Bücher in den Schützengräben – Andrej Kurkow über die Literatur in der Ukraine

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow schreibt über seine Landsleute und deren Schicksale, über die Ereignisse, die seine Heimat erschüttern – und das seit Jahren. Festgehalten sind seine Eindrücke unter anderem im „Tagebuch einer Invasion“ (Haymon, 2022), für das er im selben Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Im folgenden Beitrag geht der Autor auf die Literatur der Ukraine ein, weist auf aktuelle Phänomene während des Krieges hin und blickt, trotz allem, hoffnungsvoll in die Zukunft.

Es gibt wohl keine dramatischere Literaturgeschichte als die der ukrainischen Literatur.

Diese Aussage mag Sie überraschen, aber fragen Sie sich selbst: „Was weiß ich über klassische ukrainische Autor*innen?“
Sicherlich sind klassische russische Schriftsteller*innen wie Dostojewski, Tschechow und Tolstoi international bekannt. Aber nur sehr wenige Menschen in Europa oder einem anderen Teil der Welt können eine*n einzige*n ukrainische*n Schriftsteller*in des 18. oder 19. Jahrhunderts außer Mykola Gogol nennen. Diesem wird alles zugeschrieben, was die klassische russische Literatur ausmacht.
Viele russische Autor*innen, die sich einen Platz in den Reihen der Klassiker erarbeitet hatten, hatten ukrainische Wurzeln. Das ist nicht weiter wichtig, außer dass es auf einen Kontext hinweist, in dem Erfolg für jede*n Autor*in im russischen Reich bedeutete, nach St. Petersburg oder Moskau zu ziehen und auf Russisch zu schreiben. Zu der Zeit, als sie ihre Romane und Erzählungen schrieben, schrieben auch Dutzende von ukrainischen Autor*innen ihre Romane und Erzählungen in der Ukraine – auf Ukrainisch. Die Welt weiß so gut wie nichts über sie oder ihr Werk, obwohl sie in der Ukraine in Schulen und Universitäten besprochen werden, Romane und (Dokumentar-)Filme über sie geschrieben und gedreht werden.
Warum haben europäische Verlage die klassische ukrainische Literatur fast nie übersetzt oder veröffentlicht? Die Antwort ist einfach: Sie wussten nicht von ihrer Existenz. Sie glaubten, dass es auf dem Gebiet des Russischen Reiches und später auf dem Gebiet der UdSSR nichts Interessantes außer russischer Literatur gab.

Russland hat seine Kultur und seine Literatur stets gekonnt und beharrlich gefördert. Niemand bestreitet den Wert der Romane von Dostojewski und der Erzählungen von Tschechow – aber darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Literatur einer großen europäischen Nation in Europa nicht aus kulturellen, sondern aus geopolitischen Gründen unbekannt geblieben ist. Die Hauptbotschaft der russischen Politiker*innen in Bezug auf die Kultur war die Behauptung, dass in den riesigen Weiten des ehemaligen und heutigen Russischen Reiches den Leser*innen in aller Welt nichts Größeres als die russische Literatur geboten werden könne.
Die neue russische Aggression hat dazu geführt, dass die Welt die Ukraine mit Verspätung entdeckt hat. Erst jetzt erscheinen die Werke der ukrainischen Klassiker*innen – unter ihnen Lesya Ukrainka, Ivan Franko, Ivan Kotlyarevsky, Olga Kobylyanska, Mykola Khvylovy – in Übersetzungen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Sie erscheinen hauptsächlich in kleinen Auflagen, dank kleiner, unabhängiger Verlage. Es ist ein guter Anfang, besser als nichts, besser spät als nie … Trotzdem wäre es besser gewesen, dies wäre früher und vor allem ohne Krieg passiert.
Während Leser*innen weltweit versuchen, die Vergangenheit und Gegenwart der ukrainischen Literatur zu verstehen, verändert sich die Literatur erneut und versucht, sich an das Leben in Kriegszeiten anzupassen. Dieser Veränderungsprozess ist sehr schwierig, und ich muss zugeben, dass der Erfolg noch lückenhaft ist.
Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, begann sich die ukrainische Literatur sofort von der russischen durch ihre Romantik, ihren unpolitischen Charakter und ihre Liebe zur postmodernen Literatur zu unterscheiden. Der prominenteste ukrainische Postmodernist der frühen Nach-Unabhängigkeitszeit war der Romancier Juri Andruchowytsch, der mit seinem witzigen und bitteren Roman „Moscoviada“ in der ganzen Ukraine Wellen schlug. Er ist nach wie vor einer unserer bekanntesten Schriftsteller*innen – ein Vorreiter der neuen ukrainischen Literatur.
In den späten 90er Jahren erschienen in der Ukraine viele Romane über „Sex, Drugs und Rock’n‘Roll”. Die Autor*innen dieser Romane, unter ihnen die Schriftstellerin und Sängerin Irena Karpa, versammelten Hunderte von jungen Leser*innen bei ihren Lesungen. Es schien, als sei eine wunderbare neue Ära der Freiheit angebrochen.
Nachdem sie die Nische für diese Art von Literatur gefüllt hatten, zogen die ukrainischen Schriftsteller*innen weiter und begannen Anfang der 2000er Jahre, Liebesromane, historische Romane und Abenteuerromane zu schreiben.
Die Orange Revolution von 2004-2005 war das erste Ereignis, das die ukrainische Literatur zu politischen und sozialen Themen hinführte. Die Euromaidan Proteste von 2014 gaben den Anstoß zu einer fast vollständigen Politisierung der ukrainischen Literatur, die sie militant machte und endgültig von ihrer traditionellen Poetik und Romantik löste. Die Poesie, für die die ukrainische Literatur berühmt war – für diejenigen, die überhaupt etwas von ihr wussten –, blieb ein wichtiges Merkmal, obwohl sie bürgerlicher und weniger lyrisch wurde.
Seit der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbass hat sich sehr viel verändert, und die russische Aggression von 2022 hat die ukrainische Literatur schließlich völlig neu reformiert. Nicht nur das geschriebene Wort wurde verändert. Die ukrainischen Schriftsteller*innen und Dichter*innen formierten sich selbst neu, mehr als 30 von ihnen wurden getötet. Dies zwang die ukrainischen Leser*innen sofort dazu, die toten Autor*innen „wiederzubeleben”, indem sie sich bemühten, herauszufinden, wer sie waren, was sie schrieben und wofür sie standen. Dies führte zur Entdeckung einer ganzen Generation ukrainischer Schriftsteller*innen – Hunderte von Namen –, die in der Sowjetzeit unter Stalin unterdrückt und getötet worden waren. In den 1930er Jahren beschloss das kommunistische Regime, die ukrainische Kultur ausbluten zu lassen – sie war zu intelligent und zu unabhängig, auch wenn die meisten Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Dramatiker*innen jener Zeit der „richtigen” kommunistischen Ideologie anhingen.

© Concreative

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. Zuletzt erschien bei Haymon 2022 Andrej Kurkows Werk mit seinen Aufzeichnungen aus der Ukraine: „Tagebuch einer Invasion“ (aus dem Englischen von Rebecca DeWald), in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. In „Im täglichen Krieg“ (voraussichtlich 2024) schreibt Kurkow weiterhin gegen die Zerstörung an – und für die Zukunft der Ukraine.

Heute bitten Soldat*innen ihre Freund*innen, ihnen Bücher von Schriftsteller*innen dieser „hingerichteten Wiedergeburt“ zu schicken – ebendiese zerstörte Generation ukrainischer Autor*innen, deren Erwähnung zu Sowjetzeiten verboten war.
Neben Büchern hingerichteter Autor*innen fragen die Soldat*innen oft auch nach Büchern über die Geschichte der Ukraine und nach Büchern klassischer ukrainischer Schriftsteller*innen. Viele an der Front wollen die ukrainische Literatur früherer Epochen wiederentdecken, angefangen im 17. Jahrhundert mit Meletiy Smotrytsky, der auf Polnisch schrieb, und dem Philosophen, Schriftsteller und Dichter Grigory Skovoroda, der seine Werke auf Altukrainisch, Polnisch und Latein verfasste.
In überraschender Symmetrie entdecken Leser*innen weltweit die ukrainischen Klassiker gleichzeitig mit den ukrainischen Soldat*innen in den Schützengräben – Soldat*innen, die sich vor dem Krieg kaum für Literatur interessiert haben.
In der ukrainischen Literatur selbst tut sich unter dem Bombardement nicht viel. Es werden nur wenige Romane geschrieben. Die meisten Autor*innen sind zu Essays und Sachbüchern übergegangen oder haben ganz aufgehört zu schreiben und sind zu zivilen Aktivist*innen geworden.
Andriy Lyubka, ein Romanautor und Übersetzer von Balkanliteratur, begann gleich zu Beginn des Krieges, die ukrainischen Soldat*innen zu unterstützen. Er sammelt im Internet über Fundraising Spenden für den Kauf alter Jeeps und Pickups für die ukrainische Armee. Mit Gleichgesinnten reist er nach Europa, um die Fahrzeuge zu kaufen, sie durch den Zoll in die Ukraine zu transportieren und sie dann zusammen mit Freund*innen direkt an die Front zu fahren. Über seine Geschichte könnte ein Buch geschrieben werden. Vielleicht schreibt er es eines Tages selbst, aber jetzt hat er dafür keine Zeit. Seit dem 24. Februar 2022 hat er Millionen Griwna gesammelt und die Armee mit mehr als 200 Fahrzeugen versorgt.
„Während des Krieges ist es unmöglich, sich voll und ganz der Literatur zu widmen“, sagt Andriy Lyubka. „Aber gerade in diesen Monaten habe ich das Gefühl, dass die Menschen die Literatur mehr denn je brauchen. In der Ukraine besuchen heute so viele Menschen wie noch nie literarische Veranstaltungen und Vorträge. Sie brauchen diese Gelegenheiten, um sich im Raum umzusehen und Menschen zu sehen, um zu spüren, dass sie hier lebendig sind, dass sie nicht weglaufen oder aufgeben dürfen. Es ist eine Art Appell. Kürzlich traf ich mich mit Schriftstellerkolleg*innen auf dem Poesiefestival Meridian Czernowitz, das zum zweiten Mal seit der Invasion stattfand. Das Hauptthema unserer Gespräche war: Wie ist es möglich, dass die Auflage unserer Bücher im zweiten Jahr in Folge gestiegen ist, obwohl so viele Millionen Menschen das Land verlassen haben und so viele Druckereien und Buchläden bombardiert worden sind? Die Antwort ist einfach: Die Menschen brauchen Literatur in ukrainischer Sprache. Dies ist eine symbolische Art und Weise, ihre Zugehörigkeit zur ukrainischen Identität zu bekunden. Darüber hinaus kaufen viele Ukrainer*innen Bücher, um den Übergang vom Russischen zum Ukrainischen als Kommunikationssprache zu erleichtern. Dies ist ein Massenphänomen, und ein der Tat ist es ein großer Schock für uns alle“.
Vor dem Krieg hatten einige Leser*innen den Eindruck, dass Andriy Lyubka mit einem anderen ukrainischen Kultautor und Dichter, Serhiy Zhadan, um Popularität konkurrierte. Jetzt zeigt sich, dass die beiden auch in Sachen Fundraising im Wettbewerb zu stehen scheinen. Serhiy Zhadan unterstützt ebenfalls aktiv die ukrainische Armee und kauft Jeeps und Pickups für die Soldaten an der Front. Im Gegensatz zu Lyubka schreibt er weiterhin neue Gedichte und Prosa. Kürzlich sammelte der deutsche Verlag Suhrkamp Zhadans Facebook-Beiträge und veröffentlichte sie in Form eines Tagebuchs. Zhadan und seine Rockband „Zhadan and The Dogs“ reisen regelmäßig nach Europa und in die USA, wo sie Geld für die ukrainische Armee und ukrainische Flüchtlinge sammeln. Mit anderen Worten, er tut alles für den Sieg der Ukraine in diesem Krieg – genau wie Dutzende andere ukrainische Autor*innen, von denen nur sehr wenige gleichzeitig viel schreiben können. In der Geschichte der ukrainischen Literatur werden die Jahre 2022-2023 daher „mager“ sein.

Wird das literarische Leben in der Ukraine nach dem Krieg wieder an Fahrt aufnehmen? Ich denke ja. Aber es besteht die Gefahr, dass sich ein Großteil der neuen Literatur auf die russische Aggression konzentriert. Das bedeutet, dass wir das sowjetische Muster des „Siegeskults“ wiederholen würden, das in der UdSSR nach 1945 bestand. Damals ersetzten Bücher über den Krieg fast alle anderen Genres und dienten der patriotischen Erziehung der sowjetischen Jugend. Der Siegeskult des Zweiten Weltkriegs lebt in der russischen Kultur weiter und ist auch einer der Gründe für die aggressive Politik der Russischen Föderation. Heute lautet einer der beliebtesten russischen Slogans „Wir können es wieder schaffen“.
Dennoch bleibe ich optimistisch. Ich hoffe, dass die Liebesromane die Bücher über den Krieg am Ende besiegen oder zumindest dazu beitragen werden, ein Gleichgewicht und eine Harmonie in der ukrainischen Literatur zu schaffen, ohne die ein Vorankommen unmöglich ist.

Andrej Kurkow, im Herbst 2023