Leseprobe aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas

Linda Biallas ist Feministin, Mitte Zwanzig und steckt im Studium als sie ungeplant schwanger wird. Der Freund trennt sich, noch bevor das Baby geboren ist: nicht bereit, Vater zu sein. Heute arbeitet Linda als Sozialarbeiterin in Berlin. In ihrem Buch „Mutter, schafft“ schreibt sie über Ungleichheit und Erziehungsmodelle, Care- und Beziehungsarbeit und bohrt mit dem Finger in den Wunden unserer Gesellschaft, bis wir den Schmerz so richtig spüren!

Herzlich willkommen in der Mutterrolle, bitte geben Sie Ihre persönlichen Interessen an der Kreißsaaltür ab

Zu der Herausforderung, Mutter zu werden, trug auch bei, dass es in Deutschland nicht üblich ist, gleichzeitig Mutter und finanziell unabhängig und junge Frau mit Freizeitinteressen zu sein. Mutterschaft bedeutet in Deutschland Ehe, klassische Rollenverteilung, beruflich vorher etwas erreicht haben, weil das als Frau mit Kind nicht mehr geht.
Die Idee von Mutterschaft hängt damit zusammen, einiges aufgeben zu müssen: Autonomie, eigene Interessen, Freizeit. Rückblickend denke ich, dass ich mit Mitte 20, als ich zum ersten Mal Mutter wurde, wirklich gedacht habe, dass man dann mit Mitte 30 bereit dafür sein würde, mehr Kompromisse für die Mutterschaft zu machen. Aber ich bin auch jetzt mit Mitte 30 nicht dazu bereit, so viel von meinen persönlichen Interessen zu opfern, weil es so wenig Raum dafür gibt, etwas anderes zu sein als „nur Mutter“.
Mutter zu werden, bedeutet nicht nur, ein Kind zu gebären und danach plötzlich einfach so Mutter zu sein – genauso wenig, wie bei Co-Müttern, also Müttern, die ohne Liebesbeziehung gemeinsame Elternschaft leben, oder Müttern von Pflegekindern, Müttern, die ein Kind adoptiert haben, Patchworkmüttern nur der rechtliche Status, der Verwaltungsakt der Moment ist, in dem die Mutterschaft beginnt oder der die Mutterschaft ausmacht.
Mutter zu werden, kann ein längerer Prozess sein, eine Auseinandersetzung mit sich selbst, den Erfahrungen der eigenen Kindheit, den Erfahrungen mit den eigenen Eltern. Diese Auseinandersetzung mit der Mutterrolle kann in verschiedenen Konstellationen schon vor der Geburt, vor der Adoption, vor dem offiziellen Muttersein beginnen. Ich stelle mir immer wieder vor, dass Frauen, die geplant schwanger werden, bestimmt schon vorher überlegen, wie sie leben wollen, wie sie arbeiten wollen, wie das Kinderzimmer eingerichtet werden soll. Bei mir war das nicht so. Mir war vorher auch gar nicht so richtig klar, was und vor allem wie viel ich erfüllen sollte, um als gute Mutter zu gelten. Ich hatte eine grobe Vorstellung davon, dass gute Mütter nur Wolle-Seide-Bodys kauften, natürlich voll stillten, Brei immer frisch selbst kochten, also viel mehr dünsteten, und zwar Biogemüse, na klar. Außerdem würden sie immer gerne vorlesen und nie den Fernseher anmachen, den ganzen Tag Lust haben, mit dem Kind zu spielen, und vieles mehr.
Mutter zu werden, bedeutet in jedem Fall, dass so einiges erledigt werden muss. Also habe ich Babykleidung und Möbel akquiriert, mich informiert über das Stillen und über Milchnahrung und darüber, welche Themen aus dem Bereich Kinderkriegen der Esoterik zuzuordnen sind und nicht der Wissenschaft (Blähungen durch Ernährung der Mutter, Bernsteinketten gegen Zahnschmerzen, Aromatherapie bei der Geburt). Ich habe aufgehört zu rauchen und zu trinken und versucht, irgendwie den Entwicklungsschritt von der Studentin, die sich für Politik, Partymachen und Ausschlafen interessiert, zur alleinerziehenden Mutter, die plötzlich nicht nur für sich selbst verantwortlich ist, zu bewerkstelligen.
Ich habe mich nicht nur gefragt, ob mein Kind im ersten Lebensjahr Zucker essen darf, ab welchem Zeitpunkt ich wie viel Medienkonsum gut finde, wie sich meine Perspektive auf meine eigene Kindheit durch die Mutterschaft verändern würde, sondern mir auch Fragen gestellt, die nicht nur im Persönlichen beantwortet werden können, sondern die Art und Weise betreffen, wie wir leben und wirtschaften: Warum soll ich in der Familie so viel Care-Arbeit alleine machen? Warum soll ich das gerne machen müssen? Weil ich eine Frau bin? Weil die Trennung von Lohn- und Care-Arbeit und die Festlegung von Care-Arbeit als unbezahlte Ressource, die aus Liebe absolviert wird, ein unveränderbarer Fakt ist? Mir war nicht klar, dass es diese „Vereinbarkeit“, von der immer die Rede ist, eigentlich gar nicht so richtig gibt.
Die klassische Geschlechterrolle für Mütter ist die Mutterrolle, und die funktioniert, sehr vereinfacht gesagt, so: Mutti opfert sich gerne ohne Gegenleistung für die Kinder auf, aus Mutterliebe, weil sie so selbstlos ist, so sind Frauen eben. Die Karrierenachteile (wobei die klassische Mutterrolle eigentlich noch nicht einmal eine Arbeitstätigkeit von Müttern vorsieht), die Belastung durch die Second Shift nach der Lohnarbeit in Form von die Kinder von der Kita abholen und beschäftigen, den Haushalt alleine schmeißen, dann die Altersarmut, all das nimmt sie gerne in Kauf, die Mutter, denn das Lächeln der Kinder macht alles wieder gut. Sie macht das nicht fürs Geld, das wäre kaltherzig und irgendwie materialistisch, so sind Mütter nicht. Ganz so, als würden Mütter im Unrecht sein, wenn sie sich sichere finanzielle Verhältnisse wünschten, obwohl sie natürlich durch Schwangerschaft, Wochenbett, Stillzeit weniger an der Lohnarbeit partizipieren können. Dabei ist es eigentlich andersherum: Das kapitalistische System, in dem wir leben, hat sehr viel mit der Art, wie die Mutterrolle angelegt ist, zu tun und „die Wirtschaft“ profitiert davon, dass Frauen neue Arbeiterinnen und Arbeiter gebären und sie im Prinzip nix dafür zurückgeben muss. Kinder zu bekommen, gilt praktischerweise als private Entscheidung in der Familie, in der dann die idealtypische Aufteilung vorherrschen soll: Vater – Lohnarbeit. Mutter – Care-Arbeit.
Der Zeitpunkt und die Konstellation, in der ich Kinder bekommen habe, entsprechen nicht der klassischen Vorstellung darüber, wann und wie Leute Kinder bekommen. Mutter zu werden, das war für mich höchstens ein Vielleicht, ein Irgendwann. Eigentlich hatte ich so gut wie nie drüber nachgedacht, ob ich überhaupt einmal Kinder bekommen wollte und wie das dann sein sollte. Deswegen hatte ich bis dahin auch kaum Anlass, mich in Bezug auf mich selbst damit auseinandersetzen zu müssen, was Mutterschaft für mich bedeuten könnte, und vor allem hatte ich kaum Anlass dazu, mich mit der riesigen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an (werdende) Mütter auseinanderzusetzen. Noch nicht einmal in dieses „Kinder kriegen will ich schon irgendwann später mal“, von dem viele Freundinnen sprachen, stimmte ich mit ein, so wenig relevant war das Thema in meinem Leben.
Das erklärt ein Stück weit, weshalb meine Mutterschaft ein riesiger Entwicklungsschritt für mich war. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es auch Frauen, die die Mutterschaft geplant haben, überrascht und erschreckt, mit welcher Vehemenz die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter herangetragen werden, und wie eng der gesellschaftliche Rahmen für Mütter gesteckt ist. Mutter zu werden, heißt nicht nur, sich die eigenen emotionalen, die pädagogischen, die zwischenmenschlichen Fragen zu stellen. Mutter zu werden, heißt auch, sich mit der übergroßen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Mütter auseinandersetzen zu müssen.
Meine damalige Beschäftigung mit Feminismus und der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft hat mich nicht darauf vorbereitet, was für einen krassen Einschnitt das Mutterwerden im Leben einer Frau darstellt und was es in unserer Gesellschaft für einen „Rückschritt“ darstellt in Bezug auf „Frauen können alles erreichen“. Das hängt auch damit zusammen, dass es wenig Kontinuitäten im Feminismus gibt. Nicht nur gibt es unterschiedliche Theorien und Schwerpunkte, sondern jede Generation Frauen entdeckt den Feminismus immer wieder ein Stück weit neu. Lange Zeit hatte Feminismus einen schlechten Ruf, es war nicht erstrebenswert, Feministin zu sein. Das ist nicht mehr so, aber der Feminismus, der heutzutage medial präsent und sexy ist, speist sich weniger aus der feministischen Theorie, dafür umso mehr aus der marktbezogenen Nutzbarmachung eines popkulturellen Feminismus. Eine verwässerte feministische Botschaft, gedruckt von ausgebeuteten Frauen auf ein „Made-in-Bangladesh“-T-Shirt.
Frauen entdecken Feminismus meist dann für sich, wenn sie ihn brauchen, und als Mutter erwächst da eine besondere Dringlichkeit. Dass man sich mit Anfang  20 noch nicht für die Lage von Müttern, insbesondere alleinerziehenden Müttern interessiert, ist logisch. Die Zeit, in der man selbst ein Teenager war und Eltern langweilig, uncool und uninformiert fand, ist noch nicht lange her. Selbst Kinder zu bekommen, erscheint verdammt fern am Horizont. Rückblickend fand auch ich wohl mit den Zusammenhang zwischen der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft und der Mutterschaft kein ergiebiges Thema, weil es keine so naheliegende Idee ist, dass Frauen, die als Mütter durchschnittlich alle älter sind als man selbst, aufgrund ihrer Lebenslage „unterdrückter“ sind, weniger Wahlfreiheit haben. Das Erwachsenwerden funktioniert doch von der Jugend bis zum Ende der Ausbildung so, dass man immer mehr Autonomie und finanziellen Spielraum dazugewinnt. Ich hatte mich mit Sexismus beschäftigt, Simone de Beauvoir gelesen, fand erschreckend, wie weitverbreitet Gewalt gegen Frauen ist, und war persönlich nicht daran interessiert, aufgrund meines Geschlechts gesellschaftlich einer untergeordneten Position zugeordnet zu werden.
Die Geschlechterrolle „Frau“ ist bereits eine Zumutung, aber die Mutterrolle stellt handfeste Grenzen auf. Wie schwierig die Lebenslage von Müttern sein kann und was das mit Patriarchat und Kapitalismus zu tun hat, das war mir nicht klar, bevor ich selbst Kinder hatte. Und ich war geschockt. Sehr geschockt, dass man als Mutter so derartig im Stich gelassen werden kann, ohne jegliche Konsequenz für den Vater, der keinen Unterhalt zahlt und so gut wie nie das Kind betreut. Weil sich ab und zu um das Kind zu kümmern zwar insofern schön ist, als dass wenigstens ein bisschen Vater-Kind-Bindung entsteht, aber es für die Mutter wegen der fehlenden Planbarkeit keine Entlastung in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Zudem ist es eine zusätzliche Belastung, bis zur letzten Minute nicht zu wissen, ob ein Treffen stattfindet: sich mental darauf vorzubereiten, den Expartner zu treffen, Freizeitaktivitäten spontan absagen zu müssen, weil er doch nicht kommt, all das neben den ganzen anderen Stressoren, wie Armut, Stigma oder Überlastung, die das „So-richtig“-alleinerziehend-Sein mit sich bringt.
In so eine Situation können Männer einen einfach so bringen, und es gibt kein Instrument, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Sich nicht um die eigenen Kinder zu kümmern, keine Verantwortung für die Familie zu übernehmen, passt in das Bild, das wir uns von Vätern in dieser Gesellschaft machen. Am allerschlimmsten sind die Leute, die die Empörung darüber gar nicht verstehen, die irritiert sind: Als Mutter sei es doch sowieso unsere Aufgabe. Man hätte das Kind ja nicht bekommen müssen, wenn man sich jetzt nicht darum kümmern will. 50:50-Elternzeit? Völlig übertriebene Anspruchshaltung! Durch eine Schwangerschaft tun sich jede Menge Themen auf, sowohl die persönliche, die individuelle Entwicklung betreffende als auch Themen, die die eigene Position in der Gesellschaft und den Umgang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betreffen.
Durch meine Schwangerschaft hat sich mein ganzes Leben verändert. Formell betrachtet ist bei mir alles gut gelaufen. Gesunde Mutter, gesundes Kind. Keine Komplikationen, keine Geburtsverletzungen. Aber jede Geburt ist ein einschneidendes Erlebnis. Ich hätte jemanden gebraucht, der in meinem Team ist, auf den ich mich in diesem vulnerablen Moment verlassen kann. Die Geburt meines Sohnes war mein erster großer „Das-war-verdammt-hart-und-ich-habe-das-allein-geschafft,-weilich-es-schaffen-musste“-Moment. Fast ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie das Leben als alleinerziehende Mutter werden würde.
Für mich war völlig klar, dass ich mein Studium abschließen wollte, dass ich es abschließen musste. Und weil ich nicht wusste, dass allgemein üblich ist, dass gute Mütter mindestens ein Jahr Elternzeit machen, in Westdeutschland besser drei, und Väter höchstens, wenn überhaupt, die zwei danach benannten Vätermonate, habe ich nur ein Urlaubssemester lang Elternzeit gemacht. Zum nächsten Semester, als mein Kind acht Monate alt war, habe ich mir dann einen Praktikumsplatz für das anstehende fünfmonatige Praxissemester, das in meinem Studiengang Pflicht war, besorgt. „Ist ja nicht nur mein Kind“, dachte ich, und fand es völlig selbstverständlich und normal, dass der Vater die zweite Hälfte der Elternzeit machen würde. Dem war dann leider nicht so. Kurz vor Beginn meines Praxissemesters hat er mir mitgeteilt, dass er den Kleinen nicht betreuen würde können oder wollen. Wie sollte ich nun das Praxissemester machen, ohne das ich meinen Hochschulabschluss nicht bekommen würde? Und wie sollte ich ohne Abschluss genug Geld verdienen, um für mich und mein Kind zu sorgen? Fragen, die sich der Erzeuger in unserer Gesellschaft offenbar nicht stellen muss.
Care-Arbeit, also das notwendige Sich-um-jemanden-Kümmern, zum Beispiel in Form von Pflege, Erziehung, Hausarbeit, bleibt meistens an Frauen hängen. Nach der Geburt des ersten Kindes findet in bürgerlichen Heterokleinfamilien in der Regel die sogenannte Retraditionalisierung statt, bei der plötzlich die klassischen Geschlechterrollen und Zuständigkeiten in der Familie gelebt werden, die für Frauen viel Selbstaufgabe und wenig Freiheit bedeuten.
Bei mir hat sich das trotz aller gesellschaftlichen Gegebenheiten, Institutionen, Gesetze, des Drucks und der Geschlechterrollen, die uns alle in diese Richtung drängen, dann anders weiterentwickelt, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen war einfach kein Partner da, der die klassische Vaterrolle hätte übernehmen können. Ich lebe nicht in einer traditionellen, bürgerlichen Kleinfamilie, weil ich gar nicht die Möglichkeit dazu hatte. Ohne Partner keine klassische Rollenverteilung. Und der andere Grund, warum ich mich nicht in einer traditionellen Kleinfamilie wiedergefunden habe, ist der, dass ich von vornherein wenig Interesse daran hatte, weil ich den Deal der klassischen Rollenverteilung in der Heterokleinfamilie von Anfang an absolut ungerecht fand.

Aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas