„Ich werde wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug arbeiten.“ Michael Krüger im Videointerview

Michael Krüger erzählt von verschiedenen Arten von Flucht in seinem neuen Roman: der Flucht aus dem Leben, der Flucht in ein Leben, der Flucht voreinander, der Flucht zueinander, nicht zuletzt auch von der Flucht vor dem Ruhestand. Und er zeichnet wie nebenbei das wunderliche Gesicht der Gegenwartsgesellschaft – melancholisch und hochkomisch, resignativ und unverbesserlich hoffend.

Der Schriftsteller, Verleger und Herausgeber feiert seinen 75. Geburtstag – und findet die Vorstellung, nichts mehr zu tun, aberwitzig.

Der Erzähler deines Romans „Vorübergehende“ ist ein Getriebener – weshalb flieht er den beschaulichen, schönen Lebensabend?

Ja, das ist eine eigene Erfahrung. Ich weiß eben nicht, was ist ein schöner Lebensabend? Ich bin ja nun auch nicht mehr der jugendliche Held und habe mich immer gefragt … Die Vorstellung, nichts mehr zu tun, ist so aberwitzig. Das heißt, es ist ein Ethos, dass man immer weitermacht. Das steckt irgendwie in einem drin. Würde ich Boule spielen oder Skat oder so etwas, dann würde ich abends ins Gasthaus gehen und spielen. Aber ich kenne das nicht, kann das nicht. Ich werde wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug selber immer arbeiten. Und natürlich ist das eine Projektion auf diesen Mann, der immer aufhören will, vor allem weil er eine Arbeit macht, die er durchschaut hat. Weil er sieht, dass Menschen, die sich nach dieser Idee von Arbeit richten, natürlich auch viel zugrunde richten. Wir haben den Fall ja überall in der Politik: Einer kann nicht loslassen. Im Theater, überall. Es gibt Intendanten, die nach fünf Jahren aufhören, und es gibt Intendanten, die bis zum letzten Blutstropfen unbedingt Theaterleiter sein wollen. Und ein bisschen von dieser Ausweglosigkeit zwischen dem einen Extrem und dem anderen steckt in dieser Person. Er ist ja Coach. Das heißt, er geht durch die Welt und versucht, den Leuten klar zu machen, wie sie Schwächen schwächen und Stärken stärken. Eine uralte, nicht besonders originelle Form der Unternehmensberatung, die aber nach wie vor und bis heute in vielen Unternehmen angewandt wird. Warum kann man sich nicht verbessern in der Arbeit, in Abläufen etc.? Und nur weil man alt ist, kann man ja den Tod nicht überlisten. Man kann also die Zeit vor dem Tod Schwächen schwächen, Stärken stärken … Das haut nicht hin. Das heißt, er kann nur eins machen, er kann so weitermachen wie bisher, um auf diese Weise dem Tod mitzuteilen: Bei mir hast du nichts zu suchen, es geht bei mir weiter. Aber das ist natürlich eine Selbstlüge und ein Selbstbetrug. Ein bisschen etwas von diesem Problem wollte ich in diesem Buch verhandeln.

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Und dieser Coach glaubt also, dass er seinem Leben Sinn geben kann, wenn er einem unbekannten Mädchen hilft?

Ja, das ist … da steckt natürlich eine lange Überlegung, die jetzt gar nichts mit dem Roman zu tun hat, aber die in dem Roman verhandelt wird, drin. Nämlich – das ist ja ein Mensch, der die Sprache des Erzählers nicht kann, mehr oder weniger stumm sitzt sie ihm gegenüber – und die Frage ist: Wie gehen wir mit dem Fremden um? Was machen wir mit dem Fremden? Wir können natürlich sagen, wie in vielen Ländern mittlerweile, wir machen die Grenze dicht und die sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst. Aber das ist natürlich die peinlichste Art und Weise, mit Menschen umzugehen, die nicht die eigene Sprache sprechen, den eigenen kulturellen Hintergrund haben, die die gesellschaftlichen Codes nicht kennen und so weiter. Deshalb dachte ich mir, das ist ganz gut, dass so einer, der immer auf den richtigen Effekt hin sein Leben organisiert hat, der wird plötzlich von einer Sprachlosen überrumpelt. Er, der alle Probleme zu verbalisieren gelernt hat … Das war sein Leben: „Wo ist das Problem? Wir müssen es besprechen und dann machen wir eine bessere Lösung.“ Aber ich bin nicht der Meinung, dass in ganz substantiellen Fragen der Gesellschaft wirkliche Verbesserungen zu machen sind. Wir sind eben sehr sterbliche und sehr randständige Figuren und haben uns gerade einmal so eingerichtet, dass jetzt für ein paar Jahrzehnte Frieden war. Aber wir tun so, als sei das die höchste Form des Zusammenlebens überhaupt. Und ich glaube überhaupt nicht daran. Und ich bin sehr davon überzeugt, dass das Fremde, wenn es bei uns selbst einbricht, uns noch einmal zu einem ganz anderen Leben verführen könnte. Das heißt, wir könnten nachdenken und mit denen etwas entwickeln, was zu unser aller Nutzen ist und der ganzen Welt nutzt, weil man etwas jetzt vormachen könnte. Stattdessen haben alle Angst, machen die Grenzen zu, schotten sich ab, wollen nichts damit zu tun haben und tun so, als lebten wir in Europa auf einer Insel der Seligen, die nicht von Unbefugten betreten werden darf. Dieses Schild: „Für Unbefugte Betreten verboten!“ Das ist so ganz gegen meine Haltung im Leben. Und ich finde: Wenn ein bisschen von diesen Problemen in dem Buch vorkommt, dann hat es schon seine Schuldigkeit getan.

Und so hat auch der Erzähler etwas von der Unbekannten Jara zu lernen?

Ja, die ist ja in dem Buch eine Zeichnerin. Die ist zunächst einmal jemand, der auf einem weißen Blatt Papier eine Welt erfindet. Die kommt in eine Welt – nämlich die Welt des Erzählers –, eine hoch gerüstete, elaborierte Welt, in der es alles gibt und wo Reisen kein Problem ist und Pass und Altersversicherung inklusive. Und sie hat gar nichts und bekommt von ihm weißes Papier geschenkt, und dann malt sie eine Welt. Und diese Welt ist weit davon entfernt, eine ideale zu sein, aber es ist doch eine, die nur ihr gehört. Und die durch keinen – durch keine Erziehung, durch keine Reglementierung, durch keine Schule, Universität oder sonst irgendwas, Familie – beeinflusst ist; das ist ihre Welt, die sie, so gut sie kann, aufs Papier bringt. Und ganz offensichtlich ist sie so begabt, dass tatsächlich etwas entsteht, was eine andere Welt darstellt. Ich bin natürlich immer versucht, – selber – mir vorzustellen, was eigentlich auf den Blättern ist. Ich würde wahnsinnig gerne haben, dass jemand das einmal ernst nimmt und sagt: „Ich lese dieses Buch und werde mir jetzt einen Block anschaffen und einmal versuchen, ob ich etwas auf das Papier bekomme, was sozusagen äquivalent ist zu dem, das diese Jara macht.“ Denn die meisten von uns haben ja viele Probleme, die sie nicht bewältigen können. Aber vielleicht ist das … Das klingt jetzt ein bisschen hochtrabend, ich meine es aber ganz konkret, simpel. So, wie man … – glaube ich – sich besser erfährt, wenn man alle Texte, die man sehr liebt, mit der Hand abschreibt: Alle Gedichte, die man gernhat, in ein Buch „Gedichte“. So entsteht eine eigene Welt in der Zusammensetzung. Und so, denke ich mir, ist dieses, dieses große Projekt von dieser Jara, die keiner kennt, die keine Geschichte hat, keiner weiß, wo die genau herkommt – irgendwo vom Balkan. Keiner weiß, wo die Mutter ist, es gibt keinen Pass, es gibt gar nichts. Man weiß nicht einmal ein Geburtsdatum. Aber … Ich glaube, man würde sehr viel von ihr erfahren, wenn man diese Zeichnungen angucken würde. Und all diese Sozialarbeiter, die da immer kommen und fragen: „Was machen wir denn mit dem Mädchen?“ Die gucken natürlich nie die Zeichnungen an – die würden sagen: „Sie sind wohl verrückt geworden. Was sollen wir denn hier die Zeichnungen angucken? Das hat doch … Ich brauche Beweise, dass die irgendwoher kommt.“ Kurzum: Ein bisschen etwas von dieser Idee ist ja in der Umschlagzeichnung realisiert, aber ich glaube eben: Es ist eine Tragödie für den Menschen, dass er vom ersten bis zum sechsten oder zehnten Schuljahr – Kindergarten und so weiter – Zeichnungen macht – und dann nie mehr. Nie mehr! Und es ist so billig, man kann sich einen Block kaufen und anfangen … Keiner macht das. Warum?

Vorübergehende. Ein Roman, der im Gedächtnis verweilt.

 

 

Ein erfolgreicher Mann vor dem Ruhestand auf der Suche nach dem Sinn seines erschreckend gelungenen Lebens: Hier trifft einer, der alles hat und doch nur die Leere kennt, auf eine, die gar nichts hat, und dennoch an Leben ungleich reicher ist. Diese Konstellation schildert Michael Krüger mit der größten Lust, davon abzuschweifen. Denn wenn sein Erzähler seine Gedankenfahrt aufnimmt, bleibt keiner geschont: nicht die Menschen um ihn herum, nicht die deutschen Landsgenossen, am wenigsten er selbst.

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