Dankesrede von Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis 2022

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow erhielt am 28. November 2022 den Geschwister-Scholl-Preis 2022 für sein „Tagebuch einer Invasion“. Das Buch sei zugleich als „eindringliche Chronik wie auch als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen, so die Jurybegründung. Die Auszeichnung wird jährlich an ein Buch verliehen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern.

Der Preis wird vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München vergeben.

Hier die berührende Dankesrede von Andrej Kurkow im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, den Sophie- und Hans-Scholl-Preis zu erhalten. Ich bin den Mitgliedern der Jury für diese Entscheidung dankbar und nehme diese Auszeichnung an, im Bewusstsein der großen Verantwortung für mein weiteres Handeln.

Wenn Sie heute Abend von oben aus dem Kosmos auf Europa blicken, werden Sie sehen, dass Europa hell erleuchtet ist. Aber es gibt auch einen dunklen, unbeleuchteten Flecken auf seinem Territorium. Das ist die Ukraine. Die Ukraine ist aber kein schwarzes Loch in Europa. Die Ukraine lebt heute wegen der russischen Aggression in Dunkelheit und Kälte. In den meisten ukrainischen Haushalten werden jetzt Kerzen statt Glühbirnen angezündet. Statt fernzusehen oder Radio zu hören, sitzen die Ukrainer jetzt an ihren Küchentischen. Sie trinken Tee und reden über die Zukunft.

Ja, in der Ost- und Südukraine finden schwere Kämpfe statt. Russische Truppen bereiten einen erneuten Versuch vor, Kyjiw von Belarus aus anzugreifen. Das Ende dieses Krieges ist vielleicht noch weit weg, aber viele Ukrainer sind bereits in Gedanken mit Plänen für die Zukunft beschäftigt. Und all diese Pläne beziehen sich auf den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Städte und Dörfer, die Wiederherstellung zerstörter Museen, Universitäten, Schulen und Kirchen.

Übrigens brennen jetzt in vielen ukrainischen Haushalten auch Kirchenkerzen. Aber nicht etwa vor Ikonen wie in Kirchen. Wenn einem Dorfladen die gewöhnlichen Kerzen ausgehen, gehen die Ukrainer nicht nur in die Kirche, um für Siege und für ihre Familien zu beten, sondern auch, um von dort Kerzen nach Hause zu bringen.

Leider wiederholt sich die Geschichte viel zu oft. Im Januar 1918 griff der General der Roten Armee, Michail Murawjow, Kyjiw an, die Hauptstadt der damals schon unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik. Er marschierte 1918 auch von Nordosten auf Kyjiw – so wie Putins Armee am 24. Februar dieses Jahres. Am 10. Oktober dieses Jahres feuerte Russland Raketen auf die Straßen des historischen Zentrums von Kyjiw, einschließlich der Wolodymyrska-Straße. Dieselben Straßen wurden im Januar 1918 vom bolschewistischen General Murawjow mit Kanonen beschossen, bevor er die Stadt stürmte. Nach der Eroberung Kyjiws durch die Bolschewiki gab General Murawjow die Stadt zur Plünderung frei, er erlaubte den Soldaten die Bevölkerung Kyjiws zu töten und auszuplündern [mit der Begründung, es handle sich um ukrainische Nationalisten!]. Die Gewalt von damals kann nur mit der Gewalt verglichen werden, die die Bewohner der Städte Bucha, Irpin, Hostomel und Worzel im Februar/März dieses Jahres ertragen mussten. Es sind diese Vororte in der Nähe von Kyjiw, die zu Symbolen des russischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine geworden sind. Dort werden noch immer Bürger der Ukraine gefunden, die von russischen Soldaten gefoltert und erschossen wurden. Dort, in Bucha, wurde Oleksandr Kisljuk, Professor an der Pädagogischen Universität Drahomanov und Übersetzer aus dem Altgriechischen, vor seinem Haus erschossen. Die Werke von Aristoteles in seiner Übersetzung ins Ukrainische werden immer noch in ukrainischen Buchhandlungen verkauft, zusammen mit Büchern anderer Autoren, die in diesem Krieg getötet wurden, wie Ilya Chernilewskyj, Ewgen Bal, Wolodymyr Wakulenko und drei Dutzend anderer ukrainischer Dichter und Schriftsteller.

Aber trotz der Opfer in diesem Krieg planen die Ukrainer weiterhin die Zukunft ihres Landes. Eines der bereits in Umsetzung befindlichen Projekte ist die Restaurierung des alten Gebäudes der Tschernihiwer Regionalbibliothek für Jugend, das von russischer Artillerie zerstört wurde. Dieses Gebäude überlebte den Krieg von 1918-1921, es überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber nicht die russische Aggression von 2022. Freunde der Bibliothek wollten anfangen, Geld für die Restaurierung der Bibliothek zu sammeln, aber dann entschieden sie, dass es jetzt wichtiger sei, die Armee mit Spenden zu unterstützen. Aber sie begannen, Bücher für die Bibliothek von Tschernihiw zu sammeln, und wenn das Gebäude nach dem Krieg restauriert wird, wird die Bibliothek neue ukrainische Bücher anstelle der verbrannten Bücher bekommen. Das gilt nicht nur für die Bibliothek von Tschernihiw, sondern auch für viele andere von der russischen Armee zerstörte Bibliotheken.

Auf dem Rückzug aus der Region Cherson plünderten russische Truppen und die Besatzungsverwaltung lokale Museen und nahmen mehr als 15.000 Gemälde und andere Artefakte mit. Aus Cherson wurden alle Archive, einschließlich der historischen, gestohlen. Russland will die Geschichte der Ukraine stehlen und zerstören. Aber das wird sie nicht können. Die Geschichte der Ukraine gehört der Ukraine.

Die Ukraine kennt und schätzt ihre Geschichte. Die Ukraine bewahrt ihr historisches Gedächtnis. Und nur eines kann bei den Ukrainern wie bei den Einwohnern jedes anderen demokratischen Landes Bedauern hervorrufen: dass sich die Geschichte wiederholt. Dass Putin glaubt, das Ergebnis des bolschewistischen Generals Murawjow wiederholen und Kyjiw erobern zu können, ist sein persönlicher Irrglaube. Die Tatsache, dass sein Wunsch, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören, von der großen Mehrheit der russischen Bürger unterstützt wird, ist eine russische Entscheidung und russische Verantwortung. Eines Tages werden ihre Kinder und Enkel das verstehen und für ihre Sünden büßen, aber heute stehen die Russen auf der Seite des Bösen, auf der Seite von Gewalt und Aggression.

Aber die Ukrainer sind heute anders als 1918. Die Ukrainer sind heute bereit, die Unabhängigkeit ihres Landes zu verteidigen, und tun dies erfolgreich. Auch während der Okkupation.

Während der gesamten 9 Monate der Besetzung Chersons operierte in der Stadt die patriotische Untergrundorganisation „Gelbes Band“, deren Mitglieder jeden Tag patriotische Flugblätter und Plakate in der Stadt aufhängten. Sie haben unter hohem persönlichem Risiko russische Fahnen abgehängt und ukrainische aufgehängt. Unter den Aktivistinnen dieser Organisation sind viele Frauen. Eine von ihnen, die 50-jährige Swetlana, erzählte nach der Befreiung der Stadt, dass sie das Haus während der Besetzung nie ohne ein gelb-blaues Band in der Tasche oder versteckt in ihrer Kleidung verlassen habe. Während der Besetzung verbrannte das „Gelbe Band“ Auflagen russischer Propagandazeitungen und zerstörte Bestände an SIM-Karten für Mobiltelefone, die aus Russland mitgebracht worden waren. Sie führten sogar illegale Importe von Sprühdosen mit Graffiti-Farbe durch, und nachts bemalten Cherson-Teenager die Wände von Häusern mit der Erinnerung, dass Cherson Teil der Ukraine ist. All dies geschah während der vollständigen Informationsblockade der Stadt, als es nicht möglich war, mit dem freien Territorium der Ukraine zu kommunizieren. Und das zu einem Zeitpunkt als die russischen Invasoren ständig und immerzu wiederholten: „Die Ukraine hat dich vergessen. Russland wird für immer hier sein!“

Am meisten beeindruckten mich die Flugblätter des Gelben Bandes, auf denen ein einzelner Buchstabe „Ї“ abgebildet war, ein Buchstabe, der zum Symbol des Widerstands wurde, ein Buchstabe, der die Besatzer wütend machte, in Rage brachte. Er wurde auf Wände und auf Säulen gemalt. Der Buchstabe „Ji“ ist ebenso zu einem Symbol des Widerstands geworden wie die gelb-blauen Bänder, die die Bewohner Chersons abends heimlich an Äste banden.

Die Verleihung dieses Ehrenpreises hat mich in die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs zurückversetzt. Sophie und Hans Scholl und ihre Mitstreiter liebten ihr Land, liebten Deutschland und wollten das Beste für ihre Heimat. Sie wollten in einem anderen Deutschland leben, ohne Antisemitismus, ohne Nazi-Ideologie. Sie hatten die Wahl zwischen Konformismus und dem Kampf für ein anderes, demokratisches, vor allem freies Deutschland. Sie entschieden sich für den Kampf. Mit friedlichen Mitteln versuchten sie, die deutsche Gesellschaft mit Worten zu erreichen.

„Man darf nicht nur dagegen sein, man muss etwas tun,“ sagte Sophie Scholl.

Die Ukrainer lernen heute zu gewinnen. Sie kennen den Preis, der für die Freiheit und eine glückliche Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu zahlen ist. Sie lernen, dem Bösen und Unrecht zu widerstehen, unter anderem von der Weißen Rose, von Sophie und Hans Scholl und ihren Gleichgesinnten.

„Die Sonne scheint noch,“ sagte Sophie Scholl vor ihrem Tod.

Die Sonne scheint immer noch und wird immer scheinen. Auch im Dunkeln. Sonne der Hoffnung. Die Sonne, die täglich die Dunkelheit besiegt.

Das Engagement und die Aufopferungsbereitschaft von Hans und Sophie Scholl, 80 Jahre nach ihrem Tod, ist ein Beispiel für staatsbürgerliche Verantwortung. Ihr Kampf und ihr Schicksal werden zukünftige Generationen immer inspirieren.

Ja, die Geschichte wiederholt sich. Aber sie wird sich auf beiden Seiten der Front wiederholen. Und wenn eine Seite das alte Böse wiederholt, dann wiederholt sich auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen dieses Böse. Und am Ende besiegt stets das Gute das Böse, so wie die Sonne immer die Dunkelheit besiegt.

 

Herzlichen Glückwunsch, Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis!