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Von Biber-Fieber und Naturzerstörung: Leseprobe aus Bettina Balàkas Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen“

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seinen eigenen Lebensraum zerstört. In unserer Gesellschaft kontrastiert das permanente Bedürfnis, Tiere, Pflanzen, Ökosysteme unter Kontrolle zu bringen und nutzbar zu machen, mit dem mittlerweile ebenso großen Bedürfnis, die Wildnis zu sehen, zu bereisen, zu genießen, der Natur nahe zu sein. Wir lieben und vernichten sie zugleich. Die Autorin Bettina Balàka versteht es, Geschichte, Forschung und literarische Erzählung über die Zerstörung der Natur durch den Menschen auf beeindruckende Weise zu vereinen. In einer Reihe von Essays arbeitet sie dieses ambivalente Verhältnis auf.

Beaver believer

Mit dem Biber verbindet mich eine lange Liebesgeschichte. Sie begann mit einem Kinderbuch. Es war Anfang der 1970er-Jahre, als die schlaue Bilderbuchserie „Meine erste Bücherei“ im Verlag Brönner Kinderbücher erschien, der ich auch Informationen über Piraten (besonders liebte ich die Doppelseite „Piratinnen“) oder Sauriern verdankte. Aus einem der Bände ist mir die Zeichnung von der Wohnstatt der Biber noch eindrücklich im Gedächtnis: von außen ein riesiger Ästehaufen mitten in einem Teich. Im Querschnitt aber, vom durchdringenden Auge des Illustrators gleichsam geöffnet, sah man die geschickte Anlage der Burg. Ihr Eingang lag unter Wasser, vor Raubtieren geschützt. Die Wohnhöhle selbst befand sich über dem Wasserspiegel im Trockenen. Das Biberelternpaar brachte Nahrung zu den dort in gemütlicher Sicherheit kuschelnden Babys.
Was mir das Büchlein nicht verriet und was ich erst gute vierzig Jahre später erfahren sollte, war, dass Biber ihre Jungen nach zwei Jahren rauswerfen. Auf die Straße setzen beziehungsweise auf den Fluss. Das hat seine biologische Sinnhaftigkeit. Da jedes Frühjahr neuer Nachwuchs kommt, muss der halbwüchsige ausziehen und sein eigenes Revier suchen. Da sitzt so ein heimatloser Biberjugendlicher dann tagsüber zitternd im Schilf und arbeitet sich nachts Flussläufe hinauf oder hinunter, durch fremde Biberreviere hindurch, wo er nicht gerade freundlich empfangen wird.
Während des ersten Lockdowns ist einem solchen Wiener Jungbiber ein besonderes Meisterstück gelungen: Nachts marschierte er durch dicht verbautes Wohngebiet sowie über eine normalerweise stark befahrene Durchzugsstraße, um die Wienerbergteiche, die er wohl von der Ferne gewittert hatte, als Erster zu besiedeln. Nun ist so ein Biber zwar ein Nagetier, aber alles andere als ein Mäuschen. Etwa einen Meter lang und bis zu dreißig Kilogramm schwer ist er im Wasser sehr wendig, an Land jedoch gemächlich unterwegs. Ich habe mir oft vorgestellt, wie dieser Biber nachts durch die Stadt schlurfte, ohne Wasser und ohne Nahrung (oder vielleicht fand er eine Pfütze, eine Grünflächenweide?), wahrscheinlich irgendwo in einem Loch oder Gebüsch übertagte, dank der Ausgangssperre unbemerkt und unversehrt.

Als ich die ersten leibhaftigen Biber sah, war ich selbst gerade von zu Hause ausgezogen. Es war in Kanada, wo Castor canadensis lebt, der nordamerikanische Verwandte des europäischen Castor fiber. Er sieht genau gleich aus, hat aber acht Chromosomen weniger, die er offenbar vor tausenden von Jahren auf der langen Reise über die Beringstraße verloren hat – man weiß nicht warum. Einen interessanten Unterschied im Verhalten hat man herausgefunden: Biberpaare bleiben, was für Säugetiere außergewöhnlich ist, ein Leben lang zusammen. Europäische Biberpaare sind dabei, wie DNA-Analysen der Jungen ergaben, einander bedingungslos treu, wohingegen ihre kanadischen Verwandten recht gerne fremdgehen. So mancher kleine Biber ist dort ein Kuckuckskind.
Ein weiterer Unterschied ist der Besiedelungsgeschichte geschuldet. Der amerikanische Biber hat viel mehr unberührte Natur zur Verfügung als der europäische und kann sie großflächig gestalten. Der größte Biberdamm der Welt wurde mit Hilfe von Bildern aus dem Weltall entdeckt. Er befindet sich im Wood-Buffalo-Nationalpark in Alberta, wurde über Jahrzehnte hinweg von vielen Generationen gebaut und ist achthundertfünfzig Meter lang. In ganz Nordamerika gibt es Anlagen, die über Jahrhunderte genutzt und immer weitergebaut wurden. Dabei ist es verblüffend, was diese Nagetier-Architekten ganz ohne Baumaschinen schaffen. Mit ihren Vorderpfötchen holen sie Schlamm vom Teichgrund, um ihren Bau immer wieder zu verputzen und damit regelrecht zu betonieren. Alte Burgen können so massiv sein, dass man sie sprengen muss, sollten sie einem menschlichen Bauvorhaben im Wege stehen.
An einem sonnigen Tag Mitte der 1980er-Jahre also begannen die Zeichnungen aus meinem Kinderbuch dreidimensional zu werden, von Wind, Lauten und Gerüchen belebt. Ich stand an einem riesigen Stauteich, eine Burg in der Mitte, und Biber werkelten geschäftig herum. Bei jeder späteren Begegnung sollte sich dieses Bild wiederholen. Biber sind fleißig. Sie arbeiten, tüfteln, bauen, reparieren, schleppen, nagen. Nie habe ich einen Biber faulenzen gesehen.
Eine Besonderheit gab es hier, die mir neu war. Ich hatte immer gehört, Biber seien nachtaktiv, doch diese waren im hellen Sonnenschein zugange. Tatsächlich, erfuhr ich, sind Biber genauso tagaktiv wie wir, sofern sie in Ruhe gelassen und nicht gejagt werden, wie etwa in dem Nationalpark, in dem ich mich befand. Bis heute tut es mir leid für die Biber in Wien, die im Dunklen leben müssen, weil tagsüber alle Ufergebiete voll sind von Spaziergängern, Hunden, Radfahrern und im Sommer natürlich Badenden. Hier, wo die Fließgewässer tief genug sind, bauen die Biber keine Dämme und in der Wassermitte stehenden Burgen. Sie graben ihre Baue einfach in die Uferböschung. Da sitzen sie dann direkt unter dem Trubel und warten, bis spät nachts das Kreischen, Plantschen, Bellen und die Techno-Musik aus Lautsprechern verklingen und sie endlich herauskommen können.

Der erste Wiener Biber, den ich sehen sollte, war allerdings ebenfalls tagaktiv. Er hieß Flumy, lebte in einem großen Gehege mitten im Nationalpark Donau-Auen, war praktisch zahm und sehr dick. Auch wenn ich bereits von politisch korrekten Personen des Fatshamings bezichtigt wurde: Alle Biber sind dick. Sie haben eine zwei (Sommer) bis drei (Winter) Zentimeter dicke Fettschicht, die sie brauchen, um sich im Wasser warm zu halten. Flumy jedoch war besonders dick, er wurde nämlich von manchen Besuchern trotz entsprechender Verbotsschilder mit Karotten gefüttert. Da er handaufgezogen war, hatte er sich an den Menschen gewöhnt und konnte nicht mehr ausgewildert werden.
Natürlich kann man einen Biber nicht so einfach einsperren. Der Architekt unterirdischer Tunnelsysteme ist ein Ausbrecherkönig. Deshalb sieht man ihn auch selten in Zoos. Auch Flumy grub sich unter allen Barrieren hindurch und erkundete das umliegende Gelände. Im Winter konnten die Tierpfleger gut erkennen, wo er sich gerade befand. Schwebte im benachbarten Damhirschgehege ein Atemwölkchen, kam es aus einem von ihm angelegten Belüftungsschacht. Er kehrte jedoch immer wieder in sein Gehege zurück – warum sollte er sich in der Wildnis plagen, wenn dort Karotten gereicht wurden.
Flumy, der das stattliche Alter von fünfundzwanzig Jahren erreichte, ist mittlerweile in die ewigen Weidenauen eingegangen. Dafür gab es für mich andere denkwürdige Biberbegegnungen. Mit meinem Hund Bubi gehe ich häufig in den Donauauen spazieren. Bubi ist ein Dackel-Mischling und das bedeutet, auch er ist zum Graben geboren. Eines Tages saß ich am Ufer der Neuen Donau, während Bubi neben mir grub. Plötzlich bemerkte ich, dass er in den „Jagdmodus“ geriet, sein Scharren war angespannt, durch die konkrete Anwesenheit eines Wildtieres motiviert. Als das Loch schon ziemlich tief war, fiel mir ein durchdringender Geruch auf. Er erinnerte an penetrantes Herrenparfum mit Moder, Harz, Vanille, Leder, einem Hauch Achselschweiß und Gammelfisch. Es ist der Geruch des Castoreums, auch Bibergeil genannt, mit dem der Biber sein Revier markiert. Früher wurde er gejagt, weil man es für eine hochwirksame Medizin hielt. Etwas Wahres dürfte dran sein. Da der Biber Weidenrinde frisst, die Salicylsäure enthält, die dadurch wiederum im Bibergeil enthalten ist, könnte es wie schwaches Aspirin wirken. Man hätte allerdings auch direkt Weidenrinde auskochen können.
Kaum hatte ich versucht, diesen Geruch einzuordnen, machte es „Platsch“. Ein Biber tauchte aus dem Wasser auf. Bubi hatte seinen Bau von oben angegraben, die Situation war ihm zu heikel geworden und er war durch seinen Unterwassereingang geflohen, wollte sich aber durchaus bemerkbar machen. Vor uns patrouillierte er auf und ab und schlug immer wieder mit der Kelle laut klatschend auf das Wasser, um uns zu vertreiben. Da wir uns nicht von der Stelle rührten, kletterte er irgendwann auf einen Stein und begann sich ausgiebig zu putzen. Denn auch das gehört zu den Tätigkeiten der fleißigen Biber: Fellpflege. Schließlich müssen sie sich permanent mit ihrem öligen Analsekret einreiben, damit ihr Pelz wasserabweisend bleibt.

Seit ruchbar wurde, dass ich das bin, was man im Englischen einen „beaver believer“ nennt, wurde ich so etwas wie eine Biberbeschwerdeanlaufstelle. Immer wieder schicken mir Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis Fotos von Bäumen, die der Biber angenagt oder gar gefällt hat, und garnieren diese mit mehr oder weniger subtilen Verwünschungen des Übeltäters.
Jemand, der noch weitaus mehr solcher Beschwerden entgegennimmt, ist Wiens Forstdirektor Andreas Januskovecz. Bei ihm läuft alles zusammen: begeisterte Berichte von Biberspurensichtungen in neu erschlossenen Revieren, ernstzunehmende Meldungen von angenagten Bäumen, die beim Fallen Fußgänger gefährden könnten (sodass sie von den Stadtförstern gefällt werden müssen), ebenso wie alltägliche Klagen über die generelle Unordnung, die dieses Wildtier macht.
„Als Förster freut es mich grundsätzlich sehr, dass die Menschen sich so große Sorgen um Bäume machen“, sagt Januskovecz.
Der Mensch liebt Bäume, und das ist gut so. Wie aber kommt es, dass er an einem gefällten Baum, an dem der klare Schnitt einer Motorsäge zu erkennen ist, ohne das geringste Unruhegefühl vorbeigehen kann, aber bei den Spuren eines Wildtieres, das seit Jahrmillionen erfolgreich mit seinem Lebensraum interagiert, den Eindruck hat, dass hier etwas ganz Fürchterliches passiert?

Zwar gibt es auch bei menschlichen Eingriffen vereinzelt Proteste oder gar Bürgerinitiativen, vor allem wenn ein geliebter alter Baum einem Bauvorhaben weichen soll, aber grundsätzlich können die meisten selbst an einem größeren Kahlschlag mit dem Gefühl vorübergehen, hier sei von rationalen Mächten mit gutem Grund der Wald abgeholzt worden. Millionen Festmeter Holz werden für unsere eigene Nutzung gefällt? Tausende Hektar Wald werden für Schilifte, Kraftwerke, Industriegebiete, Wohnsiedlungen, Einkaufszentren und Straßen vernichtet? Nun, das muss halt so sein, da wird schon jemand ausgiebig darüber nachgedacht haben und nach sorgfältiger Abwägung zu einem Entschluss gekommen sein. Aber der Biber denkt nicht nach, er handelt wüst, instinktiv und chaotisch. Oder?
Tatsächlich besiedelt und benagt der Biber nur einen sehr schmalen Uferstreifen, zwischen zehn und zwanzig Meter vom Wasser entfernt. Allein dieses Wissen hilft schon, um einen guten Teil der Ängste auszuräumen. Wird er am Ende den ganzen Wienerwald abholzen? Nein, auf gar keinen Fall. Wirkliche Schäden, erklärt Forstdirektor Januskovecz, kommen in Wien, wo es im unmittelbaren Wirkungsfeld des Bibers keine landwirtschaftlichen Flächen und auch kaum Obstbäume gibt, praktisch nicht vor. An einen einzigen Fall kann er sich erinnern, wo ein Biber sich ungewöhnlicherweise über hundert Meter vom schützenden Wasser entfernte, um – sozusagen im Fruchtrausch – einen Obstgarten zu zerstören. Hier würde er gerne eine finanzielle Entschädigung auszahlen, die aktuelle Rechtslage ermöglicht dies jedoch nicht.
Warum aber ist es kein Schaden, was der Biber macht? Zum einen würde man viele der Bäume und Sträucher, die unmittelbar an der Uferböschung stehen, aus Gründen des Hochwasserschutzes ohnehin fällen. Steigt nämlich der Wasserpegel an, verhindern sie, dass das Wasser möglichst schnell wieder abfließen kann. Auf der Donauinsel etwa kann man an manchen Stellen ein durchaus verwirrendes (oder harmonisches) Nebeneinander von Biberbiss und Menschenschnitt sehen. Nur große, schattengebende Bäume werden stehen gelassen und gegebenenfalls mit Ummantelungen aus Eisengitter vor dem Biber geschützt. Andere Bäume überlässt man ihm bewusst, schließlich kann man ihn im Winter, wo er sich von Rinde ernährt, ja nicht verhungern lassen. Hat er sie so angenagt, dass ihr Fall Menschen gefährden würde, fällt man sie und lässt sie dann liegen, damit er sie abnagen, zerlegen und stückweise ins Wasser ziehen kann. Erst im Frühjahr, wenn es wieder andere Nahrungsquellen gibt, räumt man die Reste fort.

Warum wir 2023 noch über die Protagonistinnen der 1848er-Revolution diskutieren müssen und wie sich Geschichtsvernebelung aus dem 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit fortschreibt. Ein Interview mit Andreas Kloner

Der Zauberer vom Cobenzl“ von Bettina Balàka ist eine mitreißende und kuriose Geschichte von einem schillernden Wissenschaftler und Entdecker, der dem Altersstarrsinn anheim fällt und sein Denkmal beschädigt. Der Roman ist auch ein lebendiges Epochenbild, das uns Leser*innen aus einer weiblichen Perspektive heraus eintauchen lässt in eine Zeit der Umbrüche, in eine Zeit des erwachenden Widerstands und die Geburtsstunde der ersten politisch organisierten Gruppe, die sich im Kaiserreich der Gleichstellung von Frauen und Männern verschrieb.

Während so manche Begegnung und Bekanntschaft in Bettina Balàkas fiktivem Roman geschichtlich nicht belegbar ist, fußen viele Begebenheiten auf breitem historischen Konsens: Etwa die Rolle der ersten Wiener Frauendemonstration 1848 kurz vor der sogenannten Praterschlacht, oder der solidarische Einsatz des „Ersten Wiener Demokratischen Frauenvereins“

Der Journalist und Autor Andreas Kloner arbeitet seit 2003 als Sendungsgestalter für den Österreichischen Rundfunk, Deutschlandradio Kultur, Radio France und andere europäische Kultursender.
Fotocredit: privat

Obwohl die Ereignisse des Revolutionsjahrs gut dokumentierter Gegenstand geschichtlicher Forschung sind und sich auch im Stadtbild verschiedentlich manifestieren (so gibt es etwa einen Platz der Erdarbeiterinnen im 2. Bezirk), kamen schon während der Recherche am Roman und nach der Veröffentlichung Widersprüchlichkeiten und weit verbreitete Fehlannahmen ans Tageslicht.

Immer wieder wurden wir zum Beispiel mit dem Wikipedia-Eintrag des Protagonisten Karl von Reichenbach konfrontiert, der eine der Hauptfiguren, Ottone, fälschlicherweise nicht anführt. Wo liegt die Ursache für faktische Fehlinformationen, fehlende Quellen und offensichtliche Geschichtsklitterung, die anscheinend unwidersprochen kursieren?

Wir haben Andreas Kloner interviewt, um das herauszufinden, der Journalist und Schriftsteller forscht aktuell selbst für ein Buch über Karoline Perin. Über die 1848-er Revolution, Stolpersteine bei der Recherche und patriarchale Traditionen der Geschichtsschreibung haben wir uns mit ihm unterhalten.

Lieber Herr Kloner, Bettina Balàkas Roman versetzt seine Leser*innen in eine bewegte Epoche. 1848 wurde das Kaiserreich von Aufständen erschüttert, neben Autonomiebestrebungen einzelner Kronländer hatte die Revolution auch eine Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung zum Ziel. Lassen Sie uns kurz in den historischen Kontext eintauchen:

Um die Zusammenhänge während der europäischen Revolutionszeit 1848/49 einordnen zu können, empfehle ich das neue Buch von Christopher Clark „Frühling der Revolution“, in dem der Autor den Leser*innen auf mehr als tausend Seiten eine Gesamtschau der Ereignisse und Beweggründe bietet. In Österreich brach sich die Revolution Bahn von etwa Mitte März 1848, mit der Forderung nach einer Verfassung und nach Pressefreiheit, im Mai 1848 folgte der Studentenaufstand und der damit verbundene Bau zahlreicher Barrikaden innerhalb der Wiener Stadtmauern. Die Geschehnisse gipfelten in der Demonstration der Erdarbeiter*innen und dem Pratermassaker vom 23. August. Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Latour, am 6. Oktober 1848, bildete Argument und Auftakt zur Konterrevolution, die den Aufstand Ende Oktober 1848 blutig niederschlagen ließ. Zart gesprossene liberale und demokratische Pflänzchen wurden zertreten. Das nachhaltigste Ergebnis der Wiener Revolution 1848 war die Bauernbefreiung unter der Ägide von Hans Kudlich.

In dieser turbulenten Zeit kommen zwei Protagonistinnen des Romans – Hermine und Ottone – mit revolutionären Kreisen in Berührung und wir erfahren viel über das Engagement von Teilen der Aristokratie und des Bürgertums. Wir lernen im Roman auch Protagonistinnen der entstehenden Frauenbewegung kennen. Welche Rolle spielte etwa der „Erste Wiener Demokratische Frauenverein“ in dieser Zeit?

Ob Hermine und Ottone Reichenbach definitiv mit den revolutionären Kreisen in Berührung gekommen sind, dazu sind die Quellen zurzeit nicht ausreichend. Die literarische Freiheit Bettina Balàkas, die Schwestern Reichenbach als Mitglied des „Ersten Demokratischen Frauenvereins“ aufscheinen zu lassen, könnte allerdings von der Realität durchaus overruled werden, falls in einer Petition des Frauenvereins an den am 17. Oktober 1848 tagenden Reichstag auch die Unterschriften von Hermine und Ottone auftauchen sollten. Da bin ich noch auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. An einer kleinen, inneren Revolution haben Hermine und Ottone ohne Zweifel teilgenommen, nämlich die Entscheidung, ihren despotisch-psychopathischen Vater in einer regelrechten Nacht- und Nebelaktion zu verlassen.

Was den „Ersten Wiener demokratischen Frauenverein“ betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob sich dieser die politisch heißen Themen, wie Gleichberechtigung oder gleiche Bildung für Frauen, von Anfang an auf die Fahnen geheftet hat. Gegründet wurde der Verein, nachdem ein Protest von Erdarbeitern, aber vor allem auch Erdarbeiterinnen, die wegen einer einschneidenden Lohnkürzung protestiert hatten, von der Exekutive brutal niedergeschlagen wurde. Es gab eine große Anzahl an Toten und Verletzten. Für diese Arbeiterinnen und deren Kinder wollte sich der Frauenverein – so ist es in einem ersten handgeschriebenen Entwurf der Statuten noch zu lesen! – ausschließlich karitativen Angelegenheiten widmen. Wenige Tage später erschienen die Statuten gedruckt. Der karitative Inhalt war jedoch in den Hintergrund gerückt. Plötzlich dominierten die brisanten politischen Forderungen, um offenbar dem Demokratiegedanken dieser Tage Rechnung zu tragen.

Was wurde aus den Forderungen des Frauenvereins und was geschah nach der Niederschlagung der Revolution?

Die Forderungen des 1848er-Frauenvereins, wie Gleichberechtigung und Schulbildung für alle, wurden, wie es bei uns so schön heißt, nicht einmal ignoriert. Allein bei dem Begriff „Gleichberechtigung“ dürften die Männer (aber auch ein Großteil der Frauen) tief nach Luft gerungen haben. – Transferieren wir eine derartig unmögliche Möglichkeit in die heutige Zeit: Vor wenigen Jahren wäre es völlig unvorstellbar gewesen, von rauchfreien Lokalen zu träumen! Heute ist es – zumindest aus meiner persönlichen Erfahrung heraus – eine Selbstverständlichkeit. – Gehen wir einen Schritt weiter, in unsere Tage: Hier wird das Anliegen, neben der männlichen stets auch die weibliche Form zu schreiben und auszusprechen, mehrheitlich noch immer als „Genderwahn“ wahrgenommen. So manchem graut vor einem Gender-Doppelpunkt, -Sternchen, -Binnen-I, -Unterstrich noch immer derartig, als wären sie der in diakritische Zeichen gegossene Gott-sei-bei-uns höchstpersönlich. Die Rede vom alten, weißen Mann ist jetzt zwar auch nur ein Klischee und Narrativ (auch ich bin alt und weiß), aber es gibt ihn immer noch. – Ob die damaligen Forderungen des Frauenvereins nach Gleichberechtigung im Heute des 21. Jahrhunderts bereits zur Gänze angekommen sind, darf sich jede*r selbst ausrechnen.

Bei den Nachforschungen zu ihrem Roman stieß Bettina Balàka auf Ungereimtheiten und Hindernisse. Zur Existenz Ottones von Reichenbach gibt es wohl widersprüchliche Darstellungen, zum demokratischen Frauenverein gibt es noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag (Anm.: Stand 18.10.2023). Sie recherchieren aktuell an einem Buch über Karoline von Perin, die unter anderem die Vorsitzende des ersten politischen Frauenvereins in Österreich war.  Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Errungenschaften dieser mutigen Frauen im öffentlichen Diskurs so wenig präsent sind. (Ganz zu schweigen vom hohen Preis, den sie für ihren Einsatz bezahlen mussten.)

Eine sehr komplexe Frage, die einer komplexen Antwort bedarf. Was die Existenz Ottones betrifft, wäre diese gar nicht so widersprüchlich, wenn nicht der Name „Wurzbach“, der Verfasser des „Biographischen Lexikons des Kaiserthums Österreich“, nicht derartig wuchtig nachwirkte. Im konkreten Fall geht es um seinen 150 Jahre alten Eintrag, es habe einen „Otto Eugen“ (Reichenbach) gegeben, während Bettina Balàka in ihrem Roman „behauptete“, es handle sich um eine „Ottone Eugenie“. So.

Wenn nun die in der Gegenwart lebende (weibliche!) Bettina Balàka, die einen historischen Roman geschrieben hat, dem historisch-biographisch arbeitenden (männlichen) Konstantin von Wurzbach – eine beinahe sakrosankt wahrgenommene Institution in der Wiener Geschichtsforschung – gegenübergestellt wird, wem wird letztlich das bessere Wissen zugeschrieben werden? – Richtig! Dann sehen wir, wie tiefgreifend das patriarchiale System in uns allen weiterhin funktioniert. Und wir sehen auch gerade in diesem Fall, wie schwerfällig moderne Enzyklopädien, wie in diesem Fall Wikipedia, darauf reagieren. Offenbar gilt noch immer das Zitat aus dem Western-Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“

Fundstück: Auszug aus dem Blansker Geburtenregister. „Otto Eugen“ war demnach tatsächlich „Ottone Eugenie von Reichenbach”.
Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, gilt als einzigartige und wirkmächtige historische Referenz und scheint auch hier ursächlich für die nachhaltige Löschung Ottones aus den Enzyklopädien zu sein.
Das Register liegt öffentlich zugänglich im Mährischen Archiv zu Brünn auf. (Moravian Provincial Archives – Book #51, Blansko region, Births 1805-1839). Dig. Archivlink.

Kurios: Ausgerechnet Karoline von Perin erlitt ebenfalls ein „Wurzbach-Schicksal“. Bei den Einträgen unter „Pasqualati“ findet sich auch Andreas Joseph Pasqualati, der Vater von Karoline. Allerdings werden lediglich seine Söhne Joseph und Moritz erwähnt. Die Tochter wird totgeschwiegen.
Gedenkstein im Volksgarten
Credit: Geolina163, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Was den noch nicht vorhandenen Wikipedia-Eintrag zum ersten politischen Frauenverein in Österreich betrifft, bin ich schon froh über den Wikipedia-Eintrag, der Karoline von Perin vor wenigen Jahren gewidmet worden ist. Was die historische Faktizität betrifft, möchte ich den gut versteckten, nicht einmal kniehohen Gedenkstein im Wiener Volksgarten als Beispiel nehmen, auf dem sich eine Minimalstbiographie von Karoline von Perin befindet, der sage und schreibe in einem einzigen Satz gleich drei grobe Fehler beinhaltet: Nein, Karoline von Perin wurde nicht 1808 geboren; nein, sie ist nicht die Gründerin des Vereins gewesen; nein, die Vereinsversammlungen fanden nicht regelmäßig im Volksgarten-Café statt.

Die Errungenschaften des Vereins lagen vor allem darin, etwa zwei Wochen nach seiner Gründung ein Statut herausgegeben zu haben, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Die Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Um es auf den Punkt zu bringen: Es waren die Menschen, sowohl Männer als auch Frauen, die noch nicht reif dafür waren. Den im Raum stehenden psychoanalytischen Ansatz möchte ich nur andeuten: Wie schützen sich Männer vor starken Frauen? Indem sie etwas per Gesetz verbieten oder gesetzliche Vorgaben ohnehin an der Praxis scheitern lassen! Mit letzterem könnten wir gar in der Jetztzeit gelandet sein.

Sind Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch ebenfalls auf Lücken oder gar tätige Geschichtsklitterungen und Hindernisse gestoßen?

Häufig ergeben sich historiographische Fehler aus unabsichtlichen Schlampereien, Missverständnissen, Abschreibfehlern und und und. Klassische Geschichtsklitterungen, im Sinne von absichtlichen Irreführungen, sind mir während meiner Recherche immer wieder untergekommen.

Zwei Beispiele möchte ich nennen, die unterschiedlich motiviert waren: Zum einen hat Karoline von Perin vermutlich selbst geschichtsgeklittert, als sie in ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit dem revolutionären Gedanken abschwor, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Der Treppenwitz daran: Die Rückkehr in die Gesellschaft wurde ihr zeitlebens nicht mehr gewährt. Man hat an ihr – vermutlich zur Abschreckung – ein Exempel statuiert.

Zum anderen gibt es einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen war. Das Bemerkenswerte daran: Einmal erschien der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. Die Einleitung in der ersten Zeitung wurde auf die Zukunft hin formuliert, in etwa: „Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen …“, während in der zweiten Zeitung geschrieben stand: „Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil …“. Hier wird das ursprünglich noch nicht stattgefundene Ereignis in ein historisches Faktum umgeschrieben. Das ist zutiefst infam und beschämend.

Haben Sie zum Abschluss vielleicht einen Tipp für unsere Leser*innen, die mehr über die Zeit und das Schicksal der ersten politisch organisierten Frauenbewegung erfahren möchten?

Über den ersten demokratischen Frauenverein während der Revolutionszeit sind die Bücher und Artikel von der Historikerin Gabriella Hauch zu empfehlen. Das Schicksal des ersten politisch organisierten Frauenvereins war mit der Niederschlagung der Revolution derartig rasch besiegelt, dass der Verein nach nur zwei Monaten Geschichte war. Spannend wäre es – neben Karoline von Perin – weitere Mitstreiterinnen ausfindig zu machen und deren Lebensläufe nach der Revolution weiterzuerzählen. Etwa jene von der Nichte eines Vereinsmitglieds, die einen Vater hatte, der sich zeit seines Lebens für die Frauenrechte einsetzte, und die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität promovieren konnte: Dr. Isabella Eckardt: „Der Romzug Kaiser Sigmunds (1431-33)“ aus dem Jahr 1902.

 

Möchtest auch du mehr erfahren über eine Zeit im Umbruch, einen Roman, der einen Wissenschaftskrimi beinhaltet und der erlebbar macht, wie Frauen in Wien zum ersten Mal organisiert für bessere Lebensbedingungen auf die Barrikaden gehen? „Der Zauberer vom Cobenzl“ ist in deiner Lieblingsbuchhandlung erhältlich. Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden.” Bettina Balàka im Interview

Zwei außergewöhnliche Frauen voller Wut und Ambitionen, ein Vater, dessen Erfolg auf bröckelnden Säulen errichtet ist und eine Revolution, die nicht nur einen ganzen Kontinent wachrüttelt. In ihrem neuen Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ erzählt Bettina Balàka eine Geschichte von Magie und Wissenschaft, Feuer und Forschung. Sie erschreibt eine Bühne, für Reichenbachs Tochter Hermine, die wahre Protagonistin in der Lebensgeschichte des Freiherrn und seiner Suche nach der Existenz von „Od“,  eine Kraft, die aus allen Dingen und Lebewesen strömt – doch sehen kann sie kaum jemand. Wie ihre Schwester Ottone verliebt sich Hermine in einen Mann, der ihr ferngehalten wird. Beide Töchter werden vom Vater gefördert – Hermine in ihren Forschungen, Ottone in der Musik – aber doch zurückgehalten. Und beide brechen aus.

Welche Möglichkeiten hat eine Frau des 19. Jahrhunderts wirklich?“ eine der leitenden Fragen, die uns in Ihrem Buch „Der Zauberer vom Cobenzl“ begleiten. Hermine und Ottone werden beide durch die Zeit, in der sie leben, eingeschränkt. Obwohl sie einen Vater haben, der die Talente der beiden fördert, anstatt sie zu verstecken – eine unterstützende Haltung, die nicht üblich war. Ottone wird als talentierte Musikerin gefördert, Hermine unterstützt ihn mit ihrem wissenschaftlichen Eifer und Geschick. Aber wo endet die Bereitschaft von Reichenbach, seine Töchter wirklich frei sein zu lassen?

Zu dem Zeitpunkt, als Hermine und Ottone sich ernsthaft verlieben, hat Reichenbach bereits eine Reihe von traumatischen Verlusten hinter sich. Innerhalb weniger Jahre sterben seine geliebte Gattin, sein Vater sowie sein treuer Freund und Mentor Fürst Salm. Dann entzieht man Reichenbach auch noch Anstellung und Zuhause in Blansko, sein Bruder begeht Selbstmord. Durch seine fragwürdige Od-Forschung verliert er in der wissenschaftlichen Welt an Reputation, infolge des Gerichtsverfahrens gegen den jungen Fürsten Salm, den Sohn seines Freundes, wenden sich weitere gesellschaftliche Kreise von ihm ab. In dieser Situation sind die Töchter die einzigen Menschen, die ihm noch aus seiner Glanzzeit bleiben, sie repräsentieren für ihn Kontinuität und Stabilität in seiner brüchig gewordenen Existenz. Die Methode, mit der er sie zu halten versucht, entspricht dem patriarchalen Zeitgeist: Er erklärt die von ihnen gewählten Männer für sozial inadäquat und untersagt seinen erwachsenen Töchtern den Umgang respektive die Heirat – und damit den Auszug. Die zugrundeliegende Motivation aber ist gewissermaßen zeitlos: die Angst, eine vertraute Lebenssituation für eine völlig neue aufzugeben. Man könnte dabei durchaus auch an Jelineks „Klavierspielerin“ denken, wo die Mutter ebenfalls alle Männer für unzulänglich erklärt, um die Tochter bei sich zu behalten.

Hermine ist – wie ihr Vater – der Forschung verfallen. Entgegen den damaligen Rahmenbedingungen kann sie diese Leidenschaft ausüben. Der Zugang zur Universität ist ihr zwar verboten, jedoch kann sie bei Dr. Unger in Graz am Joanneum ihre Forschung etablieren. Auch er fördert sie sehr. Öfter als selten ist jedoch ihr Ehestand Thema. „In der wissenschaftlichen Arbeit beherrscht sie alles so gut wie ein Mann – wenn nicht gar besser als mancher – und sieht dabei nicht einmal schlecht aus. Aber wer will mit so einer Frau verheiratet sein?“, sagt er zu bzw. über Hermine. Hermine ärgert dies. Es ist ein altes Klischee, dass eine Frau nicht Karriere bzw. Erfolg und Liebe zugleich wollen kann. Beides aber macht Hermine aus. War es Ihnen in Ihrem Roman wichtig, dass Hermine nach beidem streben darf?

Hermine ist nicht bereit, hier irgendwelche Abstriche zu machen und sich dem Klischee zu beugen. Schon bevor sie sich in ihren späteren Ehemann verliebt, schwört sie, dass sie heiraten würde, „und zwar glücklich, und sei es nur, um die Ungers zu ärgern“. Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden. Dabei hilft ihr aber auch ein sehr glücklicher Zufall. Mit Carl Schuh, einem Pionier der Daguerreotypie, lernt sie einen Mann kennen, der nicht nur ihre naturwissenschaftlichen Interessen teilt, sondern sich auch durch ihre Bildung nicht bedroht fühlt und kein Problem damit hat, mit ihr auf Augenhöhe zu sprechen. Dennoch gibt Hermine mit der Eheschließung ihre wissenschaftliche Karriere auf, auch, um die Trennung vom Vater endgültig zu besiegeln. Aus heutiger Sicht wäre das nicht politisch korrekt, aber für sie ist es stimmig. Sie hat in der Botanik für eine Frau ihrer Zeit außergewöhnliche Anerkennung erreicht, nun, mit dreißig, nimmt sie sich den Raum, sich anderen Aspekten des Daseins zu widmen. Ich musste dabei durchaus an heutige erfolgreiche Frauen wie Julia Roberts denken, die sich mit der Geburt ihrer Kinder eine Auszeit vom Filmbusiness nahm und auch dazu steht, das Familienleben zu genießen.

Besonders die Natur – die Pflanzenphysiologie – ist es, die Hermine fasziniert. Schon als kleines Kind hat sie die Wiesen und den Wald geliebt, später dann (verbotenerweise) Höhlen erkundet. Warum spielt die Natur so eine große Rolle für sie?

 

© Alain Barbero

Hermine wächst im Einflussbereich zweier leidenschaftlicher Naturforscher auf: ihr eigener Vater und dessen Mentor Fürst Salm. Beide besitzen chemische Labors, sind Pioniere der Höhlenforschung, haben museumsreife Sammlungen und Bibliotheken. In den Parks und Glashäusern der Schlösser beobachtet sie die Pflanzenzucht. Von ihrem Vater wird sie intensiv gefördert, er schenkt ihr das erste Brennglas und zeigt ihr, wie man ein Herbar anlegt. Gleichzeitig ist die wilde, ungebändigte Natur ihr Sehnsuchtsort, ein Symbol der Freiheit, wo es keine Mauern und Konventionen gibt.

Die Beziehung der zwei Schwestern zueinander ist – wie es Geschwisterbeziehungen oft sind – vielschichtig und komplex. Als Kinder sind sie quasi wie Zwillinge, später wandelt sich die tiefe Verbundenheit, sie werden einander Feindinnen, aber auch das nicht wirklich. Als erwachsene Frauen ist wieder eine Annährung zu spüren. Ist es sogar Ottone schlussendlich, die Hermine auf einen Weg bringt, den sie gehen muss?

Indem Ottone als Erste den Schritt wagt, sich vom Vater zu lösen, eröffnet sie auch für Hermine diese Option. Hermine zieht aber nicht nur von zu Hause aus, um ihrem Vater gegenüber ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, sondern auch, um ihrer Schwester beizustehen. Ottone hat den geliebten Mann an eine andere verloren, ist in ihrer neu gewonnenen Freiheit traurig und allein. Als Hermine das erkennt, ist der Entschluss zu ihr zu ziehen, schnell gefasst. Wie ein Schutzengel wacht sie über ihre kleine Schwester, gemeinsam durchleben sie die aufwühlende Zeit der Revolution.

War von Anfang an klar, dass nur Hermine die Geschichte erzählen kann? Dass auch wir als Leser*innen ihr am nächsten sein sollen?

Hermine bot sich aus zwei Gründen als Erzählerin an. Erstens ist sie eine ebenso außergewöhnliche historische Figur wie ihr Vater, und zweitens hat sie lange gelebt, nämlich bis 1902 (sie wurde 83 Jahre alt). Dadurch kann sie als einzige Überlebende der Familie die Geschichte Reichenbachs bis zu dessen Tod erzählen. Sie befürchtet, dass er und all seine Errungenschaften vergessen werden könnten, doch wir Nachgeborenen wissen, dass sie selbst noch viel mehr vergessen wurde. Indem ich sie die Erinnerung an ihren Vater wachhalten ließ, wollte ich sie mit einer ganz eigenen Stimme versehen und damit ebenfalls dem Vergessen entreißen – genauso wie ihre Schwester Ottone, die ja schon mit 28 starb.

Mit Wörtern konnte man sich in die Ewigkeit einschreiben, egal, ob man sie selbst erfunden hatte oder ob sie aus dem eigenen Namen gebildet wurden.“ Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach ist einer, der stets versucht, voranzukommen. Er kann es – wie man so sagt – nicht sein lassen. Brennt darauf, in die Geschichte einzugehen. Was hat Sie an der historischen Figur so fasziniert, dass Sie diese in einem Roman verarbeitet haben?

Allein die Tatsache, dass Reichenbach so umfassend vergessen wurde, war faszinierend für mich. Er kommt zwar ab und zu als Kuriosum in Wien-Büchern vor, aber allgemein bekannt ist er keineswegs. Vor allem seine großen Leistungen in Mähren werden kaum erwähnt, was möglicherweise damit zu tun hat, dass dieser so nahe Landstrich viele Jahrzehnte durch den sogenannten „Eisernen Vorhang“ abgetrennt war. In Reichenbach personifiziert findet man einen Konflikt, der bis zum heutigen Tag anhält: Wo scheidet sich die evidenzbasierte Wissenschaft von der Esoterik und anderen Pseudowissenschaften? Von der Modernisierung der Holzverkohlung und der Eisengussproduktion über die Entdeckung des Paraffins bis zur Meteoritenforschung war Reichenbach auch nach heutigen Maßstäben ein auf der Seite des Realen und Faktischen stehender Pionier. Erst mit seiner Od-Forschung bog er in eine Richtung ab, in die ihm andere zeitgenössische Wissenschaftler nicht mehr folgen wollten. Wir leben nun in einem für viele postfaktischen Zeitalter und gerade in der Pandemie kamen wieder Debatten auf, wie es sich mit der Realität von Dingen verhält, die man nicht sehen kann: Viren, Impfungen etc. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie es mit dem Od weiterging. Ein Vierteljahrhundert nach Reichenbachs Tod wurden die Röntgenstrahlen entdeckt, die vom Menschen ja ebenfalls weder gesehen noch gefühlt werden können. Damals hofften seine Anhänger, dass nun auch die Od-Forschung rehabilitiert werden könnte, was aber bekanntlich bis heute nicht der Fall ist. Die Homöopathie dagegen, die Reichenbach leidenschaftlich ablehnte, gibt es noch immer.

Ihr Schreibprozess umfasst viel Recherchearbeit, das Sichten von historischen Dokumenten und Quellen. Wie lernen Sie dadurch die Figuren kennen, über die Sie schreiben? Wie erhalten diese Figuren ihre Charaktereigenschaften, ihre Stärken und Schwächen?

Es entsteht schon während der Recherche eine sehr enge Bindung zu den Figuren. Ich versuche, sie charakterlich komplex zu gestalten, wie reale Menschen nun mal sind – nur gute Lichtgestalten oder rein abstoßende Bösewichte fände ich langweilig. Dabei ist es mir wichtig, auch Verhaltensweisen, die wir heute ablehnen würden, im Zeitkontext verständlich zu machen. Schließlich sind wir ja alle in unseren Haltungen und Einstellungen den Einflüssen der jeweiligen Gegenwart ausgesetzt. In einer Rückprojektion über Menschen der Vergangenheit permanent überlegen den Kopf zu schütteln bedeutete ja auch anzunehmen, dass wir im Besitz der endgültigen Weisheit sind. Wahrscheinlicher ist aber, dass man sich schon in wenigen Jahrzehnten über so manches wundern wird, was uns jetzt selbstverständlich erscheint.

 

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