Schlagwort: Krankheit

„Die Sprachlosigkeit hat sich in den Roman eingeschrieben” – ein Interview mit Michèle Yves Pauty

Familienkörper” ist ein Debütroman mit erzählerischer Wucht über das Geflecht einer Familie, drei Generationen von Frauen, Medical Gaslighting und Gender Medizin:

Das Ich wächst im Tirol der 80er-Jahre auf, zwischen schneebedeckten Bergspitzen und dem schlammgrünen Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt, lebt im Olympischen Dorf. Wächst als gesunder Körper zwischen kranken auf. Großmutter, Mutter, Schwestern – Krankheit trifft alle. Nieren, Schilddrüse, Allergien, Erschöpfung, jede Geburt eine Opfergabe, Gebärmutterentfernung beinahe Tradition. Die Ärzt*innen reagieren nicht, wiegeln ab. Um sich selbst zu schützen, entfremdet die Ich-Figur sich immer mehr. Und beginnt dann doch, alles zusammenzusetzen, verwebt einen Familienkörper.

Wir haben uns mit Michèle Yves Pauty über das Debüt unterhalten.

Medical Gaslighting und Gender Medizin sind zwei zentrale Themen in deinem Roman, die eng miteinander verbunden sind. Dabei handelt es sich um strukturelle, kontinuierliche Problematiken, die doch immer noch sehr wenig thematisiert werden. Was war für dich der ausschlaggebende Punkt, genau diese Themen in einem Roman zu verarbeiten? Hat dich die Familiengeschichte dazu bewegt oder konntest du erst durch den Schreibprozess einordnen, dass diese Themen eng mit der Familie verknüpft sind? 

Am Beginn des Schreibprozesses waren diese beiden Themen noch nicht bewusst als Schlagwörter in meinen Überlegungen vorhanden. Es war mehr ein Nachtasten, was diesen Familienkörper umtreibt, warum manche Episoden sich zu wiederholen scheinen, warum es so wenige Orte gab, zu denen Mitglieder meiner Familie gehen konnten. Ich wollte verstehen. Medical Gaslighting und Gender Medizin haben sich erst im Laufe des Schreibens als Themen herauskristallisiert, die inhärent mit der Gesundheit von Frauen im allgemeinen und besonders mit der meiner Familie zusammenhängen.

In deinem Roman erzählst du über drei Generationen von Frauen. Das Buch setzt bei allen drei Perspektiven in der Kindheit ein und berichtet über lange Spannen hinweg auch über ganze, unterschiedliche Jahrzehnte. Wie war es für dich, in diese verschiedenen Figuren, Leben und auch Zeiten einzutauchen, die du selbst nicht erlebt hast? Welche Herausforderungen gab es dabei?

Die erste Version waren elf Seiten, in denen eine Erzählstimme das Geschehen von außen beobachtet hat. Inhaltlich ging es damals ausschließlich um meine ältere Schwester, den Super-GAU in Tschernobyl und ihre Hashimoto-Diagnose. Als der Text länger wurde, war es nicht mehr möglich, mich aus den Erzählungen herauszuhalten. Die Stimme des Kindlichen wurde zum roten Faden für die Geschichte, sie bietet eine gewisse Chronologie in den Zeitsprüngen. An einem Punkt war alles von meiner Erinnerung dominiert, das war nicht, wie ich schreiben wollte. Zusätzlich gibt es die Erzählungen im Roman, die vor meiner Geburt stattgefunden haben. Um diese Episoden nah an den Personen zu gestalten, habe ich viel recherchiert und Interviews mit meinen Familienmitgliedern begonnen. Zuerst waren es nur gelegentliche Anrufe, „Wie war das damals mit Tschernobyl?“, aber irgendwann habe ich die Interviews in das Manuskript mit aufgenommen. Ich fand den Blick der anderen spannend, die Unsicherheit von Erinnerung. Immer wieder kamen vollkommen unterschiedliche Erzählungen über dasselbe Ereignis. Erinnerung ist wie Wahrheit, es gibt nicht eine, sondern viele subjektive.

Medical Gaslighting beschreibt eine Praxis, in der Krankheiten oder Symptome von medizinischem Fachpersonal nicht ernst genommen und heruntergespielt werden. Dabei wird Patient*innen nicht geglaubt und auch nicht zugehört und die Krankheiten oder Symptome werden als eingebildet oder (bei körperlichen Beschwerden) psychosomatisch abgesprochen. Wenn eine Diagnose nicht sofort feststellbar ist, werden auch oft keine weiteren Verfahren wie beispielsweise eine Überweisung oder eine Laboruntersuchung angeordnet. Davon sind vor allem Frauen und weiblich gelesene Personen betroffen, aber auch Menschen mit Mehrgewicht oder chronischen Erkrankungen und Menschen mit Rassismuserfahrungen.

 

Gender Medizin heißt, dass Krankheiten sowohl geschlechtssensibel als auch geschlechtsspezifisch untersucht, erforscht und behandelt werden. Gender Medizin beinhaltet die Auswirkungen von sex und gender auf Krankheit und Gesundheit. Das bedeutet, dass soziale und psychologische Unterschiede in der Medizin berücksichtigt werden, ebenso wie der Faktor, dass Symptome und Krankheiten aufgrund unterschiedlicher biologischer Voraussetzungen verschieden ausgeprägt sein können.

Das Ich im Roman wächst als gesunder Mensch zwischen und mit Kranken auf. Es entfremdet sich zum Schutz immer mehr von der Familie und dem Geschehen, um dann alles zusammenzusetzen. Wie war es für dich, diesen Familienkörper zu verweben, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten?

Herausfordernd. Alle möglichen Emotionen sind aufgekommen. Zu Beginn war es spielerisch, bis mir aufgefallen ist, dass ich nur die angenehmen Episoden erzähle oder Stellen, die wenig mit mir zu tun haben. Dann bin ich chronologisch alles abgegangen, habe in einem halben Jahr das Grundgerüst des jetzigen Romans geschrieben. Mit dem Text habe ich zu diesem Zeitpunkt am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Eine Studienkollegin, Oliwia Hälterlein, hat damals in einer Textwerkstatt gesagt, „sie liest den Schmerz dieses Ich“. Und ich glaube, das war das erste Mal, dass mir das bewusst wurde. Danach hat sich das Ende einfach gefunden. Ursprünglich war es nicht mein Plan, über die Entfremdung zu schreiben. Aber als es sich in das Manuskript hineingeschrieben hat, dachte ich mir, das will der Text.

Krankheit und gerade chronisches Kranksein sind auch heute oft noch eine Art Tabuthema. In unserer Gesellschaft gilt es, zu funktionieren. Das spiegelt sich auch in deinem Roman wider. Was muss sich diesbezüglich ändern und was können wir individuell für eine Entstigmatisierung und Enttabuisierung tun?

Ein Problem sehe ich in dem schulmedizinischen Zugang, der sich oft nur der Beseitigung der Symptome widmet und nicht den Ursachen. Ich hatte eine Zeit lang chronische Rückenschmerzen, worauf mir die Ärzte Schmerzspritzen angeboten haben. Damals war ich Anfang dreißig. Ich dachte mir, ich kann nicht jetzt schon mit Schmerzmitteln anfangen. Ich  war schockiert, wie wenig die Ärzte daran interessiert waren, die Ursache zu finden. Unserer Medizin fehlt ein ganzheitlicher Zugang. Viele Erkrankungen haben multifaktorielle Ursachen. Und der Kapitalismus ist generell kein gesundes System, wie sollen wir darin gesund bleiben? Viele Dinge, die wir in der Vergangenheit als normal angesehen haben, brechen auf und zeigen, wie schädlich sie für uns sind/waren. Es ist eine Zeit der Wandlung.

In deinem Roman fragst du einmal: „Bin ich mein Körper, oder habe ich einen Köper?“. Der Roman lässt die Frage einfach stehen – kann man darauf überhaupt eine Antwort finden, wenn die Körperlichkeit und die Entscheidungen über den eigenen Körper gerade auch in einem medizinischen Kontext immer noch gesellschaftlich und politisch so fremdbestimmt sind?

Deine Frage beantwortet die meine bereits perfekt.

Im Roman wird immer wieder thematisiert, dass der Ich-Figur Erinnerungen fehlen, aber auch das Nichtvorhandensein von Sprache in der Familie ist ein zentrales Motiv. Durch deinen Roman gestaltest du sozusagen Sprachlosigkeit mit Sprache. Wie bist du hinsichtlich einer literarischen Form dafür vorgegangen?

Die Sprachlosigkeit hat sich in den Roman eingeschrieben. Bei der Form war ich konzentriert auf einen multiperspektivischen Blick, das Verhandeln des Ich mit der Mutter ist erst später dazugekommen. Hier wollte ich trotz der ungleichen Machtverteilung eine Art von Waagschale schaffen, wo beide Teile – aus unterschiedlichen Gründen – dasselbe Gewicht tragen.

Du bist Schriftsteller*in, aber auch Fotograf*in. In „Familienkörper“ hast du dich für eine bildhafte Sprache entschieden, beim Lesen wird deutlich, wie intensiv optische Reize, Licht, Räumliches auf die Ich-Figur wirken. Wie stark beeinflusst das Visuelle dein literarisches Schaffen, sind die beiden Bereiche für dich stark miteinander verknüpft?

Ich höre öfters, dass ich so schreibe, weil ich Fotograf*in bin. Aber wahrscheinlich bin ich Fotograf*in geworden, weil ich so wahrnehme. Und dasselbe gilt für das Schreiben, nur, dass ich dort tiefer gehen kann, als es mir mit der Fotografie möglich ist. Fotografie ist trügerisch. Wir interpretieren aufgrund eines Bildes, dabei kann die Bildunterschrift den gesamten Kontext ändern.

© Ian Ehm Iowres

Autor*in

Michèle Yves Pauty (*1982) hat Fotografie und Deutsche Philologie in Wien und Literarisches Schreiben in Hildesheim und Leipzig studiert. Pauty hat in diversen Magazinen und Anthologien veröffentlicht, 2021 folgte die Auszeichnung mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium. Pauty lebt in Wien und Leipzig und ist Teil des Künstler*innen-Kollektivs sy:rup. Im Februar 2025 erscheint das Debüt „Familienkörper“ im Haymon Verlag.


Familienkörper” erzählt von der Geschichte mehrerer Frauenleben und von den Zusammenhängen zwischen Geschlecht, Herkunft, Klasse, Bildung und Gesundheit; ein großer, ein traurig-schöner Roman. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!

„Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen.“ – Interview mit Maë Schwinghammer

Zunächst sind die Worte ganz, ergeben Sinn, doch sobald sie Michaels Mund verlassen, fallen sie zu Boden und zerbrechen, noch bevor sie fremde Ohren erreichen, wie kleine Porzellantassen vor den Augen. Seine Mama übersetzt zwischen ihm und der Welt. Sie versteht ihn als Einzige. „Brabbeln“ sagt die Pädagogin in der Spielgruppe dazu. „Wahrnehmungsstörung“ nennen es die Ärzt*innen. Einige Jahre später hat die Welt andere Worte für Michael: Computerköpfchen, Pussy, Schwinghomo, Bärli. Namen, doch kein einziger, der diesem Ich gehört.
Eindrucksvoll und poetisch schreibt Maë Schwinghammer von einer Suche nach Verständnis, an deren Ende ein gefundenes Ich steht. Wir haben uns mit Maë über deren Debütroman „Alles dazwischen, darüber hinaus“ unterhalten.

Maë, wie würdest du selbst deinen Roman beschreiben?
„Alles dazwischen, darüber hinaus“ begleitet die Suche eines Kindes ohne Sprache bis ins Erwachsenenalter, die Suche nach der richtigen Sprache, den richtigen Wörtern für den eigenen Körper, die eigene Identität, das Geschlecht. Der Roman erzählt vom Wunsch, von anderen verstanden zu werden, und davon, sich in dieser Welt, die oft nicht zuhört, verstanden zu wissen.

Hast du selbst beim Schreiben nach etwas gesucht?
Ja, nach einem Weg und einer Sprache, die es ermöglichen, meine Lebensgeschichte mit poetischen Tönen zu erzählen und dabei auch noch zugänglich zu bleiben. Weil ich ein Buch schreiben wollte, das ich jeder Person aus meiner Familie ohne schlechtes Gewissen in die Hände drücken kann.

Apropos Familie: „Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt auch von einem Weg zurück zur eigenen Familie, von einer Versöhnung mit der eigenen Herkunft. Wie würdest du selbst diese Entwicklung in deinem Roman beschreiben?
Ich glaube, das Grundthema hier ist: Angst. Die Angst der Eltern, das eigene Kind zu verlieren, weil es einen Klassenaufstieg erfährt, weil es den Namen ablegt, weil es kein Junge mehr ist und nie einer war. Gleichzeitig ist da auch die Angst der Hauptfigur, für die eigene Herkunft verurteilt und gehänselt zu werden, dieselben Wege zu beschreiten, die schon die Eltern beschritten haben. Das führt in beide Richtungen zu Abgrenzungen, schafft eine Distanz, die sich vergrößert, bis mit genügend Abstand der Sprung gewagt wird, sich wieder anzunähern. Das Gemeinsame zu suchen, anstatt das Trennende hervorzuheben.

In deinem Buch schreibst du an einer Stelle: „Vielleicht sind Probleme der Sprache immer ein Problem der anderen, der Nichtbetroffenen. Denn die Nichtbetroffenen sprechen über Betroffene und wählen dafür Worte, die Betroffene selbst nie wählen würden.“ Die Unzulänglichkeit von Sprache, ihre Grenzen, die wir Menschen immer wieder – oft schmerzhaft – spüren, nimmt in deinem Buch viel Raum ein. Welche Bedeutung hat Sprache, hat das Übertreten ihrer Grenzen für dich?
Sprache hat die größte Bedeutung in meinem Leben, meinem Schreiben und damit auch im Roman. Es geht mir weniger darum, Grenzen zu übertreten, mein Anliegen würde ich eher so beschreiben, dass ich die gedachten Grenzen verschwimmen lassen möchte. Sie sollen so undeutlich sein, dass neue Sprachen und Wörter für alle zukünftigen Identitäten und Körper möglich werden, ohne dass es Grenzübertritte benötigt, weil die Grenzen nicht länger existieren.

Teile deines Romans – wie beispielsweise der sehr eindrucksvolle Beginn – erzählen aus der Perspektive eines Kindes. Wie war es für dich, in diese Figur hineinzuschlüpfen, und welche Herausforderungen oder auch Glücksmomente hast du beim Schreiben dieser Passagen erfahren?
Es war tatsächlich sehr leicht, in diesen Ton zu wechseln, da ich lange nur Lyrik geschrieben habe und ich die Perspektive eines Kindes für überaus poetisch halte. Wörter werden vor allem als Kleinkind noch sehr frei aneinandergereiht, ohne jedes Bewusstsein für Logik oder Konsistenz. Das ermöglicht sprachliche Bilder, die sich erwachsene Menschen oder Autor*innen nicht erlauben würden, was allerdings meiner Meinung nach sehr schade ist. Die Herausforderung bei diesen Szenen war, in der Sprache konsistent zu bleiben und die kindliche nicht mit erwachsen-nüchternen Stimmen zu überlagern.

 

Maë Schwinghammer, geboren 1993, aufgewachsen in Wien-Simmering, studiert Sprachkunst, schreibt außerdem Lyrik, Theaterstücke und Essays. „Alles dazwischen, darüber hinaus“ ist Maë Schwinghammers Debütroman.

Körperlichkeit spielt in „Alles dazwischen, darüber hinaus“ eine wichtige Rolle. Die Hauptfigur durchlebt im Kindesalter eine (kurzfristige) Fazialisparese, also eine Gesichtslähmung, später werden exzessiver Sport und Muskelaufbau als Ausdrucksmittel und Identitätsmarker genutzt. Auch Sexualität und der offene Umgang mit ihr spielen im Verlauf eine immer wichtigere Rolle. Parallel dazu besteht und wächst das Gefühl der Sprachlosigkeit, des Nicht-Verstandenseins, der Fremdheit. An einer Stelle heißt es: „Du hast immer durch deine Augen gesprochen.“ Inwiefern gehören die beiden Aspekte – Körperlichkeit und Sprache – für dich in Hinblick auf deinen Roman zusammen?
Sie gehören untrennbar zusammen. Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen. Der Roman beginnt mit einem Zitat der Mutter: „Er kann nicht sprechen lernen, wenn er seinen Körper nicht kennt.“ Das war zwar sicher nicht so gemeint, aber ich glaube, die Aussage stimmt: Das Finden zu einer Sprache ist mit dem Kennenlernen des eigenen Körpers verbunden. Ich erfahre meinen Körper, betrachte ihn, befühle ihn und versuche, ihn mit den Wörtern zu beschreiben, die mir die Sprache zur Verfügung stellt, reichen die Wörter nicht aus, versuche ich, zu neuen Wörtern zu gelangen, die dies fassen können.

„Als Kind habe ich mich bereits als Mädchen geträumt“ – diese Stelle beschreibt sehr eindrücklich und berührend wie die Hauptfigur im Erwachsenenalter (noch immer) empfindet. Der Wunsch nach einer Hormonersatztherapie wird von einer Therapeutin begleitet. Einer völlig fremden Person. Doch: „Meiner Therapeutin muss ich nichts beweisen, sie zweifelt niemals an meiner Identität. Beweisen muss ich es dem Gesundheitssystem, und dieses besteht darauf, dass abgesehen von meiner Therapeutin auch noch ein*e klinische*r Psycholog*in und ein*e Psychiater*in bezeugen, dass ›ich‹ ›ich‹ bin. Die Beweisführung meiner Existenz.“ Das Negieren eines Selbst und der damit oftmals verbundene Hass auf marginalisierte Menschen ist traurigerweise fest in unserer Gesellschaft verankert. Was wären in deinen Augen Stellschrauben, an denen wir gemeinsam drehen müssten, um die Lebensrealität von Betroffenen zu verbessern?
Die Abschaffung der Notwendigkeit von Diagnosen für medizinische Behandlungen wäre ein immens großer Fortschritt, aber eigentlich lässt sich an allen Stellschrauben etwas drehen. Der gesellschaftlich-politische Zugang sollte nicht sein, marginalisierten Gruppen den Zugang zu Ressourcen, Behandlungen, Dokumenten etc. von oben zu erschweren, sondern umgekehrt, aus der Perspektive dieser Gruppen gedacht, die Voraussetzungen zu schaffen, dass der Zugang möglichst einfach ist.

Von der Vorstellungsrunde in der Schule, bis zum Vergleich von Statussymbolen: Die Hauptfigur erfährt sehr früh „die feinen Unterschiede“ in unserer klassistischen Gesellschaft. Der kindliche Stolz auf die Herkunftsfamilie, auf die Arbeitsuniformen der Eltern weicht im Verlauf des Heranwachsens immer mehr einem Gefühl der Scham. Ein weiteres sehr einprägsames Beispiel für Klassenkritik im Roman ist die aufgebürdete Solidarität und die Stigmatisierung durch „Hilfsangebote“. So kümmert sich die Hauptfigur beispielsweise in der Schulzeit heimlich selbst um Förderansuchen für Klassenreisen, um die Mutter vor Schuldgefühlen zu bewahren und um der Stigmatisierung in der Klasse bestmöglich zu entgehen. Wie würde sich deiner Einschätzung nach der Roman unterscheiden, würde er nicht in der Arbeiter*innenklasse spielen?
Es würden einige Aspekte fehlen und die Hauptfigur hätte abgesehen vom Riesenprivileg, weiß zu sein, noch ein paar mehr Privilegien, die möglicherweise, aber nicht zwingend, die Entwicklungsprozesse der Hauptfigur beschleunigen könnten. Auch die Sprache und die Sicht der Hauptfigur auf die Welt wären andere, am Ende wäre es wohl ein ganz anderer Roman.

 


Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt vom Aufwachsen in der Arbeiter*innenklasse, von Wurzeln in Österreich und Serbien, von der Fluidität der Geschlechter, von Sexualität, Liebe und Freund*innenschaft, von Autismus und der Annäherung an gewählte und ungewählte Familien. Ein schmerzhafter und zugleich heilsamer Roman. Ein Debüt, das beides ist: das Einfangen von Stille. Oder auch: das Weglassen von ebendieser. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!