Mehr Lyrik für die Welt

„Gedichte sind Wort gewordene Lieder der Seele”,

befand die österreichische Philosophin und Künstlerin Lisz Hirn und versuchte damit, eine geeignete Metapher für das zu finden, was Lyriker*innen erschaffen. Ihre Worte verschmelzen zu einer Melodie, die uns zum Tanzen bringt, wo wir gar nicht anders können, als lautstark einzustimmen und den Groove zu spüren. Reime, gepaart mit Rhythmus und Sprachtönen werden zu Symphonien, denen wir gebannt lauschen.

Wirf einen Blick durch sieben Fenster, die dich in die Lyrik-Klang-Welten unserer Autor*innen entführen:

Nachts wird mir wetter – Andreas Neeser


Wettermachen

Unverhofft

finde ich manchmal den eigenen Namen: Ich
rede mich rückwärts zum Anfang des Tages
und Silbe für Silbe verschluck ich den Hochnebel
Schauer, Gewitter und Graupel
verworte ich farbig
ins heitere Blau aber
sprech ich mich
frei
von Gespinst und Gehudel
und mache das Wetter zuinnerst
im Wortlaut
ganz luft.

Nachts wird mir wetter“ – Andreas Neeser schreibt von Sinnlichkeit, Zerfall, Augenzwinkerndem und Ungeheurem: Der Autor schafft eine schier unglaubliche Verflechtung literarischer Vielseitigkeiten; schafft Gedichte, die uns mit dem Außen verbinden, unser Innerstes zusammenbringen mit all dem, das um uns geschieht, das vorbeizieht, sich windet und erblasst.

 

weich werden – Anja Bachl

 

 

ich schaffe Webstücke aus Fetzen und nenne das Liebhaberinnen
nie nervenendende Linien und darauf slacklinen
glaube an Wiedergeburt nach acht Stunden Schlaf
zünde Fackeln an um Schlangen zu locken die sich als meine Schwestern verkleiden
ich habe Schlupflöcher gesammelt und Blickwinkel und heimlich auch Berechnungen
und deshalb werde ich anstatt Stufen zu steigen Almwiesen bewandern

weich werden“ – Anja Bachl: Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert – darüber, wie wir uns Narben körpereigen machen, welche Spuren wir nicht hinterlassen und die Gespenster, die bleiben. Der Rausch einer Sprache, wie wir ihn selten erreichen: Anja Bachls Gedichte fangen uns ein, pflanzen ihre Gedanken dort, wo wir schon längst das Saatbeet vorbereitet, aber keine Worte gefunden haben. Tief im Innersten schürfend, trägt sie ins Bild, was Menschwerdung, Menschsein bedeutet. Ein Gedichtband, der Verletzlichkeit als widerständigen Fluss im eigenen Ich freilegt.

STRAND DER VERSE LAUF – Ferdinand Schmatz

 

das, da

das
seichte,
wärmend ohne rand
umspielt es fuss wie auge
ausgelaugt die poren es sich traut
an zu tupfen, ein zu sickern sachte
im brand von oben scheu zu hauten
und zurück sich pfropfend
tropfen weise, um zu spülen
nahes weg zu weitendem hinaus

STRAND DER VERSE LAUF“ – Ferdinand Schmatz: Wo stehen wir, mittendrin im Drumherum? Wie fühlt sich der Sand unter unseren Füßen an, wie die feuchte Luft auf unserer Haut? Seine Lyrik lässt innehalten im alltäglichen Treiben, schärft unsere Sinne, lässt sie weich werden für die Feinheiten unserer Wahrnehmung. Ferdinand Schmatz’ Verse sind eine Aufforderung, stehenzubleiben und trotzdem weiterzugehen; die Augen zu öffnen und die unerwarteten Tiefen dessen zu beforschen, was Sprache vermag uns bewusst werden zu lassen.

birthmarks – Precious Chiebonam Nnebedum

 

it is
in the crushing and the breaking,
the uprooting and the shaking,
the pressing and the stressing,
that wine is made.
believe it or not, you are
a vineyard.

es passiert
im zerstampfen und im brechen
im entwurzeln und im schütteln
im drücken und im belasten,
dass wein gemacht wird.
glaube es oder nicht, du bist
ein weingarten.

birthmarks“ – Precious Chiebonam Nnebedum beweist: Sie ist die Kraft, mit der zu rechnen ist.
Wer sind wir, wenn uns die Worte fehlen?
 Wer, wenn wir sie kaum aufhalten können? Wenn wir in verschiedenen Sprachen leben, uns nicht nur aus ihnen bedienen wollen, sondern sie für uns selbst finden. Uns durch Sprache ermächtigen und gleichzeitig durch sie ermächtigt werden. Precious Chiebonam Nnebedums Gedichte sind eindringlich, schimmernd. Sie begibt sich mit ihrer Lyrik auf eine Suche: Nach einer Antwort auf die Frage, was wir uns nehmen dürfen und müssen, was wir für uns fordern.

[ anich.atmosphären.atlas ] – Barbara Hundegger

 

äquator zodiacus circulus horarius primum
mobile: sobald der äußerste himmels-kreis
bewegt wird trägt er alle anderen sanft mit
sich | am horizont das uhrwerk: es führt die
kugel | am nordpol: 8 zahnräder im stundenrund
| innen 3 zeiger: für die verschiedenheit
von zeit | miniatur-gemälde die 76 gestirne:
aus winzigsten punkten ergeben sie ihr bild |
von den sternen: nicht einer der nicht richtig
wär’ | mit der feder gerissen | gestochen auf
6 tafeln | dein werk-stück: tadellos | aus sich
selber zeigt es: welches meister-werk es ist

[ anich. atmosphären. atlas ]“ – Preisgekrönte Dichtkunst: Barbara Hundegger bietet einen einzigartigen Einblick in das Tirol des 18. Jahrhunderts. In ihrem Gedichtband zeichnet sie gleichermaßen poetisch wie gesellschaftspolitisch die inneren Konflikte einer zerrissenen Existenz nach. Sie erschafft einen Gedichte-Atlas über das Aufeinanderprallen verschiedener Welten und Wortlandschaften: eine poetische Topografie von Peter Anichs Leben und Werk.

an den hunden erkennst du die zeiten – Christoph W. Bauer

auf grauer straßen rand
was traten wir doch in die pedale
bloß weg von den kopfnüssen
dreißig jahre ist das her unsere
lehrer alt aber nicht alle von ihnen
nazis auch die linken pfiffen wie
finke uns hunde herbei zogen
uns an den ohren aus den bänken
wir verstanden die warnung
nicht lernten für die schule selbst
die lieder die wir sangen und
trauten auf den droben
an weihnachten waren wir noch
ein wenig andächtiger als sonst
und dankten dem christkind
im voraus für den osterhasen

an den hunden erkennst du die zeiten“ – Der Dichter kommt uns auf die Schliche.
Von Fußstapfen und Hundeleben, Spinnenblut und Frömmigkeit, faulem Zauber und Odysseen, von der Sehnsucht nach und der Furcht vor sprachlosen Momenten: Christoph W. Bauer setzt zu Zeit- und Raumsprüngen an, wittert und nimmt Fährte auf, sucht das Weite und die Zerstreuung. Macht sich ein Bild, liest in den Geschichten, die auf der Straße liegen, und findet mit Sätzen Schlupflöcher aus der Enge. Genussvoll gibt er sich den Widersprüchen hin. Enthüllt das alles mit Worten, trägt es mit Humor und fasst es in widerständige und schelmische Verse.

Am besten lebe ich ausgedacht – Sabine Gruber


Anfang März

Wien

In China sitzen die Schlangenzüchter
Auf ihrer Ware, als seien ihnen die
Diebe ausgegangen. Dantes Höllen
Verdammte können von gebratenem
Schlangenfleisch nur träumen. Die
Hände hat man den Nackten noch
Gelassen, sie kriegen aber nichts zu
Fassen, tragen sie doch Natterfesseln
Und Handschleichen, schreien und
Gellen im offenen Graben. Ich sehe
Den Erben an so viel Recht verderben
Den Erben in der Schlangengrube mit
Fremden Werken werben. Es gehörte
Ihm nichts.

Am besten lebe ich ausgedacht“ – Über Sehnsuchts- und Erinnerungsorte, die von Brüchen und wiedergewonnener Lebensfreude zeugen
In dem ihr eigenen, verblüffend lebensnahen Ton entlockt Sabine Gruber den Augenblicken des Alltags ihre poetische Kraft. In ihrem Gedichtband verknüpft sie Liebessterben und LiebeswerbenGelebtes und ErdachtesHistorisches und Eigenes zu einem faszinierenden poetischen Kalendarium.