
Haymon Her Story – Doris Brehm revisited
Mit „Eine Frau zwischen gestern und heute“ ist Bettina Balàka und Katharina Prager eine beachtliche Wiederentdeckung gelungen. Das „lange übersehene Glanzstück der österreichischen Nachkriegsliteratur“ (ORF) und das hochinteressante Leben seiner Urheberin Doris Brehm waren 70 Jahre lang weitgehend unbeachtet geblieben, ehe diese als Auftakt der Reihe Haymon HerStory dieses Jahr auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Es ist ein Werk, dessen Neuentdeckung interessante Schlaglichter wirft, etwa auf literaturhistorische Kanonisierungsprozesse. Aber auch eines, das weiße Flecken im kollektiven Geschichtsbewusstsein aufzufüllen vermag, auch bei so zentralen Themen, wie – um nur wenige Beispiele zu nennen – der Auseinandersetzung mit dem Widerstand in der NS-Zeit (und der Rolle, die insbesondere Frauen darin einnahmen) oder personellen, wirtschaftlichen, ideologischen Kontinuitäten, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Österreich fortschrieben.
Wir haben uns mit Bettina Balàka und Katharina Prager unterhalten, um die ersten Wochen zu rekapitulieren, in denen Doris Brehms vergessenes Werk wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Nicht zuletzt, weil sich in diesen Wochen viel getan hat: Im Großen, wie im Kleinen.
Liebe Bettina, liebe Katharina, wie ist es euch in der Zeit nach der Veröffentlichung gegangen, habt ihr mit dem Medienecho gerechnet?
Katharina Prager: Sicher nicht in diesem Ausmaß. Faszinierend dabei ist, wie historische Entwicklungen und gesellschaftliche Mechanismen hier zusammenwirkten, um eine derart interessante und vernetzte Frau so völlig unsichtbar zu machen. Normalerweise gibt es um „Wiederentdeckungen“ doch irgendeine Bubble, in der die Person bekannt ist. Bei Doris Brehm war das am ehesten noch der kommunistische Widerstand, aber auch der wurde ja in Österreich eher verdrängt als gefeiert. Und auch hier war sie kein „Name“ wie andere. Im Literaturbetrieb an sich wiederum wurde sie aufgrund ihrer kommunistischen Vernetzungen nicht wahrgenommen. Und als alleinstehende, schließlich verarmte Frau hatte sie klarerweise auch keine Lobby. Das alles erklärt vielleicht, warum dieser literarisch und historisch unglaubliche Roman derart verschwinden konnte.
Bettina Balàka: Vielleicht ist die Wiederentdeckung einfach zur richtigen Zeit gekommen. Ein bisschen werde ich den Verdacht nicht los, dass der Roman – zusätzlich zu allen anderen Faktoren, die zu seinem Vergessen führten – Elemente enthält, die in der Nachkriegszeit unangenehme Fragen aufwarfen. Er widerspricht deutlich zwei Narrativen: Erstens, dass man ja nichts gewusst habe von den Vernichtungslagern, und zweitens, dass Widerstand unmöglich gewesen sei. Nun, da die Kriegsgeneration nicht mehr lebt, kann man sich damit beschäftigen.
Was war die größte Überraschung, der ihr während der Recherche und im Nachgang der Veröffentlichung begegnet seid?
Katharina Prager: Überrascht hat sie uns immer wieder. So hatten wir anfangs kein genaues Todesdatum und kein Grab, wohl aber ein Aktfoto, das sich privat überliefert hatte. Die Menschen, die sie noch gekannt hatten, erinnerten sich an eine ältere Frau, die offenbar sehr gedehnt und altmodisch sprach. In den Quellen und in ihren Texten begegnet man aber dann einer jungen, modernen Frau, die sich immer wieder engagiert und öffentlich äußert – zu Sexualität, Rassismus, Feminismus …
Bettina Balàka: Bei den Interviews habe ich mir immer gedacht, man sollte daraus lernen, vermeintlich schrullige alte Damen nicht zu unterschätzen – vielleicht haben sie eine sehr beeindruckende Geschichte hinter sich.
Ich fand es sehr spannend zu sehen, wie Brehms Erfahrung als Schauspielerin und als vermutlich sehr involvierte Ehefrau eines Bühnenarchitekten in die Textkonstruktion einfloss. Jüngst konnten wir Dokumente des Österreichischen Schriftstellerverbandes einsehen, aus denen hervorgeht, dass sie auch als Dramaturgin tätig war – man merkt es!
Die fiktive Geschichte Gerda Manners gibt nicht nur Einblicke in eine Familie, die durch ideologische Differenzen erschüttert wird, sondern auch Einblicke in die Organisation des Widerstands, das Verstecken von sogenannten U-Booten vor den Vertretern des NS-Regimes, letztlich auch vor dem Ehemann. Fordern diese Einblicke aus erster Hand (Brehm war ja selbst U-Boot-Referentin) die Art heraus, wie wir heute an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnern?
Katharina Prager: Die Geschichte von U-Booten ist extrem schwer zu erforschen, weil die Datenlage extrem schlecht ist – und sie wurde auch erst sehr spät systematisch untersucht. Klarerweise wurden auch in Oral-History-Interviews schon Schlaglichter auf die Lebensumstände der Versteckten und Versteckenden geworfen. Aber Doris Brehm ergänzt in ihrem Roman Dimensionen, die nach wie vor tabuisiert sind – die Spannungen, die in dieser Art des Zusammenlebens notgedrungen entstehen. Die Entscheidungen, die immer neu zu treffen sind. Die persönlichen Ambivalenzen der Helfenden, die eben im Alltag mit dem Nationalsozialismus umgehen müssen.
Bettina Balàka: Es gibt viele kleine Details, die unser Bild ergänzen oder etwas verschieben. Im Roman zeigt sich eine immense erotische Spannung, die nicht nur trotz, sondern möglicherweise gerade wegen des Angstdrucks zwischen den Menschen entsteht. Wir haben die Vorstellung, dass Männer damals nicht kochten – hier ist es der Widerstandskämpfer Kurt, der das tägliche Zubereiten der vorwiegend aus Erdäpfeln bestehenden Gerichte für sich und die beiden Frauen übernimmt und dabei größtmögliche Kreativität an den Tag legt. Auch Gerdas Nazi-Ehemann überrascht immer wieder: Nachdem ihm beispielsweise klar wird, dass etwas sehr Illegales vor sich geht, forscht er lieber nicht weiter nach und lässt alles auffliegen, sondern beschränkt sich auf die Protestmaßnahme, die Tochter Luzi zum Arbeitsdienst wegzuschicken.
© Bildarchiv der KPÖ
Doris Brehm (1908–1991): Schriftstellerin, Bibliothekarin und Widerstandskämpferin. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Brehm im kommunistischen Widerstand als „U-Boot-Referentin“, deren Aufgabe es war, geheime Unterkünfte für Jüdinnen und Juden sowie Deserteure zu organisieren. Im April 1945 wurde sie Mitglied der KPÖ, war in der Redaktion der von den drei demokratischen Parteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ) herausgegebenen Tageszeitung „Neues Österreich“ tätig und begann ihre Arbeit als Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Der Roman „Eine Frau zwischen gestern und morgen“ erschien 1955 und ist von den Erfahrungen Brehms geprägt. |
© Christopher Mavrič
Bettina Balàka wurde 1966 in Salzburg geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen und Erscheinungen. Bei Haymon zuletzt erschienen: der historische Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ (2023), der Gedichtband „Die glücklichen Kinder der Gegenwart“ und der Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen“ (beide 2024). |
© Christian Lendl
Katharina Prager ist Zeithistorikerin und Biografieforscherin. Sie publizierte zahlreiche Artikel und Bücher zu Wien um 1900, zu Exil und Migrationen wie auch Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Michael Mitterauer Preis und dem Böhlau Jubiläumspreis der Stadt Wien. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Forschung ist der Satiriker Karl Kraus, zu dem sie ein Handbuch herausgab, Ausstellungen kuratierte und 2024 eine Wiener Vorlesung hielt. Hauptberuflich leitet sie den Bereich Forschung und Partizipation, zu dem auch Wien Geschichte Wiki gehört, an der Wienbibliothek im Rathaus. |
War die Wiederentdeckung auch ein Türöffner für neue Forschungen, habt ihr in Folge der Veröffentlichung vielleicht sogar Neues über Doris Brehm und ihren „zurückgezogenen“ Lebensabend erfahren?
Bettina Balàka: Nach der Veröffentlichung erfuhren wir, dass Doris Brehm offenbar bis ein Jahr vor ihrem Tod ehrenamtlich das Zeitschriftenarchiv des Sigmund-Freud-Museums betreute und dieses wohl auch aufgebaut hatte – die ehemalige Direktorin des Museums meldete sich bei uns und beschrieb sie als vornehme, höfliche Dame, die die spezielle Angewohnheit hatte, ihre Würstel im Wassererhitzer der Kaffeemaschine zu wärmen, wodurch der Kaffee am Morgen einen seltsamen Beigeschmack bekam. Das widerspricht dem Bild, das wir hatten, nämlich dass Doris Brehm ihre letzten Jahre weitgehend vereinsamt im Altersheim verbrachte. Der traurige Umstand, dass sie völlig verarmt starb, obwohl sie arbeitete und wohl Wichtiges leistete, bekam dadurch eine weitere, bittere Dimension.
Katharina Prager: Sowohl bei der Buchpräsentation als auch danach haben sich noch Menschen gemeldet, die Brehm – oft als Kinder und Jugendliche – gekannt hatten oder noch Material zu ihr hatten. Anna Bendek plant nun etwa ihre Erinnerungen für die Zwischenwelt aufzuschreiben. Außerdem hat uns der Österreichische Schriftstellerverband angeschrieben, der noch einen Akt zu Doris Brehm hat – darin waren spannende Hinweise auf Brehms Leben in Deutschland als Schauspielerin und Journalistin enthalten … denen sollte man nachgehen. Wir hoffen ja, dass dieser Roman und seine Rahmung erst der Anfang der Befassung sind und sie nun jedenfalls in der Forschung zu U-Booten, aber auch zu Schriftstellerinnen in der Nachkriegszeit einbezogen wird. Und vielleicht schreibt ja dann jemand auch eine Biografie über sie – ihr Leben gibt noch viel mehr her als wir im Nachwort unterbringen konnten.
Ist der Titel des Romans nicht ironischer- und gewissermaßen prophetischerweise auf Doris Brehms Leben anwendbar, schließlich schöpft ihr Schaffen aus ihrer unmittelbaren Vergangenheit und projiziert sich mit dieser posthumen Wiederentdeckung in eine Zukunft, die sie leider nicht mehr erlebt hat, während es zu Lebzeiten offenbar kaum rezipiert wurde. Wie ging es der Doris Brehm zwischen „gestern und morgen“ mit ihrem Roman, der kaum öffentlich stattfand?
Katharina Prager: Das ist schwer zu sagen. Sie machte nie viel Aufheben um sich. Die Heldinnen ihrer Romane üben sich bewusst darin, sich selbst zu kennen, aber sich nicht so wichtig zu nehmen – moralische Menschen zu sein. Offenbar machte sie nicht einmal ihre engen Freund:innen auf den Roman aufmerksam. Die meisten, mit denen wir über Doris Brehm sprachen, kannten den Roman nicht, wussten gar nicht, dass sie geschrieben hatte. Sie war als Leihbibliothekarin bekannt, als wichtige Frau im Schönbrunn-Verlag, als Rezensentin … Zugleich hatte sie sehr progressive Ansichten, die sie für „zeitgemäß“ hielt, die es aber eben doch noch nicht waren – oder eben erst 20 bis 50 Jahre später.
Bettina Balàka: Doris Brehm war eine Frau, die in diesem langen 20. Jahrhundert unglaubliche gesellschaftliche Umbrüche miterlebte – von der Monarchie bis zur Zweiten Republik, von der Russischen Revolution bis zum Ende der Sowjetunion. Die Abfolge der Paradigmenwechsel muss sehr aufreibend gewesen sein, der innere moralische Kompass war wohl wichtig als Stabilisator. Womöglich fiel es Doris Brehm gar nicht auf, dass ihre Bescheidenheit, dieses stille, unprätentiöse Wirken im Hintergrund allen Klischees entsprach, die man auf Frauen projizierte. Vielleicht war es ihr auch egal und sie wollte lieber ihren ethischen Ansprüchen genügen als Ruhm ernten.
Doris Brehms Roman wurde von Klaus Kastberger und Kurt Neumann in die „Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945“ aufgenommen. Was bedeutet diese „hochoffizielle“ Kanonisierung eines Werks, auch im gesellschaftlichen Kontext?
Bettina Balàka: Es ist eine große Freude und zeigt eine grundsätzlich neue Offenheit hinsichtlich einer Erweiterung des Kanons.
Katharina Prager: Besser hätten wir uns das eigentlich nicht wünschen können. Uns geht es ja darum, Frauen sichtbar zu machen, deren Werk wir für wichtig halten. Die Publikation des Buches und die Erforschung der Biografie von Brehm sind erste Schritte, aber die Aufnahme in die „Grundbücher der österreichischen Literatur“ gibt nochmals ein Gütesiegel darauf, das hoffentlich auch denen, die es noch nicht wissen, deutlich macht, dass Doris Brehms Name nicht mehr vergessen werden darf.
Der Konsens darüber, was von unserer Kultur als bewahrenswert betrachtet wird, entsteht nie unabhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und es ist kein Geheimnis, dass jahrhundertelang Bücher von Frauen unsichtbar gemacht wurden. Vermutlich liegen viele weitere literarische Glanzstücke von Frauen* in Archiven, die in Vergessenheit geraten sind. Arbeitet ihr gerade an der Bergung eines solchen Schatzes und darf man schon Genaueres zum kommenden Band der Haymon HerStory erfahren?
Bettina Balàka: Der nächste Band wird der Roman „Anständige Frauen“ der 1855 in Wien geborenen Emilie Mataja sein, die unter dem Pseudonym Emil Marriot publizierte – auch noch, als ihre Identität längst bekannt war. Sie veröffentlichte über 20 Bücher, in denen sie sich mit einer Fülle gesellschaftskritischer Themen beschäftigte, gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Vereins der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in Wien, war mit Rosegger, von Saar und nicht zuletzt Karl Kraus bekannt, dessen Einladung zur Mitarbeit an der „Fackel“ sie ausschlug. Wir freuen uns sehr auf diese spannende Wiederentdeckung!
Zwei Frauen im Widerstand: Wie viel sind sie bereit zu riskieren?
Zwischen bitterem Verrat, unmöglicher Liebe und eiserner Entschlossenheit
- Der Roman von Doris Brehm aus den 1950er-Jahren erzählt von Widerstand, Menschlichkeit und Mut, von der Emanzipation einer Frau während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit.
- Eine Buchhandlung in Wien: Versteckt hinter Büchern, die nicht mehr existieren dürfen, rettet Gerda mehr als nur Worte, schafft einen sicheren Ort, grenzt die Zerstörung aus.