„Das ist das Faszinierende: zeigen zu können, was alles in einem Buch steckt.“ – Veronika Schuchter und Irene Zanol zu Literaturkritik und -vermittlung

Neue Medien und soziale Netzwerke bergen auch neue Möglichkeiten für Literaturkritik und -vermittlung und für den Austausch über Bücher: Du kannst schnell und überall dein Handy zücken und nachsehen, welche Meinungen du online zu einem Buch findest – seien es ausführliche Rezensionen oder schnelle Sternebewertungen von Leser*innen. Aber was genau unterscheidet eigentlich Literaturkritik von privater Meinung? Wen erreicht welches Format? Und ist eine Auswahl bereits eine Wertung? Linda Müller hat mit Veronika Schuchter, Literaturkritikerin für Deutschlandfunk Kultur und Die Furche, und mit Irene Zanol, Podcasterin bei Auf Buchfühlung, gesprochen.

Das Gespräch fand in weihnachtlicher Atmosphäre statt. Im Bild: Linda Müller (Haymon Verlag), Veronika Schuchter (Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin für Die Furche und Deutschlandfunk Kultur) Irene Zanol (Literaturwissenschaftlerin und Podcasterin bei Auf Buchfühlung)

Veronika, man hört momentan immer wieder davon, dass die Literaturkritik im Wandel sei – oft im Hinblick auf neue Formate wie Social Reading, Buchpodcasts oder Bookstagram. Fallen diese Formate in deinen Augen überhaupt in den Bereich der Literaturkritik oder müsste man eher davon sprechen, dass sich die Möglichkeiten des Austauschs über Bücher verändert haben?

Veronika: Die Möglichkeiten, über Bücher zu sprechen, haben sich definitiv geändert. Die Literaturkritik per se hat sich auch geändert, indem mehrere Medien zur Verfügung stehen. Das verändert auch die Gatekeeper-Funktion der Kritik: Es können mehr Menschen Literaturkritik betreiben. Prinzipiell hängt es aber nicht vom Medium ab, ob etwas Literaturkritik ist oder nicht. Literaturkritik beginnt dort, wo man sich ernsthaft mit Literatur auseinandersetzt, versucht, den Text zu analysieren, zu interpretieren, und dann eine klare Wertung dazu abgibt. Der Wertungsaspekt ist meiner Ansicht nach zentral. Ob das von Laien oder Profis kommt, macht natürlich einen Unterschied, trotzdem kann beides ins Feld der Literaturkritik fallen.
Wenn aber nur Tipps abgegeben werden, wenn man etwas nur als gut oder schlecht einordnet, ohne das zu argumentieren und ohne zu erklären, welche Wertmaßstäbe man hat, dann ist das keine Literaturkritik im eigentlichen Sinne.

Irene, du betreibst ja gemeinsam mit Victoria Strobl den Podcast „Auf Buchfühlung“. Würdest du diesen auch irgendwo im weiten Feld der Literaturkritik einordnen, zumal ja, auch wenn der Podcast ein Gesprächsformat ist, durch die Auswahl eine gewisse Wertung passiert? Kennst du Podcasts, die Literaturkritik betreiben?

Irene: Ich glaube, unser Podcast ist klar Literaturvermittlung, nicht Literaturkritik. Die meisten Literaturpodcasts, die ich höre, haben oft einen klaren inhaltlichen Fokus. DieBuch, Berggasse 8 oder Literaturpalast – um ein paar Beispiele aus Österreich zu nennen – konzentrieren sich auf bestimmte Themen und haben unterschiedlich stark ausgeprägte literaturkritische Elemente. Die Ausrichtung ist bei uns thematisch nicht so eng, mit Schwerpunkt auf deutschsprachiger Gegenwartsliteratur und literarischem Leben in Österreich, wir gestalten den Podcast inhaltlich nach unseren individuellen Interessen. Insofern stehen wir den Texten, die wir besprechen, positiv gegenüber. Aber es gibt im Bereich der Podcasts ganz unterschiedliche Formate, die sich an ganz unterschiedliche Menschen richten, von daher ist eine klare Antwort auf die Frage, inwiefern Podcasts Literaturkritik sind, schwierig. Aber die klassische Audio-Buchbesprechung kenne ich eher aus Radioformaten als aus eigenständigen Podcasts.

Wie wählt ihr grundsätzlich aus, was ihr behandelt?

Veronika: Ich bekomme relativ viele Vorschläge, weil die Redakteur*innen wissen, wo meine Expertise liegt. Gleichzeitig kann ich aber auch selbst Vorschläge machen, es ist also eine Mischung. Das kann positiv oder negativ sein, weil man ein Stück weit in der eigenen „Schiene“ haftet, das ist bei mir zum Beispiel viel Literatur von Frauen und englische Literatur. Die Mischung aus eigenen Vorschlägen und anderen ist aber auch gut: Wenn man selbst aussucht, tendiert man meistens zu Texten, die man selbst besonders gelungen findet, und es ist auch wichtig, sich immer wieder auf etwas anderes einzulassen.

Irene: Wir haben ja keine*n Auftraggeber*in, wir haben den Luxus, unseren eigenen Lektüre-Interessen folgen zu können. Immer wieder definieren wir auch Schwerpunkte, etwa einen Sprachenschwerpunkt und einen Fokus auf literarische Kollektive. Mittlerweile sind wir auch recht gut vernetzt und bekommen immer wieder sehr schöne Vorschläge.

Lest ihr auch Online-Rezensionen und Tipps von Privatpersonen?

Veronika: Ja, gerade auf Twitter gibt es einige Leute, von denen ich weiß, wenn die etwas gut finden, dann lohnt es sich, das anzuschauen. Der Diskurs, der sich in sozialen Netzwerken abspielt, ist teilweise sehr interessant für mich.

Irene: Klar, wir sind auf manche Bücher und in der Folge Gesprächspartner*innen z. B. via Instagram aufmerksam geworden. Was früher klassische Mund-zu-Mund-Werbung war, spielt sich jetzt vielfach in den sozialen Netzwerken ab.

Habt ihr eine Vorstellung davon, wen ihr erreicht? Wer liest und hört euch?

Irene: Ja, wir bewerben den Podcast hauptsächlich auf Social Media, hier ist das Feedback sehr direkt. Das ist ein guter Indikator dafür, wer reagiert, wer mitliest und damit auch mithört. Das Publikum ist zum einen Teil eher jung, mischt sich aber mit den klassischen Literatur- und Kulturbetriebskonsument*innen, die man auch häufig auf Lesungen trifft. Gerade die konsumieren oft sehr viele Formate rund um die Literatur.

Veronika: Die Furche wird ja zu einem großen Teil vom sogenannten Bildungsbürgertum gelesen, gleichzeitig ist der Online-Auftritt aber mittlerweile stark und hat Reichweite. Online sieht man, dass das Feuilleton auch viel von jüngeren Menschen gelesen wird, also nicht zwangsläufig von den klassischen Furche-Print-Abonennt*innen. Das Booklet liegt an öffentlichen Stellen auf und wird dann auch wieder von ganz anderen Menschen gelesen, auch das erkennt man an den Reaktionen.
Beim Radio ist das Sender-Empfänger-Verhältnis eher einseitig, da bekommt man weniger mit, wer genau einen „empfängt“. Wobei mir das, wenn ich schreibe, relativ egal ist. Ich versuche vor allem, dem Text gerecht zu werden, mit dem ich mich beschäftige.

Wo seht ihr die Literaturkritik und die Literaturvermittlung in zehn Jahren, welche Formate und Tendenzen sollten wir im Auge behalten?

Irene: Was soziale Medien betrifft, muss man neue Trends, wie aktuell z. B. Tiktok, wo inzwischen auch etliche Verlage Auftritte haben, sicher immer im Auge behalten. Im Bereich Podcasts glaube ich, dass derzeit sehr viel Neues aus dem Boden sprießt. Da wird sich sicher noch einiges tun, reichweitenstarke Formate werden sich durchsetzen, andere möglicherweise wieder verschwinden. Im besten Fall könnte ich mir vorstellen, dass der vielzitierte „Gap“ sich mit den neuen Formaten zunehmend schließt.

Veronika: In der klassischen Literaturkritik sehe ich weniger, dass sich die Kluft zwischen U- und E-Literatur schließen wird. Sicher werden sich die Formate weiterhin entwickeln und verändern, aber ich fände es wichtig, dass sich die professionelle Literaturkritik erhält, dass sie zeigt, was man mit Literatur machen, wie man Texte lesen kann. Es geht um das Aufzeigen der verschiedenen Lesarten, nicht nur um das Argumentieren der eigenen Meinung. Das ist für mich das Faszinierende: zeigen zu können, was alles in einem Buch steckt, damit möglicherweise Leser*innen neue und zusätzliche Zugänge zu eröffnen, die sie dann in ihre nächsten Lektüren mitnehmen. Wir alle brauchen jemanden, der uns diese Zugänge öffnet, das war bei mir ganz genauso. Das soll in meinen Augen gute Literaturkritik leisten – Möglichkeiten aufzeigen, Lesespuren legen. Deshalb hoffe ich, dass diese Form von Kritik erhalten bleibt.