„Für eine Gesellschaft ist der Blick in die eigene Geschichte unerlässlich” – Wilfried Steiner im Interview

Autor Wilfried Steiner im Gespräch. Foto: Andrea Peller

Die Füße im Lavasand, der Kopf im Sternenhimmel: Adrian Rauch hat einen Traum. Auf La Palma das weltgrößte Spiegelteleskop sehen, einmal aus der geregelten Bahn ausbrechen, alles vergessen und in Gedanken mit dem Kosmos verschmelzen.

Doch vor Ort gestaltet sich alles anders als geplant. Vor der beeindruckenden Kulisse der Kanareninsel wird Adrian nach und nach in eine Geschichte verwickelt, aus der es kein Entrinnen gibt. Während sich seine Frau Karin die Zeit bei Surfstunden vertreibt, gerät der Hobbyastronom mehr und mehr in den Bann von Sara, die ihm ihr dramatisches Schicksal anvertraut. Und von diesem Augenblick an wird Adrian vom Strudel ihrer Erzählung mitgerissen. Statt in die Weiten des Orionnebels blickt er in einen tiefen Abgrund, von dem er sich unmöglich abwenden kann.

Der Sog des bildgewaltigen Romans von Wilfried Steiner ist unwiderstehlich, in „Der Trost der Rache” führt er uns über schwarze Lavastrände, den gewaltige Roque de los Muchachos, zwischen Blüten in allen erdenklichen Farben durch ein packendes Abenteuer, das philosophische Fragen von großer Tragweite aufwirft.

Wir haben uns mit dem Autor über die Hintergründe und Schauplätze seines neuen Romans unterhalten:

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Das Gran Telescopio Canarias, Wilhelm Reich, eine Ornithologin, die auf Rache sinnt, Pinochet – ist es der Zufall, der diese außergewöhnliche Konstellation zustande bringt oder gibt es einen verborgenen roten Faden, der unvermeidlich zu diesem kuriosen Zusammentreffen führt?

Die Ausgangsidee war, zwei gegensätzliche Charaktere aus weit entfernten Regionen auf dem Gipfel des Roque de los Muchachos zusammenzuführen. Sara und Adrian haben ganz unterschiedliche Beweggründe und Schicksale; was sie vereint, ist der Wunsch, zum Gran Telescopio Canarias zu gelangen. Das hatte für mich eine gewisse strukturelle Symmetrie, die über bloßen Zufall hinausging.

Glauben Sie im echten Leben an den Zufall?

In einem naturwissenschaftlichen Sinn schon. Ohne das Prinzip des Zufalls wäre ja auch die Quantentheorie nicht denkbar. Die berühmte Kopenhagener Deutung spricht sogar von „objektivem Zufall”.

Gran Telescopio Canarias

Die Astronomie begeistert Adrian, den Protagonisten. In einem Spiegelteleskop, wie dem Gran Telescopio, das im Roman eine große Rolle spielt, wird – vereinfacht gesprochen – das Licht des Himmelskörpers über gekrümmte Spiegel reflektiert und gebündelt, sodass der Beobachter im Okular einen knappen Auszug der Wirklichkeit erhält. Sehen Sie Parallelen zum Schreiben?

Im Prinzip ein schönes Bild – wenn man davon absieht, dass bei großen Spiegelteleskopen heute niemand mehr durch ein Okular schaut. Die Astronomen sitzen vor Bildschirmen und studieren Computerdateien. Das hat vielleicht auch Parallelen zum Schreiben, nur leider nicht so romantische …

Der Blick in die Sterne ist ja zwangsläufig immer ein Blick in die Vergangenheit. Einer, der uns weiterbringen kann?

Das kann man auf mehreren Ebenen beantworten. Für eine Gesellschaft ist der Blick in die eigene Geschichte unerlässlich, wenn sie sich weiterentwickeln will. Wozu es führt, wenn ein Staat seine eigene Historie beschönigt, konnte man gerade in Österreich gut beobachten.

Dem einzelnen Menschen schadet es auch nicht, sich mit seinen Anfängen zu beschäftigen, wenn er wissen will, was ihn so umtreibt. Jede körperliche Verkrampfung, sagt Reich, „enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung”.

Astronomisch ist dabei ein Paradoxon interessant: Wenn ich mit immer besseren Teleskopen immer tiefer in die Frühzeit des Universums schauen kann, warum sehe ich am Ende nicht den Urknall selbst? Die undurchdringliche Wand, die das verhindert, ist 300.000 Jahre nach dem Beginn des Kosmos entstanden. Wenn die Wissenschaftler weiter zurückblicken wollen, müssen sie anders vorgehen: In riesigen Teilchenbeschleunigern wie dem LHC werden Protonen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen. Das ultraheiße Plasma, das dabei entsteht, kommt dem Ursprung der Welt näher als jedes noch so hochgerüstete Weltraumteleskop. Dieses Phänomen wird eine wichtige Rolle in meinem nächsten Roman spielen …

Lavafelder auf La Palma

In Ihrem Roman geht es in letzter Instanz um eine weitreichende moralische Frage: Gibt es Umstände, die Rache als Handlungsmotiv legitimieren?

Die erste Antwort muss natürlich sein: Ich bin gegen Selbstjustiz. Denn darauf läuft die Frage ja hinaus. Aber was genau bedeutet in diesem Zusammenhang „legitimieren”? Das Spannende (und Schwierige) ist ja gerade, dass es Einzelfälle gibt, die die Striktheit der allgemeinen Antwort ins Wanken bringen. Wenn ich einem Mann gegenüberstehe, der meine halbe Familie ausgerottet hat, und ich besitze eine Waffe – was würde ich tun? Oder anders: Würde ich jemanden, der in einer solchen Situation den Täter ermordet, als schuldig empfinden? Und weiter: Selbst wenn ich persönlich die Motive verstehen könnte, müsste ich nicht trotzdem dafür plädieren, dass ein Gericht über diesen Fall urteilt?

Kann Vergeltung jemals für Gerechtigkeit sorgen?

Wahrscheinlich nicht. Doch die haarsträubenden Ungerechtigkeiten, die in der Geschichte immer wieder auftreten, etwa die völlige Straffreiheit von Massenmördern und Folterern, erzeugen eine Form von Empörung, die es nachvollziehbar erscheinen lässt, wenn ein Opfer zur Tat schreitet.

Menschenrechtsverletzungen, Konzentrationslager, zehntausende Ermordete, unzählige Verschwundene – die Gräueltaten des Pinochet-Regimes liegen noch nicht sehr lange zurück und sind doch erstaunlich wenig präsent in unserer Wahrnehmung. Woran liegt das?

Es wäre zu leicht, das mit den üblichen Verdrängungsprozessen allein zu erklären. Auch Aspekte der Geschichtsfälschung bzw. die Art der Aufarbeitung haben dazu beigetragen. Zugespitzt könnte man sagen: In einer Welt, in der Menschen wie Henry Kissinger als Helden verehrt und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden, stimmt irgendetwas mit dem Informationsfluss nicht. Und die Vorstellung, bestimmte völkerrechtliche Verbrechen tangierten uns nicht, weil sie in weit entfernten Ländern stattfänden, ist trügerisch.

Sind uns Chile und Pinochet letztlich doch näher als wir glauben?

Ein beispielloser Vorgang: Im Jahr 1973 wurde die demokratisch gewählte Regierung Chiles unter Salvador Allende mit Unterstützung der CIA gestürzt. Es folgten Jahrzehnte des Terrors unter Pinochet. Foto: © Biblioteca del Congreso Nacional de Chile

Sie sollten uns näher sein. Denn der Vorgang war einzigartig: Eine demokratisch gewählte Regierung wurde mithilfe der CIA einfach weggeputscht, weil sie den finanziellen Interessen der kapitalistischen Staaten im Weg war. Als die Generäle und die DINA mit den Folterungen und den Morden begannen, zuckten die USA mit keiner Wimper. Im Gegenteil: Das Feld wurde bereitet, um die Chicago Boys ohne Belästigung durch Gewerkschaften ihre ökonomischen Experimente durchführen zu lassen. Heute beobachten wir ähnliche Prozesse: Für Profit wird über Leichen gegangen, und das oft unter dem Deckmantel der Friedensstiftung. Und dass auch in einem europäischen Land rasch diktatorische Strukturen entstehen können, sehen wir jeden Tag.

Das gilt auch für den spannenden Fall Wilhelm Reich, der in Ihrem Roman vorkommt. Hat der Wissenschaftler Wilhelm Reich Antworten für die heutige Zeit?

In manchen Bereichen durchaus! Nicht umsonst war Reich ein Held der Studentenbewegung. Seine Arbeiten über Sexualität und die Funktion des Orgasmus, verschiedene Ansätze der Charakteranalyse und der Vegetotherapie sind immer noch aktuell. Reichs Einsatz für „proletarische” Sexualberatungsstellen in Wien und Berlin finde ich bewundernswert. Und „Die Massenpsychologie des Faschismus”, schon 1933 verfasst, ist immer noch mehr als lesenswert und hat auch ganz zentrale spätere Arbeiten zu diesem Thema inspiriert, etwa Klaus Theweleits „Männerphantasien”.

Und der Esoteriker?

Der schleichende Übergang vom marxistischen Psychoanalytiker zu jemandem, der Wolken mit Orgon-Energie beschießt, um es regnen zu lassen, wirkt von außen betrachtet verblüffend und bestürzend. Die Faszination liegt aber darin, die psychische Entwicklung Reichs anhand seiner eigenen Theorien zu studieren, gewissermaßen den Esoteriker mit der Brille des Analytikers zu betrachten. Darüber hinaus hege ich durchaus Sympathien für den „verrückten” Reich, auch wenn der Orgonakkumulator wohl nicht wirklich funktioniert …

Das tragische Schicksal, das Reich widerfährt, ist bemerkenswert. Innerhalb kurzer Zeit wird in den USA eine Kampagne gegen ihn lanciert, sein Lebenswerk zerstört, er stirbt im Gefängnis unter ungeklärten Umständen. Was war so gefährlich an seinen späten, streitbaren Theorien, dass er so unerbittlich verfolgt wurde?

Begonnen hat es mit dem Artikel „The Strange Case of Wilhelm Reich” in der New Republic vom 26.Mai 1947. Darin behauptet Mildred Brady (selbstverständlich fälschlicherweise), Reich verspreche jedem, der den Orgonakkumulator bei ihm gegen Bezahlung ausleihe, orgastische Potenz. Daraufhin begann die Food and Drug Administration  ihre Kampagne gegen Reich. Dahinter standen mächtige Interessen der Pharma- und der Atomindustrie. In die Ermittlungen investierte der Staat zwei Millionen Dollar. Dass der „riesige Jude mit deutschem Akzent, der Bolschewist gewesen war und nun nackte Menschen in Schränken zum Orgasmus kommen ließ” (Harry Mulisch) im Amerika der Vierziger- und Fünfzigerjahre zu einem Feindbild avancieren musste, ist leicht vorstellbar.

Wilfried Steiner: Der Trost der Rache

 

 

„Es ist ein Herzensbuch. Gescheit, politisch aufklärend, obendrein ein hochspannender Krimi.”
Neues Volksblatt, Christian Pichler

„Die Schönheit lässt sich nur an ihren Brüchen erkennen. Der Tod des Vaters setzt die Geschichte des Adrian Rauch in Bewegung. Er verlässt seine geregelten Bahnen, um den Blick ins All zu richten. Seine Leidenschaft führt ihn von universaler Wahrheit auf den Boden der Wirklichkeit, in knallharte Verdichtung. Und das in einer sorgfältigen, aufmerksamen und klugen Sprache.”
Jurybegründung des Floriana Literaturpreises 2016

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