Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt

Magdalena Baran-Szołtys ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte Germanistik und Slawistik an der Universität Wien, der Jagiellonen-Universität in Krakau und der Universität Breslau und forscht seit März 2021 zu ihrem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation – Transformations- und Ungleichheitsnarrative im postsozialistischen Polen“. In unserem Beitrag erzählt sie uns, wie wichtig Literatur für die Erinnerungskultur ist und welche Transformation die Ukraine durchläuft.


© Pamela Rußmann

In deinen Forschungen beschäftigst du dich mit der Beziehung zwischen Literatur und Politik. Wie hängt dies für dich, gerade in Hinblick auf die derzeitige Situation in der Ukraine, zusammen?

Ganz grundsätzlich gilt, dass es keine Literatur ohne Politik gibt, denn Politik bestimmt die Welt, in der wir leben, in der Literatur entsteht und von der sie erzählt. Das ist ein Gemeinplatz, grundsätzlich ist es aber gut, sich das vor Augen zu halten, vor allem in Anbetracht von Künstler*innen und Bürger*innen, die meinen, „neutral“ oder „politisch nicht interessiert“ zu sein oder sich von der Politik abschirmen wollen.

Literatur und Kunst entstehen nicht im luftleeren Raum und ihr Wert besteht im Spiegeln der Realität, im Aufbrechen von Vorstellungen und Imaginieren von Möglichkeiten. Das ist der gesellschaftliche Sinn von Kultur, weit mehr als nur Unterhaltung ist sie der Ort für unsere Ängste und legt den Finger in unsere Wunden. Sie lässt uns Angst und Trauer artikulieren und macht diese zugänglich.

Literatur tröstet uns, gestaltet unsere Deutung der Welt und nimmt damit Einfluss auf unser Handeln sowie den öffentlichen Diskurs.

 

Besonders in Zeiten von großen Erschütterungen wie dem Krieg sind diese Funktionen wichtig. In Krisen ist sinnstiftendes Erzählen essenziell, denn es animiert zum Verstehen und Weitermachen, zum Kämpfen. Wir können uns in ihren Utopien und Dystopien verlieren und lassen uns von ihnen gleichzeitig den Weg weisen.

In der Ukraine sieht man das gerade besonders gut. Schriftsteller*innen sind hier im Kampfmodus. Manche sind an der Front im Einsatz, andere unterstützen die Armen und alle schreiben gegen den Krieg an. Ihre neuesten vom Krieg handelnden Werke sind nicht nur eine Quelle der Dokumentation, sondern vor allem auch eine Quelle der Hoffnung für die ukrainische Bevölkerung. Im Zentrum dieser Werke stehen die Freiheit und der Sinn des Überlebens, des Kämpfens. Dies motiviert, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen. Die Sachen klar zu benennen und zu sehen. Das ist ein politischer Akt.

Ukrainische Kulturschaffende sind zudem die Sprachrohre der Ukraine im Ausland, mit einer klaren diplomatischen Agenda. Durch ukrainische Literatur lernt das Ausland die Ukraine kennen und wird zum Verbündeten. Autor*innen als Intellektuelle sind mit ihren Büchern, Texten und Auftritten die Botschafter*innen des Landes. Das ist ein nicht zu unterschätzendes, politisch sehr einflussreiches Kapital.

Welche Bedeutung hat Kriegsliteratur für die Geschichtsschreibung?

Zunächst muss hier zwischen zwei Sachen unterschieden werden: der Geschichtsschreibung in einem wissenschaftlichen Sinne als Geschichtswissenschaft und der Geschichtsschreibung in einem gesellschaftlichen, viel breiteren Sinne als Gedächtnispolitik bzw. Erinnerungskultur, also der Umgang der Gesellschaft mit der Erinnerung allgemein. Beide bestimmen, was ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und woran überhaupt erinnert wird. Wir haben es mit Politiken der Erinnerung zu tun. Vieles wird bewusst oder unbewusst vergessen. Den unerzählten Teil der Geschichte muss man mitdenken, denn viele Stimmen bleiben stumm.

In der Erinnerungskultur hat Literatur einen fixen Platz, weil der*die Rezipient*in zu ihr eine emotionale Verbindung herstellt. Während uns Daten oft unberührt lassen, können wir mit literarischen Figuren empathisch sein, mit ihnen mitleiden. Botschaften kommen so besser an und bleiben in unserer Erinnerung, weil sie uns berühren. So kann man uns leichter überzeugen. Nicht zu unterschätzen ist, dass unsere Vorstellung von historischen Ereignissen und Zeiten oft auf Kunst, Literatur oder Film zurückgeht. Oft verbinden wir Geschichte im Kopf unmittelbar mit Bildern, die aus der Kultur kommen. Wenn ich an die Französische Revolution denke, habe ich unmittelbar das Gemälde von Eugène Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ vor Augen. Beim Ersten Weltkrieg denke ich an „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Diese Vorstellungen müssen nicht unbedingt viel mit den historischen Abläufen zu tun haben, aber sie bestimmen unsere Erinnerung daran. Das ist ihre große Wirkmacht. So spielen gegenwärtig die literarischen Texte über die Ukraine eine ausschlaggebende Rolle – sie erinnern uns an den Krieg, geben uns Einblicke und wecken unser Mitgefühl. Gleichzeitig werden sie als Dokumente in die Geschichtsschreibung eingehen und unsere Vorstellung von diesem Krieg prägen.

In deinem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation“ beschäftigst du dich mit Transformation und Ungleichheit. Wie siehst du diese zwei Punkte in der Ukraine? Welche Entwicklungen gibt es?

Für die postsozialistischen und -sowjetischen Länder Ostmitteleuropas ist dieses Thema bestimmend. Diese Länder, u.a. eben die Ukraine wurden auch nach 1989 bzw. 1991, dem Jahr der Wende bzw. des Zerfalls der Sowjetunion, vom Westen und Russland nie als ebenbürtig angesehen, sondern als Objekte ihrer eigenen Wirtschaft, Politik und Kultur. Das fühlten auch die Betroffenen und wussten, dass sie aus einer unterlegenen Position agieren. Das russische Volk und ukrainische Volk wurden seit Jahrhunderten als Brudervölker bezeichnet, wobei die Russen sich in der Rolle des großen Bruders sehen. Der Westen sah sich wiederum gegenüber den postsozialistischen Ländern als Erzieher in Sachen Kapitalismus, Konsumtionismus und Demokratie und investierte viel Geld in diese Staaten. Dazu kommt der Antislawismus, ein Rassismus gegenüber den slawischen Völkern, der im Westen immer noch weit verbreitet ist. Die Konsequenzen dieser historischen Entwicklungen sehen wir heute.

Die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus vergrößerte überdies die sozioökonomische Ungleichheit in der Bevölkerung. Es gab zahlreiche Menschen, die ihr Vermögen und ihre Freiheit vergrößern konnten, doch für eine größere Anzahl war es eine sozioökonomische Katastrophe, auch in der Ukraine. Die sozialistischen Länder wiesen weltweit ein sehr niedriges Niveau der Ungleichheit auf. Der Staat versorgte seine Bürger*innen mit dem Wichtigsten: Wohnen, Essen, Bildung etc. Doch musste man auf viele Freiheiten wie Reisen oder vollständige Meinungsfreiheit verzichten. Das Problem vieler ehemals sozialistischen Länder, einschließlich vieler der Erfolgsbeispiele wie Polen, besteht darin, dass die Profite der Transformation so ungleich verteilt sind, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Veränderungen in dieser Form nicht mehr unterstützt.

In der Ukraine war die Situation noch dramatischer: Sie ist eines der sechs postsozialistischen Länder, deren Bruttoinlandsprodukt 2016 unter dem von 1989 lag. Nicht einmal das Kapital, das ungleich verteilt werden könnte, war hier groß. Dazu kommen Probleme wie die Korruption. Die Lage ist deshalb besonders schwierig, da die Ukraine zwischen Ost und West gefangen ist, somit aus geopolitischen Gründen nicht in die NATO oder EU aufgenommen wurde, gleichzeitig aber aufgrund der Geschichte verständlicherweise mehrheitlich keine gemeinsame Politik und Wirtschaft mit Russland mehr haben wollte. Das war eine Pattsituation.

Gibt es etwas, das du den Leser*innen noch mitgeben möchtest?

Nicht aufzugeben, an seine Ideale zu glauben und sich davon in seinem Lebensweg leiten und von der Literatur unterstützen zu lassen. Dies gilt in Zeiten des Friedens wie des Krieges. Wir dürfen nicht auf unsere Werte vergessen, auch wenn es scheint, dass wir dafür einen hohen Preis bezahlen könnten.

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt.

 

Und auch in schwierigen Zeiten gibt es immer etwas, was wir lieben können – unser Leben und die Literatur: „Ich liebe alles, was mir geschenkt ist, ich muss es einfach teilen. Ich muss einfach über die Freude und Bitterkeit, über die Sorge und Melancholie reden. Dazu habe ich tausend Bücher, die ich lesen soll, dazu habe ich das Schreiben.“ Literatur ist und bleibt. Wie diese von Zhadan.