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Stell dir vor, es ist Krieg – und du warst dort: über Erinnerungen mit zerstörerischer Kraft

In vielen unserer Bücher begibst du dich mit den Protagonist*innen in seelische Ausnahmesituationen – zum Beispiel in einem Kriegsgebiet. Wahrscheinlich hast du – ebenso wie wir – eine Vorstellung davon, wie sich einschneidende Erlebnisse auf die Seele auswirken und dass sie Spuren hinterlassen können, das „Leben danach“ völlig verändern. Doch was genau ist eigentlich ein Trauma? Was macht es mit einem betroffenen Menschen? Stimmt es, dass ein Trauma „erblich“ sein kann?

Oswald Klingler ist Klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut. Er interessiert sich ganz besonders für jene Verwundungen, die durch schlimme Erfahrungen in unserer Seele entstehen können, und dafür, wie man diesen Wunden beim Heilen hilft. Fürs österreichische Bundesheer hat er das Zentrum für Psychotraumatologie und Stressmanagement aufgebaut – und mit uns hat er sich über seine Arbeit unterhalten.

Oswald Klingler hat mit uns über Verwundungen der Seele gesprochen. © privat

Was ist ein Trauma überhaupt? Was passiert bei einer Traumatisierung mit unserer Seele?

Ein Trauma ist eine Verwundung. Manchmal wird auch das Ereignis selbst, das zur Verwundung geführt hat, als Trauma bezeichnet. Anders als bei körperlichen Verwundungen sind solche, die das Seelische betreffen, zumeist nicht so deutlich sichtbar. Doch auch seelische Verwundungen verursachen zunächst einmal Schmerz und oft noch weitere Beeinträchtigungen. Die Erfahrung von Grausamkeit oder drohendem Tod, egal ob bei einem selbst oder bei anderen Menschen, kann ein Trauma sein, aber auch ein Verlust, eine Niederlage oder eine Demütigung. Das Kriterium wäre, dass der Schmerz oder die Beeinträchtigungen länger andauern als das eigentlich auslösende Ereignis. Und wie körperliche Verletzungen können auch seelische rasch und ohne große Folgeschäden verheilen. Gar nicht selten führen sie aber zu anhaltend schmerzhaften Narben oder einer schleichenden Sepsis, welche die Gesundheit des gesamten Organismus bedroht.

Warum ist es so wichtig, dass man sich bei einer Traumatisierung besonders schnell Hilfe sucht? Kann auch eine „seelische Wunde“ besser heilen, wenn man sie entsprechend behandelt?

Im Mittelpunkt steht bei Trauma-Folgeschäden die Schmerzlichkeit der Erinnerung, die man nicht loswerden kann. Es kommt zu einem unerwünschten Wiederauftreten dieser Erinnerungen, zum Beispiel Albträumen oder Flashbacks. Und man möchte die Erinnerungen vermeiden und daher auch nicht darüber sprechen. Und so kann es sein, dass man beginnt, bestimmte Gesprächsinhalte und Kontakte zu vermeiden, vielleicht auch bestimmte Orte oder Situationen. Und man gerät in Angst und Einsamkeit und Flucht oder Abhängigkeiten. Leider nicht so selten führt der Weg dann von der Traumatisierung zur Depression und/oder in eine Sucht, manchmal auch zu Selbstverletzung und Suizidgedanken. Mit einer geeigneten Psychotherapie bestehen aber recht realistische Chancen, eine solche Entwicklung zu verhindern. Vor allem aber ist es schade um jeden Tag, den man dem Leiden unnötig ausgesetzt bleibt.

Worin unterscheidet sich ein Kriegstrauma von einem anderen, was ist besonders daran?

Es gibt kaum objektive Kriterien für die Schwere eines Traumas. Was dem einen eine vernichtende Katastrophe ist, berührt jemand anderen vielleicht viel weniger. Doch ein Krieg stellt eine besonders grausame Realität dar. Viele Soldat*innen und oft auch unschuldige Zivilist*innen werden von einer Hölle zur nächsten getrieben, erleben eigene Entbehrungen, Schmerzen und Verstümmelungen, aber auch das Leiden und den Tod von Kamerad*innen und „Feind*innen“ und anhaltende und wiederkehrende Todesangst. Das nicht nur über Wochen oder Monate, sondern an manchen Kriegsschauplätzen auch über Jahre. Ähnliche anhaltende oder wiederholte Extrembelastungen sind auch von den Überlebenden von Konzentrationslagern, bei anderweitig Inhaftierten, Folteropfern oder Geflüchteten bekannt. Die Folgen werden heute oft als komplexe Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet und fordern naturgemäß eine sehr intensive Behandlung. Sogenannte Monotraumata, als „einzelne“ traumatische Erlebnisse, können ebenfalls sehr schwerwiegend sein, gelten insgesamt aber als leichter behandelbar.

Wie du sagst, sind ja auch Geflüchtete häufig traumatisiert vom Kriegsgeschehen, vor dem sie geflohen sind. Inwiefern ist die Erfahrung, die man als Zivilist*in macht anders als das, was man als Soldat*in erlebt?

Tatsächlich sind leider auch Geflüchtete sehr häufig Mehrfachtraumatisierungen unterworfen. Und sind daran zumeist völlig schuldlos. Sie können allerdings vielleicht Soldat*innen oder deren Auftraggeber*innen zu den Schuldigen machen, die für ihr Elend verantwortlich sind. Ein Soldat oder eine Soldatin aber muss auch damit fertig werden, an dem Elend, das ihm oder ihr nie ganz verborgen bleiben kann, eine Mitschuld zu tragen. Berechtigte oder unberechtigte Schuldgefühle sind fast immer auch ein Bestandteil von belastenden Traumafolgen.

Wie unterscheiden sich Traumatisierungen der Soldat*innen vor hundert Jahren von denen der Soldat*innen heute – falls sie das überhaupt tun?

Ein österreichischer oder deutscher Soldat, der im Ersten Weltkrieg Panikattacken, Weinkrämpfe oder Zitteranfälle bekommen hat, musste damit rechnen, dass er als Feigling, Simulant oder Psychopath angesehen wird. Die Traumafolgen wurden häufig auch als „hysterisch“ bezeichnet, nach dem damaligen Verständnis für einen männlichen Soldaten eine besondere Demütigung. Die Behandlungen sollten die Geschädigten zurück an die Front zwingen, nach dem Prinzip, dass die Behandlung schlimmer als die Front sein müsse. Die häufige Behandlung mit Elektroschocks führte auch zu Todesfällen und natürlich gab es zahlreiche Suizide. Heute erfahren alle österreichischen Soldat*innen im Rahmen ihrer Ausbildung – zur Selbst- und Kamerad*innenhilfe – dass Traumatisierungen normale Reaktionen auf abnorme Situation und als solche gut behandelbar sind. Dass die im Ersten Weltkrieg so häufigen Symptome der Bewegungsstörungen bei den sogenannten Kriegszitterern heute kaum mehr beobachtbar sind, kann kaum zweifelsfrei erklärt werden. Es hat vielleicht mit den im Ersten Weltkrieg so verbreiteten Stellungskriegen zu tun, in denen jede Bewegung gefährlich war, vielleicht aber auch damit, dass andere Störungen weniger zugegeben oder dokumentiert wurden.

Man hört ja gelegentlich von „erblichen“ Traumata. Tragen wir Spuren von dem in uns, was unsere Großeltern im Zweiten Weltkrieg erlebt haben?

Traumata können sich auf zwei Wegen auf die nachfolgenden Generationen auswirken: zum einen über das Verhalten und zum anderen auf dem Weg der Epigenetik. Eine Vermittlung über das Verhalten des Traumatisierten und dessen Wahrnehmung durch seine Nachkommen könnte man sich zum Beispiel so vorstellen: Ein Vater ist zu keinem Interesse gegenüber seinen Kindern in der Lage und neigt zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Oder er berichtet immer wieder in höchst ungeordneter und damit vielleicht unverständlicher Form über seine Erlebnisse. Und Epigene, also Anhängsel an der Ribonukleinsäure, durch welche spezifische Genaktivitäten ein- oder ausgeschaltet werden, können durch Traumata verändert werden und dann eine erhöhte Stressempfindlichkeit an nachfolgende Generationen übertragen. Wichtig zu beachten ist, dass das vermutlich – nach ersten vorliegenden Ergebnissen – durch eine geeignete Psychotherapie auch wieder rückgängig gemacht werden kann.

Und am Ende: Gibt es einen Fall aus deiner Arbeit, der dich besonders betroffen gemacht hat? Wie schützt du dich selbst?

Jeder Fall macht betroffen. Und ein wenig wütend hat mich das Folgende gemacht: Ein nicht mehr ganz junger Unteroffizier der Miliz (als solcher kein Berufssoldat, sondern in einem Zivilberuf und nur für Übungen oder Einsätze beim Bundesheer tätig) hat sich für einen UNO-Einsatz in Syrien gemeldet. Natürlich auch wegen der gebotenen Verdienstmöglichkeiten. Und wie alle Auslandssoldat*innen beim österreichischen Bundesheer wurde er vor dem Einsatz einer umfassenden Eignungsüberprüfung unterzogen, mit einer fast 24-stündigen psychologischen Untersuchung, welche eine uneingeschränkte Einsatzeignung ergeben hat.
Im Einsatzraum fand er sich dann, vorbereitet und ausgerüstet für Beobachtungsaufgaben und verantwortlich für eine Gruppe junger Kameraden, mitten in einem umkämpften Bürgerkriegsgebiet. Er ist mehrmals unter Beschuss geraten und sehr mutig und unter Lebensgefahr für die Erfüllung seines Auftrages und für seine Kameraden eingetreten. Wieder daheim: nächtliches Aufschrecken, quälende Erinnerungen und Albträume über den Einsatz, zunehmende soziale Ängste, Kontaktvermeidung und Depression. Damit war die Arbeitsfähigkeit sehr stark eingeschränkt. Eine Anerkennung seiner Probleme als Einsatzschädigung ist auch vor dem Verwaltungsgerichtshof abgelehnt worden, mit der Begründung, er habe schon vor dem Einsatz Probleme gehabt: Verluste von Angehörigen, eine Pleite, eine Scheidung. Hätte keine Vorschädigung bestanden, dann hätte er auch die Belastungen des Einsatzes besser verkraftet.

Naturgemäß ist es belastend, die in der Behandlung unverzichtbare Auseinandersetzung mit den Traumainhalten zu leisten, mit den Klient*innen in die traumatisierende Situation zurückzukehren. Zu versuchen, seine Gefühle zu dämpfen und zu kontrollieren, scheint nur begrenzt sinnvoll und aussichtsreich. Sehr viel hilfreicher für Betroffene wie für Therapeut*innen ist es, konsequent den Blick immer wieder weg vom Leiden und auf die Möglichkeiten seiner Bewältigung zu lenken.

Danke für das spannende Gespräch, lieber Oswald!

 

Dem Kampf, der im Inneren des Menschen toben kann, spürt auch Tanja Paar in ihrem Roman „Die zitternde Welt” nach. Die Kinder des österreichischen Paares Maria und Wilhelm wachsen an der Wende zum 20. Jahrhundert als Bürger des Osmanischen Reiches auf. Anatolien ist ihr Zuhause, Türkisch ihre Muttersprache – nicht Deutsch. Die alte Heimat der Eltern haben sie nie kennengelernt, sie existiert nur als fahle Erinnerung aus deren Erzählungen. – Bis der Erste Weltkrieg ausbricht. Geburtsort, politische Grenzen und Allianzen gewinnen plötzlich an entscheidender Relevanz: Was bedeutet der Krieg für die beiden Söhne im wehrpflichtigen Alter? Was bedeutet er für Maria, für die ein Leben außerhalb von Anatolien fernab jeglicher Vorstellungskraft liegt?