Autor: nina

Coming of Age in Österreich: Drei Haymon-Autor*innen im Interview

Ach, Kindheitserinnerungen: Mit dem Postbus ewig in die Schule brauchen, Jollyeis im Freibad im Sommer genießen, Skifahren lernen (bevor man überhaupt Lesen und Schreiben kann) … Viele Erinnerungen teilen wir mit anderen, viele sind ganz unterschiedlich: Es gibt unzählige verschiedene Lebenswelten in diesem Land, so viele einzigartige Kindheiten und Coming-of-Age-Erlebnisse in Österreich. Vieles, was fast schon als kollektives Kindheitsgedächtnis zählt, ist nur eine Seite, eine Perspektive. Jede*r hat schöne, aber auch schwere Erinnerungen. Vielleicht auch welche, an die man nicht so gern zurückdenkt oder auch erst als Erwachsene*r richtig einordnen kann. Was hat sich seitdem geändert, was ist genau gleichgeblieben? Was vermisst man – und was gar nicht? Im Interview erzählen Nada Chekh, Herbert Dutzler und Precious Chiebonam Nnebedum vom Eiskunstlaufen und Comiclesen, von den Süßigkeiten, die unsere uns Eltern niemals erlaubt hätten (hätten sie davon gewusst) und von den Lektionen, die sie erst heute verstehen gelernt haben …

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. In den 1990ern und 2000ern wuchs sie im Wiener Gemeindebau auf. Heute schreibt sie als Journalistin darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt.
Foto: © Zoe Opratko

Was ist deine prägendste oder präsenteste Kindheitserinnerung?

Nada Chekh: Es gibt viele Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mir – je nach Gefühlslage – in den Kopf kommen. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich unbedingt Eiskunstläuferin werden. Mich in einem Verein anzumelden, konnten sich meine Eltern damals nicht leisten, aber dafür hat mein Vater mich mehrmals die Woche zu einem Eislaufplatz gebracht, wo ich nach der Schule abends zwei Stunden lang üben konnte. Einmal hatte ich den ganzen Platz im Außenbereich für mich alleine, und es schneite gerade so richtig dicke Flocken, und der Himmel war ganz erleuchtet davon, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war. Ich drehte ganz glückselig ein paar einfache Pirouetten vor mich hin und spürte so eine Ruhe in mir, wie selten zuvor. Lustigerweise erinnert mich der Song „Blue Dress“ von Depeche Mode an diesen Moment, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob dieses Lied damals über die Anlage gespielt wurde.

Herbert Dutzler: Wenn ich versuche, mich zurückzuerinnern, fallen mir fast nur Szenen im Freien ein, wo ich mit anderen Kindern zusammen war. Meist beim Radfahren, Fußball spielen oder einfach nur im riesigen Haselnussbusch herumhängen. Ein besonderer Nachmittag sticht aber heraus: Ich war in Bad Aussee bei einem Schulfreund zu Besuch, der eine riesige Sammlung von Micky-Maus-Heften hatte. Ich bin den ganzen Nachmittag auf der Veranda gesessen, der Regen rauschte durch die Bäume im Garten, und ich war völlig in die Comics vertieft.

Precious Chiebonam Nnebedum: Die präsenteste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe, muss mein siebter Geburtstag sein. Das war das Jahr, in dem ich jeden einzelnen Tag genossen habe, und es scheint wirklich sehr, sehr bedeutsam in meiner Erinnerung zu sein. Um ehrlich zu sein, habe ich an dem Tag nicht viel gemacht, aber eine Sache, die ich sehr lebhaft erinnere, ist, dass ich zu Hause einen kleinen Kuchen mit meinen Cous*inen gegessen habe, die zu Besuch gekommen waren. Danach habe ich ein bisschen Geld von der Familie bekommen, und es war nicht einmal viel, aber für eine Siebenjährige war ich reich. Ich bin damit mit meinen Cous*inen zum Laden an der Ecke gegangen und habe Süßigkeiten und Milchpulver gekauft, denn das war für uns damals eine Delikatesse, R.I.P. an unsere Zähne.
Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube ich habe auch eine Geburtstagskarte bekommen. Es muss eine rosa und blau glitzernde Geburtstagskarte gewesen sein, ich habe vergessen, von wem. Und ich war einfach glücklich. Es ist nicht viel passiert, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass dieses Alter der Höhepunkt war. Und jedes Mal, wenn ich denke, oh Mann, Erwachsensein ist eine Abzocke, erinnere ich mich an mein siebtes Jahr zurück. Denn damals war ich einfach am glücklichsten.

Herbert Dutzler ist in den 1960er Jahren in Altaussee im Salzkammergut großgeworden, heute schreibt er Bestseller.
Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

 

Was waren die größten Kämpfe, die du als junge*r Erwachsene*r ausfechten musstest?

Precious Chiebonam Nnebedum: Ich bin sehr dankbar und erkenne an, dass ich zu den wenigen POC in Österreich gehöre, die das Privileg hatten, in sehr jungen Jahren die Möglichkeit geboten zu bekommen, einflussreich zu werden und eine beeindruckende Liste von Erfolgen anzuhäufen. So sehr ich weiß, dass dies eine lobenswerte Tatsache ist, ging es auch mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Fragen einher. Eine der größten hatte definitiv damit zu tun, ob ich überhaupt das Recht hatte, in bestimmten Räumen zu sein, in die ich hineinging. Ich betrat politische Räume, ich betrat leitende, autoritäre Räume und Rollen, und jedes Mal hinterfragte ich die Tatsache, ob es einer jungen Schwarzen Frau erlaubt war, dort zu sein, ob sie dort sein sollte und ob sie überhaupt etwas Wertvolles beizutragen hatte oder ob sie einfach nur eine Beobachterin sein durfte. Ich denke, das Schwierige daran war, dass mir klar wurde, dass das nur in meinem Kopf war, aber aus irgendeinem Grund war es dennoch sehr schwer, diese Hürde zu überwinden und einfach zu handeln.
Ich muss wirklich Anerkennung zollen, wo Anerkennung gebührt, und offenlegen, dass es nur durch die Gnade Gottes war, dass ich in den meisten Fällen tatsächlich gehandelt und gesprochen habe. Ich habe eine Einstellung entwickelt, die besagt: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht ich, wer dann?“ Ich könnte nie sagen, dass es allein meine Leistung war. Ich verdanke das dem Support und Rückhalt von den Menschen um mich herum – meinen Geschwistern, meiner Familie, meinem Partner, meiner Community. Menschen, die Dinge in meinem Leben gesehen und über mich gesprochen haben, so oft, dass ich einfach daran glauben musste. Ich musste daran glauben, um weiterzukommen, und letztendlich habe ich das getan.

Herbert Dutzler: Da ging es vor allem um Kleidung und Haare. Meine Eltern hatten wenig Verständnis dafür, dass es unbedingt Jeans sein mussten, und noch dazu welche einer bestimmten Marke (Levis). Später mussten Jeans her, die einen V-Cut am Knie hatten, der irgendwann in den Siebzigern ein modisches Must-have war. Und unten mussten sie so weit ausgestellt sein, dass man die Schuhspitzen drinnen verstecken konnte. Die Haare waren auch ein ständiges Thema. Sie mussten zumindest so lang sein, dass man sie unterhalb der Ohren zusammenführen konnte, sonst war man komplett und völlig out. „So stellt sich der Bub nicht unter den Christbaum!“, hieß es, wenn die Frisur für die Feiertage dem Vater unpassend erschien.

Nada Chekh: Ich glaube, dass im Allgemeinen der Kampf um meine Privatsphäre der schwierigste in meiner Jugend war. Also nicht nur räumlich – es gab in unserer Wohnung nur drei Schlafzimmer für fünf Kinder und meine Eltern – sondern auch persönlich. Solange man finanziell und strukturell von seiner Familie abhängig ist, gelten auch deren Regeln unter dem Dach. Je erwachsener ich wurde, desto mehr spürte ich gewisse Rollenbilder, die mir als Frau auferlegt wurden. Dazu gehörte nicht nur, keinen Kontakt zum anderen Geschlecht zu haben, sondern auch eine Unfreiheit über meinen eigenen Körper. Als Jugendliche reagierte ich sehr empfindlich und frustriert auf diese Kontrolle, das hat mich ziemlich geprägt. Ich habe mich zudem nie mit meiner Religion wirklich identifiziert, was mich eine Stufe weiter von meiner Familie, meiner Muttersprache und den Sitten entfremdet hat.

 

Precious Chiebonam Nnebedum wuchs in Nigeria und Österreich auf. Nachdem sie zahlreiche Poetry-Slam-Bühnen gestürmt hat, lebt die Lyrikerin und Musikerin heute in Wien.
Foto: © Ella Börner

Gibt es etwas, das dir deine Eltern früher vermittelt haben, das für dich heute noch sehr wichtig ist? Oder gibt es vielleicht Haltungen, Werte, die dir deine Eltern mitgegeben haben, die du irgendwann beim Älterwerden verworfen hast?

Herbert Dutzler: Meine Mutter hat mich ab der ersten Klasse Volksschule wöchentlich in die Bibliothek mitgenommen, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Das Regal mit den Büchern für Leseanfänger war für mich die reinste Wunderkammer, und ich hatte alle Bücher darin noch vor dem Ende der ersten Klasse durch. Die politische Einstellung meiner Eltern und ihre Haltung fremden Menschen gegenüber ist ein Wert, den ich mit etwa 16 endgültig verworfen habe. Ihre Haltung war von distanzloser Verherrlichung einer schrecklichen Vergangenheit geprägt, was später auch zu gröberen Auseinandersetzungen geführt hat, als mein politisches Interesse erwachte und in eine völlig andere Richtung ging.

Nada Chekh: Heute finde ich es sehr schade, dass ich mich in meiner zweiten Muttersprache Arabisch niemals wohlgefühlt habe, obwohl meine Eltern mehrere Offensiven dazu gestartet haben, dass ich richtig lesen und schreiben lerne. Leider hat es mit Diktaten von Koransuren und Gebeten beim Sprachunterricht kaum funktioniert, weil ich nicht religiös war. Das ist so eine Sache, die ich meinen Eltern beim Aufwachsen vorgeworfen habe – dass sie mir die arabische Sprache vor allem über die islamische Religion näherbringen wollten, obwohl ich mich sehr heftig dagegen gesträubt habe. Auch über die Tatsache, dass die Bekannten meiner Eltern sich ohne Weiteres über meinen deutschen Akzent lustig machen konnten, habe ich mich lange geärgert. Mittlerweile sehe ich das gelassener, womöglich weil ich stattdessen Russisch gelernt habe und zuhause mit meinem Mann eine quasi „neue Muttersprache“ spreche, die ich an meine Kinder weitergeben würde, sollte ich eines Tages welche haben.

Precious Chiebonam Nnebedum: Eine der vielen Haltungen, die ich von meinen Eltern übernommen habe, ist die „offene-Haustür-Regel“. Unser Zuhause war immer offen, für jeden, seien es Cous*inen, die kamen und übernachteten. Wir hatten Tanten, Onkel, wir hatten Freund*innen, die kamen und übernachteten. Es wurde nie wirklich in Frage gestellt, ob wir genug zu bieten und teilen hatten, es war einfach die Tatsache klar, dass Menschen Bedarf hatten und wir immer bereit waren, zu helfen. Das ist etwas, dem ich auch heute noch folge. Immer wenn Freund*innen oder Familie oder wer auch immer in meiner Nähe sind, ist meine erste Aussage: „Hast du einen Platz zum Schlafen? Möchtest du bei mir bleiben?“ „Möchtest du abhängen? Ich kann für dich kochen. Du kannst kommen und so lange bleiben, wie du möchtest.“ Das ist mir zuallererst von meinen Eltern eingeprägt worden, bevor es später von Freund*innen und meiner Community verstärkt wurde.
Es gibt jedoch auch bestimmte Dinge, die ich von meinen Eltern gelernt habe und von denen ich mich nun langsam distanziere. Eines davon wäre die Vorstellung, dass Kreativität oder der Wunsch, kreativ zu arbeiten und eine Karriere daraus zu machen, definitiv in einer Sackgasse enden wird. Mir wurde tausendmal gesagt: „Ja, du kannst schreiben, du kannst auftreten, du kannst singen, du kannst all das tun. Aber du brauchst einen richtigen Job. Du brauchst einen richtigen Abschluss.“ Ehrlich gesagt sehe ich die Wahrheit in dieser Angst. Aber ich weiß trotzdem, dass es so viel Potenzial gibt, wenn man die Disziplin und die Arbeit und den Aufwand investiert, um eine Karriere im kreativen Bereich zu starten und aufrechtzuerhalten. Etwas, das ich immer noch anstrebe.

Welcher Sache – das kann ein Lied, eine Fernsehsendung, eine Süßigkeit etc. sein –, die es nicht mehr gibt, träumst du heute noch hinterher?

Nada Chekh: Ui, da gibt es mehrere Sachen. Es gab in Wien ein supertolles Café namens Berfin, das ich als junge Studentin mit meiner Mutter und meinen Geschwistern gerne besucht habe. Es hatte ein wunderbares orientalisches Flair, ohne kitschig zu sein. Wir waren früher manchmal sogar mehrmals die Woche dort, haben Shisha geraucht und miteinander getratscht, da habe ich sehr schöne Erinnerungen daran. Und das erste (und letzte) Mal, als ich in Ägypten war, war mit sechs Jahren. Ich kann mich gut an den Strand in Alexandria erinnern, wo es Verkäufer gab, die Freska – so eine Art Honigwaffel – verkauften. Als Kind habe ich diese Süßigkeit geliebt, aber eben nur bei diesem einen Besuch gegessen. Bis heute denke ich an diese großen, runden Waffeln und frage mich öfter, ob ich sie jemals wieder essen werde.

Herbert Dutzler: Die großen Samstagabendshows, die es heute kaum mehr gibt, waren absolute Straßenfeger, und die ganze Familie saß gebannt vor dem Fernseher. Die beliebteste von allen war „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff. Und den habe ich sogar einmal auf dem Balkon seines Pensionszimmers in Bad Aussee gesehen (von unserer Terrasse aus). Das war eine echte Sensation. Allerdings gibt es die meisten dieser Shows auch heute noch zu sehen – Youtube vergisst nichts!

Precious Chiebonam Nnebedum: Definitiv die Fernsehsendung: „The Grim Adventures of Billy and Mandy“ aus meiner Kindheit!

„Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden.” Bettina Balàka im Interview

Zwei außergewöhnliche Frauen voller Wut und Ambitionen, ein Vater, dessen Erfolg auf bröckelnden Säulen errichtet ist und eine Revolution, die nicht nur einen ganzen Kontinent wachrüttelt. In ihrem neuen Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ erzählt Bettina Balàka eine Geschichte von Magie und Wissenschaft, Feuer und Forschung. Sie erschreibt eine Bühne, für Reichenbachs Tochter Hermine, die wahre Protagonistin in der Lebensgeschichte des Freiherrn und seiner Suche nach der Existenz von „Od“,  eine Kraft, die aus allen Dingen und Lebewesen strömt – doch sehen kann sie kaum jemand. Wie ihre Schwester Ottone verliebt sich Hermine in einen Mann, der ihr ferngehalten wird. Beide Töchter werden vom Vater gefördert – Hermine in ihren Forschungen, Ottone in der Musik – aber doch zurückgehalten. Und beide brechen aus.

Welche Möglichkeiten hat eine Frau des 19. Jahrhunderts wirklich?“ eine der leitenden Fragen, die uns in Ihrem Buch „Der Zauberer vom Cobenzl“ begleiten. Hermine und Ottone werden beide durch die Zeit, in der sie leben, eingeschränkt. Obwohl sie einen Vater haben, der die Talente der beiden fördert, anstatt sie zu verstecken – eine unterstützende Haltung, die nicht üblich war. Ottone wird als talentierte Musikerin gefördert, Hermine unterstützt ihn mit ihrem wissenschaftlichen Eifer und Geschick. Aber wo endet die Bereitschaft von Reichenbach, seine Töchter wirklich frei sein zu lassen?

Zu dem Zeitpunkt, als Hermine und Ottone sich ernsthaft verlieben, hat Reichenbach bereits eine Reihe von traumatischen Verlusten hinter sich. Innerhalb weniger Jahre sterben seine geliebte Gattin, sein Vater sowie sein treuer Freund und Mentor Fürst Salm. Dann entzieht man Reichenbach auch noch Anstellung und Zuhause in Blansko, sein Bruder begeht Selbstmord. Durch seine fragwürdige Od-Forschung verliert er in der wissenschaftlichen Welt an Reputation, infolge des Gerichtsverfahrens gegen den jungen Fürsten Salm, den Sohn seines Freundes, wenden sich weitere gesellschaftliche Kreise von ihm ab. In dieser Situation sind die Töchter die einzigen Menschen, die ihm noch aus seiner Glanzzeit bleiben, sie repräsentieren für ihn Kontinuität und Stabilität in seiner brüchig gewordenen Existenz. Die Methode, mit der er sie zu halten versucht, entspricht dem patriarchalen Zeitgeist: Er erklärt die von ihnen gewählten Männer für sozial inadäquat und untersagt seinen erwachsenen Töchtern den Umgang respektive die Heirat – und damit den Auszug. Die zugrundeliegende Motivation aber ist gewissermaßen zeitlos: die Angst, eine vertraute Lebenssituation für eine völlig neue aufzugeben. Man könnte dabei durchaus auch an Jelineks „Klavierspielerin“ denken, wo die Mutter ebenfalls alle Männer für unzulänglich erklärt, um die Tochter bei sich zu behalten.

Hermine ist – wie ihr Vater – der Forschung verfallen. Entgegen den damaligen Rahmenbedingungen kann sie diese Leidenschaft ausüben. Der Zugang zur Universität ist ihr zwar verboten, jedoch kann sie bei Dr. Unger in Graz am Joanneum ihre Forschung etablieren. Auch er fördert sie sehr. Öfter als selten ist jedoch ihr Ehestand Thema. „In der wissenschaftlichen Arbeit beherrscht sie alles so gut wie ein Mann – wenn nicht gar besser als mancher – und sieht dabei nicht einmal schlecht aus. Aber wer will mit so einer Frau verheiratet sein?“, sagt er zu bzw. über Hermine. Hermine ärgert dies. Es ist ein altes Klischee, dass eine Frau nicht Karriere bzw. Erfolg und Liebe zugleich wollen kann. Beides aber macht Hermine aus. War es Ihnen in Ihrem Roman wichtig, dass Hermine nach beidem streben darf?

Hermine ist nicht bereit, hier irgendwelche Abstriche zu machen und sich dem Klischee zu beugen. Schon bevor sie sich in ihren späteren Ehemann verliebt, schwört sie, dass sie heiraten würde, „und zwar glücklich, und sei es nur, um die Ungers zu ärgern“. Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden. Dabei hilft ihr aber auch ein sehr glücklicher Zufall. Mit Carl Schuh, einem Pionier der Daguerreotypie, lernt sie einen Mann kennen, der nicht nur ihre naturwissenschaftlichen Interessen teilt, sondern sich auch durch ihre Bildung nicht bedroht fühlt und kein Problem damit hat, mit ihr auf Augenhöhe zu sprechen. Dennoch gibt Hermine mit der Eheschließung ihre wissenschaftliche Karriere auf, auch, um die Trennung vom Vater endgültig zu besiegeln. Aus heutiger Sicht wäre das nicht politisch korrekt, aber für sie ist es stimmig. Sie hat in der Botanik für eine Frau ihrer Zeit außergewöhnliche Anerkennung erreicht, nun, mit dreißig, nimmt sie sich den Raum, sich anderen Aspekten des Daseins zu widmen. Ich musste dabei durchaus an heutige erfolgreiche Frauen wie Julia Roberts denken, die sich mit der Geburt ihrer Kinder eine Auszeit vom Filmbusiness nahm und auch dazu steht, das Familienleben zu genießen.

Besonders die Natur – die Pflanzenphysiologie – ist es, die Hermine fasziniert. Schon als kleines Kind hat sie die Wiesen und den Wald geliebt, später dann (verbotenerweise) Höhlen erkundet. Warum spielt die Natur so eine große Rolle für sie?

 

© Alain Barbero

Hermine wächst im Einflussbereich zweier leidenschaftlicher Naturforscher auf: ihr eigener Vater und dessen Mentor Fürst Salm. Beide besitzen chemische Labors, sind Pioniere der Höhlenforschung, haben museumsreife Sammlungen und Bibliotheken. In den Parks und Glashäusern der Schlösser beobachtet sie die Pflanzenzucht. Von ihrem Vater wird sie intensiv gefördert, er schenkt ihr das erste Brennglas und zeigt ihr, wie man ein Herbar anlegt. Gleichzeitig ist die wilde, ungebändigte Natur ihr Sehnsuchtsort, ein Symbol der Freiheit, wo es keine Mauern und Konventionen gibt.

Die Beziehung der zwei Schwestern zueinander ist – wie es Geschwisterbeziehungen oft sind – vielschichtig und komplex. Als Kinder sind sie quasi wie Zwillinge, später wandelt sich die tiefe Verbundenheit, sie werden einander Feindinnen, aber auch das nicht wirklich. Als erwachsene Frauen ist wieder eine Annährung zu spüren. Ist es sogar Ottone schlussendlich, die Hermine auf einen Weg bringt, den sie gehen muss?

Indem Ottone als Erste den Schritt wagt, sich vom Vater zu lösen, eröffnet sie auch für Hermine diese Option. Hermine zieht aber nicht nur von zu Hause aus, um ihrem Vater gegenüber ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, sondern auch, um ihrer Schwester beizustehen. Ottone hat den geliebten Mann an eine andere verloren, ist in ihrer neu gewonnenen Freiheit traurig und allein. Als Hermine das erkennt, ist der Entschluss zu ihr zu ziehen, schnell gefasst. Wie ein Schutzengel wacht sie über ihre kleine Schwester, gemeinsam durchleben sie die aufwühlende Zeit der Revolution.

War von Anfang an klar, dass nur Hermine die Geschichte erzählen kann? Dass auch wir als Leser*innen ihr am nächsten sein sollen?

Hermine bot sich aus zwei Gründen als Erzählerin an. Erstens ist sie eine ebenso außergewöhnliche historische Figur wie ihr Vater, und zweitens hat sie lange gelebt, nämlich bis 1902 (sie wurde 83 Jahre alt). Dadurch kann sie als einzige Überlebende der Familie die Geschichte Reichenbachs bis zu dessen Tod erzählen. Sie befürchtet, dass er und all seine Errungenschaften vergessen werden könnten, doch wir Nachgeborenen wissen, dass sie selbst noch viel mehr vergessen wurde. Indem ich sie die Erinnerung an ihren Vater wachhalten ließ, wollte ich sie mit einer ganz eigenen Stimme versehen und damit ebenfalls dem Vergessen entreißen – genauso wie ihre Schwester Ottone, die ja schon mit 28 starb.

Mit Wörtern konnte man sich in die Ewigkeit einschreiben, egal, ob man sie selbst erfunden hatte oder ob sie aus dem eigenen Namen gebildet wurden.“ Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach ist einer, der stets versucht, voranzukommen. Er kann es – wie man so sagt – nicht sein lassen. Brennt darauf, in die Geschichte einzugehen. Was hat Sie an der historischen Figur so fasziniert, dass Sie diese in einem Roman verarbeitet haben?

Allein die Tatsache, dass Reichenbach so umfassend vergessen wurde, war faszinierend für mich. Er kommt zwar ab und zu als Kuriosum in Wien-Büchern vor, aber allgemein bekannt ist er keineswegs. Vor allem seine großen Leistungen in Mähren werden kaum erwähnt, was möglicherweise damit zu tun hat, dass dieser so nahe Landstrich viele Jahrzehnte durch den sogenannten „Eisernen Vorhang“ abgetrennt war. In Reichenbach personifiziert findet man einen Konflikt, der bis zum heutigen Tag anhält: Wo scheidet sich die evidenzbasierte Wissenschaft von der Esoterik und anderen Pseudowissenschaften? Von der Modernisierung der Holzverkohlung und der Eisengussproduktion über die Entdeckung des Paraffins bis zur Meteoritenforschung war Reichenbach auch nach heutigen Maßstäben ein auf der Seite des Realen und Faktischen stehender Pionier. Erst mit seiner Od-Forschung bog er in eine Richtung ab, in die ihm andere zeitgenössische Wissenschaftler nicht mehr folgen wollten. Wir leben nun in einem für viele postfaktischen Zeitalter und gerade in der Pandemie kamen wieder Debatten auf, wie es sich mit der Realität von Dingen verhält, die man nicht sehen kann: Viren, Impfungen etc. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie es mit dem Od weiterging. Ein Vierteljahrhundert nach Reichenbachs Tod wurden die Röntgenstrahlen entdeckt, die vom Menschen ja ebenfalls weder gesehen noch gefühlt werden können. Damals hofften seine Anhänger, dass nun auch die Od-Forschung rehabilitiert werden könnte, was aber bekanntlich bis heute nicht der Fall ist. Die Homöopathie dagegen, die Reichenbach leidenschaftlich ablehnte, gibt es noch immer.

Ihr Schreibprozess umfasst viel Recherchearbeit, das Sichten von historischen Dokumenten und Quellen. Wie lernen Sie dadurch die Figuren kennen, über die Sie schreiben? Wie erhalten diese Figuren ihre Charaktereigenschaften, ihre Stärken und Schwächen?

Es entsteht schon während der Recherche eine sehr enge Bindung zu den Figuren. Ich versuche, sie charakterlich komplex zu gestalten, wie reale Menschen nun mal sind – nur gute Lichtgestalten oder rein abstoßende Bösewichte fände ich langweilig. Dabei ist es mir wichtig, auch Verhaltensweisen, die wir heute ablehnen würden, im Zeitkontext verständlich zu machen. Schließlich sind wir ja alle in unseren Haltungen und Einstellungen den Einflüssen der jeweiligen Gegenwart ausgesetzt. In einer Rückprojektion über Menschen der Vergangenheit permanent überlegen den Kopf zu schütteln bedeutete ja auch anzunehmen, dass wir im Besitz der endgültigen Weisheit sind. Wahrscheinlicher ist aber, dass man sich schon in wenigen Jahrzehnten über so manches wundern wird, was uns jetzt selbstverständlich erscheint.

 

Bist du neugierig geworden? „Der Zauberer vom Cobenzl“ liegt ab 8.August in der Buchhandlung deines Vertrauens. Alle Infos zum Buch findest du hier!

„In unserer Gesellschaft gibt es offensichtlich keinen akzeptablen Grund, als Frau ein Kind zurückzulassen.“ – Fabian Neidhardt im Interview über „Nur ein paar Nächte“

Wie kann Familie aussehen? Was kann Familie sein? – Diese Fragen stehen im Zentrum von Fabian Neidhardts neuem Roman „Nur ein paar Nächte“: Ben ist Mitte 30 und hat sich sein Leben mit der 12-jährigen Tochter Mia, die er alleine großzieht, gut eingerichtet. Doch dann wird Bens Leben auf den Kopf gestellt. Sein Vater steht plötzlich vor der Tür und muss ein paar Tage bei ihm unterkommen. Und Mia wird von der Polizei nach Hause gebracht. Sie ist ausgebüxt, um ihre Mutter zu finden … Im Interview spricht Fabian Neidhardt über patriarchale Elternrollen, die Erwartungen, die an Frauen* gestellt werden, das Vater- und Sohnsein und die Komplexität familiärer Beziehungen.

 

Gleich zu Beginn des Buches tauchen wir mit Ben direkt in das Chaos ein, das plötzlich auf ihn einprasselt. Er wird schlagartig damit konfrontiert, dass er auf einmal als Vater für Mia nicht mehr genug sein könnte. Die Sorge macht sich in ihm breit, die Angst, Mia zu verlieren. Ben und seine Tochter Mia sind die zentralen Figuren in „Nur ein paar Nächte“. Wer sind sie und was macht ihre Beziehung zueinander so besonders?

Ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht so sicher, ob ihre Beziehung so besonders ist. Ben will „der beste Vater“ sein und es „besser“ machen als sein eigener Vater, aber scheitert darin natürlich. Und ich glaube, so geht es vielen jungen Eltern. Vielleicht ist besonders, dass es in diesem Fall ein Vater ist statt einer Mutter. Aber ich denke, das Streben und das Gefühl und das Scheitern im Vorhaben ist oft ähnlich.

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 wurde er als erstes Kind von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, studierte u. a. Literarisches Schreiben in Hildesheim und lebt in Stuttgart. Wie schon in seinem Verlagsdebüt „Immer noch wach“ (Haymon Verlag, 2021) erzählt er in seinem zweiten Roman „Nur ein paar Nächte“ von Konflikt und Akzeptanz, von Gefühlen für- und zueinander. Ein rauschender Text über die Beschaffenheit von Beziehungen. – Foto: Daniel Gebhardt

Beziehungen spielen ja generell eine sehr große Rolle in „Nur ein paar Nächte“. Ben und Mia. Mia und ihre Mutter Orna. Orna und Ben. Ben und sein Papa. Wie ist es, über so viele Beziehungsgeflechte auf einmal zu schreiben und gibt es vielleicht ein Duo, über das du am liebsten geschrieben hast?

Für mich waren die Beziehung zwischen Ben und seinem Vater Emil, aber auch die Beziehung zwischen Ben und Mia die Ausgangspunkte für die Geschichte. Weil Ben immer stärker bewusst wird, dass er eigentlich keine richtige Beziehung zu seinem Vater hat, ist in ihm dieser Drang, es mit seinem Kind besser zu machen. Nur, um zu merken, dass das gar nicht so einfach ist. In den ersten Fassungen des Buches waren die anderen Beziehungen auch noch kaum ausgearbeitet. Da waren erstmal Ben und sein Papa und Ben und seine Tochter. Und dann wurde mir – dank meiner Betaleser:innen – immer klarer, dass auch alle anderen Beziehungen dazwischen wichtig sind. Und so sind sie mit jeder Runde stärker geworden. Dieses organische Wachsen hat mich einigermaßen den Überblick bewahren lassen. Aber auch nicht durchweg, es gab tatsächlich Momente, da habe ich das Buch vor lauter einzelner Szenen und Beziehungen nicht mehr überblicken können. Das sind dann die Momente des größten Zweifelns. Kann ich das? Ist dieses Themengeflecht nicht viel zu wirr für mich? Ich musste dann selbst erstmal Abstand zum Buch bekommen, um es wieder als Ganzes zu erfassen. Und auch ganz am Ende, nach all den Beziehungen, war klar, am liebsten habe ich Ben und Mia geschrieben. Mia zu schreiben war sowieso das Beste. Für mich ist sie eine Schwester im Geiste von Kasper aus „Immer noch wach“, meinem Verlagsdebüt bei Haymon. Kasper durfte machen und sagen, was er wollte. Jetzt ist es Mia. Solche Figuren sind immer spannend und machen Spaß. Und die Beziehung, die mir wirklich nahe, ist die zwischen Ben und Emil. Diese Vater-Sohn-Beziehung war der Auslöser für das ganze Buch und das habe ich auch beim Schreiben durchweg bemerkt.

 

In großer Wärme erzählt Fabian Neidhardt von den Ecken und Kanten seiner Protagonist:innen, von dem Monstrum und Glück, das sich Familie nennt.“ – So hat sich Autorin Marie Gamillscheg über deinen neuen Roman geäußert. Familie kann eben vieles sein: Im Fall von Ben bedeutet sie Schutz, aber auch eine gewisse Belastung. Während Orna keine Mutter sein und auch keine eigene Familie haben will, möchte Ben der beste Vater für Mia sein. Gleichzeitig wird die Beziehungskrise seiner Eltern bei ihm zu Hause ausgetragen und Ben durch die Anwesenheit seines Papas fast wieder zum Kindsein gedrängt. Was war für dich persönlich das Spannendste an der Dynamik zwischen Ben und seinem Vater?

Ich bin nicht Ben und mein Vater ist nicht Emil, aber ein Großteil der Dynamik zwischen Ben und seinem Vater ist natürlich von meiner Dynamik mit meinem Vater übernommen. Mein Vater liest meine Bücher immer in Rohfassungen und dieses Mal war ich ziemlich aufgeregt und gespannt, wie er reagieren würde. Er hat großartig reagiert und sehr schön zwischen uns und diesem Vater-Sohn-Paar im Buch unterscheiden können. Und trotzdem glaube ich, dass mein Schreiben über diese Dynamik auch unserer Dynamik gut getan hat. Und ganz vielleicht hilft das auch anderen in ihrer Beziehung zu ihren Eltern.

Orna möchte keine Kinder bekommen, Ben möchte, kann aber nicht. Glaubt er zumindest. Wir kennen dieses Thema eher in umgekehrter Form. Was war für dich am Tausch dieser klassischen Rollenbilder so interessant?

Unter uns: Zuallererst war das „Zufall“. Ich hatte das nicht geplant. Ich wollte einen Mann zwischen seinen Vater und sein Kind stellen und ihn daran scheitern lassen. In den frühen Versionen gab es Orna im ersten Teil des Buches quasi nicht. Aber wenn ich die Geschichte so erzählt habe – mit einer Mutter, über die nichts bekannt ist, die aber offensichtlich noch lebt – dann war für fast alle Menschen, denen ich das erzählt habe, klar, dass das eine Rabenmutter sein muss. Weil es in unserer Gesellschaft offensichtlich keinen akzeptablen Grund gibt, als Frau Kinder zurückzulassen. Aus dieser Erkenntnis ist dann dieses umgedrehte Rollenbild entstanden. Und je länger ich darüber erzählt habe, desto mehr habe ich gemerkt, wie krass Menschen darauf reagieren und wie viele sagen, „so geht es mir auch“. Das hat mir gezeigt, dass ein Rollenbild zwar klassisch sein kann, weil wir es oft wiederholen und lesen und sehen. Das heißt aber nicht, dass es der Gefühlswelt aller entspricht, sondern ganz viele genauso normale Rollenbilder verblassen lässt, einfach dadurch, dass wir nicht darüber reden. Und das allein war Grund genug, es diesmal so zu erzählen.

Ornas Wunsch, keine Mutter zu sein, ist nachvollziehbar. Dem gegenüber: Mia. Ein junges Mädchen, das seine Mama kennenlernen möchte. Ebenso verständlich. Wie war es für dich, in diese so lebensnahe wie komplizierte Situation einzutauchen und darüber zu schreiben?

Vielleicht ist erstmal das Wichtige, dass es keine allgemeingültige Wahrheit und keine einfache Antwort gibt. Ich selbst finde Geschichten dann spannend, wenn ich die Motivation aller Figuren verstehen kann, wenn niemand plump „gut“ oder „böse“ ist. Und wenn genau diese Blickpunkte aber zum Problem führen. So habe ich Mia und Orna geschrieben: immer mit der Idee, dass ich sie jeweils total nachvollziehen kann. Und mit dem glücklichen Wissen, dass ich gar keine Antwort auf dieses Dilemma geben muss. Das muss jede:r für sich ausmachen. Aber ich kann versuchen, allen Seiten gleich viel Aufmerksamkeit, Empathie und Zeit zu geben. So habe ich das auch mit diesen beiden gemacht.

Noch immer ist es kein Tabu, weiblich gelesene Personen nach ihrem Kinderwunsch zu fragen. Impliziert wird dabei immer erwartet, dass es diesen grundsätzlich geben muss. Wie ist es für dich gewesen, über das Mutter- bzw. Nicht-Mutter-werden-Wollen einer Frau zu schreiben?

Das war wohl der schwerste, aber irgendwie auch der schönste Teil beim Schreiben. Weil ich eine Weile, bevor all diese Gedanken überhaupt zu einem Buch wurden, erstmal selbst verstehen musste, wie groß dieses Thema „(Nicht)Mutterschaft“ eigentlich ist.
Ich bin als erstes von vier Kindern groß geworden, in einem Dorf, in dem all meine Freund:innen Geschwister und Vater und Mutter hatten. Ich wollte das genauso haben: Familie, vier Kinder, am besten schon mit 23 Vater sein. Alle happy und so und alles easy. Nur, dass ich dann mit 23 überhaupt nicht an dem Punkt war, Vater sein zu wollen. Und ganz langsam verstanden habe, dass ich zwar eine glückliche Kindheit, aber auch Eltern habe, die genauso nur Menschen mit Ängsten, Sorgen, Streiten und Nöten sind. Und als dann die ersten Kinder meiner Bekannten und Freund:innen auf die Welt kamen, ich zum ersten Mal von einer Abtreibung erzählt bekommen habe, von Fehlgeburten und Kinderwunschzentren, wurde mir mit etwa Mitte 30 klar, dass es das zwar gibt, dieses vier Kinder und alle happy und alles easy. Aber es gibt daneben auch ganz viel anderes, über das wir aber nicht so oft und offen reden. Also habe ich irgendwann auf Instagram gefragt: „Liebe Frauen*, will jemand von euch keine Kinder? Und falls ja, warum nicht?“ Und darauf habe ich überraschend viel und offen Antwort bekommen. So habe ich es dann mit jedem Aspekt in diesem Roman gehalten. Ich habe mit sehr vielen Menschen geredet. Über das Mutter sein und das nicht Mutter sein wollen. Über Schwangerschaften und Geburten und all die Scheiße, die passieren kann, über die wir aber nicht so oft reden. Das hat mir auf der einen Seite extrem tolle und intime Gespräche beschert. Und auf der anderen Seite gezeigt, dass das ein wirklich großes und hochsensibles Thema ist, bei dem ich keine Fehler machen möchte und niemanden verletzen will. Deshalb sind diese Aspekte und Szenen im Buch nicht erfunden. Hier wollte ich nicht auf meine enge und männliche, vielleicht sogar romantisierte Fantasie zurückgreifen, sondern schreiben, was mir andere Menschen aus ihrer Erfahrung anvertraut haben. Besonders diese Teile sind Mosaike, die ich zusammensetzen durfte. Und tatsächlich habe ich auch besonders Angst davor, was Leser:innen zu diesen Teilen sagen werden. Gerade weil das Themen sind, die ich ja gar nicht selbst erlebt habe oder gar erleben könnte.

Ben ist leidenschaftlicher Holzschnitzer. Für „Nur ein paar Nächte“ hast du extra einen Schnitzkurz absolviert. Warum gerade schnitzen? Ist nicht gerade das eine Tätigkeit, die eher wieder der klassischen Männerrolle entspricht?

(lacht) Witzig, dass du das so siehst. Weil ich meinen Workshop bei einer großartigen Frau absolviert habe, Paulina von Gemeines Holz. Mir war es für Ben wichtig, dass er nicht einfach nur am Rechner sitzt. Ich wollte ihn was mit seinen Händen machen lassen. Und dann immer noch lieber Holzlöffel schnitzen als an alten Autos schrauben, oder?

„Nur ein paar Nächte“ behandelt viele ernste Themen, gleichzeitig ist es aber auch ein Buch voller Liebe, Herzenswärme und mit viel Witz. Welche Szene hast du besonders gern geschrieben?

Puh. Schwer. Da gibt’s einige schöne Szenen, die Spaß gemacht haben. Aber ich glaube, wenn Mia dabei ist, ist es noch ein bisschen witziger gewesen, sie zu schreiben. Ich hoffe, ihr habt an Mia und dem ganzen Buch genauso Spaß wie ich.

 

Von einem alleinerziehenden Vater und einer Tochter, die sich kaum bändigen lässt, von Nähe und Loslassen, von Entscheidungen, die das Leben verlangt. Ben, seinem Vater, Mia und Orna bleibt ein Wochenende, um Generationen an Unausgesprochenem zu artikulieren, um Fehler zu akzeptieren, neue zu machen und sich zu entschuldigen. Sich einzugestehen, dass es kein Versagen auf ganzer Linie ist, zuerst das verletzte Kind in sich selbst heilen zu müssen, um sich besser um das eigene kümmern zu können. Bist du neugierig geworden? Hier kommst du zu „Nur ein paar Nächte“!