„Lyrik ist immer Verdichten“ – ein Interview mit Jule Weber

Wie navigiert man durch eine laute Welt voller Geräusche, Gedanken und Erinnerungen, wenn Worte oft im Chaos untergehen? Wenn sich Zeit in kleine, fast unhörbare Geräusche zerlegt?
Die Gedichte von Jule Weber erzählen vom Suchen – vom Versuch, sich selbst und das Leben zu verstehen. Dabei entstehen Texte, die mehr spüren lassen als erklären wollen. Gedichte, die von stillen Krisen, von Sehnsucht und Nähe berichten.

Ihr Lyrikdebüt  „ich zeichne meinen standort auf die haut“ klingt wie das Rauschen des Windes in einem Wald, während fern das dumpfe Dröhnen einer Autobahn zu hören ist. Zwischen diesen Gegensätzen entfaltet sich ein roter Faden, der sich nicht sofort offenbart, sondern leise spürbar bleibt.

Wir sprechen mit der Autorin über Zeilen, die man fast hätte streichen können, über den überraschenden Moment, in dem einzelne Gedichte zu einem Ganzen wurden, und über die Gewissheit, dass Lyrik nicht verstanden werden muss, um zu wirken.

Was war dein persönlicher Zugang zur Lyrik – und was hat dich letztlich dazu bewegt, selbst Gedichte zu schreiben?

Ich mag es, Sachen auf den Punkt zu bringen und Lyrik ist immer Verdichten. Dadurch entsteht die Dichtung. Für mich ist es dann ein natürlicher Prozess, dass dieses Auf-den-Punkt-Bringen, diese Verdichtung schlussendlich zu Lyrik wird.

 

Gibt es bestimmte Gefühle oder Themen, die sich wie ein roter Faden durch deinen Lyrikband ziehen?

Die gibt es auf jeden Fall. Für mich als schreibende Person gibt es diese natürlich immer nochmal auf eine ganz andere Art als für die Leute, die meine Lyrik dann später lesen. Meine Lyrik behandelt viel das Suchen, zum Beispiel danach, sich selbst zu verstehen und auch das Leben zu begreifen. Manchmal fliegt ein einzelner Vogel vorbei. Es gibt also diesen roten Faden definitiv, aber man muss ihn schon auch selber herausfinden.

© Henriette Becht

Jule Weber (* 1993) ist Lyrikerin und Podcasterin. Sie gehört zu den führenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Seit 15 Jahren tritt sie regelmäßig vor Publikum auf, sie gibt Schreibworkshops und ist Teil des Kollektivs „Verschwende deine Lyrik“. 2023 gewann Weber den Kampf der Künste Award als Poetin des Jahres und war Darmstädter Turmschreiberin. Ihr Lyrikdebüt offenbart das Spektrum ihrer Wortgewandtheit. Außerdem ist sie: pragmatisch, detailverliebt und chronisch zu spät.

Wenn du dir dein Buch als einen Ort oder ein Lied vorstellen müsstest – wie sähe dieser Ort aus oder wie würde es klingen?

Ich trickse bei dieser Frage ein wenig und kombiniere beides, indem ich einen Ort beschreibe und wie er klingen würde. Das Buch klingt meiner Meinung nach ein bisschen, wie wenn man in einem Wald steht und den Wind in den Bäumen hört. Aber gleichzeitig hört man in der Ferne auch eine große, laute Autobahn.

 

Gibt es eine Zeile aus deinem Buch, die dir besonders viel bedeutet? Welche?

Es gibt viele solcher Zeilen, auch ganz viele einzelne. Die, die mir am meisten bedeuten, sind nicht unbedingt Zeilen, die sofort herausstechen und bei denen man denkt, dass an ihnen viel Bedeutung hängt. Es sind viel eher Zeilen, die oft sehr versteckt sind. Häufig sind das dann auch Zeilen, die man theoretisch auch streichen hätte können. Ich hänge aber emotional zu sehr an ihnen und deshalb mussten sie beibehalten werden.

 

Muss man Lyrik „verstehen“ – oder reicht es, sie zu spüren?

Spüren reicht. Total.

 

Gab es während des Schreibprozesses einen Moment, der für dich besonders überraschend oder erkenntnisreich war, einen „Aha-Moment“?

Definitiv, dieser hat viel mit dem Gesamtbild zu tun. Einen Lyrikband schreibt man in der Regel nicht wirklich am Stück beziehungsweise linear. Viel eher ist es dann ein Kuratieren von bereits geschriebenen Gedichten. Der Aha-Moment für mich war, dass ich diese Gedichte zusammengefügt habe und dabei ein Lyrikband herausgekommen ist, der zwar die einzelnen Gedichte beinhaltet, aber gleichzeitig auch eine eigene Dramaturgie entwickelt und einen roten Faden hat. Für mich war es sehr cool, dann auch zu erkennen, dass ich auch unbewusst über längere Zeit diesen roten Faden zusammengeschrieben habe.

DIE VORZÜGE VON TRAURIGKEIT

oder: melancholie IV

ich lernte, als ich vierzehn jahre alt war,
lachen würde auf dauer zu falten führen,
falten zum verlust meiner attraktivität
und folglich zum verlust meines wertes,
ein pink umrandetes infokästchen riet mir
außerhalb sozialer situationen akribisch
auf einen neutralen ausdruck zu achten.

heute begreife ich, wie traurig mich das machte.

man sagte mir, mein schmerz sei verwertbar,
bedrückte menschen könnten besser schreiben,
kunstschaffen generell, aus dem leiden heraus,
gierig leckte man an den wunden und ich übte
gewissenhaft mein präventiv neutrales gesicht
das sichtbare unglück in den spiegelungen,
sparte mir die schönheit für harte winter auf.

Aus  „ich zeichne meinen standort auf die haut


Gedichte über das Verstehen, das Vermissen und unser Verhältnis zur Welt – und manchmal fliegt ein Vogel vorbei

Jule Webers Gedichte reflektieren die Zerbrechlichkeit des Lebens, das Streben nach Nähe, nach einem Zuhause, das nicht nur aus Wänden besteht. Sie greifen nach den Momenten, die uns ausmachen – den lärmenden, den leisen, den verlorenen und jenen, denen wir zu wenig Bedeutung beimessen. Weber schreibt von Flächen aus betretener Stille, geronnener Zeit, leisen Krisen und in uns brennenden Fragen. Ihre Lyrik spürt dem Paradoxon von sozialer Gemeinschaft und Einsamkeit nach, macht fassbar, wie das Weltgeschehen unbemerkt in unser Inneres sickert. Ein unvergesslicher Gedichtband: politisch und sprachverliebt, eigensinnig und melancholisch, zart und feministisch.

 

Online erhältlich und überall, wo es Bücher gibt.