen Spießbürgertums. Sind Eigenschaften von realen Personen in ihn eingeflossen?

In meinem Buch steht gleich zu Beginn:

„Diese Geschichte ist ebenso wahr wie die Lebensläufe von Abgeordneten. Die handelnden Personen existieren tatsächlich – in der Halluzination des Autors. Sollte sich eine Leserin oder ein Leser in einer der erfundenen Figuren wiedererkennen: Medienanwalt Christian Schertz wird sich um Sie kümmern, leider nur gegen Honorar.“

 

Du hast Psychologie studiert. Hat dir das bei der Entwicklung deiner Figuren geholfen?

Ja, sehr sogar. Aber noch mehr hat mir meine langjährige Reporterzeit geholfen, in der ich in den unterschiedlichsten Ländern die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Berufen getroffen habe. Ich bin eigentlich vor allem deshalb Journalist und jetzt Autor geworden, weil mich Menschen interessieren.

 

Wird im politischen Berlin wirklich so viel intrigiert, wie du es im Buch darstellst?

Der politische Betrieb ist mitunter „House of Cards“ in echt. Aber nicht nur in Berlin wird intrigiert, sondern auch in Wien und in so gut wie jeder anderen Metropole oder Kleinstadt. Das liegt in der Natur des Systems. Ich habe in der Politik zum Glück auch viele ehrliche, engagierte, wunderbare Menschen kennengelernt – die aber alle keine Spitzenpositionen bekleiden. Nach ganz oben schaffen es sehr oft nur Machtmenschen, die jeden Parteirivalen ausdribbeln, ihre Überzeugung Woche für Woche wechseln und ihre Politik nach den Umfragen der Meinungsforscher ausrichten. Vielleicht sind deshalb immer weniger Menschen bereit, sich politisch zu engagieren. Das halte ich gefährlich für unsere Demokratie – vor allem jetzt, wo es in ganz Europa einen Rechtsruck gibt und Rechtsextreme in Deutschland sogar offen von Umsturzplänen träumen.

 

Wie ist es dir als Österreicher in Berlin ergangen, auch im Vergleich zu André Heidergott?

1991, also zwei Jahre nach der Wende, war ich für eine Reportage erstmals in Berlin. Ich war damals 20 und hatte das Glück, mit Daniel Biskup, einem der bekanntesten deutschen Fotografen, arbeiten zu können. Damals sagte ich zu Daniel: „Eines Tages will ich hier in Berlin wohnen.“ Mein Wunsch sollte 17 Jahre später in Erfüllung gehen. Als Österreicher geht es einem in Berlin sehr gut, offensichtlich mögen uns Ösis die Leute hier, auch André Heidergott ist ja auf seiner Polizeidirektion sehr beliebt, bis auf seinen Chef können ihn alle gut leiden. Die Berliner brauchen zwar eine Weile, bis sie den Wiener Schmäh verstanden haben, aber wenn es dann soweit ist, freuen sie sich über jeden guten Spruch.

 

In „Geheimnisse, Lügen und andere Währungen“ nimmt uns Polit-Insider Wolfgang Ainetter mit in die Hochburg der deutschen Bürokratie.

 

Tatort Regierungsviertel: staubige Schreibtische und giftige Aktenschränke

Was zieht einen österreichischen Charmeur und Polizeioberkommissar nach Berlin? Natürlich die Liebe! André Heidergott, seines Zeichens leiwander Wiener, wohnt wegen seiner jetzigen Ex-Frau in Moabit. Mit den großen Gefühlen hat sich aber leider auch die gute Laune verflüchtigt. Was auch nicht hilft: Ein hoher Beamter wird entführt – und Heidergott muss ins Ermittlerteam „BAO Finsterweg“. Entführungsopfer Hans-Joachim Lörr war ein Meister der Machtspiele. Er steht kurz vor der Pensionierung und hat sich im Laufe seiner Beamtenkarriere viele Feinde gemacht, denn in Wahrheit hielt er als „Schattenminister“ stets die Fäden in der Hand – eine Tatsache, auf die er mit Stolz zurückblickt. Zusammen mit seiner Vorgesetzten Emily Schippmann ermittelt Heidergott im Berliner Regierungsviertel, wo gute Beziehungen alles sind. 

Klick hier, um mit André Heidergott die dunkelsten Geheimnisse der Beamt*innen zu ergründen.

Interview mit Anja Frers über vererbte Gewalt und transgenerationale Traumata

Transgenerationales Trauma – das klingt in erster Linie nach komplizierten psychologischen Vorgängen, die eine entsprechend fachliche Auseinandersetzung verlangen. Anja Frers beweist das Gegenteil: Sie geht dem Thema auf künstlerische Weise nach und ermöglicht damit einen zugänglichen Diskurs. Denn: Das Thema ist sehr viel enger mit uns verbunden, als wir vielleicht meinen. Im Gespräch mit der Künstlerin und Therapeutin erfahren wir aus psychologischer und psychotherapeutischer, künstlerischer und menschlicher Sicht, wie tief diese Dynamiken in uns und der Welt verankert sind und wie damit umgegangen werden kann.
Wer sich vor, während oder nach dem Lesen ein Bild von Anja Frers Kunst machen möchte, findet sie hier.

In Ihrer aktuellen Ausstellung „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, die am 21. Februar 2024 in der Pasinger Fabrik eröffnet wurde, gehen Sie gemeinsam mit Nana Dix und Uschi Siebauer der Frage auf den Grund, wie sehr euch drei Künstlerinnen der Zweite Weltkrieg, die NS-Ideologie und die autoritären Erziehungsideale der Eltern und Großeltern geprägt haben. Dabei habt ihr euch natürlich intensiv mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt und euch vielleicht auch das eine oder andere Mal gefragt: Ist das noch normal oder zählt das schon als Trauma? Dabei ist das ja eine ganz grundlegende Frage, mit der wir vielleicht direkt starten: Was ist eigentlich ein Trauma und was fällt alles darunter?

Der Begriff Trauma (altgriechisch: Wunde) bedeutet psychische Ausnahmesituation (Psychotrauma). Es kann ausgelöst werden durch überwältigende Erlebnisse (z.B. Gewalt, Krieg oder andere Katastrophen), die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellt. Oder auch durch frühkindliche Erfahrungen, wenn z.B. die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen wurden, durch Erziehungsmaßnahmen wie schreien lassen oder „kalt“ stellen etc. Diese negativen Erfahrungen zerstören das Vertrauen in Bindungspersonen nachhaltig und haben enorme Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Es fällt den Betroffenen schwer, Nähe zu zulassen, weil sie als gefährlich empfunden wird und zugleich ist ein starkes Bedürfnis nach Nähe gegeben. Diese Art der Traumatisierung wird auch komplexe Posttraumatische Belastungsstörung genannt und wurde aktuell auch in das ICD11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) aufgenommen. Es existiert somit ein breites Traumaspektrum mit unterschiedlichen Auswirkungen.

 

©Anja Frers

Anja Frers arbeitet als Künstlerin und Fotografin. Zusätzlich ist sie ganzheitliche Traumatherapeutin und hat eine eigene Praxis. Das Gemeinschaftsprojekt mit Nana Dix und Uschi Siebauer, „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, kann, neben der Ausstellung in der Pasinger Fabrik, auch in Buchform entdeckt werden.

Wenn wir uns an den Biologie-Unterricht zurückerinnern, war in Sachen Vererbung immer nur die Rede von Genen. Dass auch Erfahrungen und traumatische Begebenheit von Generation zu Generation weitergegeben werden können, ist aber eine Tatsache, die neu scheint. Jetzt also die Frage, die sich viele wohl als allererstes stellen: Wie geht das überhaupt mit den vererbten Traumata?

Die epigenetische Forschung hat gezeigt, dass es bestimmte Faktoren gibt, die die Aktivierung und Expression der DNA beeinflussen können. Dazu gehören z.B. Umwelteinflüsse, Krieg, Hunger, Gewalterfahrungen etc. Diese Einflüsse können zu epigenetischen Veränderungen in den Zellen führen, so dass die nächste Generation besser auf bestimmte Situationen reagieren kann, auch wenn sie diese nicht selbst erlebt hat. Dies kann sich z.B. in einem dauerhaft übererregten Nervensystem äußern. Wenn die Elterngeneration vor Bombenangriffen fliehen musste, konnte sie sich nur schwer entspannen. Diese Unfähigkeit, sich zu entspannen, und das Gefühl, ständig etwas tun zu müssen, obwohl in der eigenen Gegenwart keine Lebensbedrohung besteht, kann ein Hinweis auf die Weitergabe von Traumata sein. Ein weiterer Punkt, der für die Vererbung von Traumata spricht, ist die Tatsache, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen einen Einfluss auf das Epigenom und damit auf das spätere Leben und die Gesundheit haben können. Ein Säugling, der nicht genügend Zuwendung, Liebe und Geborgenheit erfährt, wird im späteren Leben Bindungsprobleme entwickeln. Aber nicht nur das, auch Störungen im Stresshormonsystem lassen sich biologisch nachweisen, so dass die Epigenetik ein großes und interessantes Forschungsfeld ist, das einen wichtigen Baustein zum Verständnis von Traumata liefert.

Kriegserlebnisse oder sexuelle Übergriffe sind oft die Schlagwörter, die in Verbindung mit dem Wort „Trauma“ fallen. Dabei geht dieses Thema viel weiter. Emotionaler Missbrauch oder Diskriminierungserfahrungen können ebenso Traumata auslösen, ist das richtig?

Das ist richtig. Diese Art von Traumata werden Komplexe Traumatisierung genannt. Dazu gehören z.B. emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung, die über einen längeren Zeitraum stattgefunden hat oder stattfindet.

Angehängt an die vorherige Frage und dem Aspekt, wie mit dem Begriff umgegangen wird: Immer wieder hört man die Aussage: „Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen“. Ist das eine weitere Floskel der Küchenpsychologie oder ist an dem Statement etwas Wahres dran?

Ich würde sagen, da ist auf jeden Fall etwas Wahres dran. Natürlich traumatisiert nicht jede*r einen anderen Menschen im gleichen Ausmaß und auf die gleiche Art und Weise, wie sie*er selbst traumatisiert wurde. Aber ich glaube, dass fast jede*r von uns einen Rucksack emotionaler Altlasten mit sich herumträgt. Einen Rucksack, der sich zusammensetzt aus Glaubenssätzen (z.B. „Ohne Fleiß kein Preis”), aus Persönlichkeitsstrukturen, die zum Überleben ausgebildet wurden (z.B. ein Leistungsanteil, um bei dem Beispiel „Ohne Fleiß kein Preis” zu bleiben). Viele unserer Persönlichkeitsanteile sind auf das Überleben ausgerichtet und nicht z.B. darauf, das Leben zu genießen. Bei all dem besteht die Gefahr der Übertragung auf andere Menschen, vor allem auf die eigenen Kinder. Deshalb ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, an sich selbst zu arbeiten und die eigenen Traumata zu transformieren und zu integrieren. Ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir viele Glaubenssätze und Überlebensstrategien an die nächsten Generationen weitergeben.

„Ja, das mag es alles geben, aber mich betrifft das nicht.“ Das sehen nicht wenige Menschen so. Doch Symptome wie Angstzustände, depressive Episoden, Anpassungsstörungen oder ungesunde Coping-Mechanismen scheinen immer mehr Menschen zu betreffen. Ganz oft scheint es Betroffenen unerklärlich, worauf das zurückgeht. Wenn man seine mentale Gesundheit also nicht auf akute Belastungssituationen zurückführen kann, sollte man sich dann die Frage nach transgenerationalem Trauma stellen?

Ich würde sagen, dass sehr viel in der Kindheit und in der Erziehung begraben liegt. Die Erziehungsmethoden im Nationalsozialismus waren darauf ausgerichtet, zur Bindungslosigkeit zu erziehen, um Menschen zu züchten, die dem Staat dienen und, böswillig ausgedrückt, als Kanonenfutter für den Zweiten Weltkrieg missbraucht werden konnten. Besonders einflussreich war damals das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Harrer. Schreien lassen, kalt stellen, zur Sauberkeit erziehen und das Kind mehr oder weniger als Feind betrachten, den man sich gefügig zu machen hat, wirkte sich in dieser Generation zerstörerisch auf die Entwicklung und Bindungsfähigkeit der Kinder aus. Die Kinder wurden nicht gesehen, nicht gehört, wenig berührt und oft sich selbst überlassen. Sie mussten zu früh erwachsen werden und wurden auch so behandelt. Diese sogenannte Kriegskindergeneration hat wiederum Kinder bekommen, die Kriegsenkel, zu deren Generation ich gehöre. Die Mütter waren damals oft schwer traumatisiert durch die Kriegserlebnisse und zusätzlich durch die nationalsozialistischen Erziehungsmethoden. Sie hatten auf Grund ihrer Traumatisierungen eine geringe Stresstoleranzgrenze und waren durch ihre Kinder schnell triggerbar. Allein das Schreien ihres Kindes konnte sie völlig überfordern. Viele wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten und griffen auf die ihnen bekannten Erziehungsmethoden zurück, die wiederum für unsere Generation traumatisierend waren. Es ist also wieder ein transgenerationales Thema. Wenn Menschen glauben, dass es sie nichts angeht, kann es auch eine Überlebensstrategie sein. Manche haben einen Persönlichkeitsanteil ausgebildet, der gelernt hat, alles schönzureden und die Augen zu verschließen. Das kann auch aus der Großelterngeneration kommen, die nach Kriegsende versucht hat, so zu tun, als wäre nichts passiert und alles halb so schlimm.

Problem erkannt, Gefahr gebannt – in diesem Fall gilt das ja leider nicht. Natürlich ist es der erste wichtige Schritt, aber sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und vererbter Gewalt auf die Schliche zu kommen, bedeutet harte Arbeit. Wenn man sich also dazu entschlossen hat, ganz nach dem Motto „break the cycle“, gibt es bestimmt einiges, das unterstützen kann. Wann hole ich mir am besten Hilfe und wie kann die aussehen?

Problem erkannt, Gefahr gebannt funktioniert bei Trauma leider nicht so einfach. Viele haben sehr viel kognitiv verstanden, sich mit der Kindheit analytisch auseinandergesetzt und wissen ganz genau, wie sie sich verhalten sollten. Nur leider reicht das nicht. Ein Trauma ist im Körper abgespeichert, in unserem autonomen Nervensystem. Ich würde empfehlen, eine Traumatherapie anzufangen. Da hier mit Körper, Geist und Seele gearbeitet wird, um abgespaltene Emotionen wieder zu transformieren und zu integrieren. Es wird auch mit den Überlebensstrategien gearbeitet, um das Nervensystem zu regulieren, um Sicherheit zu empfinden und Verbundenheit. Zum Glück können wir neue Nervenbahnen erschaffen, um alte Muster und Reaktionsketten zu verlassen. Das dauert natürlich seine Zeit, aber es lohnt sich. Oft kann man erst im Prozess erkennen, wie viel Anstrengungen es einen gekostet hat, sein Leben im Überlebensmodus zu leben.

Transgenerationales Trauma ist ja geprägt davon, dass es einen nicht nur als Individuum, sondern auch als Teil eines familiären beziehungsweise verwandtschaftlichen Systems betrifft. Wie kann man damit umgehen, wenn man auf seinem Weg der Auseinandersetzung auf Widerstand vonseiten der Familie oder Verwandtschaft, auf defensives Verhalten oder fehlende Unterstützung stößt?

Das ist ein großes Problem. Viele Menschen suchen Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Traumata in ihrer Familie. Verständnis und Hilfe für die Ursache des Problems zu bekommen, ist oft schwer möglich und diese Erkenntnis kann sehr schmerzhaft sein. Wichtig ist aber immer, dass es nicht um Schuld geht. Die Elterngeneration hat das Beste gegeben, was sie geben konnte. Deshalb ist es an uns, uns selbst das zu geben, was wir gebraucht hätten, um zu heilen. Der Weg in der Traumatherapie ist ein Weg nach innen. Die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, die eigenen Grenzen zu setzen, sich mit sich selbst zu verbinden und sich in sich selbst sicher und zu Hause zu fühlen, das ist das Ziel. Das geht oftmals am besten ohne die Familie, die ihre eigene, oft völlig andere Wahrnehmung und Geschichte hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine innere Entwicklung auch im Außen viel verändert. Natürlich ist das auch für die Familie manchmal eine Herausforderung, aber es bringt Veränderung und Entwicklung mit sich.

Viele dieser Fragen haben Sie nun hauptsächlich mit therapeutischem Know-How beantwortet. Doch wie auch schon ganz am Anfang erwähnt, befassen Sie sich auch künstlerisch auf ganz spannende Weise mit diesem Thema. Wie gehen Sie also als Künstlerin mit dieser Thematik um? Was hat Sie dazu bewogen, dieses Thema überhaupt erst künstlerisch aufzugreifen? Und was möchten Sie mit Ihren Werken bei den Menschen auslösen?

Eigentlich begann meine ganze Geschichte zu diesem Thema vor etwa 14 Jahren. Mit dem Tod meiner Mutter. Da sie mich mit vielen Fragezeichen zurückgelassen hatte, versuchte ich meine Geschichte anhand der Fotos, die sie mir hinterlassen hatte, zu rekonstruieren. Es waren über 1500 Dias, die meine gesamte Kindheit dokumentierten. Erst, als ich die Schwarz-Weiß-Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus einfügte, spiegelten die Fotos das wider, was ich damals fühlte. Da meine Großeltern im selben Haus wohnten, habe ich den Generationenkonflikt hautnah miterlebt. Es war immer eine gewisse Schwere in unserem Haus, etwas Unausgesprochenes, das nicht da sein durfte, aber immer da war. Um mich herum wurde mit aller Gewalt versucht, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Was es aber nicht war. Meine Mutter und meine Großmutter waren beide Alkoholikerinnen, mein Großvater noch traumatisiert von der Kriegsgefangenschaft in Russland und mein Vater war nie da, weil er arbeiten musste. Nach und nach verstand ich, dass das transgenerationale Trauma in unserer Familie einen festen Platz hatte. Das hat mich erleichtert, weil ich mir endlich erklären konnte, was die Ursache für all das war, was ich erlebt habe. Dieses Wissen möchte ich weitergeben. Denn es erklärt vieles und es sind keine Einzelschicksale. Durch das Reden darüber und die Auseinandersetzung entsteht eine Verbundenheit, die auch mir lange gefehlt hat. Das tut gut und ist heilsam, für mich und für die Menschen, die wir als Künstlergruppe damit erreichen.

Zum Abschluss würde uns noch interessieren, wie Sie ganz persönlich mit dem Thema umgehen. Als Künstlerin, Frau und Mutter. Denn wenn man sich so intensiv damit beschäftigt, stellt man sich bestimmt auch die Frage, wie viel Verantwortung man für sich und seine Familiengeschichte übernehmen kann und muss. Wo zieht man die Grenze, und wie schafft man es, zwischen den belastenden und schwierigen Themen noch genügend Zeit für Selbstfürsorge zu schaffen?

Seitdem ich mich mit dem Thema Trauma beschäftige, vor allem als Traumatherapeutin, geht es mir besser als vorher. Da ich selbst viel durchgearbeitet habe, ist mein Rucksack wesentlich leichter geworden, meine Glaubenssätze haben sich zum Positiven verändert, meine Anteile, die meine Überlebensstrategien verkörpern, haben sich entspannt und mein Stresstoleranzfenster ist viel größer geworden. Mein Minenfeld an Auslösern hat sich stark dezimiert und deshalb brauche ich nicht mehr so viel Selbstfürsorge wie vielleicht früher. Das spüren auch meine beiden Kinder und deshalb glaube ich, dass sie, was mich betrifft, nicht mehr so viel tragen und ertragen müssen. Es reicht jeder Schritt in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte, um der nächsten Generation zu helfen, freier zu leben. Da sie auch den Ursprung nicht mehr so direkt verorten können wie ich, ist es für meine Generation besonders wichtig, diese Verantwortung ernst zu nehmen, sonst leiden unsere Kinder unter diffusen Ängsten, ADHS, Depressionen usw. und können in ihrem Leben nicht mehr herleiten, warum sie diese Symptome entwickelt haben. Denn die transgenerationale Weitergabe kann nur abgeschwächt oder unterbrochen werden, wenn jede Generation Verantwortung übernimmt und aktiv etwas dagegen tut.

„Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt.“ Universitätsprofessorin Anne Siegetsleitner zu Fragen der Ethik in der Forschung

Georg Haderer wirft in seinem Kriminalroman „Seht ihr es nicht?“ die Frage auf: Was darf Wissenschaft und wo stößt sie an ihre moralischen Grenzen? Wir haben mit Univ.-Prof.in  Mag.a Dr.in Anne Siegetsleitner darüber gesprochen, was überhaupt unter den Begriffen „Moral“ und „Ethik“ zu verstehen ist,  welche Herausforderungen im Bereich der Technik am drängendsten sind und ob eine „Angst vor den Maschinen“ gerechtfertigt ist.

Oft spricht man sehr allgemein über die Begriffe „Moral“ und „Ethik“. Religiöse Menschen beziehen sich dabei gern auf religiöse Schriften wie die Bibel oder den Koran, andere wiederum richten sich nach Gesetzen. Wonach richten sich Ethiker*innen, wenn sie über „moralisch richtiges Verhalten“ sprechen?

Das hängt ganz davon ab, wen Sie meinen, wenn Sie von „Ethiker*innen“ sprechen. Vielfach wird heute das Wort „Ethik“ einfach anstatt „Moral“ verwendet, weil es besser klingt, weniger streng und moralinsauer. Menschen richten sich dann nach ihren persönlichen Maßstäben oder jenen ihrer Moralgruppe, sehr häufig einer religiösen Gruppe, treten aber als „Ethiker*innen“ auf. Wer sich vormals als Moraltheologe auswies, nennt sich heute eben oft „Ethiker“. Wer als Soziologin bestehende moralische Haltungen z.B. in der Medizin im Rahmen der empirischen Methoden des Faches erforscht, gibt persönliche moralische Urteile ab und bezeichnet sich als „Ethikerin“. KI-Expert*innen haben eine persönliche moralische Einstellung, und schwupps haben wir angeblich neue „KI-Ethiker*innen“. Eine Juristin leitet eine Ethikkommission und sieht sich deshalb als „Ethikerin“. Dadurch, dass sich diese Menschen als „Ethiker*innen“ bezeichnen, wird ihr spezifischer moralischer Standpunkt jedoch gut verdeckt. Das kann unüberlegt passieren oder als bewusste Immunisierungsstrategie eingesetzt werden.

Dass meist weniger hinterfragt wird, wenn jemand von „Ethik“ anstatt von „Moral“ spricht, liegt daran, dass in einem anderen Verständnis von „Ethik“ mit dem Gemeinten ein höherer Anspruch an Objektivität oder zumindest Intersubjektivität verbunden ist. Dann ist „Ethik“ nicht gleichbedeutend mit „Moral“. Die wichtigste Bedeutung von „Ethik“ in einer solchen Unterscheidung ist, dass mit „Ethik“ eine Teildisziplin der Philosophie bezeichnet wird, die Moral bzw. verschiedene Moralen philosophisch reflektiert. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Vieles, was Ethiker*innen in diesem Sinne tun und worin ihre Kompetenz liegt, besteht nicht darin, moralische Urteile abzugeben. Ethik nimmt keine Moral einfach hin, sie fragt nach Begründungen, nach der Möglichkeit und Reichweite von Begründungen, danach, was vorausgesetzt wird, ohne offengelegt zu werden. Ethiker*innen sind deshalb in machen Umgebungen gar nicht gerne gesehen. Sie stören das Nichthinterfragte. Das gilt meiner Erfahrung nach nicht zuletzt im stark traditionell geprägten Tirol.

Wenn Ethiker*innen im philosophischen Sinne moralische Urteile abgeben, geschieht dies auf der Grundlage von offengelegten Voraussetzungen, die sich immer einer Kritik stellen. Es sind Vorschläge im gemeinsamen Ringen um eine bessere Moral, d.h. einem Normen- und Wertesystem, das dem Zweck eines guten und gerechten Lebens sowie eines gedeihlichen Miteinanders besser dient als andere Vorschläge. Ethiker*innen sind keine säkularen Priester*innen, sie können auch religiös sein, solange dieser Zweck mit einer Religion vereinbar ist. Auch der Vorschlag, sich zu diesem Zweck nach Gesetzen zu richten, würde in der Ausgestaltung von Gesetzen seine Grenze finden.

In meiner eigenen Verwendung des Wortes „Ethik“ außerhalb des fachinternen Dialogs bin ich übrigens nicht immer konsequent. Ich will mich mit den Menschen über die Inhalte austauschen, und wenn ich das durch das Wort „Moral“ erschwere, sage ich eben auch „Ethik“, zumal ich tatsächlich Ethikerin im philosophischen Sinne bin. Wichtig ist mir dazuzusagen, worin ich meine Aufgabe und Zuständigkeit sehe und worin nicht.

 

Blickt man auf die Menschheitsgeschichte, wird klar: Was als „moralisch richtig“ angesehen wird, verändert sich. Ist eine universell gültige Moral überhaupt möglich? Gibt es einen Kern der Moral?

Nehmen wir den vorhin genannten Zweck als Formulierungsvorschlag für das Gemeinsame von Moralen, nämlich einem guten und gerechten Leben sowie einem gedeihlichen Miteinander zu dienen. Dass es auch in moralischer Hinsicht geschichtliche Veränderungen gibt, muss nicht heißen, dass es kein verbindendes Verständnis vom Zweck moralischer Beurteilung gibt. Es können sich ja die Umstände ändern oder eben in unterschiedlichen Regionen, Ländern, Gesellschaften unterschiedliche Rahmenbedingungen vorliegen. Es können aber auch im Laufe der Geschichte Vorurteile widerlegt werden, etwa jenes, dass Frauen weniger gut denken können als Männer. Dann ändern sich die spezifischen moralischen Urteile, obwohl sich an der grundsätzlichen Ausrichtung dessen, was mit „Moral“ gemeint ist, nichts geändert hat. Und es kann die geschichtliche Erfahrung geben, dass in einer Gesellschaft nicht immer alle dieselbe Vorstellung vom guten Leben haben müssen, sondern es ausreicht, einander auf individueller Ebene genügend Toleranzräume zu gewähren und gerade dadurch gut miteinander leben zu können. Eine solche Moral der Freiheitsräume, die einander gewährt werden, könnte universell gültig sein. Aber selbstverständlich ist sie nicht mit allem vereinbar, nämlich nicht mit fundamentalistischen Ansprüchen. Ob diese religiös oder nicht religiös sind, ist gar nicht der entscheidende Punkt.

Außerdem steht nicht fest, dass alle, die von „Moral“ sprechen, den oben genannten Zweck verfolgen. Und wenn wir darauf kommen, dass wir im Grundsätzlichen von Unterschiedlichem sprechen, dann ist es ratsam, das ausdrücklich kenntlich zu machen. Auch hierbei können Ethiker*innen im philosophischen Sinne äußerst hilfreich sein.

 

An der Universität Innsbruck lehren Sie u.a. zu Fragen der Wissenschafts- und Technikphilosophie. Welche ethischen Herausforderungen sind gegenwärtig am aktuellsten?

Die moralischen Herausforderungen, mit denen sich auch die Ethik im philosophischen Sinne beschäftigt, sind mannigfach. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen seit gut einem Jahr sicherlich jene in Verbindung mit (generativer) KI. Abgesehen von den positiven Entwicklungen, die hiermit z.B. in der Medizin verbunden sein können, sehe ich als zentralen Punkt die Frage nach der Verantwortung bzw. in der irrtümlichen Annahme, Verantwortung an KI-Systeme abtreten zu können.

 

Wenn von Menschen programmierte Maschinen Handlungen ausführen, stellt sich oft diese Frage nach der Verantwortung, wenn etwas schief geht. Wo sehen Sie die Verantwortung: bei den Forschenden, den Entwickler*innen oder doch der Maschine selbst?

Sicherlich nicht bei der Maschine. Maschinen – zumindest das, was wir gegenwärtig „Maschine“ nennen – können nichts verantworten. Sie können in dem Sinne, den Verantwortung voraussetzt, nicht einmal handeln. Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt. Vielmehr braucht es vertrauenswürdige und verantwortungsvolle Menschen, die nur zuverlässige Technik entwickeln und einsetzen.

Abgesehen von der Versuchung, Verantwortung abschieben zu wollen, spielt hier nicht zuletzt das im Grunde verblüffende und beeindruckende menschliche Vermögen eine Rolle, mit Gegenständen oder Programmen so umzugehen, als ob sie Menschen wären oder über dieselben Fähigkeiten wie diese verfügen würden. Diese Fähigkeit kann uns leider auch in die Irre führen. Es fällt uns schwer, diesem Sog der Illusion nicht zu erliegen. Menschen glauben dann, ein Chat-Programm wäre eine Person, sie sagen „bitte“ und „danke“ zu ihm oder sie verlieben sich in Sexroboter, deren Entwicklung übrigens noch immer enttäuscht. Das ist wie ein Sprechen mit dem angeblichen Männchen im Radio nichts, was zu verbieten wäre, aber wir sind im Sinne des Zwecks der Moral, so meine Einschätzung, nicht gut beraten, unseren Umgang mit Technik und den Einsatz von Technik im Umgang miteinander auf solche verfehlten Annahmen zu stützen. Eine philosophische Ethik, die wissenschaftlich informiert und fundiert argumentiert und selbst die (latente) Technikfeindlichkeit manch geltender Moralsysteme hinterfragt, kann bei der Suche nach guten Lösungen durchaus einen bedeutenden Beitrag leisten, und zwar jenseits von solch pauschalen Ansichten, Systeme Künstlicher Intelligenz würden die Menschheit insgesamt bedrohen oder retten.

 

Sie teilen also nicht die Ansicht jener, die fürchten, die Menschheit schaffe sich durch Technologie selbst ab. Und was wäre die Alternative? Gibt eine „Rückkehr zur Natur“?

Eine „Rückkehr zur Natur“ gibt es nicht, weil es „die“ Natur nicht gibt. Viele nennen das, was sie sich als Ideal vorstellen, das Natürliche. Sie stellen dann beispielsweise eine „natürliche Empfängnis“ einer „künstlichen“ gegenüber und verbinden damit bereits eine Wertung.

Dass sich die Menschheit gleich abschaffen würde, sehe ich nicht. Was in einem bestimmten Rahmen abgeschafft wird oder werden könnte, sind bestimmte Tätigkeiten oder ganze Berufsfelder. Es drohen eine weitere Erosion privater Sphären, erhöhte Abhängigkeiten von global mächtigen Konzernen und einiges mehr, das es unter der Perspektive eines guten und gerechten Lebens zu beurteilen gilt. Wir sollten hier jedoch weniger auf die Technologie selbst blicken als auf die Menschen und Unternehmen dahinter. Technologie weder zu verherrlichen noch zu verteufeln, sondern mit Bedacht einzusetzen, das wäre intelligent. Je mehr wir das schaffen, umso weniger bedroht müssen wir uns sehen.

Unsichtbare Bedrohung in „Seht ihr es nicht?“ von Georg Haderer.

 

Als Helena Sartori, deren Eltern und ihr Sohn tot aufgefunden werden, wird Philomena Schimmer hinzugezogen: Die jugendliche Tochter Sartoris, Karina, ist spurlos verschwunden – und Schimmer soll sie suchen.
Helena Sartori war leidenschaftliche Wissenschaftlerin, wollte die Welt mit ihrer Forschung an Nanobots verändern . Und dann plötzlich hat sie sich – einige Zeit vor ihrer Ermordung – völlig zurückgezogen, in die wlanfreie Einöde. Was ist passiert? Ist ihr die Arbeit an den mikroskopisch kleinen, mit freiem Auge nicht sichtbaren Robotern entglitten – und hat das Sartori und ihre Familie in den Abgrund gestürzt? Ist Karina am Leben? Hat man sie entführt oder ist sie selbst geflohen? Quälende Fragen für Philomena Schimmer, der es immer schwerer fällt, die professionelle Distanz zu wahren, je länger von Karina jede Spur fehlt.

Und dann klopft plötzlich ein alter Fall an Schimmers Tür, eine junge Frau aus Philomenas Vergangenheit, die sie damals nicht retten konnte …

Wurden aus nützlichen Nanobots unkontrollierbare Mini-Monster? Finde es hier heraus.

„Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot.“ – Aleš Šteger im Interview über sein Logbuch-Projekt und die schriftstellerische Arbeit

Je zwölf Stunden an zwölf Orten im Laufe von zwölf Jahren. So lange schrieb der slowenische Autor Aleš Šteger an seinem Projekt, das unter dem Titel „Logbuch der Gegenwart“ in drei Bänden im Haymon Verlag erschienen ist. Der letzte Band, „Aufgehen“, ist mit 7. März 2024 im Buchhandel erhältlich. Von Slowenien über China bis nach Chile und Somaliland reiste er, traf auf Kulturen, Schicksale, Geschichten, die er mit Stift und Papier sowie mit seiner Kamera für die Ewigkeit festhielt. Wir haben uns mit Aleš Šteger über die poetische Wahrnehmung der Welt, die Arroganz der Europäer*innen dem Fremden gegenüber und seine Logbücher unterhalten.

Ein im Voraus festgelegter, möglichst öffentlicher Ort, der eine lebendige, unvorhersehbare Geschichte erzählt. Ein ebenso festgelegtes Datum, das mit einer gewissen Menge an Erinnerungsgepäck beladen ist. Eine auf zwölf Stunden begrenzte Schreibzeit, innerhalb derer ein Text entstehen soll, der anschließend schnellstmöglich veröffentlicht wird. Das sind die Grundregeln, die alle drei Logbücher eint. Gehen wir kurz mal zurück ins Jahr 2012, als das alles anfing: Wie kam dir die Idee zum Logbuch-Projekt? Gab es einen konkreten Auslöser oder schlummerte diese Idee schon länger in dir?

Die Idee dazu entstand aus einer Lebens- und Schreibkrise. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot. Ich brauchte eine neue Herausforderung, eine Aufgabe, die mich in meiner Arbeit als Schriftsteller forderte.
Dann kam dieser Einfall, sich selbst ein paar sehr elementare, fast unmögliche Regeln aufzuerlegen, sich an einem Ort niederzulassen, wo jederzeit alles schiefgehen kann. Diese fehlende Planbarkeit und die Offenheit, die viel Vertrauen in sich selbst und in den Prozess erfordern, waren mein Weg zurück. Zurück zur Literatur, zur elementaren poetischen Wahrnehmung der Welt und der Menschen – und zum Logbuch.

Du bist ein unbestechlicher Beobachter, beschreibst deine Wahrnehmungen der Umwelt und die Stimmungen, die dich umgeben, so, dass ein klares Bild entsteht und gleichzeitig Raum bleibt für die literarische Wirkmacht deiner Texte. Siehst du die Welt und die Menschen darin nun nach deinen Reisen mit anderen Augen?

Ich muss mich selbst immer wieder dazu ermahnen, nicht zu genau zu sein und meiner Fantasie und Kreativität genug Raum zu lassen. Denn es geht ja nicht nur um das Gesehene, sondern vor allem um das Erahnte, Erträumte, um Assoziationen und die schwierige Frage dahinter: Warum? Das Reisen hat mich aber zum Menschen gemacht, der ich bin, mit oder ohne Logbuchprojekt im Rucksack. Es hat mich der Welt gegenüber geöffnet und mir gelehrt, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht verstehe. Immer aufs Neue die Welt zu hinterfragen – aber sanft, nie besserwisserisch. Arroganz ist uns Europäer*innen ja von klein auf mitgegeben und man muss sehr viel Selbstreflexion durchlaufen, um sie wieder loszuwerden. Arroganz dem Fremden gegenüber ist ja nichts anderes als die Rückseite der Angst, die Ungewissheit, der wir uns nicht stellen wollen, uns dem Neuen nicht öffnen können.

 

© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Aleš Šteger, geboren 1973 in Ptuj, ist ein slowenischer Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor. Er veröffentlichte bislang mehrere Lyrik- und Prosabände, zuletzt seine Erzählungen „Das Lachen der Götter” (2016). Für seine Gedichte und Essays erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1998 den Veronika-Preis, 2008 den Rožanc-Preis, 2011 den Best Translated Book Award für seinen Gedichtband „Buch der Dinge”, 2016 den Horst-Bienek-Preis. Zudem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.

Du berichtest von politischen Stimmungen, gesellschaftlichen Minderheiten, sozialen Ungerechtigkeiten, von Armut und Lebensfreude, Schicksalsschlägen und Hoffnungsschimmern – ganz gleich, wo du dich befindest. Was macht uns Menschen aus? Konntest du durch deine Reisen Verbindendes entdecken, das in uns allen ist, unabhängig von kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten?

Wir Menschen sind einander viel ähnlicher, als wir es uns eingestehen wollen. Gleichzeitig verbirgt sich in uns vieles, das verschüttet oder verstummt zu sein scheint, in gewissen Konstellationen aber sofort wieder zum Vorschein kommt. Zum Beispiel die Erfahrung der frappanten Möglichkeit, sehr lange Erzählungen nach dem Zuhören wortwörtlich wiederzugeben, was in Somaliland auch heute noch gang und gäbe zu sein scheint. Eine Erinnerungskunst, die bei uns fast gänzlich durch Technik ersetzt wurde. Wir können so vieles sein und sind auch so vieles, ohne es zu wissen.

Welche Begegnung auf deinen Reisen für das Logbuch ist dir besonders in Erinnerung geblieben, welches Bild hat sich in dein Gedächtnis eingebrannt?

Das ist vielleicht das Besondere an diesem Projekt. Da es mit einer im Vorhinein festgelegten Zeitstruktur, einem Zwölf-Stunden-Fenster operiert, in dem alles passiert (oder eben nichts), entsteht ein sehr großer Aufmerksamkeitsdruck. Alles, was ich erlebe, jede*r, dem*der ich begegne, brennt sich mit einer immensen Prägnanz in meine Erinnerung ein. Ich kann alle zwölf Orte, alle zwölf Schreibreisen in mir sofort wieder abrufen. Das gelingt mir sonst im Alltag nicht. Aber die Sprache macht das möglich, wie so vieles …

Du bist Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor und bezeichnest dich selbst als „literarische Amphibie“ und „Grenzgänger zwischen verschiedenen Literaturwelten“. Ist Sprache für dich die beste Ausdrucksform, oder gibt es neben der Literatur auch noch andere für dich?

Sprache ist bestimmt das Medium, in dem ich mich am sichersten bewege. In den letzten Jahren hat sich meine Art des Ausdrückens erweitert, vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem Akkordeonisten Jure Tori auf eine Vortragsart, die wir „poetisch-musikalisches Ritual“ nennen.
Für das Logbuch habe ich mir etwas anderes einfallen lassen: eine Reiseperformance in Worten, Klängen und Bildern. Eine Reise um das Jetzt in zwölf Welten.
In all diesen Vortragsformen geht es aber um dasselbe, nämlich darum, eine Brücke zum Text zu bauen, damit dieser sich im Kontakt mit dem Unbekannten entfalten kann, so wie er sich in mir entfaltet. Das ist eine bereichernde Tätigkeit: die Leute in mein Geheimnis mit einzubeziehen und die Erfahrung der Wachheit des Textes zu teilen.

Wie geht es weiter für dich? Arbeitest du bereits an einem neuen Projekt?

Ich sitze gerade an einem Roman und einem Gedichtband. Es sind diesmal vor allem Reisen ins Innere, in Archive und in den Alltag. Es muss ja nicht immer eine Weltreise sein, um die Welt zu ertasten. Etwas Vergleichbares wie das Logbuch-Projekt nochmal zu machen, scheint für mich nicht realisierbar. Es erfordert schlicht und ergreifend sehr viel Lebenskraft – so etwas machen auch die größten literarischen Draufgänger*innen nur einmal.

„Schon die ersten Sätze faszinierten mich.“ – Michael Forcher über Alfred Komarek

Ob in Krimis, Kinderbüchern, Sachbüchern oder Bildbänden: Alfred Komarek verstand es wie kein Zweiter, Lesende mit seinen Worten zu begeistern.  Im Nachwort zu Alfred Komareks Werk „Spätlese“ erinnert sich Michael Forcher, der Gründer des Haymon Verlags, an die erste Begegnung mit Alfred Komarek und seinen Werken …

 

Ich habe ihn mir anders vorgestellt. Nein. Eigentlich habe ich ihn mir überhaupt nicht vorgestellt. Alfred Komarek war für mich schlicht und einfach ein Name, eher abstrakt. Er stand für Geschichten, Gedanken, Worte, Musik. Ja, auch Musik, was natürlich nicht nur mit Wortklang und Sprachmelodie zu tun hat, sondern auch damit, dass es Gedanken, Worte zum Weiterspinnen waren, zum Hineinträumen bei romantischer Musik, zum Sich-hinein-Verkriechen …

Viele, viele Menschen meiner Generation „50 plus“, aber auch Jüngere wissen, wovon die Rede ist: von Alfred Komareks Kultsendung „Melodie exklusiv“, die in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren regelmäßig hunderttausende Menschen zu später Abendstunde vor den Radioapparaten versammelte.

Später las ich wohl das eine oder andere von Alfred Komarek, in einem Merian-Heft, im Geo vielleicht, im Gedächtnis blieb es nicht. Und „Melodie exklusiv“ gab es nicht mehr. Dann gründete ich den Haymon Verlag, hatte Kontakt mit jungen, engagierten Autorinnen und Autoren, aber auch ordentliche Schwergewichte der Branche stießen zum Haymon Verlag. Wir hatten Erfolge zusammen, erlebten Enttäuschungen, und wie jeder Verleger hoffte ich inständig darauf, einmal den großen Coup zu landen.

Eines Tages entdeckte ich unter den gerade eingelangten Manuskripten ein Kuvert mit einem mir wohlvertrauten Namen: Alfred Komarek. Habe ich es falsch in Erinnerung oder schlug mir wirklich plötzlich das Herz bis zum Hals … Dieser Alfred Komarek? Kann das sein?
Tatsächlich, es war dieser Alfred Komarek, und er bot mir das Manuskript seines ersten Kriminalromans zur Veröffentlichung an: „Polt muß weinen“. Nie vorher und auch nachher nicht mehr habe ich mich so schnell ans Lesen gemacht, da galt keine Reihenfolge der eingelangten Manuskripte mehr. Und schon die ersten Sätze faszinierten mich, ein geradezu perfekter Anfang. Ein großer Erzähler war da am Werk. Aber auch ein Sprachkünstler, der mit wenigen Worten dichte Stimmung aufbauen kann.

Nach wenigen Seiten war Komareks Absicht klar: Die vordergründig gar nicht so spannende, aber letztlich packende und berührende Kriminalgeschichte mit – wie es sich erweisen sollte – überraschender Lösung war mit dem Hintergedanken geschrieben worden, den Leser*innen die dörfliche Welt der Weinbäuer*innen in der nordöstlichen Ecke Österreichs vorzustellen. Der Mord und seine Aufklärung waren sozusagen die Folie, auf der Komarek das Charakterbild einer Region und ihrer Menschen entwarf. Als Alfred Komarek mit dem ersten Simon-Polt-Roman „Polt muß weinen“ den renommierten Glauser-Preis gewann, stand denn auch die „Einfühlsamkeit, mit der der Autor die Menschen und die Landschaft des kleinen Ortes im Weinviertel nördlich von Wien beschreibt“ neben „der atmosphärischen Dichte und Bildhaftigkeit von Komareks Sprache“ im Mittelpunkt der Urteilsbegründung.

 

Aber ich eile voraus. Zunächst einmal war ich sofort entschlossen, den Roman ins Programm zu nehmen. Ein paar Jahre vorher hatten wir mit Kurt Lanthalers Tschonnie-Tschenett-Romanen erste Schritte auf dem Sektor der Kriminalliteratur gewagt, wobei für mich neben der literarischen Qualität der sozialkritische Akzent im Schreiben des Südtiroler Autors entscheidend war, der nicht nur unterhalten, sondern aufklären will und seine Geschichten so nahe wie möglich an der Wirklichkeit entlang erzählt. Der Erfolg blieb nicht aus. Auch die bald darauf gestarteten Kurt-Ostbahn-Krimis von Günter Brödl erreichten große Popularität und dementsprechend hohe Auflagen.
Und jetzt Alfred Komarek! Wie er mir später sagte, hatte er als verlagstreuer Autor den Roman zuerst mehreren größeren Verlagen angeboten, mit denen er schon in Kontakt stand. Die waren aber skeptisch und trauten sich nicht drüber. Wozu jetzt ein Krimi? Soll bei seinem Leisten bleiben, haben die wohl gedacht. Freund*innen und Kolleg*innen rieten Komarek dann, sich an den Innsbrucker Haymon Verlag zu wenden, der inzwischen zu einer der ersten Adressen in Österreich für dieses Genre geworden war.

 

Meine umgehend abgesandte Zusage, den Roman zu verlegen, war mit der Bitte verbunden, uns bald einmal in Wien treffen und persönlich kennenlernen zu können. Und da stand er vor mir. Erstmals leibhaftig. Er, der vorher nur Wort, nur Sprache war. Im Café Schwarzenberg war es, nach dem Eingang gleich links, ein Tisch im Eck am Fenster. Er hatte beschrieben, wo er sitzen würde. Stand auf, als er meinen suchenden Blick bemerkte. Herr Komarek? Herr Forcher? Grüß’ Sie Gott, freut mich … Ein großer, schlanker Mann mittleren Alters, im dezenten Straßenanzug mit eher altmodischer Krawatte. Freundlich, gewinnend. Ohne jede Starallüre.

Wir fanden uns im Reden, wurden schnell einig über Detailfragen des zu schließenden Vertrags, besprachen Termine, PR-Maßnahmen und was sonst alles dazugehört zum Geschäftlichen. Ich ließ mir vom Weinviertel erzählen, was ihn so fasziniert an der Landschaft dort, an den Menschen, warum er nach Rundfunk- und Magazinfeatures, Reisereportagen, kleinen Erzählungen, Essays, Texten zu Bildern, zu Kunst und Kultur und vielen anderen Facetten des Schreibens jetzt zum Krimiautor geworden war, der schon weitere Romane rund um den sympathischen Weinviertler Gendarmerie-Inspektor im Kopf hatte. „Ich wollte einen Lebensraum und seine Menschen, die Vorteile und Probleme des heutigen Lebens auf dem Land einmal nicht in Reportage- oder Sachbuchform darstellen, sondern es auf andere Weise probieren, und der Kriminalroman eignet sich dazu besonders gut, weil ein Mord den Alltag auseinanderklaffen lässt und verdrängtes, verleugnetes Unbewusstes herzeigt.“

Seit dem Tag sind mehr als zehn Jahre vergangen. Komarek hat mich damals gebeten, ihm ein strenger Lektor zu sein, allzu häufig verwendete Formulierungen und auffallende Lieblingswörter gnadenlos herauszustreichen, ja nichts durchgehen zu lassen. Ich bin dem Wunsch nachgekommen, doch habe ich nicht viel gefunden, was man hätte herausstreichen müssen. Selbst das angelernte Bemühen, unnötige Adjektiva auszumerzen und die Eigenschaften der Dinge eher der Fantasie der Leser*innen zu überlassen, ging größtenteils ins Leere.

Denn Komarek ist zwar ein Autor der vielen Adjektiva und Adverbien, doch sind es nie simple Ergänzungen aus dem Alltagswortschatz, sie schränken nie die Fantasie des Lesers ein, im Gegenteil, sie sind wohlüberlegt, überraschend kreativ, kaum eines ist verzichtbar, will man nicht den Sinn des ganzen Satzes, die Bedeutung der Aussage entstellen, ein Fenster zumachen, das der Autor durch gerade dieses Wort geöffnet hat.

Sehr oft verändern, relativieren die gewählten Eigenschaftswörter die Bedeutung des Hauptwortes, mildern, verschärfen, ja verkehren sie raffiniert ins Gegenteil, gibt ein Adverb dem folgenden Zeitwort einen neuen Sinn. Bei welchem Autor liest man sonst von „grausamer Zärtlichkeit“, wer beschreibt ein „Fest von sanfter Zügellosigkeit“, wer lässt einen Menschen „aufdringlich entspannt“ sein? Beispiele über Beispiele könnte man da anführen. Komareks Wörter treffen den Kern, durchdringen wie Röntgenstrahlen die äußere Wahrnehmungsschicht, legen tiefere Ebenen frei.

Und dann seine pointierte Sprache, sein Witz, seine Bonmots! Eine Formulierung wie „Die Existenz eines freiberuflichen Schriftstellers ist der eines Seiltänzers ohne Netz verdammt ähnlich“ könnte man auch bei anderen lesen. Bei Komarek kommt was nach „… und zuweilen fehlt auch noch das Seil.“ Niemand Geringerer als der verstorbene Altmeister unter Österreichs Sprachkünstlern, Hans Weigel, war von solchen Sätzen begeistert. Auch von dem: „Schön miteinander schweigen ist übrigens auch ein Gespräch.“ Dass diese Begabung Komarek zum Essayisten und Feuilletonisten alter Schule adelt, hat Hans Weigel im Vorwort zu Komareks Buch „Gott hab uns selig“ – aus dem in der vorliegenden Sammlung auch zahlreiche Beispiele abgedruckt sind – mit der Bemerkung hervorgehoben: „Als Alfred Polgar starb, nannte ich ihn in meinem Nekrolog den ‚letzten Ritter des Feuilletons‘. Ich bin glücklich, dass ich mich damals geirrt habe.“

 

Feuilletonistische Schärfe in Wortwahl und Formulierung sind das eine, Komareks Erzählkunst eine andere. Denn wunderbare Sätze, überraschende Metaphern und gescheite Gedanken machen noch keinen Roman aus. Geübt und erfahren in der kleinen Form märchenhafter Erzählungen, ausgestattet mit unbändiger Fantasie einerseits und exzellenter Beobachtungsgabe andererseits, dazu noch mit einem auch analytisch einsetzbaren Verstand, dem einige Semester Jusstudium offenbar nicht geschadet haben, ist er imstande, spannende Plots zu erfinden, Dialoge, Szenen und Bilder zu einer sinnvollen Handlung zusammenzuführen. Ein guter Erzähler eben, es gibt nicht gar so viele, leider!

 

Das Stichwort „Jusstudium“ erinnert mich daran, dass noch die Biografie Alfred Komareks zu erzählen ist. Geboren ist er am 5. Oktober 1945 in Bad Aussee. Sein Vater war Lehrer und Gelegenheitsautor, der dem Drittgeborenen die Lust am Formulieren und Erzählen vererbte, was sich schon früh in einer „übermütigen Hemmungslosigkeit im Umgang mit dem Material Sprache“ (O-Ton Komarek) niederschlug. Nach der Matura am Gymnasium in Stainach-Irdning bremste der Vater den Wunsch des geradezu schreibwütigen Sohnes, gleich als freier Autor tätig zu werden und riet ihm, zur Absicherung ein Jusstudium zu beginnen.

 

Für diese Argumentation hatte Alfred Komarek durchaus Verständnis, inskribierte in Wien und legte nicht nur die ersten beiden Staatsprüfungen ab, sondern bewährte sich auch als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Deutsche Rechtsgeschichte. „Ich bereue das bis heute nicht“, betont der erfolgreiche Autor im Rückblick, „denn wer mit dem kreativen Chaos in seinem Inneren produktiv umgehen will, sollte es auch gelernt haben, folgerichtig zu denken und ein stimmiges Konzept umzusetzen.“ Neben dem Studium machte der angehende Jurist das, was er am liebsten tat, nämlich schreiben, ab 1965 für den ORF, ab 1966 als freier Mitarbeiter der Wochenzeitung „Die Furche“. Aber der Stern des Alfred Komarek ging erst richtig auf, als die Geschichte des Rundfunks in eine neue Phase trat, als er – wie Komarek sagt – erwachsen wurde, sich nicht mehr für Unterhaltung genierte und nach der Rundfunkreform von 1968 mit Ö3 ein „junges“ Programm aus der Traufe hob.

 

Darin wurde dem Wort eine neue Dimension eingeräumt. Zwar waren es nach dem Vorbild der Programme der amerikanischen Besatzungstruppen in Europa meist frei sprechende Moderator*innen, die wortwörtlich das Sagen hatten, doch gelang es Komarek, radiogerechte Texte, Texte zum Hören zu schreiben, die von grandiosen Sprecher*innen wirkungsvoll an die Hörer*innen gebracht wurden, zuerst in „Entre nous“ von Erika Mottl und Wolfgang Hübsch, dann in „Melodie exklusiv“ von Meinrad Nell und Ingrid Gutschi, später in der Reihe „Texte“ von Ernst Grissemann. Gleichzeitig entstanden jede Menge anderer Manuskripte fürs Radio, für österreichische Lokalsender genauso wie für große, deutsche Rundfunkanstalten. Alfred Komarek war etabliert, verdiente ordentlich, war inzwischen glücklicher Ehemann, ging einer schönen Zukunft entgegen. Da passierte es. Seine Frau wurde das Opfer einer schweren psychischen Erkrankung, ihr Tod riss auch ihn in eine existenzielle Krise. „Ich wär auch bald draufgegangen“, sagt er nun. Er ist einer, der nie viel von sich erzählt. Aber wenn er schon nicht anders kann, als diese Katastrophe seines Lebens zu erwähnen, vergisst er nie dazuzusagen, dass es eine wunderbare Ehe war und er deshalb nur mehr allein weiterleben wolle. „So eine Frau finde ich nie mehr, wozu also noch einmal an Heirat denken …“ Wie sehr dieser gewaltige Lebenseinschnitt Komareks Schaffen beeinflusste, ist schwer zu sagen. Man müsste genaue Textvergleiche anstellen, um Spuren zu finden. Und würde sich wohl oftmals täuschen. Der Tod als Teil des Lebens war für ihn schon sehr früh ein gar nicht seltenes Thema, mit dem er – so wie heute auch – leicht und spielerisch umging, in Märchen und Bilder verkleidet. Manchmal verwirrten seine Texte gerade junge Fans. „Also, ich weiß nicht, sind Sie ein junger Alter oder ein alter Junger“, schrieb ihm eine Hörerin in den Siebzigerjahren. Und heute könnte es umgekehrt sein, als „guter Sechziger“ schreibt er so, dass ihn angesichts seiner Unbekümmertheit und seiner Lust am Schabernack vielleicht manch ältere Leser*innen für sehr jung hielten – es soll noch Leute geben, die nichts über Alfred Komarek gehört, gelesen oder ihn im Fernsehen gesehen haben. „Immer mehr fällt mir auf, dass mein Gesicht im Spiegel zwar älter ausschaut, dass meine Interessen, Gedanken und Gefühle aber die gleichen geblieben sind, auch mein berufliches und persönliches Selbstverständnis hat sich in den fünfundvierzig Schriftsteller-Jahren nicht wesentlich geändert.“

 

Mitte der Achtzigerjahre schlitterte Komarek auch noch in eine berufliche Krise. In allen Programmbereichen des Rundfunks wurde der Wortanteil immer kleiner und von immer besseren Moderator*innen bestritten, für das geschriebene Wort war bald kein Platz mehr. „Als ich im Radio nach und nach verzichtbar wurde, stand ich erst einmal verdutzt da und verarmte rapid. Ich war vierzig und lief, nach langen Beisl-Abenden riechend, jedem, aber auch wirklich jedem Auftrag hinterher, verfolgt von Furcht erregenden Steuerschulden aus besseren Tagen und belächelt von den erfolgreich Etablierten.“

 

Dass er wieder zu ihnen aufschließen konnte und so manchen überholen, hat Komarek harter Arbeit zu verdanken, seiner Ausdauer, Selbstdisziplin und Professionalität, seinem Fleiß, seiner vielseitigen Begabung und „… einer guten Portion Glück“, ergänzt er bescheiden und versichert glaubhaft, gerade deshalb nie billigen Triumph empfunden zu haben, er wisse genau, ohne dieses Glück hätte es auch anders ausgehen können. Beides, Schöpferkraft und Glück, meinte wohl Journalisten-Urgestein Herbert Völker, sein alter Weggefährte und Förderer, wenn er in einer Laudation auf Alfred Komarek mit einem Alfred-Polgar-Zitat das seltsamskurrile und gerade deshalb so stimmige Bild fand: „Wo er hintritt, da wächst Gras …“

 

Auf Komareks Lebensweg wuchs jedenfalls bald wieder Gras, dicht und üppig. Zunächst hielt ihn eine „durchaus nicht nutzlose“ Karriere als Werbetexter über Wasser – und mehr als das. Wohl jeder Österreicher kennt einen von Komarek erfundenen Slogan „Raunz nicht, kauf! – Wenn er’s nur aushält, der Zgonc!“

 

Dann entdeckten Büchermacher*innen und Magazinredakteur*innen Komareks Begabung, über verschiedenste Themen sinn- und lustvoll zu schreiben und dabei im Gegensatz zu anderen genialen Schreiber*innen auch noch verlässlich zu sein und pünktlich abzuliefern. Sowas spricht sich herum in der Branche. Er machte sich vor allem als weltweit agierender Mitarbeiter von Reisemagazinen einen Namen und stellte österreichische Landschaften und Lebensräume, kulturelle Schätze und Naturschönheiten in Büchern vor. Dass er darin weit über das Beschreiben hinausging, veranlasste Hans Weigel, ihn einen „Geosophen“ zu nennen, das Ergebnis dieser Art von Landeskunde eine „Melange aus Anschaulichkeit, Wissen und Charme“.  Und: „Ein konstituierendes Element seines Schreibens ist der Humor.“ Fügen wir hier gleich noch das außergewöhnliche Lob eines Berufskollegen und Weggefährten von besonderem publizistischen Gewicht an: Helmut A. Gansterer ließ einmal verlauten: „Komarek hat noch keinen langweiligen Satz geschrieben!“ Ganz schön stark!

 

Es folgten Sachbücher, profunde Begleittexte für Kunstbücher, Drehbücher fürs Fernsehen. Kleine Erzählungen entstanden, später Kinderbücher. Sogar Liedtexte flossen aus seiner Feder, in den Anfängen „zum Teil abscheuliche Machwerke für diverse Schlager“, wie Komarek heute zugibt, „unter dem Pseudonym Alfred Schilling geschrieben, damit jeder wusste, worauf es mir ankam.“ Später wurden die Texte anspruchsvoller, einige waren für damals prominente österreichische Sänger*innen und Gruppen bestimmt wie die Milestones. In Zusammenarbeit mit Toni Stricker entstand sogar eine CD mit Edita Gruberova als Sängerin. Er lässt sich halt schwer einordnen, dieser Komarek!

 

Und dann die Romane. Und ihr sensationeller Erfolg. Irgendwie war das Weinviertel an allem schuld. „Ich bin als Stadtflüchtling ins Weinviertel gekommen. Aussee war für einen schnellen Ausflug zu weit weg von Wien. Fasziniert hat mich an dieser Landschaft der Gegensatz zum Salzkammergut: hier eine bergende, bestimmte, spektakuläre Gegend, dort eine weithin offene, auf den ersten Blick beiläufige, leise Landschaft. Dazu die eigentümlichen Strukturen von Dörfern und Kellergassen, die mir bislang völlig fremde Welt der Presshäuser und Weinkeller, archaisch fest gefügt, aber auch verletzlich. Der Weg dorthin, das Bleiben, das Langsam- und Ruhig-Werden ist ein wichtiger Teil meines Lebens.“ Komarek kauft im Pulkautal einen Weinkeller mit dazugehörigem Presshaus, das er sorgfältig und respektvoll herrichtet. Immer öfter verbringt er hier seine Wochenenden und manche Tage dazwischen. Ein zweites Presshaus rettet er durch seinen Kauf vor dem Verfall und erhält sein skurriles Inventar wie ein Museum. Er wird heimisch, lernt die Leute kennen, gehört bald zum lebenden Inventar der Gegend. Und setzt ihr mit seinem Gendarmerie-Inspektor Simon Polt ein literarisches Denkmal.

 

Das letzte Jahrzehnt habe ich als Komareks glücklicher Verleger selbst miterlebt. Den großen Erfolg mit „Polt muß weinen“ und den Friedrich-Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi; den Lizenzverkauf an den Diogenes Verlag, der mit den Polt-Taschenbüchern neue Leser*innenschichten vor allem in Deutschland erschloss; das Interesse Erwin Steinhauers, den sympathischen Gendarmen zu verkörpern; die von knapp einer Million Österreicher*innen gesehene Ausstrahlung im ORF genau zu dem Zeitpunkt, als der zweite Polt-Roman auf den Markt kam: „Blumen für Polt“. Dann Polt 3 und 4 und die nächsten Filme, Fernseh-Talkshows, Interviews, Lesungen, das allgemein immer größer werdende Echo. Natürlich schrieb Komarek währenddessen auch anderes, darunter ein neues Kinderbuch, Fernsehdrehbücher, ein Theaterstück und für den Haymon Verlag die Texte zu Bildbänden über das Ötztal (Fotos von Guido Mangold), über Venedigs Inselwelten („Laguna“ mit Bildern von Manfred Duda). Einen fünften Polt-Krimi wollte er vorerst nicht mehr schreiben. „Im Pulkautal passieren halt nicht so viele Morde.“ Dem Ansinnen, Polt zur TV- Serienfigur zu machen, widerstand er umso leichteren Herzens. Für Polt sprang Daniel Käfer in die Bresche, ein arbeitslos gewordener Magazinjournalist, den Komarek erfand, um eine andere Landschaft seines Herzens in mehreren Romanen vorzustellen: das Ausseerland. Keine Krimis mehr, aber Romane mit starken Charakteren und einem liebenswerten Völkchen rundherum, mit viel Landschaft, Kultur und Geschichte, witzigen Dialogen und einer spannenden Handlung, eben mit allem, was guten Lesestoff auszeichnet. Der Erfolg der Polt-Romane setzte sich fort, die Filmfirma,  der Regisseur und der ORF stiegen wieder ein. Mit Peter Simonischek erhielt auch Daniel Käfer einen prägnanten, unverwechselbaren Darsteller.

 

Komareks inzwischen riesige Fangemeinde freut sich auf den vierten und letzten Käfer-Roman, erhofft (nicht aussichtslos) danach einen fünften Polt-Krimi und kommt mit dem vorliegenden Buch endlich auch schwer oder gar nicht zugänglich älteren Texten. Denn wer den echten und wahren Komarek kennenlernen will, muss verschiedenen Spuren folgen und braucht unterschiedliches Futter für seinen Lesehunger. Hier ist es, greifen Sie zu! Aber mit Bedacht. Ich empfehle, denn so hat man mehr davon, es sich langsam und genießerisch Happen für Happen einzuverleiben. Auf diese Weise können Sie mit Alfred Komarek auf Reisen gehen, österreichische Besonderheiten nachsichtig belächeln, alte Autos ausprobieren, der Esslust frönen, ernste Probleme weiterdenken – oder in eine Märchenwelt voller Symbole, Anspielungen, in Wachträume versinken.