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„Würde darf keine Option sein, sondern muss zum Standard werden“ – ein Interview mit Johanna Maria Brix und Bianca-Karla Itariu

Faul, schwach, undiszipliniert – das sind nur einige der gängigen Vorurteile gegenüber mehrgewichtigen Menschen. Fettfeindlichkeit gehört zu ihrem Alltag und macht auch vor der Medizin nicht halt. Dicke Patient*innen werden stigmatisiert, ihre Beschwerden vorschnell aufs Gewicht reduziert, ihre Behandlung verzögert oder verweigert.

Genau hier setzen die Ärztinnen und Autorinnen Dr. Johanna Maria Brix und Dr. Bianca-Karla Itariu an. In ihrem Buch „Das Gewicht unserer Körper“ und diesem Interview berichten sie von alltäglichen Szenen im Behandlungszimmer, von strukturellen Barrieren und von einer Medizin, die Betroffene zu oft im Stich lässt. Sie fordern: Wir müssen lernen, dicke Körper nicht als Defizit, sondern als Teil menschlicher Vielfalt zu begreifen – und endlich eine Gesundheitsversorgung schaffen, die evidenzbasiert, respektvoll und diskriminierungsfrei ist.

 

Ihr beide seid Ärztinnen und habt auch beide schon viele wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Wie war es für euch, das Genre zu wechseln und ein Sachbuch zu schreiben? Wie lief der Entstehungsprozess ab?

Bianca-Karla: Mein erstes Sachbuch war „Schlank auf Rezept: Die Abnehmrevolution” (mit Dr. Siegfried Meryn, erschienen bei edition a, 2023). Die Arbeit daran war so bereichernd, dass ich Lust auf mehr bekam. Als die Verlagsleitung des Haymon Verlags, Katharina Schaller, mich fragte, ob ich ein weiteres Buch schreiben möchte, war mir klar: Wie in der Wissenschaft wollte ich eine Partnerin. Ich bat Johanna, Co-Autorin zu sein. Der Prozess dauerte länger als geplant. Zwischendurch hatten wir Phasen der Hoffnungslosigkeit, da wir in der Versorgung täglich miterleben, wie Patient*innen enttäuscht und verletzt werden. Es war fordernd, das auszuhalten und trotzdem an einem empathischen, lösungsorientierten Buch zu arbeiten. Getragen hat uns der Glaube an Menschlichkeit und die Kraft von Wissen, Sprache und Strukturveränderung.

Johanna:  Für mich war es weniger ein Bruch als eine Erweiterung. In Papers schreibe ich für Kolleg*innen, im Buch hingegen für Betroffene, Behandelnde und die Öffentlichkeit. Das heißt: präzise, evidenzbasiert, aber dennoch zugänglich. Viele Kapitel begannen als klinische Beobachtungen und entwickelten sich zu Brücken aus Evidenz, Geschichte und konkreten Forderungen. Das hat meiner „inneren Logistikerin“ gefallen: Am Ende muss alles da sein – nachvollziehbar, geordnet und nützlich. Während des Entstehens gab es aber auch viele Teile, die im Lektorat wieder rausgenommen werden mussten, weil sie zu weit führen würden für dieses Buch. Mir ist aber beim Schreiben daran klar geworden, wie wichtig mir noch viele andere Punkte sind.

 

Ihr habt euch unter anderem auf Adipositas, Endokrinologie und Diabetologie spezialisiert. Was hat euch an diesen Fachbereichen besonders interessiert, und welchen Einfluss hatten eure Erfahrungen mit Körpernormen darauf?

Bianca-Karla: Meine geliebte Großmutter war sehr dick. Als Kind habe ich durch ihre gelebte Erfahrung mitbekommen, welche Einschränkungen durch Körpergewicht entstehen können. In beiden Büchern kommt sie vor. Ob diese Erfahrung meine Entscheidung beeinflusst hat, Endokrinologin zu werden, weiß ich nicht. Während meines Studiums lernte ich allerdings, dass Fett kein träges Depot ist, sondern ein hochaktives Organ, was ich unglaublich faszinierend fand. Fettzellen produzieren Hormone und Zytokine und stehen in Kommunikation mit Gehirn, Gefäßen, Leber und Pankreas. Das verändert auch den Blick auf Körpernormen. Wenn Fettgewebe das Stoffwechselgeschehen maßgeblich steuert, ist das moralische Urteilen über Körperformen nicht nur verletzend, sondern auch unwissenschaftlich. Schon als Schülerin fand ich die Endokrinologie faszinierend, da eine Freundin meiner Mutter Endokrinologin war. In diesem Fachgebiet treffen Biologie, Gesellschaft und individuelle Lebenswege aufeinander – fernab von Schuldzuweisungen.

Johanna: Eigentlich hat mich die Diabetologie durch Zufall gefunden: Es war eine ausgeschriebene Stelle, für die ich erst zweite Wahl war.  Ich wollte aber immer Innere Medizin machen, weil mich bis heute sehr fasziniert, wie fein wir an Schrauben drehen und im Körper damit Prozesse ändern bzw. im besten Fall verbessern können. Daher bin ich heute sehr dankbar dafür. Gerade Adipositas zeigt, wie wenig einfache Parolen wie „weniger essen, mehr bewegen” bewirken. Wenn es so simpel wäre, hätten wir die Trendwende längst geschafft. So wie beinahe überall gilt: Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme, und die Erkrankung Adipositas ist viel komplexer als die meisten Menschen glauben.  Im Alltag erlebe ich immer wieder, wie stark Körpernormen Diagnosen verzerren. Knie- oder Migränebeschwerden werden beispielsweise vorschnell aufs Gewicht geschoben. Dabei verdienen Patient*innen es, dass ihre Probleme ernst genommen werden – und zwar unabhängig von der Zahl auf der Waage. Genau das ist für mich der Kern dieses Fachs: den Menschen hinter den Normen sehen und gemeinsam realistische, individuelle Therapiewege finden.

 

Euer neues Buch „Das Gewicht unserer Körper“ befasst sich mit Bodyshaming in der Medizin – es soll bewusst kein Abnehmbuch sein. Wieso braucht es genau so ein Buch?

Beide: Weil Stigmatisierung unwürdig ist und krank macht. Es verhindert Diagnosen, erschwert den Zugang zu Therapien und mindert die Lebensqualität. Zudem legitimiert es strukturelle Lücken: Es gibt keine Pfade, keine Erstattung und keinen Rechtsschutz. Wir bündeln drei Ebenen: Adipositas als chronische, multifaktorielle Erkrankung, Analyse von Diskriminierung und konkrete Hebel für eine würdige Versorgung.

 

Gab es berufliche oder persönliche Schlüsselmomente, in denen die strukturelle Diskriminierung von mehrgewichtigen Menschen für euch besonders deutlich wurde?

Bianca-Karla: Jede Interaktion mit den Chefärzt*innen ist eine Erinnerung daran. Das liegt nicht daran, dass die Kolleg*innen „böse“ wären – sie machen ihre Arbeit gründlich –, sondern daran, dass es strukturell nicht möglich ist, dass Medikamente erstattet werden, bis die Politik tätig wird und eine Gesetzesänderung bewirkt.

Johanna:  Abgesehen davon, dass Bianca mich dazu überredet hat, sind es viele kleine, wiederkehrende Szenen: Die Patientin, der in der Praxis zuerst „Nehmen Sie ab“ gesagt wird, der abgelehnte Kostenantrag trotz klarer Indikation, der OP-Termin, der vom Gewicht abhängig gemacht wird, oder das Rezept, das in der Apotheke kommentiert wird. Oder uninformierte Kommentare bei Fachtagungen. Im Längsschnitt ergibt sich daraus ein Systembild: Es geht nicht um individuelles Versagen, sondern um institutionalisierte Barrieren. Diese Summe war der Auslöser. Und vielleicht auch der Austausch mit Bianca, um den Frust, den diese Geschichten in einem auslösen, abzubauen. Bianca hatte dann die Idee, das aufzuarbeiten.

 

Euer Buch ist auch eine feministische Streitschrift: Beim Lesen stellen wir fest, dass Fettfeindlichkeit auch im Zusammenhang mit anderen Faktoren betrachtet werden muss. Wie hängen Fettfeindlichkeit und Diskriminierung im Gesundheitssystem mit anderen Diskriminierungsformen wie Misogynie, Rassismus und Klassismus zusammen?

Bianca-Karla: Diese Dinge haben wir selber beim Schreiben des Buches festgestellt, nachdem wir uns vertieft mit Fettfeindlichkeit beschäftigt haben. Fettfeindlichkeit ist ein Intersektionalitätsproblem. Frauenkörper werden stärker normiert und moralisiert, Reproduktion, Sexualität und Erscheinungsbild sind überproportional vom Patriarchat reguliert.

Johanna: Historische und aktuelle Stereotype koppeln „Dicksein“ an „Unkontrolliertheit“ und „Wertlosigkeit“ – mit realen Folgen für Diagnostik und Therapie. Rassismus spielt hier auch eine große Rolle, hinzu kommt Klassismus. Wer weniger Zeit, Geld, Wohnraum und Pausen hat, hat schlechtere Voraussetzungen für Gesundheit und weniger Zugang zu Versorgung, und wer mehrere dieser Merkmale „mitbringt“, erlebt bei gleicher medizinischer Ausgangslage häufiger eine schlechtere Behandlung. Und allein bei der Beantwortung dieser Frage ist es schwer, kurz und prägnant zu bleiben. Die öffentliche Kritik beziehungsweise Häme an der Körperform unserer Gesundheitsministerin hat mich zum Beispiel wirklich schockiert.

 

Wie können wir verlernen, Gewicht unmittelbar mit Bewertung oder einer unterstellten Idee von Gesundheit (die zudem moralisch konnotiert ist) zu verbinden?

Bianca-Karla: Das ist schwer. Denn wir bekommen es so „eingetrichtert“ und hinterfragen es kaum. Wir haben die Chance, Kindern beizubringen, dass das Menschsein in verschiedenen Körperformen erlebt wird und, dass das an sich etwas Schönes ist.

Johanna:  Ich glaube, prinzipiell zu bewerten, ist zutiefst menschlich, das passiert sehr rasch und fast immer unterbewusst. Aber wir sollten uns dann zur Ordnung rufen und das korrekt einordnen, und hier spielen unsere Sprache, aber auch Aufklärung und Bildung eine große Rolle. Es geht nicht darum, „politically correct“ zu sein, viel eher bestimmt Sprache unser Denken, und das Wort „dick“ soll nicht mit moralischer Wertung zusammenhängen. Außerdem sagt uns die Wissenschaft, dass Adipositas als neuro-metabolische Erkrankung zu begreifen ist; die Diagnose ist keine „Blickdiagnose“ mehr. Wir sollten an Evidenz glauben und nicht an irgendwelche Social Media Mythen.

Bianca: Je mehr wir die Evidenz zu Stigmafolgen kennen, können wir verstehen, dass der Fehler im gesellschaftlichen Umgang Spuren bei Betroffenen hinterlässt.

 

Was muss sich ganz konkret in den Strukturen im Alltag und in der Medizin, in der Ausbildung, im Umgang im Gesundheitswesen ändern, damit ein Bewusstsein für die häufig lebensgefährliche Diskriminierung von Mehrgewichtigen entsteht und mehrgewichtige Menschen respektiert und ernstgenommen werden?

Bianca-Karla: Wer A sagt muss auch B sagen, wer Verhaltensprävention einfordert, muss auch Verhältnisprävention ermöglichen. Wir brauchen strukturelle Veränderungen statt moralischer Appelle. Das beginnt eben bei der Verhältnisprävention: Es braucht verbindliche Standards für die Verpflegung in Schulen und Kindergärten, eine klare Lebensmittelkennzeichnung und eine Beschränkung von Werbung für Kinder. Ziel ist es, den gesunden Weg zum einfachsten zu machen. Gleichzeitig muss Adipositas endlich als chronische Erkrankung anerkannt werden, wie es in Großbritannien bereits der Fall ist, damit Therapieprogramme und deren Erstattung selbstverständlich werden. Es ist unhaltbar, dass Betroffene die Therapiekosten selbst tragen müssen, während andere chronische Krankheiten vollständig abgedeckt sind.

Johanna: In der Klinik sehe ich täglich, wie sehr Strukturen Menschen ausschließen. Blutdruckmanschetten, Betten und Stühle sind für den „Durchschnittskörper“ konzipiert – nicht für die Realität. Hinzu kommt die Ausbildung: In der Schule wird Wissen über gesunde Ernährung und Bewegung nicht vermittelt.  Ärzt*innen lernen kaum, Adipositas evidenzbasiert und ohne Stigma zu behandeln. Wir brauchen die Aufnahme der Adipositas-Medizin in der ärztlichen Ausbildung und im Medizinstudium. Auch rechtlich muss sich etwas ändern: Eine Verankerung von Gewicht als Diskriminierungsmerkmal im Gleichbehandlungsgesetz wäre ein klares Signal. Auf Systemebene sind Disease-Management-Programme für Adipositas, interdisziplinäre Zentren, ein flächendeckender Zugang zu Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie sowie zu wirksamen Medikamenten notwendig. Ich bin auch ein großer Fan der Eigenverantwortung und der mündigen Patientin oder des mündigen Patienten, aber man muss die Menschen ebenso dazu befähigen. Das geht nur durch Steigerung der Gesundheitskompetenz und die Möglichkeit von suffizienten Therapien für Betroffene – eben nicht nur für Betroffene, die sich Therapien auch leisten können. Und wenn man jetzt als Argument die angespannte finanzielle Lage anführt, so muss man ganz klar sagen, dass es zahlreiche Studien gibt, die belegen, wie rasch sich Adipositastherapie auch für den Staat „rechnet“.

Beide: Würde darf keine Option sein, sondern muss zum Standard werden – im Alltag, in der Medizin und in der Politik. Und das nicht nur, wenn es um Themen wie assistierten Suizid geht.

 


Über Bodyshaming, die historische Entwicklung von Körperidealen und eine notwendige Revolution des Gesundheitssystems

Die Autorinnen und Ärztinnen kämpfen für geeignete medizinische Behandlungen, für Anerkennung und die Zerschlagung von Fettfeindlichkeit. Für einen würdevollen Umgang, der einer humanistisch-solidarischen Gesellschaft angemessen ist. Sie beschreiben Lösungswege, Ideen zur Veränderung und Visionen, machen deutlich, warum Respekt und Mitgefühl wichtiger sind als Abnehmtipps. Denn: Ein Gesundheitssystem in Sozialstaaten darf kein Gesundheitssystem sein, in dem mehrgewichtige Personen, Frauen oder auch arme Menschen ausgeschlossen werden. Dieses Buch ist eine feministische Streitschrift, die besagt: Schluss mit der Tabuzone Fett!

Erhältlich online und überall, wo es Bücher gibt.

„Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt.“ Universitätsprofessorin Anne Siegetsleitner zu Fragen der Ethik in der Forschung

Georg Haderer wirft in seinem Kriminalroman „Seht ihr es nicht?“ die Frage auf: Was darf Wissenschaft und wo stößt sie an ihre moralischen Grenzen? Wir haben mit Univ.-Prof.in  Mag.a Dr.in Anne Siegetsleitner darüber gesprochen, was überhaupt unter den Begriffen „Moral“ und „Ethik“ zu verstehen ist,  welche Herausforderungen im Bereich der Technik am drängendsten sind und ob eine „Angst vor den Maschinen“ gerechtfertigt ist.

Oft spricht man sehr allgemein über die Begriffe „Moral“ und „Ethik“. Religiöse Menschen beziehen sich dabei gern auf religiöse Schriften wie die Bibel oder den Koran, andere wiederum richten sich nach Gesetzen. Wonach richten sich Ethiker*innen, wenn sie über „moralisch richtiges Verhalten“ sprechen?

Das hängt ganz davon ab, wen Sie meinen, wenn Sie von „Ethiker*innen“ sprechen. Vielfach wird heute das Wort „Ethik“ einfach anstatt „Moral“ verwendet, weil es besser klingt, weniger streng und moralinsauer. Menschen richten sich dann nach ihren persönlichen Maßstäben oder jenen ihrer Moralgruppe, sehr häufig einer religiösen Gruppe, treten aber als „Ethiker*innen“ auf. Wer sich vormals als Moraltheologe auswies, nennt sich heute eben oft „Ethiker“. Wer als Soziologin bestehende moralische Haltungen z.B. in der Medizin im Rahmen der empirischen Methoden des Faches erforscht, gibt persönliche moralische Urteile ab und bezeichnet sich als „Ethikerin“. KI-Expert*innen haben eine persönliche moralische Einstellung, und schwupps haben wir angeblich neue „KI-Ethiker*innen“. Eine Juristin leitet eine Ethikkommission und sieht sich deshalb als „Ethikerin“. Dadurch, dass sich diese Menschen als „Ethiker*innen“ bezeichnen, wird ihr spezifischer moralischer Standpunkt jedoch gut verdeckt. Das kann unüberlegt passieren oder als bewusste Immunisierungsstrategie eingesetzt werden.

Dass meist weniger hinterfragt wird, wenn jemand von „Ethik“ anstatt von „Moral“ spricht, liegt daran, dass in einem anderen Verständnis von „Ethik“ mit dem Gemeinten ein höherer Anspruch an Objektivität oder zumindest Intersubjektivität verbunden ist. Dann ist „Ethik“ nicht gleichbedeutend mit „Moral“. Die wichtigste Bedeutung von „Ethik“ in einer solchen Unterscheidung ist, dass mit „Ethik“ eine Teildisziplin der Philosophie bezeichnet wird, die Moral bzw. verschiedene Moralen philosophisch reflektiert. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Vieles, was Ethiker*innen in diesem Sinne tun und worin ihre Kompetenz liegt, besteht nicht darin, moralische Urteile abzugeben. Ethik nimmt keine Moral einfach hin, sie fragt nach Begründungen, nach der Möglichkeit und Reichweite von Begründungen, danach, was vorausgesetzt wird, ohne offengelegt zu werden. Ethiker*innen sind deshalb in machen Umgebungen gar nicht gerne gesehen. Sie stören das Nichthinterfragte. Das gilt meiner Erfahrung nach nicht zuletzt im stark traditionell geprägten Tirol.

Wenn Ethiker*innen im philosophischen Sinne moralische Urteile abgeben, geschieht dies auf der Grundlage von offengelegten Voraussetzungen, die sich immer einer Kritik stellen. Es sind Vorschläge im gemeinsamen Ringen um eine bessere Moral, d.h. einem Normen- und Wertesystem, das dem Zweck eines guten und gerechten Lebens sowie eines gedeihlichen Miteinanders besser dient als andere Vorschläge. Ethiker*innen sind keine säkularen Priester*innen, sie können auch religiös sein, solange dieser Zweck mit einer Religion vereinbar ist. Auch der Vorschlag, sich zu diesem Zweck nach Gesetzen zu richten, würde in der Ausgestaltung von Gesetzen seine Grenze finden.

In meiner eigenen Verwendung des Wortes „Ethik“ außerhalb des fachinternen Dialogs bin ich übrigens nicht immer konsequent. Ich will mich mit den Menschen über die Inhalte austauschen, und wenn ich das durch das Wort „Moral“ erschwere, sage ich eben auch „Ethik“, zumal ich tatsächlich Ethikerin im philosophischen Sinne bin. Wichtig ist mir dazuzusagen, worin ich meine Aufgabe und Zuständigkeit sehe und worin nicht.

 

Blickt man auf die Menschheitsgeschichte, wird klar: Was als „moralisch richtig“ angesehen wird, verändert sich. Ist eine universell gültige Moral überhaupt möglich? Gibt es einen Kern der Moral?

Nehmen wir den vorhin genannten Zweck als Formulierungsvorschlag für das Gemeinsame von Moralen, nämlich einem guten und gerechten Leben sowie einem gedeihlichen Miteinander zu dienen. Dass es auch in moralischer Hinsicht geschichtliche Veränderungen gibt, muss nicht heißen, dass es kein verbindendes Verständnis vom Zweck moralischer Beurteilung gibt. Es können sich ja die Umstände ändern oder eben in unterschiedlichen Regionen, Ländern, Gesellschaften unterschiedliche Rahmenbedingungen vorliegen. Es können aber auch im Laufe der Geschichte Vorurteile widerlegt werden, etwa jenes, dass Frauen weniger gut denken können als Männer. Dann ändern sich die spezifischen moralischen Urteile, obwohl sich an der grundsätzlichen Ausrichtung dessen, was mit „Moral“ gemeint ist, nichts geändert hat. Und es kann die geschichtliche Erfahrung geben, dass in einer Gesellschaft nicht immer alle dieselbe Vorstellung vom guten Leben haben müssen, sondern es ausreicht, einander auf individueller Ebene genügend Toleranzräume zu gewähren und gerade dadurch gut miteinander leben zu können. Eine solche Moral der Freiheitsräume, die einander gewährt werden, könnte universell gültig sein. Aber selbstverständlich ist sie nicht mit allem vereinbar, nämlich nicht mit fundamentalistischen Ansprüchen. Ob diese religiös oder nicht religiös sind, ist gar nicht der entscheidende Punkt.

Außerdem steht nicht fest, dass alle, die von „Moral“ sprechen, den oben genannten Zweck verfolgen. Und wenn wir darauf kommen, dass wir im Grundsätzlichen von Unterschiedlichem sprechen, dann ist es ratsam, das ausdrücklich kenntlich zu machen. Auch hierbei können Ethiker*innen im philosophischen Sinne äußerst hilfreich sein.

 

An der Universität Innsbruck lehren Sie u.a. zu Fragen der Wissenschafts- und Technikphilosophie. Welche ethischen Herausforderungen sind gegenwärtig am aktuellsten?

Die moralischen Herausforderungen, mit denen sich auch die Ethik im philosophischen Sinne beschäftigt, sind mannigfach. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen seit gut einem Jahr sicherlich jene in Verbindung mit (generativer) KI. Abgesehen von den positiven Entwicklungen, die hiermit z.B. in der Medizin verbunden sein können, sehe ich als zentralen Punkt die Frage nach der Verantwortung bzw. in der irrtümlichen Annahme, Verantwortung an KI-Systeme abtreten zu können.

 

Wenn von Menschen programmierte Maschinen Handlungen ausführen, stellt sich oft diese Frage nach der Verantwortung, wenn etwas schief geht. Wo sehen Sie die Verantwortung: bei den Forschenden, den Entwickler*innen oder doch der Maschine selbst?

Sicherlich nicht bei der Maschine. Maschinen – zumindest das, was wir gegenwärtig „Maschine“ nennen – können nichts verantworten. Sie können in dem Sinne, den Verantwortung voraussetzt, nicht einmal handeln. Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt. Vielmehr braucht es vertrauenswürdige und verantwortungsvolle Menschen, die nur zuverlässige Technik entwickeln und einsetzen.

Abgesehen von der Versuchung, Verantwortung abschieben zu wollen, spielt hier nicht zuletzt das im Grunde verblüffende und beeindruckende menschliche Vermögen eine Rolle, mit Gegenständen oder Programmen so umzugehen, als ob sie Menschen wären oder über dieselben Fähigkeiten wie diese verfügen würden. Diese Fähigkeit kann uns leider auch in die Irre führen. Es fällt uns schwer, diesem Sog der Illusion nicht zu erliegen. Menschen glauben dann, ein Chat-Programm wäre eine Person, sie sagen „bitte“ und „danke“ zu ihm oder sie verlieben sich in Sexroboter, deren Entwicklung übrigens noch immer enttäuscht. Das ist wie ein Sprechen mit dem angeblichen Männchen im Radio nichts, was zu verbieten wäre, aber wir sind im Sinne des Zwecks der Moral, so meine Einschätzung, nicht gut beraten, unseren Umgang mit Technik und den Einsatz von Technik im Umgang miteinander auf solche verfehlten Annahmen zu stützen. Eine philosophische Ethik, die wissenschaftlich informiert und fundiert argumentiert und selbst die (latente) Technikfeindlichkeit manch geltender Moralsysteme hinterfragt, kann bei der Suche nach guten Lösungen durchaus einen bedeutenden Beitrag leisten, und zwar jenseits von solch pauschalen Ansichten, Systeme Künstlicher Intelligenz würden die Menschheit insgesamt bedrohen oder retten.

 

Sie teilen also nicht die Ansicht jener, die fürchten, die Menschheit schaffe sich durch Technologie selbst ab. Und was wäre die Alternative? Gibt eine „Rückkehr zur Natur“?

Eine „Rückkehr zur Natur“ gibt es nicht, weil es „die“ Natur nicht gibt. Viele nennen das, was sie sich als Ideal vorstellen, das Natürliche. Sie stellen dann beispielsweise eine „natürliche Empfängnis“ einer „künstlichen“ gegenüber und verbinden damit bereits eine Wertung.

Dass sich die Menschheit gleich abschaffen würde, sehe ich nicht. Was in einem bestimmten Rahmen abgeschafft wird oder werden könnte, sind bestimmte Tätigkeiten oder ganze Berufsfelder. Es drohen eine weitere Erosion privater Sphären, erhöhte Abhängigkeiten von global mächtigen Konzernen und einiges mehr, das es unter der Perspektive eines guten und gerechten Lebens zu beurteilen gilt. Wir sollten hier jedoch weniger auf die Technologie selbst blicken als auf die Menschen und Unternehmen dahinter. Technologie weder zu verherrlichen noch zu verteufeln, sondern mit Bedacht einzusetzen, das wäre intelligent. Je mehr wir das schaffen, umso weniger bedroht müssen wir uns sehen.

Unsichtbare Bedrohung in „Seht ihr es nicht?“ von Georg Haderer.

 

Als Helena Sartori, deren Eltern und ihr Sohn tot aufgefunden werden, wird Philomena Schimmer hinzugezogen: Die jugendliche Tochter Sartoris, Karina, ist spurlos verschwunden – und Schimmer soll sie suchen.
Helena Sartori war leidenschaftliche Wissenschaftlerin, wollte die Welt mit ihrer Forschung an Nanobots verändern . Und dann plötzlich hat sie sich – einige Zeit vor ihrer Ermordung – völlig zurückgezogen, in die wlanfreie Einöde. Was ist passiert? Ist ihr die Arbeit an den mikroskopisch kleinen, mit freiem Auge nicht sichtbaren Robotern entglitten – und hat das Sartori und ihre Familie in den Abgrund gestürzt? Ist Karina am Leben? Hat man sie entführt oder ist sie selbst geflohen? Quälende Fragen für Philomena Schimmer, der es immer schwerer fällt, die professionelle Distanz zu wahren, je länger von Karina jede Spur fehlt.

Und dann klopft plötzlich ein alter Fall an Schimmers Tür, eine junge Frau aus Philomenas Vergangenheit, die sie damals nicht retten konnte …

Wurden aus nützlichen Nanobots unkontrollierbare Mini-Monster? Finde es hier heraus.