„Geschichten wie jene von Kerstin schärfen unseren Blick auf das, wo wir hinschauen sollten: Gewalt, Not, Bedürftigkeit.“ – ein Interview mit Judith Leopold
Kerstin Opiela wird 1991 geboren, wächst in Wien auf, geht zur Schule, erlebt aber eine Kindheit, die weit von einer Bilderbuchvorstellung entfernt ist. Da ist ein Vater, der nicht da ist, und eine Mutter, die Betreuungspflichten nicht wahrnehmen kann und darf, Armut, Kinderheime, die höchstens Aufbewahrungsstätten sind. Es folgen Obdachlosigkeit, Teenager-Schwangerschaft und Teenager-Mutterschaft. Kerstins Teilnahme bei „Teenager werden Mütter“ verändert schließlich (fast) alles. Was einerseits eine Einladung zur Massenkritik und Belustigung bietet, ist andererseits ein Sprungbrett, eine neue Möglichkeit, das Leben wieder selbst gestalten zu können.
Heute geht es Kerstin darum, Mut zu machen. Den Mädchen und Frauen, die Ähnliches erleiden, denen, die von Gewalt betroffen sind. Und dabei auch die Kontrolle über das Narrativ rund um ihre Person zurückzuerlangen. Kerstin hat ihre Geschichte der Journalistin Judith Leopold erzählt, die sie seit langem begleitet. Judith hat diese Geschichte aufgeschrieben – ein emanzipatorischer Akt, der die Kerstin hinter der Schlagzeile zeigt.
Im Interview sprechen wir mit Judith über die Entstehung von „Kerstin unscripted“, Kerstins vielschichtige Persönlichkeit, den Umgang mit sensiblen Themen wie Gewalt und Missbrauch sowie die Relevanz ihrer Geschichte für uns alle.
Kerstin kennen viele aus „Teenager werden Mütter“ als Person aus dem „Trash TV“, als eine Person des öffentlichen Lebens. Wie oder als wen kennst du Kerstin?
Am Anfang des Buches nenne ich sie Rockstar-Elfe, weil sie viele Seiten hat: Kerstin ist ein bisserl verrückt, ziemlich chaotisch, wie sie sich oft selber beschreibt, dazu verpeilt, lustig. So kommt sie auch bei „Teenager werden Mütter“ rüber. Aber sie hat auch noch ganz andere Seiten, die nicht so grell sind. Ich habe sie in den letzten Jahren als liebevoll, verzeihend, reflektiert und tief empathisch für Familie und Menschen in ihrer Umgebung erlebt. Öfter schien sie mir durch ihre Ansichten und Werte vernünftiger als viel älteren Menschen in ihrem Umfeld. Aber: Wenn ihr etwas gegen den Strich geht, sie zum Beispiel im Netz gehated wird, kann sie auch aufdrehen und sehr wütend werden. Das ist aber bis zu einem gewissen Grad auch eine wichtige, sehr gesunde Reaktion.
Schon der Titel „Kerstin unscripted“ deutet darauf hin, dass das Buch eben keine Standardbiografie sein soll, sondern hinter die Kulissen, hinter die Schlagzeilen blicken möchte. Wie bist du auf die Idee gekommen, so ein Buch zu schreiben? Was war dir besonders wichtig bei diesem Buch und warum braucht es genau dieses Buch?
Kerstin und ich kennen uns flüchtig seit vielen Jahren, weil ich immer wieder Storys über sie und die Show gebracht habe in meiner redaktionellen Tätigkeit für eine große Tageszeitung. Vor einiger Zeit hat sie den Wunsch geäußert, ihre Geschichte umfassend zu erzählen. In Buchform! Sofort war klar, dass wir das miteinander machen wollen. Warum? Weil ich selber sehr neugierig war und hinter die Fassade dieser Frau schauen wollte. Mich hat schon lange interessiert, wer sie wirklich ist. In „Teenager werden Mütter“ hat Kerstin immer wieder kleine Details ihrer Vergangenheit preisgegeben. Dass sie als Kind im Heim war, dass es mit ihren Eltern schwierig gelaufen ist, wie viel Gewalt sie erfahren hat, dass sie als Jugendliche auf der Straße gelandet ist. All diese Themen, wie sie sie geschildert hat, fast nebenbei, das hat etwas mit mir gemacht. Da wollte ich wissen, wie diese junge Frau es von so weit unten wieder hinaufgeschafft hat.
Das ist auch der Grund, warum es dieses Buch dringend braucht: Durch persönliche Geschichten werden uns Erlebnisse, die viele Menschen betreffen, nähergebracht. Wir schauen hin, wo wir sonst lieber ausblenden, weil es weh tut oder unangenehm ist. Ich kenne das selbst auch, sich einzulassen holt uns aus der Komfortzone raus, in der wir doch gerne gemütlich verharren wollen. Aber andere Lebensrealitäten kennenzulernen hilft uns, Empathie für jene Menschen zu empfinden, die wir nicht kennen, die es aber auch gibt. Geschichten wie jene von Kerstin – wie wir uns sehr wünschen würden – schärfen unseren Blick auf das, wo wir hinschauen sollten: Gewalt, Not, Bedürftigkeit. Und sehend durch die Welt zu gehen, mehr wahrzunehmen, was um uns passiert, das ist der erste Schritt, etwas besser zu machen.

Judith Leopold (* 1983 in Wien) hat Komparatistik studiert und ist seit über 15 Jahren als Journalistin vor allem im Kultur- und Societybereich tätig. Sie begleitet Kerstin Opiela seit langem, hat sie in vielen Treffen kennengelernt und mit ihr über ihre Erinnerungen gesprochen, die als Basis dieses Buchs dienen. Leopold führt Gespräche mit Menschen aus Kerstins Umfeld, sichtet stapelweise Dokumente, interviewt Expert*innen – und schreibt Kerstins Geschichte nieder.

Kerstin Opiela wurde 1991 geboren. Sie ist ehrlich, optimistisch, kreativ und immer sie selbst. Bekannt wurde Opiela in Österreich als „die Kerstin“ durch die Teilnahme an mehreren TV-Formaten, allen voran „Teenager werden Mütter“. Schon in sehr jungen Jahren hat Kerstin miterlebt, dass unsere Gesellschaft, das System, das ihr zugrunde liegt, Lücken aufweist. Dass es immer wieder Menschen gibt – Menschen wie sie selbst –, die in den Bruchstellen dieses Systems zuhause sind. Kerstin lebt als Musikerin und TV-Star mit ihren Kindern und ihrem Partner in Wien.
Das Buch befasst sich mit Themen wie (Macht-)Missbrauch und mit traumatischen Ereignissen. Wie war der Entstehungsprozess des Buches, die dazugehörenden Gespräche mit Kerstin und das Niederschreiben für dich? Gab es Besonderheiten oder Herausforderungen im Schreibprozess und worauf musstest du spezifisch achten?
Für mich hat das Projekt so richtig angefangen mit der prall gefüllten, schweren blauen Ringmappe, in der Kerstin alle medizinischen Unterlagen, Berichte von Psycholog*innen, Briefe und Protokolle vom Jugendamt und ihren Heimaufenthalten gesammelt hat. Die hat sie mir eines schönen Frühlingstages rübergeschoben und gemeint: „Das nimmst jetzt mit.“ Ohne den geringsten Zweifel hat sie mir in dem Moment große Stücke ihres Lebens überlassen. Ich habe sie genommen, und da wussten wir beide: Wir können und wollen einander vertrauen.
Diese Unterlagen, wo ich plötzlich von tiefgehenden Schwierigkeiten in der Kindheit gelesen habe oder Medikamentengaben, von Familienaufstellungen oder Tagebucheinträgen, waren oft Ausgangspunkt für unsere zahlreichen Gespräche. Das war in Summe sehr herausfordernd für mich, weil vieles an Kerstins Leben mich tief berührt hat. Ich musste darauf achten, immer wieder Pausen einzulegen, damit ich die nötige Distanz und Objektivität, die es für ein solches Projekt auch braucht, nicht verliere. Besonders wichtig war für mich von der ersten bis zur letzten Zeile, Kerstin gerecht zu werden, sie bestmöglich einzufangen, Zusammenhänge zu erklären und in Perspektive zu setzen. Da waren auch alle vom Verlag mehr als hilfreich und haben mich in allen Punkten unterstützt.
Kerstins Erzählungen werden immer wieder mit Einschüben ergänzt, in denen Expert*innen das Geschehene einordnen und auch versuchen, es zu erklären. Wie war es für dich, zusätzlich eine außenstehende Perspektive auf die Geschehnisse einzubinden? Ist es dir schwergefallen, diese Einordnungen beziehungsweise Erklärungen mit Kerstins Geschichte zu verknüpfen?
Jede einzelne Expert*inneneinschätzung hat dem Projekt sehr gutgetan und ich bin dankbar, dass fast alle, die ich dabeihaben wollte, gleich mitgemacht haben. Yvonne Widler und Agota Lavoyers Expertisen zum Thema Gewaltstrukturen zeigen zum Beispiel deutlich: Kerstin ist nicht die einzige Frau, die Gewalt so oder ähnlich erlebt hat. Es ist schauderhaft, wie sehr sich Schicksale wiederholen können, wie viel wir über Opferschutz wissen und doch zu wenig verhindern können.
Die Verknüpfungen zwischen Kerstins Leben und einem großen Ganzen waren sehr wichtig für das Buch. Schwergefallen ist mir interessanterweise, dass ich an manchen Stellen fast zu detailliert gedacht habe. Gerne noch mehr und weiter erforscht hätte, wie Kerstins Leben anders laufen hätte können. Lösungen finden. Doch auch das ist wichtig, den roten Faden, die eigentliche Mission nicht aus den Augen zu verlieren. Und das ist: Kerstins Geschichte zu erzählen.
Im Buch lesen wir folgende Stelle:
„Diese Geschichte, die ich erlebt habe, ist nicht nur meine alleine. Die Details sind meine persönlichen Erlebnisse. Aber das große, beängstigende Ganze ist etwas, das viele Frauen erleben. Tagtäglich. Junge, alte, reiche, arme, komplett wurscht, wie sie ausschauen, wer sie sind, wo sie im Leben stehen. Es kann alle treffen. Ich rede von Gewalt. In allen grausigen Facetten: Körperlich, psychisch. Schläge, Watschen, Tritte, Würgerei, Beschimpfungen, Anschreierei, Niedermachen. Meine Geschichte ist eine von vielen. Und ja, leider auch eine von vielen, die nicht verhindert wurde. Nicht von mir selbst, nicht von anderen. Denn die Gewalt, die mir ein Mann antat, die fand nicht (nur) im stillen Kämmerlein statt. Sondern auch oft genug auf der Straße, in einer U-Bahn-Station, vor Zeug:innen.“
Was muss sich in der Gesellschaft ändern, damit Frauen mehr gehört werden, damit ihnen geglaubt wird, damit sie geschützt werden?
Darauf würde ich gerne die ultimative Antwort haben, die ich, SPOILER, leider nicht habe. Aber: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir viel für unsere eigenen Leben mitnehmen können, wenn wir einander zuhören, wenn wir offen sind für die Geschichten und Erlebnisse anderer Menschen. Besonders auch, wenn es sich um andere Lebensrealitäten dreht. Das kann ein Beginn sein: offen zuhören, ohne Erwartungen zu haben, das Gehörte wirken lassen. Manche Strukturen, wenn es zum Beispiel um Gewalt geht, werden uns immer wieder begegnen. Die Ähnlichkeiten sind erschreckend. Und dann sollte irgendwann der Punkt kommen, an dem sich die Frage stellt: Wie gehe ich damit um, was kann ich in meinem Umfeld ändern? Es ist, wie die Expertinnen Yvonne Widler und Agota Layover im Buch sagen: Es muss ein strukturelles Umdenken stattfinden. Mit den Männern und nicht gegen sie. Das kann bei unseren Söhnen anfangen, denen wir Empathie lehren und nicht nur vorleben, ein „hoarter Kerl“ zu sein. Das kann in der Schule sein, dass wir einfordern, Rollenklischees stärker aufzubrechen. Und ja, es muss auch immer wieder die Forderung an unsere Politik sein, dass Frauen Männern gleichgestellt werden, die Care-Arbeit aufgeteilt wird. Wir müssen zusammen Verantwortung tragen und nicht nach Geschlecht einteilen.
Beim Lesen wird auch deutlich, dass Kerstin trotz alldem, was ihr widerfahren ist, hoffnungsvoll geblieben ist. Das zeigt diese Stelle sehr eindrücklich:
„Mit wild klopfendem Herzen setze ich mich neben den Schienen ins Gras und spüre deutlicher als je zuvor, dass ich leben will! Ich will dieses Leben genießen, Freude haben, ich will alle Facetten erleben, ich will mich verlieben, will vielleicht einmal eine Familie gründen, etwas Sinnvolles anfangen mit meinem Dasein. Das ist mein Pakt mit mir selbst in dieser kühlen Nacht, unter den Sternen, als der Zug längst vorbeigefahren ist an mir und ich dort bin, wo ich hingehöre: im Leben. Kurz denke ich noch nach über meine Gefühle, die mich fast überwältigt hätten. Die Gedanken sausen mir noch immer durch den Kopf, aber es gelingt mir, ein bisschen stiller zu werden. Vielleicht schaffe ich das jeden Tag, nehme ich mir vor, ein bisschen mehr Stille im Kopf und in meinem Herzen, Ruhe und, wenn ich Glück habe, etwas Zufriedenheit zu fühlen. Nach einer Weile breche ich auf, erfüllt von diesen neuen Vorhaben und mit Bildern einer Zukunft, die ich mir erträume. Ein Mann in meinem Leben, der mich sehr gern hat, Kinder und ein Zuhause, in dem ich mich wirklich angekommen fühlen kann. Und singen will ich! So laut, dass alle mich hören können!“
Was ist für dich die wichtigste Botschaft, die wir aus Kerstins Geschichte mitnehmen sollten?
Eine wichtige, für mich sehr kraftvolle Botschaft aus Kerstins Geschichte ist, dass wir für unser Leben immer wieder kämpfen sollten, auch in harten Zeiten, denn es zahlt sich aus. Wir wissen nicht, ob es morgen oder nächste Woche nicht schon besser läuft! Positiv bleiben, auch wenn es schwerfällt; andere Menschen unterstützen, wenn diese es zurzeit nicht leicht haben. Für mich ist Kerstins Geschichte eine tief Menschliche, aus der viele Menschen (hoffentlich) etwas mitnehmen können. Ich habe mitgenommen, dass man auch ganz unten zumindest immer noch sich selber hat und vielleicht ein bisserl Humor, um schwere Zeiten zu ertragen.
Über Machtmissbrauch, Resilienz und den Menschen, der hinter der Schlagzeile steht: Kerstin
Kerstin spricht über die unzähligen Momente, in denen sie stark sein musste, sich allein fühlte, über die Momente, in denen sie trotz allem optimistisch in die Zukunft blickte. Leser*innen lernen die Kerstin hinter der Kulisse – hinter der Schlagzeile – kennen. Kerstins Ziel: Jenen Hoffnung zu geben, die nicht mehr weiterwissen, und eine Stimme zu sein für die, die keine eigene haben. Das hier ist ihre Geschichte.
Erhältlich online und überall, wo es Bücher gibt.