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Ein Blick hinter die Mauer – Juri Andruchowytsch über »Pralinen vom roten Stern« von Oleksandr Irwanez

»Hat Oleksandr Irwanez tatsächlich in die Zukunft geblickt? Ist der Platz dieser Quasi-Antiutopie tatsächlich auf dem gleichen Bücherregal, auf dem sich die warnenden Werke von Orwell, Huxley oder Lem befinden?« 

Wieso sich Pralinen vom roten Stern  wie eine Vorwegnahme der heutigen Konflikte liest, und was uns Schlojma Ezirwans Erlebnisse über unsere Gegenwart erzählen können, erfahren Sie hier aus berufenem Munde: Juri Andruchowytschs Vorwort zu diesem einzigartigen Roman macht Lust darauf, mehr zu erfahren, über die beschriebene Quasi-Dystopie, mit der Oleksandr Irwanez die Provinzstadt Riwne auf die literarische Landkarte setzt. Irgendwo zwischen Prophezeiung und Rückschau navigiert uns Irwanez durch eine kurios zeitenlose Ukraine, die uns fern ist, aber gleichzeitig so nah:

 

Ein Blick hinter die Mauer – Aus dem Vorwort zu Pralinen vom roten Stern von Juri Andruchowytsch

 

Fans von James Joyce haben ihren Bloomsday, und zwar am 16. Juni. Fans von Oleksandr Irwanez könnten – im Falle eines Falles – ihren Schlojma-Tag immer am 17. September haben. So wie der Bloomsday jedes Jahr in Dublin stürmisch gefeiert wird, so könnte der Schlojma-Tag zweifellos in Riwne zelebriert werden. Nun hat die Stadt Riwne für die Ukraine bei weitem nicht die Bedeutung von Dublin für Irland, doch der Schriftsteller Oleksandr Irwanez verlieh der Stadt mit seinem Roman eine beachtliche, zumindest literarische Bedeutung.

Die Gemeinsamkeit beider Romane ist offensichtlich, denn es geht sowohl im Roman von Joyce als auch in dem von Irwanez um einen Tag mit einem konkreten Datum.
Der Unterschied liegt freilich darin, dass Joyce das Jahr genau bestimmte: 1904. Irwanez gibt keine genaue Jahreszahl. Die Handlung des Romans spielt nicht wie bei Joyce in der Vergangenheit, sondern „quasi“ in naher Zukunft.

(…)

Der Roman von Irwanez, der ja im Vorfeld der Orangen Revolution mit ihrem kategorischen Sein oder Nichtsein geschrieben worden war, konnte durchaus als Antiutopie verstanden werden oder, auch solche Genres gibt es, als eine Roman-Prophezeiung.

Die Vorgeschichte des Romans verweist auf eine nicht näher genannte politische Katastrophe, wegen der die Ukraine in zwei Teile gespalten wurde: in eine prorussische SRU (Sozialistische Republik Ukraine), die einen beträchtlichen Teil des ehemaligen ukrainischen Territoriums einnimmt, sowie die prowestliche Westukrainische Republik. Die Spaltung der Ukraine verläuft auch quer durch die Heimatstadt des Autors und des Romanhelden.

Aus einer Stadt werden zwei Städte: das zum Westen gehörende Riwne und sein Gegenpart, das sozialistische Rowno. Die einst zusammengehörende Welt wird nach dem bekannten Berliner Muster aus den Jahren 1961–1989 durch eine Mauer geteilt.

Das Romansujet erzählt einen Tag aus dem Leben des Schlojma Ezirwan, eines Schriftstellers und Bewohner des Westsektors, den er freilich im Ostsektor verbringen muss, da er seine Verwandten besuchen will.

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Lässt sich aus heutiger Perspektive, besonders im Zusammenhang mit der militärischen Auseinandersetzung mit Russland und ihren Marionetten in den östlichen Landesteilen der Ukraine, der Roman „Riwne-Rowno“ tatsächlich als Roman-Prophezeiung bezeichnen? Auf den ersten Blick schon. Seit dem Frühjahr 2014 (12 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans) kann man in der Ukraine eine territoriale Spaltung beobachten. Natürlich kann man einwenden, dass die territoriale Verteilung genau umgekehrt wie im Roman ist. Das heißt, „unsere SRU“ ist ziemlich klein und „unsere Westukrainische Republik“ gleicht der Westukrainischen Republik im Roman ganz und gar nicht, da sie etwa 90 Prozent des ehemaligen Territoriums mit den südlichen, zentralen und östlichen Gebieten mit der Hauptstadt Kiew und deren wichtigsten Metropolen (Dnipro, Odessa, Charkiw) umfasst und nicht nur, wie im Roman, einige westukrainische Gebiete.

Das bedeutet, die Prophezeiung hat sich, wenn überhaupt, nur teilweise erfüllt, und zwar vor allem in einem Sinn: Tatsächlich wird ein kleines Gebiet nicht mehr von Kiew kontrolliert. Allerdings entgegen der Prophezeiung nicht aus westlicher Sicht, sondern aus der östlichen.

Und dass es überhaupt existiert, hat nur die unmittelbare militärische Intervention Russlands ermöglicht und auch dessen weitere Existenz wird nur vom russischen Militär gesichert. Übrigens genauso wie im Roman die Existenz des demokratischen und freien Riwne durch die Anwesenheit eines begrenzten Kontingents von NATO-Soldaten (einem polnischen Bataillon) gesichert wurde.

Und an dieser Stelle ist es nun höchste Zeit, das Allerwichtigste zu erwähnen: Hat Oleksandr Irwanez tatsächlich in die Zukunft geblickt? Ist der Platz dieser Quasi-Antiutopie tatsächlich auf dem gleichen Bücherregal, auf dem sich die warnenden Werke von Orwell, Huxley oder Lem befinden?

Irwanez’ Roman handelt von der Vergangenheit. Das heißt, die Reise des Helden auf die andere Seite der Mauer erscheint nicht nur als Bewegung durch den Raum, sondern vielmehr und in größerem Maß durch die Zeit.

Es ist eine Rückkehr in die Vergangenheit – in eine böse, komische, absurde, primitive, totalitäre, sozrealistische parodiehafte Vergangenheit. Die Zeit, das wird deutlich, scheint manchmal „quasi“ stehenzubleiben oder rückwärts zu laufen.

Als Ergebnis haben wir die karikierte SRU und ihre abscheuliche Stadt Rowno – eine fast schon zeitlose Verdichtung alles Sowjetischen, Anachronistischen und Abgestorbenen.

Und doch handelt es sich auch um ein Territorium der Nostalgie, Erinnerung, Sentimentalität, um eine Zone der verlorenen Zeit, die man unerwartet wiederfindet, einen Raum der Rekonstruktion von Träumen, die man, wie es schien, damals, in der Kindheit, ein für alle Mal ausgeträumt hatte – so wie der Autor des Romans und der Autor dieser Zeilen.

Und auch sonst haben der Autor und ich ein gemeinsames Land, nämlich eines, in dem nicht nur böse Träume von Zeit zu Zeit wiederkehren können.

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Oleksandr Irwanez: Pralinen vom roten Stern

 

 

Schauplatz Ukraine: der zerbrochene Osten Europas
Eine im Nordwesten des Landes gelegene Stadt wird durch eine Mauer in zwei Zonen geteilt – in das zur Westukrainischen Republik gehörende Riwne und in Rowno. Rowno ist Teil der Sozialistischen Ukrainischen Republik, in der man nicht nur politisch, sondern auch sprachlich in die sowjetische Vergangenheit zurückgekehrt ist. Verbunden werden die beiden Teile nur durch einen schmalen Korridor. Reine Fiktion? Oder ein mögliches Zukunftsszenario?