Titelbild Sonne

„Ich wusste sofort, dass Krieg ist, aber Angst hatte ich keine.“ – Andrej Kurkow

„Am 24. Februar 2022 wurden meine Frau und ich von Explosionsgeräuschen geweckt, daran erinnere ich mich ganz genau. Ich wusste sofort, dass Krieg ist, aber Angst hatte ich keine. Ich war schockiert und konnte keinen Gedanken fassen.“ – Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow berichtet vom Beginn des Angriffskrieges der russländischen Truppen mit dem die schlimmsten Befürchtungen Realität wurden, von Angst und Zerstörung, vom Gestern und Heute und betont, wie wichtig es ist, ukrainische Literatur zu lesen. Übersetzung aus dem Russischen von Claudia Dathe.

 

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler.

Ich versuchte auszublenden, was geschah.

Ich musste an meine eigenen Prognosen denken, ich hatte schon angenommen, dass der Krieg kommen würde, aber vermutet, er würde sich auf den Donbas beschränken. Ja, ich war schockiert. Ich tigerte durch die Wohnung, lief von den Fenstern, die auf die Straße hinausgingen, zu den Fenstern zum Hof. Ich schaute auf die Welt, deren Ruhe und Normalität trügerisch war. Gegen sechs Uhr schlugen zwei weitere Raketen in Kyjiw ein. Leute kamen auf die Straße: die Hausmeister und zwei Frauen mit Hunden. Es war der erste Tag des Krieges, der erste Tag der russländischen Invasion.

Seitdem haben meine Frau und ich viermal den Wohnort gewechselt. Wir haben unsere Kyjiwer Wohnung und unser Landhaus im Gebiet Schytomyr verlassen. Wir waren in Lwiw, in den Karpaten, sind bei Freunden untergekommen und haben in einer Wanderhütte übernachtet. Jetzt sind wir in Transkarpatien und leben in der Wohnung einer betagten Dame, die wir vorher gar nicht kannten. Sie ist die Verwandte eines unserer Bekannten. Sie hat uns den Wohnungsschlüssel gegeben und ist zu ihrer Tochter gezogen. Jetzt wohnen wir hier zu viert, aber wir haben ständig Übernachtungsgäste. Manche von ihnen kennen wir überhaupt nicht.

 

Unsere Söhne tun an der ukrainischen Grenze Dienst und helfen Flüchtlingen. Wenn jemandem die Ausreise verwehrt wird, weil irgendwelche Dokumente fehlen, bringen sie ihn zu uns zum Übernachten. Unser letzter fremder Gast war Wladimir aus Charkiw. Mit anderen Dialysepatienten wurde er aus einem Charkiwer Krankenhaus evakuiert. Alle anderen ließ man ausreisen, ihn nicht. Er ist 46 Jahre alt, und die Grenzbeamten verlangten von ihm eine Bescheinigung der Wehrbehörde, dass er nicht wehrpflichtig ist.

Er musste auf dem Boden schlafen, wie auch unsere Söhne. Am nächsten Morgen fuhr Theo, unser Ältester, mit ihm zur Wehrbehörde, und dort wurde Wladimir die entsprechende Bescheinigung ausgestellt. Jetzt ist er in Deutschland, er hat die anderen chronisch Kranken aus Charkiw eingeholt. Sie werden in ein deutsches Krankenhaus gebracht, das sich bereit erklärt hat, ihre weitere Behandlung zu übernehmen.

Als ein Monat seit Kriegsbeginn vergangen war, dachte ich noch einmal über die Angst nach.

Ehrlich gesagt mache ich mir meistens nicht so viele Gedanken über mein persönliches Leben. Aber dann fiel mir die Angst wieder ein. Das einzige Mal, dass ich Angst hatte, war Anfang März 2014, als das Russländische Parlament Auslandseinsätzen der russländischen Armee zustimmte.

Ich holte mein Majdan-Tagebuch („Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests“, Erstveröffentlichung im Mai 2014) hervor und fand den entsprechenden Eintrag. Und tatsächlich sah ich in meinem Tagebuch Angst. Angst um die unmittelbare Zukunft, Angst, dass es jetzt zu einem großen Krieg kommen könnte.

Der große Krieg begann acht Jahre später. Doch gekämpft hat die russländische Armee in der Ukraine schon seit acht Jahren. Inkognito, ohne Siege oder Niederlagen zu melden.

„Tagebuch einer Invasion“ erscheint am 13. Oktober 2022 und ist schon jetzt vorbestellbar.

Heute schreibe ich wieder mehr über die aktuellen Ereignisse.

Jeden Morgen rufe ich Freunde und Bekannte in verschiedenen Städten an. Ich bekomme Nachrichten aus den besetzten Städten. Aus lauter kleinen Puzzleteilen setze ich das aktuelle Bild zusammen und dokumentiere es. Zwar schreibe ich jetzt mehr Essays und Reportagen, aber das ist auch so etwas wie ein Tagebuch.

Alles, was jetzt passiert, ist eine Fortsetzung des Donbas-Krieges, der im Frühjahr 2014 begonnen hat. Es ist die Fortsetzung der Annexion der Krym, korrekterweise müsste man diese Ereignisse als Versuch meiner Annexion der Ukraine bezeichnen.

Putin ist sichtlich gealtert. Er schickt sich an, diese Welt zu verlassen. Doch ehe er sie verlässt, will er möglichst viele schreckliche Erinnerungen an sich selbst prägen. Er möchte als der russländische Führer in die Schulbücher eingehen, dem es gelungen ist, das Russländische Imperium wiederherzustellen beziehungsweise eine neue Sowjetunion zu schaffen. Bereitwillig opfert er dafür hunderttausende russländische Menschenleben und treibt die russländische Wirtschaft in den Ruin.

Die Ukraine macht derzeit Schweres durch. Und was uns bevorsteht, wird noch schwerer sein.

Aber ich bin froh, dass die ukrainische Armee der russländischen Invasion widersteht. Ich bin begeistert von den Ukrainern, die sich weigern, aufs Neue sowjetische Sklaven oder Sklaven der Russländischen Föderation zu werden. Die Arbeit der Regierung und des Parlaments flößen mir Vertrauen ein, obwohl ich sie immer kritisiert habe und sie nach dem Krieg wieder kritisieren werde. Für mich ist jetzt das Wichtigste, dass dieses „nach dem Krieg“ Wirklichkeit wird, damit wir die von Russland zerstörten Städte und Dörfer wieder aufbauen, alle getöteten Ukrainer begraben, die Verwundeten heilen und das Trauma des Krieges überwinden können.

Um die Gründe zu verstehen, warum Russland die Ukraine überfallen hat, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. In die fernere und in die unmittelbare Vergangenheit. Ich habe selbst schon mehrmals in mein Majdan-Tagebuch geschaut und dort etliche Antworten gefunden.

Während ich die Einträge gelesen habe, beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl: als läse ich etwas, das ein anderer geschrieben hat, nicht ich.

We #standwithukraine! Menschen in und aus der Ukraine brauchen unsere Solidarität. Es gibt wichtige Initiativen, die sich mit aller Kraft für die Menschen in Notlage einsetzen. Wir haben hier ein paar davon versammelt.

Ich weiß inzwischen, woher dieser Eindruck kommt. Ich habe mich in den letzten sieben, acht Jahren sehr verändert. Ich bin älter geworden und habe vieles von dem verstanden, was mir früher nicht ganz klar war. Ich lese das Tagebuch als anderer Mensch, als jemand, den der Krieg traumatisiert hat und der viel mehr von Leben und Tod weiß als das andere Ich, das in den Jahren 2013/14 das Tagebuch verfasst hat.

Liebe Leserin, lieber Leser. Es ist mir sehr wichtig, dass Sie heute dieses Tagebuch lesen oder Dinge darin nachlesen, während russländische Bomben auf ukrainische Städte fallen.

 

Lesen ist auch eine Unterstützung für die Ukraine.

Je mehr Sie über die Ukraine und die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen, desto schneller findet die Ukraine zu einem normalen Leben zurück, desto besser verstehen Sie die ukrainische Geschichte, die ukrainische Kultur und können darüber sprechen. Desto mehr Freunde werden wir überall in der Welt haben. Und Freunde braucht die Ukraine heute mehr denn je. Ohne Freunde geht die Ukraine zugrunde.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Andrej Kurkow haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Natalka Sniadanko, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!