Behauptetes Klassikertum: Warum deine Leseliste ein diskriminierender Boys-Club ist und wie wir das jetzt ändern!

Literaturklassiker“– das klingt nach einer überzeitlichen, objektiven, allgemeingültigen Auswahl. Bücher, die so eingeordnet sind, sind über jede Kritik erhaben, schließlich haben sie sich über viele Jahre bewährt und – so sagt man – stehen beispielhaft für ganze Literaturepochen und Gesellschaften. Sie bieten Orientierung, nach der wir uns alle sehnen und können uns Wissen über Herrschaftsverhältnisse, ästhetische Werte, geschichtliche Entwicklungen vermitteln. So weit, so gut – aber stimmt das überhaupt?

Teresa Reichl ist Germanistin (inkl. Staatsexamen fürs Lehramt), Literaturnerd, Kabarettistin mit Solo-Programm, Youtuberin – und: Autorin. Auf Instagram (@teresareichl), Tiktok und Youtube wird sie von mehreren Tausend Menschen gefeiert. Denn: Teresa Reichl geht den Erzählungen auf den Grund, die wir rund um die großen Autoren und ihre Bücher erschaffen haben. Ihr Ziel: Jugendlichen die Freude am Lesen zu vermitteln. Den literarischen Kanon diverser zu gestalten. Lehrkräfte dabei zu unterstützen, neue und andere Bücher in den Unterricht zu bringen. Und vor allem: Literatur endlich feministisch zu machen.
Foto: © Lolografie

Teresa Reichl hat sich durch die Deutsch-Lehrpläne für die Oberstufen aller deutschen und österreichischen Bundesländer geackert und kommt zum Schluss, dass auf den Leselisten fast ausschließlich Werke von Menschen versammelt sind, die in die Kategorien männlich, weiß, christlich, cis, nicht-behindert, aus der „Oberschicht“ und hetero fallen. Und weil Klassiker nicht nur für die Lehrpläne, sondern für sehr viele Lebensbereiche den (zumindest behaupteten) Qualitätsstandard setzen, sieht es in Zeitungen, Buchhandlungen, Uni-Bibliotheken und vielleicht auch in deinem Regal genauso wenig divers aus.

Aber können solche Listen, in denen immer wieder der gleiche kleine Ausschnitt einer Gesellschaft zu Wort kommt, wirklich die Realität ihrer Zeit abbilden und für ihre Gesamtheit sprechen? Ist es wirklich so, dass Frauen oder migrantifizierte Menschen nichts geschrieben haben? – Bullshit!, sagt Teresa Reichl und zeigt auf, wie über viele Jahrhunderte Stimmen bewusst verdrängt und unsichtbar gemacht wurden. Und dass wir deswegen heute nicht so tun dürfen, als wüssten wir nichts von patriarchalen, klassistischen, rassistischen, ableistischen Strukturen, die den Großteil der Menschen von Teilhabe und Kanonisierung ausgeschlossen haben und dies bis heute tun.

Es ist deshalb Zeit für den nächsten logischen feministischen Schritt: Die Literatur und ihre Geschichte werden umgeschrieben. Werden divers. Werden endlich korrigiert. Teresa Reichl hat einen ausgewachsenen Alternativ-Kanon zusammengestellt. Um zu zeigen, dass es Bücher (ja, auch alte!) von Autor*innen gibt, von denen immer behauptet wird, sie hätten nichts geschrieben.

Ihr Buch “Muss ich das gelesen haben?” und die folgende Liste sollen dabei nur ein Anfang sein. Du kennst Bücher, die auf dieser Liste fehlen und die unbedingt ergänzt gehören?

Reiche deine Must-Reads unter www.mussichdasgelesenhaben.com ein! Holen wir die verdrängten Stimmen zurück in die Literaturgeschichte und bauen wir gemeinsam einen Alternativ-Kanon, der viele Perspektiven kennt!

Komödien

  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame, 1956
  • Fleißer, Marieluise: Pioniere in Ingolstadt, 1928 (oder 1929 oder 1968)

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Das Testament, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Der Witzling, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Hausfranzösinn oder die Mammsell, 1744

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, 1732

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die ungleiche Heyrath, 1743

  • Hauptmann, Gerhart: Der Biberpelz. Eine Diebskomödie, 1893

  • Hauptmann, Gerhart: Schluck und Jau, 1899

  • Lessing, Gotthold Ephraim: Minna von Barnhelm, 1767

  • Viebig, Clara: Pharisäer, 1899

Frauen [1]

  • Fleißer, Marieluise: Fegefeuer in Ingolstadt, 1924
  • Goethe, Cornelia: Briefe und Correspondance Secrete 1767-–1769, 1990
  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Panthea, 1744 (oder 1772)
  • Haushofer, Marlen: Die Mansarde, 1969
  • Haushofer, Marlen: Die Wand, 1963
  • Haushofer, Marlen: Eine Handvoll Leben, 1955
  • La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771
  • Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens, 1895
  • Schwarz, Sibylla: Gesang wider den Neid. Sibylla Schwarz – Barockdichtung aus Greifswald, 2013
  • Schwarz, Sibylla: Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden, 2021
  • Viebig, Clara: Wildfeuer, 1896

Judentum

  • Becker, Jurek: Jakob der Lügner, 1969
  • Frank, Anne: Tagebuch, 1947
  • Kerr, Judith: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, 1971
  • Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, 1975
  • Levoy, Myron: Der gelbe Vogel, 1977
  • Seghers, Anna: Das siebte Kreuz, 1942
  • Seghers, Anna: Transit, 1944
  • Tergit, Gabriele: Effingers, 1951

Islam

  • Abdel-Samad, Hamed: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland, 2019
  • Daas, Fatima: Die jüngste Tochter, 2021
  • El Masrar, Sineb: Muslim Girls. Wer wir sind, wie wir leben, 2010
  • El Masrar, Sineb: Muslim Men. Wer sie sind, was sie wollen, 2018
  • Jagiella, Leyla: Among the Eunchs. A Muslim Transgender Journey, 2021
  • Yaghoobifarah, Hengameh und Aydemir, Fatma: Eure Heimat ist unser Albtraum, 2019
  • Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume, 2021

Sinti*zze und Rom*nja

  • Müller, Josef „Muscha“: Und weinen darf ich auch nicht … Ausgrenzung, Sterilisation, Deportation – eine Kindheit in Deutschland, 2002
  • Reinhardt, Dotschy: Gypsy. Die Geschichte einer großen Sinti-Familie, 2008
  • Stojka, Ceija: Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht. Gedichte (Romanes, deutsch) und Bilder, 2003
  • Stojka, Ceija: Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Z, 1992
  • Stojka, Ceija: Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Z, 1988
  • Tschawo, Latscho: Die Befreiung des Latscho Tschawo. Ein Sinto-Leben in Deutschland, 1984
  • Tuckermann, Anja: „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner, 2005
  • Tuckermann, Anja: Muscha, 1994

Behinderte Autor*innen [2]

  • Aguayo-Krauthausen, Raúl: Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive, 2014
  • AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein/Olpe (Hrsg.): Bei Hörgeschütz: Ruhig Blutdruck, Geschichten aus dem echten Leben, 2013
  • Barroso, Carlos: Mein Leben und ich, 2010
  • Ebner, Amelie: Willkommen im Erdgeschoss: Wie ich mich mit 17 im Rollstuhl wiederfand, 2017
  • Feldwieser, Sabine (Hrsg.): Das Leben ist, bevor man stirbt. Texte und Bilder zu Sterben, Tod und Jenseits von Menschen mit geistiger Behinderung, 2011
  • Fohrmann, Petra: Ein Leben ohne Lügen! Die Tagebücher der Dagmar B., 2005
  • Fraas, Christine (Hrsg.): ICH kann schreiben. Briefe, Bilder und Geschichten von Hermine, 1999
  • Hanousek-Mader, Iris (Hrsg.): Es war die Eule in mir, 2014
  • Herbrand, Monika (Autorin) & Can Gercekoglu (Co-Autor): Wenn ich tanzen will. Autismus zum Anfassen, 2012
  • Huainigg, Franz-Joseph (Hrsg.): Kann nicht schlafen. Literaturpreis Ohrenschmaus: die besten Texte, 2012
  • Keller, Christoph: Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion, 2020
  • Koenig, Michaela: Traust du mir das zu, 2000
  • Krieger, Armin: Einsamer Junge, 2005
  • L’Audace, Luisa: Behindert und stolz: Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht, 2021
  • Melle, Thomas: Die Welt im Rücken, 2018
  • Mevissen, Katharina: Ich kann dich hören, 2019
  • Paulmichl, Georg: Ins Leben gestemmt. Neue Texte und Bilder, 1994
  • Paulmichl, Georg: Verkürzte Landschaft. Texte und Bilder, 1990
  • Paulmichl, Georg: Vom Augenmass überwältigt. Briefe, Glossen und Bilder, 2001
  • Reeh, Alexander: Immer nach den Sternen greifen, 2009
  • Russ, Michael et al.: Special poetics. Neue Texte, 2005
  • Stabenow, Peter: Fantasie und Wirklichkeit, 2013
  • Tucker, Bonnie Poitras: Der Klang von fallendem Schnee. Leben ohne zu hören, 2018

Queere Autor*innen

  • Amborn, Erich: Und dennoch Ja zum Leben: die Jugend eines Intersexuellen in den Jahren 1915–1933, 1981
  • Anonym: Der Liebe Lust und Leid der Frau zur Frau, 1895
  • August Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg: Ein Jahr in Arkadien – Kyllenion, 1805
  • Conradi, Lou: Baby Butch, 2019
  • De l’Horizon, Kim: Blutbuch, 2022
  • Elbe, Lili: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte, 1932
  • Giese, Linus: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war, 2020
  • Kühnert, Phenix: Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau, 2022
  • Pelny, Marlen: Liebe / Liebe, 2021
  • Russo, Meredith: Als ich Amanda wurde, 2016
  • Schaefers, Marius: In den buntesten Farben, 2022
  • Slater, Dashka: Bus 57. Eine wahre Geschichte, 2017
  • Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen, 1891
  • Weirauch, Anna Elisabet: Der Skorpion (Band 1, 2 und 3), 1919, 1921, 1931

Bi_PoC [3]

  • Ayim, May: blues in schwarz-weiss, 1995
  • Ayim, May: Weiter gehen. Gedichte, 2020
  • Aziz, Amina et al.: Encyclopaedia Almanica: Diese neue deutsche Enzyklopädie ist eine Verweigerung, 2020
  • Götting, Michael: Contrapunctus, 2015
  • Ha, Kien Nghi: Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond, 2021
  • Hagen, Zoe: Tage mit Leuchtkäfern, 2016
  • Hasters, Alice: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten, 2019
  • Hierse, Lin: Wovon wir träumen, 2022
  • Hügel-Marschall, Ika: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben, 1998
  • Khabo Koepsell, Philipp (Hrsg.): Afro Shop, 2014
  • Michael, Theodor: Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, 2013
  • Obulor, Evein; RosaMag (Hrsg.): Schwarz wird großgeschrieben, 2021
  • Ogette, Tupoka: exit racism. rassismuskritisch denken lernen, 2019
  • Oguntoye, Katharina; Opitz, May; Schultz, Dagmar: Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, 1986
  • Otoo, Sharon Dodua: Adas Raum, 2021
  • Otoo, Sharon Dodua: Die Dinge, die ich denke, während ich höflich lächle … und Synchronicity. Zwei Novellen, 2017
  • Park Hong, Cathy: Störgefühle. Über anti-asiatischen Rassismus, 2022
  • Phạm, Khuê: Wo auch immer ihr seid, 2021
  • Thomae, Jackie: Brüder, 2019
  • Thomas, Angie: The Hate U Give, 2017
  • Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst, 2020
  • Zöllner, Abini: Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder, 2013

„Arbeiter*innenklasse“

  • Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse, 2020
  • Baron, Christian; Barankow, Maria (Hrsg.): Klasse und Kampf, 2021
  • Darer, Harald: Blaumann, 2019
  • Gluchowski, Bruno: Der Honigkotten, 1969
  • Helms, Karl Heinrich: Krupp & Krause, 1965
  • Hüser, Fritz; Von der Grün, Max (Hrsg.): Aus der Welt der Arbeit – Almanach der Gruppe 61 und ihrer Gäste, 1966
  • Johnson, Uwe: Mutmassungen über Jakob, 1959
  • Mayr, Anna: Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, 2020
  • Strittmatter, Erwin: Ole Bienkopp, 1963
  • Sudermann, Hermann: Die Ehre, 1889
  • Sudermann, Hermann: Frau Sorge, 1887
  • Sudermann, Hermann: Im Zwielicht, 1887
  • Von der Grün, Max: Irrlicht und Feuer, 1967
  • Von der Grün, Max: Männer in zweifacher Nacht, 1962
  • Wolf, Christa: Der geteilte Himmel, 1964

[1] Vieles aus Frauenliteratur von Nicole Seifert

[2] Vieles von diewortfinder.com

[3] Vieles von eulemagazin.de