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„Wenn ein*e Richter*in dir keinen Glauben schenken will, kannst du nichts richtig machen.“ – Gespräch mit „Asyl in Not“

Eine Verhandlung, eine Entscheidung, eine Wegkreuzung im Leben, an der man nicht selbst bestimmen kann, welche Richtung man einschlägt: Asylverfahren. Die unabhängige Menschenrechts-NGO „Asyl in Not“ bietet geflüchteten Menschen unvoreingenommen rechtliche Beratung und Vertretung und kämpft Tag für Tag für die Wahrung der Menschenrechte. Linda Müller hat mit Büroleiterin Naomi Steiner über die Arbeit des Teams gesprochen; über Herausforderungen, Recht und Unrecht und über österreichische Klassenjustiz.

In der Praxis hat ein Urteil in einem Asylverfahren immer auch eine subjektive Komponente. Wie erlebt ihr das in eurer Funktion als Rechtsberatung, spielt Glück eine Rolle, also beispielsweise im Hinblick darauf, welche*r Richter*in zuständig ist?

Leider spielt Glück im Asylverfahren eine große Rolle, in der zweiten Instanz primär, welche*r Richter*in zugeteilt wird. Aber auch schon in der ersten Instanz ist der Zeitpunkt der Bearbeitung des Antrags unserer Beobachtung nach ausschlaggebend: Es scheint Jahreskontingente für positive Entscheidungen zu geben, d.h. Fälle, die im Jänner und Feber bearbeitet werden, sind – mit dem gleichen Sachverhalt – öfter bereits erstinstanzlich positiv als später im Jahr. Vor dem Bundesverwaltungsgericht ist es vor allem ausschlaggebend, welche*r Richter*in zuständig ist, und was deren Grundeinstellung ist, aber auch die jeweilige Tagesverfassung der einzelnen Richter*innen beeinflusst die Erkenntnisse. Im Asylverfahren muss der/die Geflüchtete seine/ihre Geschichte glaubwürdig und schlüssig, wie es so schön heißt, darlegen können, die Verfolgung muss glaubhaft gemacht, aber nicht zwangsläufig bewiesen werden.
Wenn die Richter*innen grundsätzlich negativ eingestellt sind, wird das aber in vielen Fällen den Antragstellenden zur Last gelegt. Soll heißen: Wenn keine Beweise produziert werden können, wird die Erzählung als unglaubwürdig abgelehnt (obwohl keine Beweispflicht herrscht).
Auf der Kehrseite werden aber auch oft vorhandene Beweismittel von den Richter*innen nicht anerkannt, prinzipiell als Fälschungen abgetan oder sogar der Fakt, dass überhaupt ein Beweismittel existiert, als Grundlage dafür genommen, dass der gesamte Fluchtgrund konstruiert und „gut inszeniert“ ist.
Kurz: Wenn ein*e Richter*in dir keinen Glauben schenken will, kannst du nichts richtig machen.

Wenn die Richter*innen grundsätzlich positiv eingestellt sind, ist oft zu merken, dass diese trotz angeblicher Weisungsfreiheit auch unter Druck von außen (oben?) leiden. Häufig werden positive Urteile mündlich verkündet. Dies ist zwar ein Weg, um Einsprüche der Gegenseite (lies: von der erstinstanzlichen Behörde, dem BFA) zu verhindern, jedoch fehlt die Argumentation der schriftlichen Ausfertigung für die Judikatur. Positive Erkenntnisse sind also oft positiv für die/den einzelne*n Beschwerdeführer*in, wirken sich jedoch nicht so nachhaltig auf die Judikatur (und somit auf die Verfahren aller zukünftigen Beschwerdeführer*innen mit ähnlichen Fluchtgründen) aus wie negative Erkenntnisse.

Zusammenfassend hat in der Praxis der Rechtsberatung unsere Einschätzung der Fluchtgründe, und ob diese objektiv einen Grund für Asyl nach der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen einen wesentlich geringeren Stellenwert bzgl. unserer Einschätzung des Verfahrensganges als die Frage, welche*r Richter*in zugeteilt ist. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass wir uns in der Verfahrensführung davon nicht beeinflussen lassen und unermüdlich politische und juristische Argumente einbringen, gerade um die Verfahren objektiver zu machen und unsere Argumentation im besten Fall zur Judikatur werden zu lassen.

Naomi Steiner ist studierte Linguistin. Über ihre Arbeit sagt sie: „Asyl in Not verbindet für mich Aktivismus und Aktionismus mit solidarischen Beratungsangeboten, ohne dabei den politischen Aspekt sowie die Geschichte aus den Augen zu verlieren.“ Foto: F. Akbari, Asyl in Not

Welche Maßnahmen würden eine größere Objektivität gewährleisten oder zumindest unterstützen?

Wir versuchen das auf zwei Wegen: Öffentlichkeit und das Ansuchen nach Gutachter*innen (Versachlichung).

1) Öffentlichkeit: Einerseits sind wir der Meinung, dass eine breitere Öffentlichkeit immer hilft, um die Geschehnisse im Gerichtssaal nicht unter dem Tisch verschwinden zu lassen. Was sich manche Richter*innen, die sich unbeobachtet fühlen, bei Verhandlungen erlauben, ist – mit Verlaub – einfach unterirdisch. Von minderjährigen Menschenhandelsopfern, die angebrüllt werden, von bewusst unvollständigen Protokollen bis zu offenem Mokieren über die Traumata der Geflüchteten mussten wir schon alles miterleben.
Um diese Öffentlichkeit zu gewinnen, veröffentlichen wir seit jeher Verhandlungs- und Fallberichte, auch mit namentlicher Nennung der Richter*innen und Beamt*innen. Zusätzlich haben wir im letzten Jahr die Kampagne „Prozessbeobachtung“ gestartet, wo sich alle Menschen bei uns anmelden können, um am Bundesverwaltungsgericht in ihrer Stadt Asylprozesse zu beobachten. Von Schüler*innen bis zu pensionierten Rechtsanwält*innen haben wir einen großen Pool an Personen, die Verhandlungen beobachten und protokollieren können. Einerseits um allein durch ihre Anwesenheit die Richter*innen daran zu erinnern, dass sie nicht unbeobachtet sind, andererseits auch um, wenn notwendig, durch ihr Protokoll in höheren Instanzen ein Beweismittel zu haben.

2) Versachlichung: Bei jeder anderen Verhandlung ist es selbstverständlich, dass Gutachter*innen herangezogen werden. Bei Asylverfahren leider nicht. Kein*e Richter*in würde sich zutrauen, etwa über ein bestimmtes Kraftfahrzeug oder eine medizinische Sachlage, wie sie bei Versicherungsfällen häufig vorkommen, zu urteilen. Im Asylverfahren sind die Richter*innen aber plötzlich die Expert*innen: über die Lage im Herkunftsstaat, den Familienstamm der Beschwerdeführenden, die ansässigen politischen Parteien, psychische Traumata in Folge von Folter oder Frauenhandel und vieles mehr. Das halten wir für unmöglich und auch für grob fahrlässig. Richter*innen sind – idealerweise – Expert*innen im österreichischen Recht. Sämtliche andere Expertise von ihnen zu verlangen, ist nicht realistisch und für unsere Klient*innen sehr gefährlich.
Neben intensiver Recherche und unseren eigenen Stellungnahmen fragen wir daher in den Verfahren Gutachter*innen zu bestimmten Themen an und fordern, dass das zur gängigen Praxis wird.

Jede Asylentscheidung hat zwei Seiten: eine Person, die möglicherweise schon sehr lange auf diese Entscheidung wartet und für die das ganze weitere Leben daran hängt. Und ein*e Richter*in, die/der ebenjene Entscheidung treffen muss. Kann man, wenn man nie in der Position des/der Asylsuchenden gewesen ist, auch nur ansatzweise erahnen, was das bedeutet? Wie wichtig ist die Mitarbeit von Betroffenen in eurem Team?

Es braucht nicht in erster Linie persönliche Betroffenheit, sondern ein geändertes System. In einem korrupten Gerichtssystem mit bestenfalls überlasteten, schlimmstenfalls bösartigen Richter*innen werden auch „betroffene Minderheiten“ nichts ausrichten können. Wenn negative Entscheidungen, in welcher Form auch immer, befürwortet oder gefördert werden, ist jede Identitätspolitik sinnlos.
Überspitzt gesagt: Man muss nicht Menschenhandelsopfer sein, um Menschenhandelsopfer nicht anzubrüllen, ob sie dumm seien. Man muss nicht vergewaltigt worden sein, um sich über Opfer von Massenvergewaltigungen nicht offen zu mokieren.
Jeder Mensch ist zu Empathie fähig. Und auch wenn es unsere politische Forderung ist, auf lange Sicht Grenzen abzuschaffen und alle ihren Lebensmittelpunkt frei wählen zu lassen, so sind unsere Verbesserungsvorschläge für das Asylverfahren von heute erschreckend simpel: Richter*innen sollten ihre Jobbeschreibung noch einmal kurz durchlesen und überlegt und neutral auf Basis der Gesetze urteilen.

Kannst du kurz skizzieren, welche psychischen Folgen das oft jahrelange Warten hat?

Für Asylwerber*innen ist die Ankunft in Österreich erst der Beginn von oft jahrelangem Warten. Währenddessen ist alles in der Schwebe. Es ist unsicher, ob hier eine Zukunft möglich ist. Häufig gibt es Familie im Herkunftsland oder an den europäischen Außengrenzen, die darauf wartet, nachkommen zu können.
Der Zugang zu verlässlichen und – im Sinne der Asylwerbenden – parteiischen Informationen ist schwierig. Staatliche Institutionen klären nicht vollständig auf. Auch Sprachkurse werden nicht standardmäßig angeboten.
Wenn während der jahrelangen Wartedauer Freundschaften, Beziehungen, Familien mit Österreicher*innen entstehen, so werden diese vor Gericht häufig abgetan, und den Asylwerbenden wird vorgeworfen: Sie sind diese Beziehung(en) eingegangen, obwohl Sie wussten, dass Ihr Aufenthalt in Österreich nicht sicher ist. (Wenn es keine oder nur wenige Kontakte zu Österreicher*innen gibt, so wird das andererseits als fehlende Integrationsbemühung gewertet.)
Zusätzlich dazu kommt es immer wieder zu Einvernahmen vor den Behörden, bei denen die Asylwerbenden meist alleine sind und die häufig retraumatisieren, da das Erlebte immer wieder durchlebt, aber auch gegen Misstrauen der Beamt*innen verteidigt werden muss.
Das Warten, die Handlungsunfähigkeit und fehlende Strukturen führen häufig zu gebrochenen Menschen. Die häufigste Anfrage, die wir in unserer offenen Beratung beantworten müssen, ist: „Wie lange dauert es noch?“ – verständlicherweise. Das Warten in Unsicherheit ist für viele oft schlimmer als ein negativer Bescheid. Das Schlimmste am ewigen Warten jedoch ist für die meisten Asylwerbenden das restriktive Arbeitsverbot, mit dem sie zur Untätigkeit gezwungen werden. Oder: in die Illegalität.

Was sind die größten Hürden, die ihr bei eurer Arbeit überwinden müsst – und in welche Richtung bewegt sich die Situation derzeit?

Die Hürden, die uns möglicherweise belasten könnten, sind nichts im Vergleich zu dem, was unsere Klient*innen durchmachen müssen. Wir beschäftigen lediglich drei Angestellte, der Großteil unserer Rechtsarbeit wird von Ehrenamtlichen geleistet. Dabei muss man bedenken, dass unsere Arbeit vor allem dadurch entsteht, dass das Recht auf ein faires Verfahren in Österreich de facto nicht umgesetzt wird. Würden gewisse Verfahrensgarantien eingehalten werden, wäre die erste Instanz nicht de facto für Geflüchtete verloren, könnten wir uns auf andere Bereiche des politischen Kampfes konzentrieren. So leisten wir eigentlich juristische Selbstverteidigungsarbeit.

Ich lese auf eurer Homepage, dass ihr euch als Teil des politischen Kampfes versteht. Was bedeutet das genau?

Die Schikanen, mit denen Geflüchtete in Österreich umgehen müssen, der Kampf um simple Grundrechte, der entmenschlichende und entwürdigende Umgang der Behörden und vor Gericht sind in Österreich ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Es ist derselbe Umgang, den Vergewaltigungsüberlebende und Opfer von Gewalt bei der Polizei, von der Staatsanwaltschaft und vor Gericht erwarten müssen. Die nicht ihre Verletzungen oder die Gefahr, der sie ausgesetzt sind, vorlegen können, sondern zu allererst ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen müssen. Menschen, die von Stromabschaltungen und Delogierungen betroffen sind, die von 55%-Nettoersatzrate leben müssen und dann wöchentlich mit Computerkursen vom AMS schikaniert werden, erleben jeden Tag ein- und dasselbe. Ebenso wie Migrant*innen in Österreich, die monatelang auf die Ausstellung ihrer Visa warten müssen, nur um sie kurz vor Ablauf zugestellt zu bekommen; sie alle sind Opfer der rassistischen Klassenjustiz in Österreich.

Asyl in Not besteht nicht nur aus den angestellten Mitarbeiter*innen, sondern aus einem weiten Umfeld an mitwirkenden Aktivist*innen und Unterstützenden. Die NGO finanziert sich primär über Spendengelder. Mehr Information findest du hier.