„Gasperlmaier hängt noch immer das Image des Tollpatschs nach.“ – Herbert Dutzler im Interview

Franz Gasperlmaier hat bereits im Bergwerksstollen ermittelt, sich im Fasching als Trommelweib getarnt, bei Verfolgungsjagden auf Gebirgsstraßen geschwitzt und dabei diverse Verbrecher*innen gestellt. Herbert Dutzler verrät uns, was „Letztes Zuckerl” für den Franz bereithält und inwiefern sich der Ermittler der Herzen über die Jahre verändert hat.

 

Seit Jahren dürfen wir Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen begleiten – in „Letztes Zuckerl“ bereits zum elften Mal. Was würdest du sagen, inwieweit hat sich Gasperlmaier in all den Jahren weiterentwickelt und inwiefern ist er der Alte geblieben? Und wie hat sich die Beziehung zwischen dir und deiner Romanfigur verändert?

Gasperlmaier hängt immer noch das Image des Tollpatschs nach, das ich ihm zu Beginn der Serie selbst verpasst habe. Mittlerweile hat er das Ungeschickte, Umständliche äußerlich abgelegt, das Zögerliche und Nachdenkliche aber sind ihm geblieben. Ich lasse Gasperlmaier nämlich immer noch sehr zaghaft auf Neues, Unerwartetes und Ungewöhnliches reagieren, das bringt auch Spannung in die Figur, sie muss sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen, wie zum Beispiel den Entwicklungen in seiner Familie.

 

Foto: © Haymon Verlag/ Fotowerk Aichner.

Ein altbekanntes Sprichwort lautet „Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen“. Glaubst du, Gasperlmaier würde diesem Spruch zustimmen?

Ja, sicher. Er macht sich um das Wohlergehen seiner Kinder und Enkel viele Gedanken, die ihm manchmal auch den Schlaf rauben. Da Gasperlmaier bereits im ersten Band fast erwachsene Kinder hatte, fehlt mir leider der Einblick in ihre frühe Kindheit und Jugend – welche Rätsel sie ihm damals aufgegeben haben, verbleibt im Dunkel der Vergangenheit. Aber vielleicht gibt es ja einmal einen Band „Gasperlmaier – the early years“!

 

Auch Internetkriminalität wird in „Letztes Zuckerl“ thematisiert. Musstest du selbst schon mal Erfahrungen mit Internettrollen machen?

Das ist mir bisher zum Glück erspart geblieben – obwohl: Bei einigen Büchern tauchten auf der Seite eines bekannten Onlineshops sehr kurz nach dem Erscheinen anonyme Ein-Stern-Bewertungen ohne Kommentar auf – da habe ich mir schon Gedanken gemacht, wer da wohl dahinterstecken könnte!

 

Wer auf der Suche nach einer Wohnung oder einem Eigenheim ist, weiß: Es ist schwierig, etwas Passendes und noch schwieriger, etwas Leistbares zu finden. Selbst im idyllischen Altaussee versucht jemand, dubiose Immobiliendeals zu machen. Hattest du selbst bereits mit Immobilienhaien zu tun?

Da muss ich ein wenig weiter zurückgehen: Während des Studiums habe ich mit meiner damaligen Freundin und jetzigen Frau in einer Garçonnière in Salzburg gewohnt. Der Besitzer verfügte, Gerüchten zufolge, über ca. 80 Wohnungen in Salzburg und hat während der insgesamt 5 Jahre, die wir dort verbrachten, die Miete um ca. 50% erhöht – da konnten wir zum ersten und einzigen Mal spüren, wie schwierig es sein kann, in Gegenden leistbares Wohnen zu finden, die sehr stark nachgefragt sind.

 

Der Franz ist traditionsverbunden, aber auch immer wieder bereit, sich auf Neues einzulassen. Was beschäftigt ihn derzeit? Was tut sich in seinem Leben?

Da gibt es tatsächlich einiges. Gasperlmaier macht sich zu viele Gedanken darüber, ob die Partner seiner Kinder auch wirklich die richtigen für sie sind. Da ist einmal Richelle aus Vancouver, die für seinen Geschmack etwas zu mondän und zu wenig naturverbunden ist. Ob das in Altaussee gut gehen kann, fragt er sich oft. Und die Frau seiner Tochter ist ja bekanntlich Journalistin, und er hat es nicht so gern, wenn sie zusammen mit seiner Katharina in Altausseer Interna herumwühlt. Und zu guter Letzt fragt er sich natürlich auch, ob er es bei der Polizei bis zur Pension schaffen wird – nach einem durchaus unerfreulichen Erlebnis im „Letzten Zuckerl“, über das nichts verraten werden soll. Aber es ist ihm ja schon einige Male übel mitgespielt worden, das darf man hier nicht vergessen!

 

Altausseer Landidylle, Opafreuden und Internetkriminalität  findest du in „Letztes Zuckerl” von Herbert Dutzler.

 

Full House bei den Gasperlmaiers!
Die bereits erwachsenen Kinder kehren mit ihren Familien zurück ins elterliche Nest und auch außerhalb des Gasperlmaier-Hauses geht es rund: Zuerst geschieht ein Unfall mit Todesfolge, dann gräbt ein Hund nicht etwa ein Stöckchen, sondern eine Leiche aus dem Schnee. Dass es Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen mit Männern zu tun bekommt, die sich mit Frauenhass brüsten, jemand um jeden Preis Altausseer Immobilien ergattern will und ein Hauch von Marihuanaduft in der Luft liegt, lässt seinen Vorsatz, es ruhiger anzugehen, gehörig wackeln.

 

Komm mit ins Ausseerland! Hier geht’s in die Welt von Franz Gasperlmaier.

Kriminell gute Weihnachtsgeschenke: Spannung unterm Weihnachtsbaum

Jedem Tierchen sein Pläsierchen – und jedem Krimifan sein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk. Das Krimi-Genre ist so verschieden wie die Geschmäcker, und den perfekten Krimi zu verschenken ist in vielerlei Hinsicht das perfekte Weihnachtsgeschenk: herrlich spannende Lektüre für die nebeligen Feiertage, ein guter Grund zum Liegenbleiben nach übermäßigem Genuss von Weihnachtsleckereien und die Freude über ein persönliches und wirklich passendes Geschenk. Damit das Krimigeschenk auch bestimmt ins Schwarze trifft, haben wir für euch die besten Tipps zusammengestellt.

Rabenschwarz, rasant und unglaublich wortwitzig: „Strippen statt sticken!“ von Tatjana Kruse.

 

Für die Humorvollen

Swinging in Schwäbisch Hall: Ex-Kommissar Seifferhelds schlüpfrigster Fall
Seifferhelds Freund und Ex-Polizeikollege Dombrowski (der von der Sitte!) hat Sorgen. Sein Neffe ist nämlich in einen alles andere als sittlichen Fall verwickelt: Der Schriftsteller weilt gerade dank des Comburg-Stipendium im schönen Schwäbisch Hall. Weil man aber nicht immer nur arbeiten kann, sondern auch etwas Abwechslung und Inspiration braucht, hat Dominik Dombrowski einen privaten Swingerclub aufgesucht – rein aus Recherchegründen, versteht sich. Hüstel. Dort verbringt er einen sehr vergnüglichen Abend mit einer jungen Frau. Doch als er mitten in der Nacht in einem der Nebenzimmer aufwacht, liegt die Frau erdrosselt neben ihm.

Tatjana Kruse, ungekrönte Königin der Krimödie, schafft pro Seite mehr Anschläge auf das Zwerchfell als manch zweistündiger Kabarettauftritt – Lachmuskelkater vorprogrammiert!

Zwischen Familienwahnsinn und mörderischer Castingshow: „Letzter Tropfen“ von Herbert Dutzler.

 

Für den Serienliebhaber

Verbotene Pillen und verhängnisvolle Fotos: Gasperlmaier ermittelt am Catwalk
Nicht genug, dass die Dreharbeiten einer bekannten Model-Castingshow mitsamt schriller Modelmama die beschauliche Idylle in Altaussee stören. Jetzt wird auch noch der Set-Fotograf tot im See aufgefunden. Das kommt für Franz Gasperlmaier höchst ungelegen, hat ihn schließlich das Hochzeitsfieber gepackt. Bevor seine Tochter Katharina ihrer Stefanie das Ja-Wort geben kann, gilt es nun also nicht nur deren etwas eigenwillige Eltern kennenzulernen, sondern auch die Ermittlungen im Dunstkreis der TV-Show aufzunehmen. Was für ein Glück, dass ihm Frau Doktor Kohlross mit ihrem flotten Flitzer zur Seite steht. Schon bald zeigt sich: Die ungeschminkte Wahrheit hinter der Model-Castingshow ist alles andere als schön.

Mit einer großen Portion Sympathie für Land und Leute zeichnet Herbert Dutzler seine Heimat – nicht ohne kritische Blicke auf die Schattenseiten des Landlebens und den touristischen Ausverkauf der Region.

Dublin online und offline: „Unfollow Stella“ von Ellen Dunne.

 

Für die Kosmopolitin

Patsy Logan sucht nach einem Neustart … und bald auch nach einer Vermissten
Patsy Logan, Kriminalhauptkommissarin aus München, steht ein paar Monate vor ihrem 40er und ist frisch getrennt, in Dublin, in einer beruflichen sowie privaten Auszeit. Unschlüssig, wie sie das Chaos um ihren Neuanfang in den Griff bekommen soll, entschließt sie sich dazu, abzuwarten – und erst einmal gar nichts zu tun. Während ihre Gedanken immer wieder um ihre berufliche Zukunft kreisen, bietet sich der Fall der verschwundenen Stella als Ablenkung an. Sam Feurstein, Polizeiattaché in der österreichischen Botschaft in Dublin, bittet Patsy um Hilfe bei der Suche nach der jungen Frau. Gemeinsam beginnen Patsy und Sam, die letzten Tage vor Stellas Verschwinden nachzuvollziehen. Tauchen tiefer ein in Stellas Doppelleben auf der Schattenseite der Sozialen Medien – und setzen dadurch eine Spirale immer bedrohlicherer Ereignisse in Gang.

Ellen Dunnes Kriminalromane sind ein bisschen wie frisch gezapftes Guinness: herb, dunkel, besonders und erfrischend köstlich.

Unkonventionell, ungleich und unwiderstehlich: „Schattenriss“ von Theresa Prammer.

 

Für den Theaterbegeisterten

Verliebt, verlobt, … verschwunden: ein neuer Fall für Toni und Brehm
Während der Sommerferien arbeitet die Schauspielschülerin Toni Lorenz mit Privatdetektiv Edgar Brehm. Doch die Beschattung vermeintlich untreuer Ehegatten müssen die beiden jäh unterbrechen, als sie eine dringende Nachricht erreicht: Ein junger Mann ist verschwunden. Und der Anruf kommt von einer Person aus Edgars Vergangenheit, die er eigentlich liebend gerne vergessen wollte. Doch das Vorhaben, sich aus der Sache rauszuhalten, geht so gar nicht auf, als auch noch eine junge Frau vermisst wird. Die beiden Fälle hängen zusammen – und bald schon merken Toni und Edgar, dass es ganz schön schwierig wird, alle Beziehungswirren, die die Vermissten und ihre Familien verbinden, im Blick zu behalten. Was genau ist zwischen den Vermissten vorgefallen, und warum wusste niemand von ihrem Treffen?

Theresa Prammer gönnt uns keine Atempause: auf Theaterbühnen und Filmsets, auf den Straßen Wiens, von der Donau bis in den Prater lösen Toni und Brehm Fälle, die unter die Haut gehen.

Ungeschönt mit Durchschlagkraft: „Zwischen euch verschwinden“ von Gudrun Lerchbaum.

 

Für die Sozialkritische

Zwischen Unsichtbar-Werden und der Angst gefunden zu werden
Maria wechselt ihre Identitäten, arbeitet mal da mal dort. Immer wieder wird ihre prekäre Situation schamlos ausgenutzt. Sie schwankt zwischen Passivität und Selbstermächtigung, sucht den Weg des geringsten Widerstandes, fügt sich und passt sich ihrer Umwelt geschmeidig an … so lange, bis es ihr reicht. Dass der Tod ihrer Mutter nicht der einzige Todesfall ist, in den sie involviert ist, und dass Maria nicht nur von der Polizei gesucht wird, lässt das Spiel mit der Identität zur Überlebensstrategie werden.

Gudrun Lerchbaum nimmt uns mit auf eine rasante Reise entlang der Schicksale jener Frauen, die ungesehen bleiben: da ist die pflegende Angehörige schwerkranker Eltern, da ist die Kellnerin in Schwarzarbeit, die ausgebeutet und erpresst wird, da ist die Ehefrau, die sich vor ihrem prügelnden Mann ins Frauenhaus rettet, und die 24-Stunden-Pflegekraft, von der viel mehr als nur Pflege erwartet wird.

Ein knallbunter Kriminalfall: „Lemmings Blues“ von Stefan Slupetzky.

 

Für die Tierfreund*innen

Wem hängen sie nicht schon längst zum Hals heraus? Die dauernden Sorgen um Corona, den Klimawandel und die generelle Weltlage …
Dem Lemming geht es ganz genauso. Deshalb steht für ihn fest: Wenn er Schriftsteller wäre, würde er diese Themen ruckzuck abarbeiten und sich dann endlich mit dem wirklich Wichtigen beschäftigen: seinem neuesten Fall. Der nämlich beschert ihm einen neuen Gefährten: Kuli, eigentlich Herkules, den Mops. Kuli befindet sich auf mysteriöse Weise plötzlich in seiner Detektei, scheint philosophisch versiert zu sein – und schwebt in Lebensgefahr. Denn eine Gruppe Schweißerbrillen tragender Wahnsinniger, die ihrer ganz eigenen Wahrheit anhängt, ist hinter ihm her. Und der Lemming? Der weiß plötzlich selbst nicht mehr so genau, was eigentlich wahr ist …

Stefan Slupetzkys Romane sind wie gute Musikstücke, die dich vor sich hertreiben, animieren und dann wieder sanft umschmeicheln. Mit Leopold „Lemming” Wallisch tauchst du ein in eine Welt, die permanent ihre Farben verändert, bis du nicht mehr weißt, was eigentlich real ist. Was im Übrigen ziemlich schön sein kann.

Rasante Action mit psychologischem Twist: „Böse Hoffnung“ von Thomas Baum.

 

Für die Adrenalin-Junkies

Kommissar Worschädl in seinem bisher persönlichsten Fall
Worschädl hat Schädlweh. Denn wieder einmal werden seine Kollegin Sabine Schinagl und er zu einem Verkehrsunfall gerufen – und das bei 36 Grad im Schatten. Was sollen sie als Kripo-Team dort? Am Tatort wird klar: Clemens Löffler, Motorradfahrer und Controller am Linzer Flughafen, wurde absichtlich überfahren – das bestätigt dem Linzer Ermittlerduo auch ein Augenzeuge. Als es ein zweites Mordopfer gibt, sind sich Worschädl und Schinagl sicher: Hier hütet jemand Geheimnisse. Um jeden Preis. Die beiden versuchen – entgegen aller polizeiinternen Widerstände –, mehr Klarheit in Löfflers Machenschaften zu bringen: Was genau geht am Zoll des Flughafens vor sich?

In einem atemberaubend temporeichen Fall muss Thomas Baums Ermittlerteam einige Regeln brechen, um Geschäfte aufzudecken, die zeigen: Wenn es um Einfluss und Geld geht, ist manchen Menschen kein Preis zu hoch.

Und für alle, die noch viel  mehr Krimi-Auswahl brauchen: Hier gibt es die besten Bücher für eine gelungene Bescherung!

Wir wünschen fröhliches Stöbern!

Lebende Vögel, hochpreisige Uhren und in Wein eingelegte Schlangen: Was sich in den Koffern von Reisenden versteckt. Ein Blick in den Alltag von Zollbeamt*innen.

In „Böse Hoffnung“ lässt Thomas Baum sein Ermittlerteam Robert Worschädl und Sabine Schinagl am Linzer Flughafen ermitteln, um düstere Machenschaften aufzuklären. Gerhard Matzer vom Zollamt Österreich kennt sie alle: die kreativsten Schmuggel-Verstecke und die absurdesten Güter, die am Zoll vorbei geschmuggelt werden.

 

Für Privatpersonen ist der Zoll oft etwas, dem sie gern heimlich entgehen würden, um Geld zu sparen. Was sind die kreativsten Verstecke oder Aktionen, mit denen Menschen versuchen, den Zollgebühren zu entkommen?

Schmuggelverstecke sind meist abhängig von der Art der Ware, die am Zoll vorbei in die Zollunion verbracht werden sollen. Zum Beispiel werden Schmuck oder hochpreisige Uhren getragen oder am Körper versteckt. Zigaretten und andere Tabakwaren werden oftmals aufwendig in bauartbedingte Hohlräume bei Kraftfahrzeugen eingebaut oder es werden hierzu extra Umbauten (doppelter Boden, …) an Kraftfahrzeugen vorgenommen.

 

Welche geschmuggelten Waren sind die skurrilsten?

Lebende Vögel wurden in leeren aufgeschnittenen Plastikflaschen im Reisegepäck aus Südamerika nach Österreich geschmuggelt und am Flughafen Wien entdeckt und beschlagnahmt. Die überlebenden Tiere wurden in entsprechende Quarantänestationen gebracht. Leider werden insbesondere im Bereich des Artenschutzes noch immer skurrile Dinge, wie in Wein eingelegte Schlangen, so genannte Snake Wines, oder auch Krokodilköpfe geschmuggelt.

 

Bei Schmuggelware denkt man oft an Zigaretten, Markenware oder auch Medikamente. Welche Produkte versuchen Personen häufig durch den Zoll zu schleusen, von denen man es nicht erwarten würde?

Es wird häufig versucht Waren, wie Fleisch, Käse, Honig, Eier, lebende Pflanzen, Gemüse und andere Lebensmittel, welche aus tierseuchenrechtlichen oder phytosanitären Gründen nicht eingeführt werden dürfen, in die Union zu verbringen. Es müssen jedes Jahr mehrere Tonnen solcher vom Zollamt beschlagnahmter und eingezogener Waren (hauptsächlich Fleisch, Milchprodukte und Gemüse) vernichtet werden.

 

Was passiert mit der Ware, für die Personen keine Zollgebühren bezahlen möchten?

Im Falle des Schmuggels ist nach dem Finanzstrafgesetz neben einer Geldstrafe auch grundsätzlich der Verfall (d.h. die Ware geht in das Eigentum des Staates Österreich über) vorgesehen. Verwertbare Waren, wie Schmuck, Uhren, … werden in der Folge oft versteigert.
Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, dass die Ware auch den Schmuggler*innen wieder überlassen wird. Dies kann entweder durch Rückkauf der für verfallen erklärten Ware oder durch Entrichtung des doppelten auf der Ware lastenden Abgabenbetrages (einfache Abgaben max. 1000 Euro) sein. Waren, bei denen der Besitz verboten ist (z.B. verbotene Waffen) oder bei deren Einfuhr besondere Voraussetzungen erfüllt werden hätten müssen (z.B. Vorlage bestimmter Zeugnisse, Bewilligungen oder anderer Dokumente) dürfen jedoch nicht überlassen werden.
Waren die nicht verwertet werden können, sind unter Aufsicht zu vernichten (dazu gehören Fleisch, Zigaretten, illegale Arzneiwaren, …).

 

Bei welchen Produkten denken viele Menschen, dass es illegal wäre, sie über die Grenze zu führen, obwohl sie tatsächlich erlaubt sind?

Zigaretten für nicht kommerzielle Zwecke (zur Abdeckung des Eigenbedarfs) dürfen aus einem Drittland in die Union eingeführt werden. Zu beachten ist jedoch, dass die Menge an Zigaretten, welche die Freimenge von 200 Stück überschreitet, beim Zollamt gestellt und zumindest mündlich angemeldet werden muss. Dies bedeutet z.B. am Flughafen, dass sich der Reisende in den „Rotkanal“ begeben und dort die Zigaretten mündlich erklären muss. Das Zollorgan überprüft die gemachten Angaben und berechnet die Höhe der zu entrichtenden Abgaben und teilt dies dem Reisenden mit. Nach Entrichtung dieser kann der Reisende mit den Zigaretten die Reise fortsetzen.
Waren, die keinen Verboten oder Beschränkungen unterliegen, können grundsätzlich unter Beachtung der geltenden Reisefreimengen und Reisefreigrenzen eingeführt werden. Wird eine Freimenge oder Freigrenze (z.B. Freigrenze von 430 Euro bei Waren, die im Luftverkehr durch Personen die 15 Jahre oder älter sind eingeführt werden) überschritten oder die Ware unterliegt einem Verbot oder einer Beschränkung unabhängig vom Wert, ist diese beim Zollamt zumindest mündlich anzumelden.

Beispiel: Die Einfuhr einer hochpreisigen Uhr aus Schweiz nach Österreich ist grundsätzlich erlaubt, übersteigt der Wert der Uhr die Reisefreigrenze von 430 Euro im Flugverkehr oder von 300 Euro bei der Einreise im Straßenverkehr, ist der Reisende verpflichtet die Uhr beim Zollamt an der Grenzzollstelle von sich aus anzumelden. Ist die Uhr mit einem Uhrband aus Krokodilleder ausgestattet, welches dem Artenhandelsgesetz unterliegt, ist unabhängig vom Wert der Uhr, diese beim Zollamt zu gestellen und von sich aus anzumelden. Die Einfuhrgenehmigung nach dem Artenhandelsgesetz ist dem Zollamt vorzulegen.

 

Welche ungerechtfertigten Vorurteile gibt es gegenüber dem Zoll?

Viele verbinden mit dem Zoll nur Kontrollen am Flughafen oder an der Zollgrenze zur Schweiz oder Liechtenstein. Tatsächlich nimmt der Zoll sehr viele Aufgaben zur Abwicklung des Warenverkehrs aus bzw. in Drittländer wahr. In einem Europa der offenen Grenzen hat sich das Gesicht des Zolls gewandelt. Neben der Erhebung von Steuern und Zöllen an der Grenze hat der Zoll heute noch viele andere wichtige Aufgaben: die Gewährleistung eines reibungslosen internationalen Warenverkehrs und eines fairen Wettbewerbs, der Schutz für Mensch, Tier oder Pflanzen, Wirtschaft und Umwelt im internationalen Warenhandel und damit im Binnenmarkt. Die Kontrollen des Zoll dienen aber auch dem Schutz der Verbraucher*innen vor mangelhaften Waren oder vor gefälschten Produkten. Durch Kontrollen im Bereich Artenschutz trägt er zum Erhalt der Artenvielfalt bei. Bargeldkontrollen fallen ebenfalls in das Aufgabenfeld des Zolls.

 

Rasante Action mit psychologischem Twist: „Böse Hoffnung“ von Thomas Baum.

 

Clemens Löffler, Motorradfahrer und Controller am Linzer Flughafen, wurde absichtlich überfahren – das bestätigt dem Ermittlerduo Robert Worschädl und Sabine Schinagl ein Augenzeuge. Als es ein zweites Mordopfer gibt, sind sich Worschädl und Schinagl sicher: Hier hütet jemand Geheimnisse. Um jeden Preis. Entgegen allen polizeiinternen Widerstände versuchen die beiden Klarheit in Löfflers Machenschaften zu bringen.
Worschädls Frau Karoline hat in der Zwischenzeit andere Sorgen: Ihre beste Freundin ist an Krebs erkrankt, doch die Therapie schlägt nicht richtig an. Das Seltsame: So geht es auch anderen Patient*innen, die dasselbe Medikament bekommen. Je mehr Karoline in dieser Causa recherchiert, desto mehr bringt sie sich selbst in Gefahr …

Mehr Infos zu dem Buch gibt es hier.

„Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch“ – Gespräch mit Bernhard Schöpfer, Gründer von „Der Fährmann”

2013 gründete Bernhard Schöpfer die Bestattung „Der Fährmann“  und damit einen Raum für alternative Verabschiedungen von  Verstorbenen. Das Unternehmen ist seitdem Anlaufstelle für Trauernde; neben der Unterstützung bei der Organisation traditioneller und individueller Abschiedsfeiern und Bestattungen liegt ein großer Fokus auf der Trauerarbeit, denn: Diese ist für die Hinterbliebenen genauso wichtig. Wir haben uns mit ihm über seine Arbeit, Abschiedsrituale und den Stellenwert des Todes in der Gesellschaft unterhalten.

Bernhard, wie kam die Idee für die Bestattung „Der Fährmann“? Was hat dich dazu gebracht, dich beruflich mit Tod und Abschied zu beschäftigen?

Die Idee kam aus dem Bedürfnis heraus, etwas an unserem aktuellen System der Beerdigungen zu ändern. Ich habe gemerkt, ich bin nicht ganz zufrieden mit der Trauerkultur, die bei uns üblich ist – etwas fehlt. Beerdigungen und die damit zusammenhängenden Abläufe werden meistens nach einem bestimmten Muster abgewickelt und möglichst schnell erledigt. Übrig bleibt danach in der Regel nur der Partezettel – der Raum, wo die Trauer ihren Platz findet, wird nicht ausreichend geöffnet für die, die einen geliebten Menschen verloren haben. Genau hier wollte ich ansetzen und eine Lücke füllen, den Hinterbliebenen und ihren Gefühlen Platz geben.
Und nicht zuletzt ist unsere Trauerkultur sehr eng mit dem christlichen Glauben verbunden. Es gibt kaum Rituale in Bezug aufs Begräbnis außerhalb der Kirche, ohne dass ein Pfarrer dabei ist. Viele wissen gar nicht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, im Sinne des*der Verstorbenen einen angemessenen Abschied zu bereiten.

Was genau macht „Der Fährmann“? Was unterscheidet euch von anderen, „klassischen“ Bestattungsunternehmen?

Wir bemühen uns dahingehend, dass auch Beerdigungen außerhalb der Kirche, unabhängig vom Kulturkreis, in welchem (nicht)religiösen Kontext auch immer, würdevoll stattfinden; nicht nur für den*die Verstorbene*n, sondern vor allem für die Angehörigen. Es ist Teil der Trauerarbeit, die wir machen, und diese muss unserer Erfahrung nach möglichst bald losgehen und nicht erst nach dem Begräbnis. Wir versuchen, die Menschen einzubinden, Möglichkeiten zu bieten, sich handlungsfähig zu erleben in ihrer Ohnmacht und nicht alles fernhalten.
Wenn jemand stirbt, kann man als Angehörige*r gewisse Dinge nur zu einem bestimmten Zeitpunkt machen – danach ist es unwiederbringlich. Ich kann nach der Beerdigung dem*der Toten nicht mehr ein letztes Mal über die Wange streicheln, die Hand halten und vieles mehr. Als Bestatter ist es meine Verantwortung, Räume dafür zu öffnen, unwiederbringliche Momente zu ermöglichen. Das kann unterschiedlich aussehen: die Angehörigen fragen, ob sie etwas tun wollen, den*die Tote*n nochmal berühren, zu ihm*ihr sprechen. Oft nehmen sie das dankend an, sind im Nachhinein froh, das getan zu haben. Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch. Deshalb sind Berührungen umso wichtiger in der Trauerarbeit. Beim Abschied von einem geliebten Menschen darf alles Platz haben, alles gesagt werden – auch, was nicht so gut war.

Auf der Homepage von „Der Fährmann“ ist immer wieder die Rede von „Abschiedsfeiern“ – das ist ungewöhnlich. Das Leben feiern – ja. Aber den Tod?

In der röm.-kath. Kirche gibt es einen Beerdigungsritus, der im Grunde immer gleich abläuft. Je nach Pfarrer hat daneben noch etwas Platz oder eben nicht. Wenn man sich für ein freies Begräbnis entscheidet, können Feiern sehr individuell gestaltet werden. Hier steht die verstorbene Person im Mittelpunkt und kann durch die zahlreichen Erinnerungen der Anwesenden noch einmal richtig aufblühen. Es entwickelt sich dadurch viel mehr Platz für Emotionalität, auch wenn man sich nicht bewusst dafür entscheidet, sich dem hinzugeben.
Rituale sind wichtig, um den Abschied zu begehen, ihn vor allem bewusst zu erleben, anstatt nur in starren Riten durchmanövriert zu werden. Trauern heißt auch aktiv zu sein, sich bewusst handlungsfähig zu machen und die Verabschiedung mit seinem Beitrag zu bereichern. Wenn sich der*die Verstorbene immer etwas Bestimmtes für das Begräbnis vorgestellt hat und ich setze mich dafür ein, dass dieser Wunsch erfüllt wird, dann habe ich etwas Schönes für sie*ihn getan. In meiner Erfahrung ist das ein sehr tröstlicher Gedanke für die Hinterbliebenen.
Im Vorfeld ist es natürlich hilfreich zu wissen: Wie will die Person beerdigt werden? Welche Rituale sind wichtig für sie? Das gehört ebenfalls zur Trauerarbeit: den Angehörigen aufzuzeigen, dass sie den Abschied aktiv mitgestalten können, um auch für sich einen Weg der Bewältigung des Verlusts zu finden.

Wie steht die heutige Gesellschaft deiner Einschätzung nach dem Tod gegenüber? Ist er Teil des Lebens oder immer noch ein schwieriges Thema?

Ich würde sagen, es ist nach wie vor schwierig. Die Art und Weise, mit der wir in der Gesellschaft mit dem Tod umgehen, ist geprägt davon, wie wir den Umgang damit erleben – eben meistens als schnelles Abwickeln der üblichen Abläufe ohne die Möglichkeit, angemessen zu trauern. In den letzten Jahrzehnten hat sich diesbezüglich viel getan. Früher war der Pfarrer zuständig, sich um das Seelenwohl des*der Sterbenden zu kümmern. Heute wird das ins Krankenhaus ausgelagert und es geht bis zum Schluss um Heilung. Mittlerweile wird durch Palliative Care versucht dem Sterbeprozess wieder Raum zu geben.
Noch ein kurzer Blick auf den Tod historisch gesehen: Wir haben eine Zeit der Weltkriege hinter uns, wo so viel Tod und Leid passiert ist, dass die Menschen wenig Möglichkeit hatten, die Trauer zuzulassen. Es herrschte eher das Motto „Jammer nicht, wir haben überlebt”. Mittlerweile ist das anders, da (zumindest in unserem unmittelbaren Umfeld) kein Krieg herrscht und der Abschied nun wieder besser möglich ist. Es zeigt sich auch eine erfreuliche Entwicklung in der jetzigen Zeit: Das Bedürfnis, zu trauern, wird wieder größer, die Menschen trauen sich wieder mehr, in diese Emotion reinzugehen.

Oft fällt es uns schwer, unser Beileid auszudrücken, die richtigen Worte zu finden. Wie kann man deiner Erfahrung nach auch ohne große Worte für Hinterbliebene da sein, ihnen Trost spenden?

Ich verstehe die Hilflosigkeit Außenstehender, wenn es um den Umgang mit Trauernden geht, gut. Worte bringen den Menschen nicht mehr zurück, machen die Situation nicht besser. Die Straßenseite zu wechseln, das Gespräch zu meiden, nichts zu sagen ist aber weit schlimmer. Es ist okay und wichtig, den Verlust feinfühlig anzusprechen und Beileid zu wünschen. Für die Trauernden kann diese Wertschätzung, die ihnen und dem*der Verstorbenen so entgegengebracht wird, sehr bereichernd sein. Und es braucht nicht unbedingt viele Worte – manchmal reicht ein feiner Händedruck, ein Blick, eine Berührung.

Du möchtest dich näher zum Angebot des „Fährmanns informieren? Hier geht es zur Website: https://www.der-faehrmann.at/home/ 

Lesen als Gegengift in lärmigen Zeiten – Dankesrede von Christoph W. Bauer anlässlich des Anton-Wildgans-Preises 2023

„Christoph W. Bauer ist in nahezu allen literarischen Genres zuhause. In seinen Prosa-Arbeiten, die vielfach im Grenzbereich zwischen Historiographie und Fiktion angesiedelt sind, dominieren Geschichten, die er im Alphabet ramponierter oder auch längst verschwundener Häuser ermittelt, sei es in Saint-Denis, sei es in Innsbruck-St. Nikolaus. Und in seinen Gedichten setzt Christoph W. Bauer mit seiner ganz eigenen Stimme souverän alle nur denkbaren lyrischen Formen ein, um in einer schier endlosen Kette von intertextuellen Bezügen, die von Homer und Catull über Dante und Villon und Borges bis zum Punk-Rock reichen, immer von neuem auf ein Spiel mit Möglichkeiten zuzusteuern, das ganz wenig übrig hat für scheinbar unverrückbare Gegebenheiten,“ heißt es in der Jurybegründung für den Anton-Wildgans-Preis 2023. Hier gibt’s Christoph W. Bauers Dankesrede in voller Länge zum Nachlesen: 

Sehr geehrte Damen und Herren,

vorab, ich rede nicht gerne, ich schreibe lieber, und noch weit lieber als das Schreiben ist mir das Lesen. Und wenn ich heute vor Ihnen stehe und diese Auszeichnung entgegennehmen darf, weiß ich, wem ich das zu verdanken habe: Dem Lesen. Alles, was ich über Literatur zu sagen weiß, hat mich das Lesen gelehrt. In der Auseinandersetzung mit den Werken anderer hat sich mein Denken geformt, meine Sprache. Ich bin durch die Schule des Lesens gegangen, durfte einige meiner Lehrerinnen und Lehrer persönlich kennenlernen, Julian Schutting, Robert Schindel, Sabine Gruber und Paul Nizon, um hier nur einige zu nennen. Sie haben mich durch ihren Zuspruch gefördert, vor allem aber durch ihre Bücher.

Ich habe keine Lehre abgeschlossen, die Universität einige Monate lang im wahrsten Wortsinn bloß besucht, war also Gast in einem Leben, das für mich keine Möglichkeit darstellte. Die Literatur jedoch begriff ich als ein Spiel mit Möglichkeiten, ein Spiel mit Masken, sie lehrte mich Alternativen, lehrte mich Aufbrüche, Ankünfte. Sie wurde mir Fluchthelferin, selbst wenn ich die Gefahr noch nicht erahnte, sie trieb mich an und ließ mich ins Leere laufen, düpierte meine Denkgewohnheiten, feite mich vor voreiligen Schubladisierungen; immer wieder war sie mir Fallenstellerin, auf sicheren Wegen wähnte ich mich, als sich plötzlich mit wenigen Worten ein Abgrund auftat. Ich lebte in den Tag hinein und dachte nicht an die Zukunft, ich setzte alles auf eine Karte, ich wollte, was ich tat: schreiben.

Das hat nun so gar nichts mit Berufung zu tun, sondern verdankt sich dem Umstand, dass ich mich in die Gegenwart immer erst hineinbuchstabieren muss, um sie mir greifbar zu machen, hineinzweifeln muss ich mich, nach jedem Aufwachen, Wort für Wort setzt sich ein Hier und Jetzt zusammen. Das mag hochtrabend klingen, pathetisch gar, ist aber bloß meinem Wunsch nach Neuanfängen geschuldet, literarischen Wahlverwandten gewiss auch, nicht zuletzt meiner Kindheit.

Vor mir ein Berg, hinter mir einer, links ein Berg, rechts ein anderer, dieses Bild stellt sich mir ein, wenn ich an meine Kindheit denke. Aufgewachsen im Tiroler Unterland, im Brixental, im Schatten des Hahnenkamms wurde mir dieses Bild zur Sprungfeder für Träume, Fantasien, nicht zuletzt für meine Neugier. Es muss noch etwas anderes geben als diese Berge, dachte ich, etwas anderes als Wachsgeruch in der Nase, etwas anderes als rote Tore, blaue, und jeden Tag Skiclubtraining und jedes Wochenende ein Skirennen, fünf vier drei zwo eins ab, fünf vier drei zwo eins ab, und runter den Hang, zweiter ist letzter, zweiter ist letzter, das war die Parole, mit der uns der Trainer in den Ohren lag.

Ja, es muss etwas anderes geben als die Sorge um ausgelastete Hotelbetten, als Nachbarn, die saisonlang mit ihren Kindern in die Keller ziehen, um ihre Schlaf- und Kinderzimmer an Gäste zu vermieten. Etwas anderes als postsaisonalen Baulärm und die herbstliche Zurüstung auf die nächste Wintersaison, schlicht etwas anderes als das Wort Saison, das wie ein Sesamöffnedich verwendet wird.

Etwas anderes als argwöhnische Blicke, die all jene trafen, die sich dem Ganzen entzogen, und die gab es freilich auch, solche, die sich abseits einer Melange aus Blasmusik und Hardrockklängen für andere musikalische Formen interessierten, für Bücher gar, oder sogenannte Zuagroaste. Letztere fielen auf, das hat sich bis heute nicht geändert. War ich einer von ihnen? Gewissermaßen ja. Der Herkunft meines Vaters geschuldet sprach ich zuhause Hochdeutsch, kaum hatte ich die elterliche Wohnung jedoch verlassen, redete ich im Dialekt, früh lernte ich, die Sprachebenen zu wechseln, eine Fähigkeit, wenn es denn eine ist, die ich noch heute beherrsche. Mein Vater zog Beethoven Mozart vor, meine Mutter konnte da nur protestieren, und beide lasen, Tolstoi, Dostojewski, aber auch Dante Alighieri, erinnere ich mich und sofort fällt mir ein, wie alleine die Namen der Schriftsteller meine Fantasie anregten.

Mein Lieblingsbuch im elterlichen Bücherregal war Meyers Universallexikon, in dem ich mich stundenlang vertiefen konnte – und dadurch so manches Skiclubtraining versäumte. Als Grund für mein Fehlen wagte ich, das Lexikon allerdings nicht zu nennen, ich erfand Geschichten, die zumindest für mich plausibel klangen, ich schwadronierte, ich war ein anderer. Ich verwandelte mich und spürte, dass Worte dies ermöglichten. Ob der Trainer mir die Geschichten abnahm, weiß ich nicht, sehr wohl aber, dass er mich ohnehin nicht als künftigen Skiweltmeister einstufte, was ihn mir plötzlich sehr sympathisch macht.

Vielleicht hätte er sogar am wahren Grund für mein Abwesenheit Gefallen gefunden, ja, ich hätte ihm erzählen sollen, was mich umtrieb: Worte, in deren Klang ich rote Tore und blaue Tore hinter mir ließ, ich war sozusagen über alle Berge, wenn ich das Lexikon aufschlug und Begriffe aneinanderreihte zu einer Zauberformel, die ich laut vor mich hin sprach: Madagaskar, Maracuja, Mare internum.

All das kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich in einen Zug einsteige, um ins Dorf meiner Kindheit zu fahren. Dann denke ich wieder an die Faszination, die von Worten ausging, an den Klang, den Worte auslösen können, ich denke an das Bücherregal meiner Eltern und daran, wie sehr sie mich im Lesen immer gefördert haben.

Diese Leseförderung versuche ich seit mehr als zwanzig Jahren auch an andere weiterzugeben, an Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen, ich gehe in Volksschulen, Hauptschulen, Abendschulen, ich gestalte Schreibwerkstätten, Lesungen, lasse mir selbst vorlesen – und merke erschreckend oft, wie sehr es dieser Förderung bedarf. Erst vor ein paar Tagen las ich in einer österreichischen Tageszeitung: „Rund eine Million Erwachsene in Österreich können nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen. 720.000 Menschen zwischen 16 und 65 befanden sich auf Lesekompetenzstufe eins. Das bedeutet, dass sie nur kurze Texte mit einfachen Vokabeln lesen und darin eine einzelne Information finden können, sofern der Text nur wenige widersprüchliche Informationen enthält. 140.000 Personen lagen unter der Kompetenzstufe eins. Sie haben Schwierigkeiten, Verträge zu lesen, Formulare auszufüllen, Beipackzettel von Medikamenten zu lesen oder sich an Fahrplänen zu orientieren. Die Mehrheit der Betroffenen hat Deutsch als Erstsprache, einen niedrigen formalen Schulabschluss trotz in Österreich erfüllter Schulpflicht.“

Wie kann das sein? Wieso misst man dem Lesen im Unterricht so wenig Wert bei? Oder ist es so, dass man die Leseschwächsten einfach mitzieht von einer Schulstufe in die nächste in der Meinung, sie würden ohnehin irgendwann in einem Beruf landen, und dann Extrawurst aufschneiden oder Weingläser nachfüllen oder unseren Müll wegräumen? Hauptsache, sie funktionieren, sie stellen nichts in Frage – wie es gute Literatur immer tun sollte.

Und warum überhaupt wird im Schulunterricht kaum noch Literatur vermittelt? Mehr noch: Warum wurde die Literatur in den letzten Jahrzehnten sukzessive aus den Lehrplänen gestrichen? Und durch welche Inhalte wurde sie ersetzt? Wie man einen Lebenslauf erstellt oder ein Bewerbungsschreiben formuliert, stand schon in meiner Schulzeit auf dem Lehrplan. Den Schülerinnen und Schülern wird hier – mit Vorsatz – etwas vorenthalten, worauf sie ein  Anspruch haben, etwas vorenthalten, das ihr Leben prägen könnte, das ihnen die Augen öffnen und sie dazu bestärken könnte, eine eigene Meinung zu entwickeln: Bildung durch Literatur.

Und ist nicht eine ausreichende Lesekompetenz die Grundvoraussetzung für Bildung schlechthin? Im erwähnten Artikel ist zu lesen: In unserem Schulsystem würden Kinder zwar lernen, wie das Lesen geht, aber das Einüben müsse außerhalb der Schule passieren. Wenn es die Eltern selbst nicht können, können sie die Kinder nicht unterstützen. In Österreich werde Bildung vererbt.“ Nun ja, überspitzt ausgedrückt wage ich die Behauptung: In Österreich wird Unbildung vererbt. Weniger spitz: Hierzulande erhält man Anerkennung über die verschiedensten Kanäle, aber kaum noch über Bildung. Auch eine Folge davon: Kunst und Wissenschaft werden abgetan, wer braucht sie denn noch.

Wenn ich mit Schülerinnen und Schülern arbeite, versuche ich, sie auf dem spielerischen Weg zum Lesen und Schreiben zu verführen. Und sie machen mit, sie wollen ihre Texte schreiben und vorlesen, sie erhalten Applaus. Und ich merke, wie viele von ihnen, gerade die Schreib- und Leseschwächsten, geradezu nach Anerkennung gieren. Sie erhalten sie, so wie ich sie heute erhalte, indem ich den Anton Wildgans Preis empfangen darf.

Bei Paul Nizon lese ich die Sätze: „Es ist ja nicht einfach nur Schicksal oder Pech, dass der eine im Lichte steht und der andere im Dunkel. Es ist die Frage: Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und als Schriftsteller weitermachen zu können.“ Lassen wir den Schriftsteller kurz weg. Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und weitermachen zu können? Egal in welchem Beruf. Wieviel braucht er?

Mir als Schriftsteller wird diese Anerkennung nun zuteil, sie ermöglicht es mir, meinen Weg unbeirrt weiterzugehen, ich setzte alles auf eine Karte, ich tue es immer noch. Anerkennung, also Respekt, und an Letzterem mangelt es leider viel zu vielen Menschen in diesem Land. Ein Blick in Online-Foren genügt, da wird gepostet, was das Zeug hält, Hauptsache, glauben und meinen und dabei zumeist nichts wissen. Unfassbar, mit welcher Häme und Respektlosigkeit hier abgeurteilt wird, ein hartes Wort, aber es trifft zu. Und wäre es nicht so beschämend, was meine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von sich geben, könnte ich mitunter sogar laut auflachen über diesen ungewollt spielerischen Umgang mit Sprache, der jede Grammatik und Rechtschreibung außer Kraft setzt, sodass man sich ob der Unverständlichkeit der geposteten Kommentare schon fragen will, in welcher Sprache sie verfasst worden sind.

Der spielerische Umgang mit Sprache war auch Anton Wildgans nicht fremd. Zumindest glaube ich ihn zu erkennen, schon in seinem frühen Stück Sappho, das er als Neunzehnjähriger schrieb, aber auch in späteren Arbeiten, in der Anverwandlung antiker Motive, in der Abwandlung antiker Versmaße. Ein Gedicht der frühgriechischen Dichterin verwende auch ich bei Lesungen in Klassenzimmern, ein Liebesgedicht, das ich nachgedichtet habe – und immer wieder bin ich erstaunt, welch großen Anklang es bei den Schülerinnen und Schülern findet. Floh Sappho mit ihren nur in Fragmenten vorhandenen Gedichten vor der Realität? Mitnichten.

Auch Anton Wildgans flieht nicht vor der Realität, im Gegenteil, er versucht, sich ihr einzuschreiben, er beschönigt nichts. Eines seiner Gedichte trägt den Titel „Ich bin ein Kind der Stadt“, was mich an dieser Stelle sagen lässt: Ich bin ein Hund meiner Zeit. Als solcher schnüffle ich herum, stöbere ich, belle schon mal vorlaut, aber nie ohne Grund, vor allem aber, ich bin wachsam. In Anton Wildgans Lebenszeit fallen der Zerfall der Monarchie, der Erste Weltkrieg, die Nachkriegszeit, in meine bisherige Lebenszeit der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege und zu viele andere mehr. Und nun erleben wir erneut einen Krieg, wir erleben ihn aus der Ferne, während andere ihn jedoch erleiden, erleiden müssen.

Wir leben in lärmigen Zeiten, Lesen könnte ein Gegengift sein, es ist ein stilles Unterfangen. Und schon klar, das Lesen kann keine Kriege verhindern, so naiv bin ich nicht, aber das Lesen schärft das Bewusstsein für Sprache. Kriege brechen nicht aus, sie sind keine Häftlinge, Kriege werden entfesselt, um im Bild zu bleiben, sie werden entfesselt von Demagogen, Verführern – diesen nicht immer ganz so rasch auf den Leim zu gehen, auch davor kann das Lesen feien.

Ja, lärmig ist unsere Zeit und voll der Debatten, und ich behaupte keineswegs, dass diese nicht geführt werden sollen, ich frage mich nur, warum sie immer so hitzig geführt werden. Und warum sich immer so viele daran beteiligen und das in einer Sprache, die – mit Verlaub – darauf schließen lässt, die Aufwiegler und Abwieglerinnen, die Aufwieglerinnen und Abwiegler haben nicht recht viel Literatur in ihrem Leben gelesen.  Ich will hier keine Beispiele nennen, ich denke, Sie finden selbst viele dafür.

Ich bin ein lesender Dichter, ein poeta legens, auch ein poeta ludens, ein spielender Dichter, was ich mit Sicherheit nicht bin, ein poeta vates, ein gottbegnadeter Seher, ein Genie. Gottbegnadet, ich habe das Wort mit Absicht gewählt, ein Begriff, den ich an sich aus meinem Vokabular gestrichen habe, weil er an die Liste der Gottbegnadeten erinnert in der Zeit des Nationalsozialismus, für mich ein verseuchter Begriff, aber erst das Lesen hat mich zu dieser Einsicht gebracht, das Lesen und sonst nichts. Lesen ist für mich in diesem Sinn auch ein Anlesen gegen das Vergessen, weil die gelesenen Werke ein Anschreiben gegen das Vergessen sind. Weil die gelesenen Werke der Geschichte einen Namen und ein Gesicht verleihen, weil sie Geschichte sichtbar machen. Wenn es heißt, dass Menschen nicht aus der Geschichte lernen, dann hat das auch diesen Grund: Weil sie nicht lesen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte mit einer ernstgemeinten Aufforderung schließen: Lesen Sie, und dann lesen Sie noch ein bisschen mehr, und dann, ja, dann lesen Sie halt bitte noch ein bisserl mehr! Herzlichen Dank.

„Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.“ Christoph W. Bauer zur Erinnerungskultur

Der größte noch bestehende NS-Bau in Tirol ist das Neue Landhaus in Innsbruck, das 1938/39 als Gauhaus für Parteidienststellen errichtet wurde. In diesem Machtzentrum wurde der menschenverachtende NS-Terror in Tirol und Vorarlberg geplant und bürokratisch in die Wege geleitet. 1955 zog die Tiroler Landesregierung in das Gebäude ein. Die historischen Hintergründe des Baus wurden lange verleugnet und verdrängt. Im Herbst 2023 startet die erste öffentlich zugängliche Ausstellung im Landhaus, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in diesem Gebäude anstoßen soll. Der Schriftsteller Christoph W. Bauer hielt anlässlich der Ausstellungseröffnung eine Rede, die zum Nachdenken anregt. 

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich gestehe es, es ist ein ungewöhnlicher Rahmen für mich, ein wenig mulmig zumute ist mir, und wenn ich heute diese Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung Vom Gauhaus zum Landhaus halten darf, ist mir das Würdigung meiner Arbeit wie Last zugleich. Denn dieses Haus ist von der allergrößten Bedeutung für die jüngere Geschichte Tirols, es polarisiert, es löste zahlreiche Debatten aus und wird für weitere sorgen, was unser Demokratieverständnis betreffend nur zu befürworten ist. Ich bin kein Historiker, ich bin Schriftsteller und als solcher gestalte ich meine kurze Rede, ohne dabei im Detail auf Inhalte der Ausstellung einzugehen, das werden Hilde Strobl und Christian Mathies später tun.

Im Jahr 1975 wurde ich schulpflichtig, auf vier Jahre Volksschule in Kirchberg in Tirol, folgte das Gymnasium in St. Johann im Tiroler Unterland. Ich hatte auch gute Lehrerinnen und Lehrer, das muss hier gesagt werden, vor allem im Fach Geschichte, ich lernte viel über die Historie Tirols, über Margarete Maultasch, über Friedl mit der leeren Tasche, über die Schatzkammer im Schloss Ambras, über die Habsburger, über den Kampf gegen Napoleon, ich lernte über einen Hofer alles, über einen anderen nichts, nicht einmal namentlich wurde Franz Hofer im Geschichtsunterricht erwähnt.

Freilich, ich erfuhr viel über den Nationalsozialismus, aber die Darstellung in den Geschichtsbüchern und Reden meiner Lehrerinnen und Lehrer rückten ihn in eine weite Ferne. Als hätte sich der ganze Schrecken nicht auch hier bei uns, vor der eigenen Haustür zugetragen. Ich hörte von den Novemberpogromen in Wien, in Berlin, in München, in Nürnberg und in anderen deutschen Städten, ich erfuhr nichts von der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Innsbruck und in Tirol. Ich erfuhr von Dachau, Mauthausen, Buchenwald, von Auschwitz und Treblinka, ich hörte nichts vom Lager in der Reichenau, und von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen war überhaupt nie die Rede. Auch nicht von jenen Menschen, die in den Baracken hausen mussten, an denen mein täglicher Weg in die Volksschule vorbeiführte, Zigeuner hat man sie despektierlich genannt, auch noch in meiner Kindheit und Jugend. Zunächst nach Innsbruck abgeschoben, wurden sie später nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Oder um Ihnen noch ein anderes Beispiel zu geben, wie mein Unterricht aussah:

Ein Verkehrsknotenpunkt ist Wörgl, das lernte ich in der Schule, ich erfuhr von der Giselabahn, die durchs Brixental führt, wo ich aufgewachsen bin. Namenspatronin der Bahn ist Erzherzogin Gisela Louise Marie von Österreich, die zweite Tochter von Franz Joseph I. Mit Fertigstellung der Bahntrasse im Jahr 1875 begann Wörgls Aufschwung, zuvor war der Ort ein Bauerndorf gewesen, an einer alten Durchzugsstraße im Inntal gelegen. Auch das war Schulstoff.

Christoph W. Bauer, geboren 1968 in Kärnten, wuchs in Tirol auf, wo er heute noch lebt. Er verfasst Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele, Übersetzungen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen dafür, u.a. den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2002), Outstanding Artist Award und Tiroler Landespreis für Kunst (beide 2015) sowie zuletzt den Anton-Wildgans-Preis (2023).

Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Begleiten Sie mich, sehr geehrte Damen und Herren, ein Stück durch die Bahnhofsstraße von Wörgl, wir bleiben stehen vorm Haus Nr. 21. Dort also gingen die Heimischen in den 1920er-Jahren ein und aus, um einzukaufen „beim Jud“, wie das Geschäft im Volksmund genannt wurde. Besitzer des Geschäfts war Rudolf Gottlieb, der sich mit seiner Frau Elisabeth 1906 in Wörgl niedergelassen hatte, die Stadt war in wenigen Jahren zu einem Handels- und Gewerbezentrum geworden. Reaktionen auf den ersten Zuzug eines jüdischen Ehepaars sind nicht bekannt, die beiden mieteten zunächst eine Wohnung in besagtem Haus. Gut zwei Jahre später bekamen sie mit der Familie Ostermann neue Nachbarn, was den Wörgler Pfarrer offensichtlich erzürnte, vorwurfsvoll wandte er sich an den Vermieter: „Z’erst nimmst an Juden, und iatz gar no an Protestanten.“

Gleichwohl begann das Ehepaar Gottlieb mit dem Aufbau eines Textilgeschäfts, das regen Zuspruch fand und bald den Kauf des Hauses in der Bahnhofstraße ermöglichte. 1916 erhielt die Familie Gottlieb, mittlerweile um die drei Kinder Otto, Erwin und Irma angewachsen, das Heimatrecht in Wörgl – von größter Bedeutung für die Erringung der Staatsbürgerschaft nach Kriegsende. Diese feite sie freilich nicht vor den aggressiven Verbal-Attacken des „Tiroler Antisemitenbundes“, der 1919 gegründet wurde.

Zu tätlichen Übergriffen kam es in der Zwischenkriegszeit nicht, auch nicht in den Tagen nach dem sogenannten „Anschluss“. Das Geschäft wurde indes umgehend „arisiert“ und den Gottliebs eine Frist gesetzt, Wörgl zu verlassen. Dies geschah im März 1939, die Familie wurde nach Wien ausgewiesen. Von dort konnten die Söhne Otto und Erwin nach Shanghai flüchten, Irma und ihr Mann versuchten, mit einem illegalen Schiffstransport über die Donau ins Schwarze Meer und weiter nach Palästina zu gelangen. Das Zufrieren der Donau nötigte sie jedoch, den Winter 1939 in einer kleinen jugoslawischen Hafenstadt zu verbringen; sie durften nicht von Bord. Im Sommer 1940 wurden sie mit anderen Vertriebenen in die Nähe von Belgrad verlegt, eine Weiterreise scheiterte. Im Zug des Balkanfeldzugs 1941 holte die Wehrmacht die Flüchtlinge ein und internierte sie in Baracken am Ufer der Save.

Sondereinheiten erschossen in einer „Sühneaktion“ im Oktober 1941 alle Männer unter den Gefangenen, darunter auch Irmas Ehemann Karl Rosenberg. Frauen und Kinder wurden in ein KZ in Belgrad gebracht, wo man ihnen eine „Umsiedlung“ vorgaukelte, täglich kamen zwei Lastwägen ins Lager. Und so stieg auch das jüngste Kind von Rudolf und Elisabeth Gottlieb im Frühjahr 1942 in den Laderaum und wurde während der Fahrt durch eingeleitete Abgase ermordet. Irmas Leiche verscharrte man in Alava bei Belgrad.

In Anbetracht ihres Alters hatten die in Wien zurückgeblieben Eltern kaum noch eine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Mit Ausbruch des Kriegs verschlechterte sich ihre Situation drastisch. Zuletzt lebte das Ehepaar Gottlieb im II. Bezirk in der Großen Mohrengasse 14. Im Oktober 1942 wurde es nach Theresienstadt verschickt und überlebte die katastrophalen Zustände dort nur um wenige Monate.

Davon erfuhr ich in der Schule nichts. Man mag einwenden, dass die Aktenlage damals noch eine andere war und die Archive für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschlossen waren, das stimmt zweifelsohne. Aber mittlerweile hat sich die Lage geändert, Dank der Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck wurde vieles sichtbar gemacht, wie auch durch Künstlerinnen und Künstler und andere kritische Geister in diesem Land. Das Schicksal der Familie Gottlieb ist bekannt und sollte Schulstoff sein. Wie auch die Geschichte dieses Hauses, in dem wir uns befinden, Schulstoff sein sollte, denn was in diesem Haus damals beschlossen und angeordnet wurde, hatte weitreichende und verheerende Folgen. Wer in diesem Haus seit seiner Errichtung und bis Kriegsende ein und aus ging, wer hier Dekrete diktierte, wer sie unterschrieb und weiterleitete, hat sich mitschuldig gemacht. Da gibt es nichts zu beschönigen, das muss sichtbar gemacht werden. Und darum geht es in dieser Ausstellung: um Sichtbarmachung von Geschichte. Um Sichtbarmachung, so hoffe ich, vor allem auch für junge Menschen.

Aber warum denn das alles, kann man diese Geschichte nicht endlich ruhen lassen? Nein, das kann man nicht, mehr noch: das darf man nicht! Und die Frage ist ja nicht neu, ich hörte sie bereits in meiner Kindheit und Jugend, ich hörte sie als Schriftsteller, als ich über das Schicksal der Familie Graubart schrieb und über weitere jüdische Familien, die aus Tirol vertrieben wurden. Über die Familien Bauer und Schwarz, über die Familie Pasch, über Hans und Felix Heimer, über Abraham Gafni und Peter Gewitsch, Menschen, die ich in Israel und England aufsuchte, mit denen ich Gespräche führte, Gespräche führen wollte und musste, ehe es dafür zu spät ist. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben mir ihre Geschichten anvertraut, Geschichten, die ihre Schicksale am Leben erhalten über ihren Tod hinaus. Meine Arbeit verstehe ich in diesem Sinn auch als ein Anschreiben gegen das Vergessen.

Und ich will und werde nicht lockerlassen, im Auftrag des Tiroler Landestheaters habe ich in den vergangenen Monaten ein Stück geschrieben, das bald Premiere haben wird. Kein herkömmliches Stück, nein, ein Klassenzimmerstück, das von Flucht und Vertreibung in der Zeit des Nationalsozialismus spricht und Jugendlichen die Thematik näherbringen soll. Mobiles Theater in ganz Tirol, von einer Klasse in die nächste, ein Stück für Jugendliche, das Geschichte sichtbar machen und ihr ein Gesicht geben soll. Von Verantwortung ist in dem Stück die Rede, von der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, oder um es mit dem bildendenden Künstler Franz Wassermann zu sagen: Wir haften für unsere Geschichte. Aber nichts ist falscher, fataler als Jugendlichen gegenüber heute von Schuld zu sprechen, das greift zu kurz und darüber hinaus längst nicht mehr, damit erreichen wir junge Menschen nicht. Abgesehen davon, sie haben selbstredend keine Schuld, wie auch ich in meiner Schulzeit keine hatte, die drei Jahrzehnte nach Kriegsende begann.

Aber haben Jugendliche heute nicht andere Probleme? Haben sie. Und mir ist klar, dass auch der Unterrichtstoff inzwischen enorm angewachsen ist. Mit einem befreundeten Lehrer, der Geschichte an einer Hauptschule unterrichtet, habe ich oft darüber gesprochen. Der Fall der Mauer, der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege, 9/11 all das ist mittlerweile Lehrstoff. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus von immenser Wichtigkeit ist, da sie den Blick schärft und in der Folge über den eigenen Tellerrand schauen lässt.

Und dieser Teil der regionalen Geschichte beginnt ja nicht am 11. März 1938 und endet im Mai 1945, er beinhaltet auch die Jahre des Austrofaschismus und die Nachkriegszeit, in der sich viele Menschen in diesem Land der Verantwortung entledigten wie eines abgetragenen, zerfledderten Anzugs. Oder ihre Gesinnung weiterhin ohne jegliches Schuldbewusstsein schamlos zur Schau stellten.

Während der Arbeit an dieser Rede, kam mir ein alter Mann im Dorf meiner Kindheit in den Sinn. Meine Freunde und ich spielten oft auf einem Feld nahe dem Haus des Alten Fußball und jedes Mal stapfte er wütend auf uns zu, wild mit seinem Gehstock fuchtelnd und bellte uns an auf gut Brixentoierisch: I drah enk s Gas ob. Auf seiner Oberlippe ein Hitlerbart.

Und ich erinnerte mich an die Landsergrauen Gestalten, die ich bei jedem Kirchgang beim Kriegerdenkmal stehen sah, sie gingen ja lieber ins Wirtshaus, Gottgläubige eben durch und durch. Hoben sie das Glas auf ihn, den Gauleiter, als der im Jahr meiner Einschulung 1975 in Mühlheim an der Ruhr eines natürlichen Todes starb, ohne je für seine Schandtaten zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Der hier in diesem Haus bis 1943 ein und ausging, ehe er von Bozen aus seine menschenverachtende Politik weiter betrieb. Der hier in diesem Haus die Fäden in der Hand hatte; der hier in diesem Haus sich rühmte, den Gau „judenrein“ gemacht zu haben, ehe er in eine Bar ging, um sich zu treffen mit Seinesgleichen, in die Hiebl-Bar eines Totenkopf-SSlers in der Maria-Theresien-Straße, ein arisiertes Lokal, das man der Familie Schindler gestohlen hatte. Alles ging über seinen Tisch im Gauleiterzimmer, dessen Einrichtung Bände spricht vom Geschmack des ehemaligen Radioverkäufers und Briefmarkendiebs.

Und ich erinnerte mich an das Raunen, das jedes Mal anhob, wenn die Rede – etliche Jahre später, ich lebte bereits in Innsbruck und recherchierte für ein Buch, dessen Inhalt die Stadt Innsbruck selbst ist – wenn also die Rede auf das Gauleiterzimmer kam oder auf den Gauleitertresor, als würde es sich um Mysterien handeln, die viele Jahrzehnte durch Köpfe spukten – und denen diese Ausstellung Abhilfe schafft.

Dieses Haus ist ein Unikum, es findet keinerlei Entsprechung in anderen Gauhäusern der damaligen Gauhauptstädte. Es wurde geplant als Zeichen der Macht und ist dem Baustil jener Zeit geschuldet, darüber werden Sie später mehr hören. Schaue ich mir alte Ansichten von Innsbruck an, wirkt das Haus noch wuchtiger und ich bekomme ein Gespür dafür, wie das Haus damals auf die Menschen gewirkt haben muss, ein beinahe angsteinflößender Bau, der Ansitz uneingeschränkter Macht. Aus heutiger Sicht bietet das Haus die Gelegenheit zur direkten Konfrontation mit der Vergangenheit. Und ich selbst lerne durch die Ausstellung und das Buch Vom Gauhaus zum Landhaus von Hilde Strobl und Christian Mathies neues hinzu.

Vor fünfzehn Jahren erschien mein Buch Graubart Boulevard. Es handelt von der Familie Graubart, die einst aus Galizien über Wien nach Innsbruck kommt. Simon Graubart eröffnet hier im Jahr 1888 ein Schuhgeschäft, das Schuhhaus Graubart, das sich zuletzt in der Museumstraße 8 befindet. Simon Graubart ist zweimal verheiratet, er hat drei Söhne – Siegfried, Alfred und Richard – die alle in Innsbruck geboren werden, hier die Schule besuchen und später zu arbeiten beginnen. Die Familie ist – wie die meisten anderen jüdischen Familien in Innsbruck auch – nicht sehr religiös, sie will nicht auffallen, sie will einfach, was auch andere Menschen in der Stadt wollen, ein gutes Leben führen, sommers auf Berge kraxeln, im Winter Schifahren oder Rodeln gehen.

Als Simon Graubart 1936 stirbt, ist die Bestürzung über seinen Tod in der Stadt groß, was eine Todesanzeige in den Innsbrucker Nachrichten bezeugt, dem Vorläuferblatt der heutigen Tiroler Tageszeitung. Zwei Jahre nach Simon Graubarts Tod wird sein jüngster Sohn Richard in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in seiner Villa in der Gänsbacherstraße Nummer 5 von einem Rollkommando der SS ermordet, eines von vier Todesopfern jener Schreckensnacht. Graubarts Frau Margarethe und seine damals vierjährige Tochter Vera werden nach Wien abgeschoben, von dort gelingt ihnen die Flucht nach England.

Was ich damals, als ich an dem Buch schrieb, noch nicht wusste – und das bringt mich jetzt auf das Gauhaus zurück, dass zu dessen Errichtung andere Gebäude auf dem Areal geschleift werden mussten. Das Problem aber war, dass diese Häuser bewohnt waren und man für die Bewohnerinnen und Bewohner neue Unterkünfte auftreiben musste. Die Saggener Villa der Graubarts mit zwei Wohnungen war bereits vergeben, dort lebten der Bürgermeister von Innsbruck und der Direktor der Stadtwerke, aber es gab ja noch die drei Wohnungen über dem arisierten Schuhgeschäft in der Museumstraße, die auch der Familie Graubart gehörten. Also bot man unter anderen auch diese Wohnungen an. Was ich damit sagen will: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kommt nie an ein Ende, sie liefert immer wieder neue Einsichten.

Was reitet der Bauer bloß immer auf der Vergangenheit herum, wir leben im Hier und Jetzt! So ist es, sehr geehrte Damen und Herren, wir leben im Hier und Jetzt, und gerade deshalb scheint eine Beschäftigung mit der Vergangenheit aufs Äußerste geboten zu sein. Wir leben in einer Zeit, in der antisemitische Stereotypen wieder durch die Hintertür hereinkommen, in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden erneut Übergriffe fürchten müssen. Und wie erklären wir einem Kind oder Jugendlichen, warum Polizei vor der Synagoge in der Sillgasse Aufstellung nimmt, um das Gebetshaus und jene, die es betreten oder verlassen, zu schützen. Wer also behauptet, mit der Vergangenheit haben wir nichts mehr am Hut, der oder die irren ganz gewaltig. Auf diese Art und Weise wird unsere Demokratie aufs Spiel gesetzt.

Wir leben in einer Zeit der Islamophobie, der Homophobie, in einer Zeit des Populismus, ob der nun von rechts oder links kommt, spielt keine Rolle. Wir leben in einer Zeit, in der ein Begriff wie Faschismus inflationär verwendet wird, was darauf schließen lässt, dass jene, die das Wort im Mund führen, einfach nichts wissen, ja, wir leben in einer Zeit des Unwissens. Was daraus resultiert, ist offensichtlich, wir leben in einer Zeit des Fremdmachens, was nicht hierher passt, wird fremdgemacht, es wird diskriminiert, es muss weg. Auf diese Methode verstanden sich schon die Nationalsozialisten, wohin das geführt hat, ist wohl jeder und jedem hier bekannt.

Wir müssen uns der Vergangenheit stellen, wenn wir nicht wollen, dass sie uns zur Gegenwart wird. Wir dürfen Kindern, Jugendlichen, wir dürfen Menschen nicht nehmen, worauf sie ein Recht haben: ein Recht auf Wissen.

Diese Ausstellung sorgt für Wissenserweiterung. Aber die Ausstellung darf nicht nur ein Punkt auf der Tagesordnung bleiben, eröffnet, rasch abgehakt und weiter geht’s. Die Inhalte der Ausstellung müssen ins Bewusstsein der Menschen übergehen. Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.

Es ist nie zu spät, Verantwortung zu übernehmen, wenngleich es selbstverständlich längst an der Zeit gewesen ist, die Geschichte dieses Hauses sichtbar zu machen. In diesem Sinne danke ich jenen, die dies ermöglicht haben, so wie ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit danke. Herzlichen Dank.

 

Christoph W. Bauer am 4. Oktober 2023

Coming of Age in Österreich: Drei Haymon-Autor*innen im Interview

Ach, Kindheitserinnerungen: Mit dem Postbus ewig in die Schule brauchen, Jollyeis im Freibad im Sommer genießen, Skifahren lernen (bevor man überhaupt Lesen und Schreiben kann) … Viele Erinnerungen teilen wir mit anderen, viele sind ganz unterschiedlich: Es gibt unzählige verschiedene Lebenswelten in diesem Land, so viele einzigartige Kindheiten und Coming-of-Age-Erlebnisse in Österreich. Vieles, was fast schon als kollektives Kindheitsgedächtnis zählt, ist nur eine Seite, eine Perspektive. Jede*r hat schöne, aber auch schwere Erinnerungen. Vielleicht auch welche, an die man nicht so gern zurückdenkt oder auch erst als Erwachsene*r richtig einordnen kann. Was hat sich seitdem geändert, was ist genau gleichgeblieben? Was vermisst man – und was gar nicht? Im Interview erzählen Nada Chekh, Herbert Dutzler und Precious Chiebonam Nnebedum vom Eiskunstlaufen und Comiclesen, von den Süßigkeiten, die unsere uns Eltern niemals erlaubt hätten (hätten sie davon gewusst) und von den Lektionen, die sie erst heute verstehen gelernt haben …

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. In den 1990ern und 2000ern wuchs sie im Wiener Gemeindebau auf. Heute schreibt sie als Journalistin darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt.
Foto: © Zoe Opratko

Was ist deine prägendste oder präsenteste Kindheitserinnerung?

Nada Chekh: Es gibt viele Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mir – je nach Gefühlslage – in den Kopf kommen. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich unbedingt Eiskunstläuferin werden. Mich in einem Verein anzumelden, konnten sich meine Eltern damals nicht leisten, aber dafür hat mein Vater mich mehrmals die Woche zu einem Eislaufplatz gebracht, wo ich nach der Schule abends zwei Stunden lang üben konnte. Einmal hatte ich den ganzen Platz im Außenbereich für mich alleine, und es schneite gerade so richtig dicke Flocken, und der Himmel war ganz erleuchtet davon, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war. Ich drehte ganz glückselig ein paar einfache Pirouetten vor mich hin und spürte so eine Ruhe in mir, wie selten zuvor. Lustigerweise erinnert mich der Song „Blue Dress“ von Depeche Mode an diesen Moment, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob dieses Lied damals über die Anlage gespielt wurde.

Herbert Dutzler: Wenn ich versuche, mich zurückzuerinnern, fallen mir fast nur Szenen im Freien ein, wo ich mit anderen Kindern zusammen war. Meist beim Radfahren, Fußball spielen oder einfach nur im riesigen Haselnussbusch herumhängen. Ein besonderer Nachmittag sticht aber heraus: Ich war in Bad Aussee bei einem Schulfreund zu Besuch, der eine riesige Sammlung von Micky-Maus-Heften hatte. Ich bin den ganzen Nachmittag auf der Veranda gesessen, der Regen rauschte durch die Bäume im Garten, und ich war völlig in die Comics vertieft.

Precious Chiebonam Nnebedum: Die präsenteste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe, muss mein siebter Geburtstag sein. Das war das Jahr, in dem ich jeden einzelnen Tag genossen habe, und es scheint wirklich sehr, sehr bedeutsam in meiner Erinnerung zu sein. Um ehrlich zu sein, habe ich an dem Tag nicht viel gemacht, aber eine Sache, die ich sehr lebhaft erinnere, ist, dass ich zu Hause einen kleinen Kuchen mit meinen Cous*inen gegessen habe, die zu Besuch gekommen waren. Danach habe ich ein bisschen Geld von der Familie bekommen, und es war nicht einmal viel, aber für eine Siebenjährige war ich reich. Ich bin damit mit meinen Cous*inen zum Laden an der Ecke gegangen und habe Süßigkeiten und Milchpulver gekauft, denn das war für uns damals eine Delikatesse, R.I.P. an unsere Zähne.
Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube ich habe auch eine Geburtstagskarte bekommen. Es muss eine rosa und blau glitzernde Geburtstagskarte gewesen sein, ich habe vergessen, von wem. Und ich war einfach glücklich. Es ist nicht viel passiert, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass dieses Alter der Höhepunkt war. Und jedes Mal, wenn ich denke, oh Mann, Erwachsensein ist eine Abzocke, erinnere ich mich an mein siebtes Jahr zurück. Denn damals war ich einfach am glücklichsten.

Herbert Dutzler ist in den 1960er Jahren in Altaussee im Salzkammergut großgeworden, heute schreibt er Bestseller.
Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

 

Was waren die größten Kämpfe, die du als junge*r Erwachsene*r ausfechten musstest?

Precious Chiebonam Nnebedum: Ich bin sehr dankbar und erkenne an, dass ich zu den wenigen POC in Österreich gehöre, die das Privileg hatten, in sehr jungen Jahren die Möglichkeit geboten zu bekommen, einflussreich zu werden und eine beeindruckende Liste von Erfolgen anzuhäufen. So sehr ich weiß, dass dies eine lobenswerte Tatsache ist, ging es auch mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Fragen einher. Eine der größten hatte definitiv damit zu tun, ob ich überhaupt das Recht hatte, in bestimmten Räumen zu sein, in die ich hineinging. Ich betrat politische Räume, ich betrat leitende, autoritäre Räume und Rollen, und jedes Mal hinterfragte ich die Tatsache, ob es einer jungen Schwarzen Frau erlaubt war, dort zu sein, ob sie dort sein sollte und ob sie überhaupt etwas Wertvolles beizutragen hatte oder ob sie einfach nur eine Beobachterin sein durfte. Ich denke, das Schwierige daran war, dass mir klar wurde, dass das nur in meinem Kopf war, aber aus irgendeinem Grund war es dennoch sehr schwer, diese Hürde zu überwinden und einfach zu handeln.
Ich muss wirklich Anerkennung zollen, wo Anerkennung gebührt, und offenlegen, dass es nur durch die Gnade Gottes war, dass ich in den meisten Fällen tatsächlich gehandelt und gesprochen habe. Ich habe eine Einstellung entwickelt, die besagt: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht ich, wer dann?“ Ich könnte nie sagen, dass es allein meine Leistung war. Ich verdanke das dem Support und Rückhalt von den Menschen um mich herum – meinen Geschwistern, meiner Familie, meinem Partner, meiner Community. Menschen, die Dinge in meinem Leben gesehen und über mich gesprochen haben, so oft, dass ich einfach daran glauben musste. Ich musste daran glauben, um weiterzukommen, und letztendlich habe ich das getan.

Herbert Dutzler: Da ging es vor allem um Kleidung und Haare. Meine Eltern hatten wenig Verständnis dafür, dass es unbedingt Jeans sein mussten, und noch dazu welche einer bestimmten Marke (Levis). Später mussten Jeans her, die einen V-Cut am Knie hatten, der irgendwann in den Siebzigern ein modisches Must-have war. Und unten mussten sie so weit ausgestellt sein, dass man die Schuhspitzen drinnen verstecken konnte. Die Haare waren auch ein ständiges Thema. Sie mussten zumindest so lang sein, dass man sie unterhalb der Ohren zusammenführen konnte, sonst war man komplett und völlig out. „So stellt sich der Bub nicht unter den Christbaum!“, hieß es, wenn die Frisur für die Feiertage dem Vater unpassend erschien.

Nada Chekh: Ich glaube, dass im Allgemeinen der Kampf um meine Privatsphäre der schwierigste in meiner Jugend war. Also nicht nur räumlich – es gab in unserer Wohnung nur drei Schlafzimmer für fünf Kinder und meine Eltern – sondern auch persönlich. Solange man finanziell und strukturell von seiner Familie abhängig ist, gelten auch deren Regeln unter dem Dach. Je erwachsener ich wurde, desto mehr spürte ich gewisse Rollenbilder, die mir als Frau auferlegt wurden. Dazu gehörte nicht nur, keinen Kontakt zum anderen Geschlecht zu haben, sondern auch eine Unfreiheit über meinen eigenen Körper. Als Jugendliche reagierte ich sehr empfindlich und frustriert auf diese Kontrolle, das hat mich ziemlich geprägt. Ich habe mich zudem nie mit meiner Religion wirklich identifiziert, was mich eine Stufe weiter von meiner Familie, meiner Muttersprache und den Sitten entfremdet hat.

 

Precious Chiebonam Nnebedum wuchs in Nigeria und Österreich auf. Nachdem sie zahlreiche Poetry-Slam-Bühnen gestürmt hat, lebt die Lyrikerin und Musikerin heute in Wien.
Foto: © Ella Börner

Gibt es etwas, das dir deine Eltern früher vermittelt haben, das für dich heute noch sehr wichtig ist? Oder gibt es vielleicht Haltungen, Werte, die dir deine Eltern mitgegeben haben, die du irgendwann beim Älterwerden verworfen hast?

Herbert Dutzler: Meine Mutter hat mich ab der ersten Klasse Volksschule wöchentlich in die Bibliothek mitgenommen, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Das Regal mit den Büchern für Leseanfänger war für mich die reinste Wunderkammer, und ich hatte alle Bücher darin noch vor dem Ende der ersten Klasse durch. Die politische Einstellung meiner Eltern und ihre Haltung fremden Menschen gegenüber ist ein Wert, den ich mit etwa 16 endgültig verworfen habe. Ihre Haltung war von distanzloser Verherrlichung einer schrecklichen Vergangenheit geprägt, was später auch zu gröberen Auseinandersetzungen geführt hat, als mein politisches Interesse erwachte und in eine völlig andere Richtung ging.

Nada Chekh: Heute finde ich es sehr schade, dass ich mich in meiner zweiten Muttersprache Arabisch niemals wohlgefühlt habe, obwohl meine Eltern mehrere Offensiven dazu gestartet haben, dass ich richtig lesen und schreiben lerne. Leider hat es mit Diktaten von Koransuren und Gebeten beim Sprachunterricht kaum funktioniert, weil ich nicht religiös war. Das ist so eine Sache, die ich meinen Eltern beim Aufwachsen vorgeworfen habe – dass sie mir die arabische Sprache vor allem über die islamische Religion näherbringen wollten, obwohl ich mich sehr heftig dagegen gesträubt habe. Auch über die Tatsache, dass die Bekannten meiner Eltern sich ohne Weiteres über meinen deutschen Akzent lustig machen konnten, habe ich mich lange geärgert. Mittlerweile sehe ich das gelassener, womöglich weil ich stattdessen Russisch gelernt habe und zuhause mit meinem Mann eine quasi „neue Muttersprache“ spreche, die ich an meine Kinder weitergeben würde, sollte ich eines Tages welche haben.

Precious Chiebonam Nnebedum: Eine der vielen Haltungen, die ich von meinen Eltern übernommen habe, ist die „offene-Haustür-Regel“. Unser Zuhause war immer offen, für jeden, seien es Cous*inen, die kamen und übernachteten. Wir hatten Tanten, Onkel, wir hatten Freund*innen, die kamen und übernachteten. Es wurde nie wirklich in Frage gestellt, ob wir genug zu bieten und teilen hatten, es war einfach die Tatsache klar, dass Menschen Bedarf hatten und wir immer bereit waren, zu helfen. Das ist etwas, dem ich auch heute noch folge. Immer wenn Freund*innen oder Familie oder wer auch immer in meiner Nähe sind, ist meine erste Aussage: „Hast du einen Platz zum Schlafen? Möchtest du bei mir bleiben?“ „Möchtest du abhängen? Ich kann für dich kochen. Du kannst kommen und so lange bleiben, wie du möchtest.“ Das ist mir zuallererst von meinen Eltern eingeprägt worden, bevor es später von Freund*innen und meiner Community verstärkt wurde.
Es gibt jedoch auch bestimmte Dinge, die ich von meinen Eltern gelernt habe und von denen ich mich nun langsam distanziere. Eines davon wäre die Vorstellung, dass Kreativität oder der Wunsch, kreativ zu arbeiten und eine Karriere daraus zu machen, definitiv in einer Sackgasse enden wird. Mir wurde tausendmal gesagt: „Ja, du kannst schreiben, du kannst auftreten, du kannst singen, du kannst all das tun. Aber du brauchst einen richtigen Job. Du brauchst einen richtigen Abschluss.“ Ehrlich gesagt sehe ich die Wahrheit in dieser Angst. Aber ich weiß trotzdem, dass es so viel Potenzial gibt, wenn man die Disziplin und die Arbeit und den Aufwand investiert, um eine Karriere im kreativen Bereich zu starten und aufrechtzuerhalten. Etwas, das ich immer noch anstrebe.

Welcher Sache – das kann ein Lied, eine Fernsehsendung, eine Süßigkeit etc. sein –, die es nicht mehr gibt, träumst du heute noch hinterher?

Nada Chekh: Ui, da gibt es mehrere Sachen. Es gab in Wien ein supertolles Café namens Berfin, das ich als junge Studentin mit meiner Mutter und meinen Geschwistern gerne besucht habe. Es hatte ein wunderbares orientalisches Flair, ohne kitschig zu sein. Wir waren früher manchmal sogar mehrmals die Woche dort, haben Shisha geraucht und miteinander getratscht, da habe ich sehr schöne Erinnerungen daran. Und das erste (und letzte) Mal, als ich in Ägypten war, war mit sechs Jahren. Ich kann mich gut an den Strand in Alexandria erinnern, wo es Verkäufer gab, die Freska – so eine Art Honigwaffel – verkauften. Als Kind habe ich diese Süßigkeit geliebt, aber eben nur bei diesem einen Besuch gegessen. Bis heute denke ich an diese großen, runden Waffeln und frage mich öfter, ob ich sie jemals wieder essen werde.

Herbert Dutzler: Die großen Samstagabendshows, die es heute kaum mehr gibt, waren absolute Straßenfeger, und die ganze Familie saß gebannt vor dem Fernseher. Die beliebteste von allen war „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff. Und den habe ich sogar einmal auf dem Balkon seines Pensionszimmers in Bad Aussee gesehen (von unserer Terrasse aus). Das war eine echte Sensation. Allerdings gibt es die meisten dieser Shows auch heute noch zu sehen – Youtube vergisst nichts!

Precious Chiebonam Nnebedum: Definitiv die Fernsehsendung: „The Grim Adventures of Billy and Mandy“ aus meiner Kindheit!

Warum wir 2023 noch über die Protagonistinnen der 1848er-Revolution diskutieren müssen und wie sich Geschichtsvernebelung aus dem 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit fortschreibt. Ein Interview mit Andreas Kloner

Der Zauberer vom Cobenzl“ von Bettina Balàka ist eine mitreißende und kuriose Geschichte von einem schillernden Wissenschaftler und Entdecker, der dem Altersstarrsinn anheim fällt und sein Denkmal beschädigt. Der Roman ist auch ein lebendiges Epochenbild, das uns Leser*innen aus einer weiblichen Perspektive heraus eintauchen lässt in eine Zeit der Umbrüche, in eine Zeit des erwachenden Widerstands und die Geburtsstunde der ersten politisch organisierten Gruppe, die sich im Kaiserreich der Gleichstellung von Frauen und Männern verschrieb.

Während so manche Begegnung und Bekanntschaft in Bettina Balàkas fiktivem Roman geschichtlich nicht belegbar ist, fußen viele Begebenheiten auf breitem historischen Konsens: Etwa die Rolle der ersten Wiener Frauendemonstration 1848 kurz vor der sogenannten Praterschlacht, oder der solidarische Einsatz des „Ersten Wiener Demokratischen Frauenvereins“

Der Journalist und Autor Andreas Kloner arbeitet seit 2003 als Sendungsgestalter für den Österreichischen Rundfunk, Deutschlandradio Kultur, Radio France und andere europäische Kultursender.
Fotocredit: privat

Obwohl die Ereignisse des Revolutionsjahrs gut dokumentierter Gegenstand geschichtlicher Forschung sind und sich auch im Stadtbild verschiedentlich manifestieren (so gibt es etwa einen Platz der Erdarbeiterinnen im 2. Bezirk), kamen schon während der Recherche am Roman und nach der Veröffentlichung Widersprüchlichkeiten und weit verbreitete Fehlannahmen ans Tageslicht.

Immer wieder wurden wir zum Beispiel mit dem Wikipedia-Eintrag des Protagonisten Karl von Reichenbach konfrontiert, der eine der Hauptfiguren, Ottone, fälschlicherweise nicht anführt. Wo liegt die Ursache für faktische Fehlinformationen, fehlende Quellen und offensichtliche Geschichtsklitterung, die anscheinend unwidersprochen kursieren?

Wir haben Andreas Kloner interviewt, um das herauszufinden, der Journalist und Schriftsteller forscht aktuell selbst für ein Buch über Karoline Perin. Über die 1848-er Revolution, Stolpersteine bei der Recherche und patriarchale Traditionen der Geschichtsschreibung haben wir uns mit ihm unterhalten.

Lieber Herr Kloner, Bettina Balàkas Roman versetzt seine Leser*innen in eine bewegte Epoche. 1848 wurde das Kaiserreich von Aufständen erschüttert, neben Autonomiebestrebungen einzelner Kronländer hatte die Revolution auch eine Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung zum Ziel. Lassen Sie uns kurz in den historischen Kontext eintauchen:

Um die Zusammenhänge während der europäischen Revolutionszeit 1848/49 einordnen zu können, empfehle ich das neue Buch von Christopher Clark „Frühling der Revolution“, in dem der Autor den Leser*innen auf mehr als tausend Seiten eine Gesamtschau der Ereignisse und Beweggründe bietet. In Österreich brach sich die Revolution Bahn von etwa Mitte März 1848, mit der Forderung nach einer Verfassung und nach Pressefreiheit, im Mai 1848 folgte der Studentenaufstand und der damit verbundene Bau zahlreicher Barrikaden innerhalb der Wiener Stadtmauern. Die Geschehnisse gipfelten in der Demonstration der Erdarbeiter*innen und dem Pratermassaker vom 23. August. Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Latour, am 6. Oktober 1848, bildete Argument und Auftakt zur Konterrevolution, die den Aufstand Ende Oktober 1848 blutig niederschlagen ließ. Zart gesprossene liberale und demokratische Pflänzchen wurden zertreten. Das nachhaltigste Ergebnis der Wiener Revolution 1848 war die Bauernbefreiung unter der Ägide von Hans Kudlich.

In dieser turbulenten Zeit kommen zwei Protagonistinnen des Romans – Hermine und Ottone – mit revolutionären Kreisen in Berührung und wir erfahren viel über das Engagement von Teilen der Aristokratie und des Bürgertums. Wir lernen im Roman auch Protagonistinnen der entstehenden Frauenbewegung kennen. Welche Rolle spielte etwa der „Erste Wiener Demokratische Frauenverein“ in dieser Zeit?

Ob Hermine und Ottone Reichenbach definitiv mit den revolutionären Kreisen in Berührung gekommen sind, dazu sind die Quellen zurzeit nicht ausreichend. Die literarische Freiheit Bettina Balàkas, die Schwestern Reichenbach als Mitglied des „Ersten Demokratischen Frauenvereins“ aufscheinen zu lassen, könnte allerdings von der Realität durchaus overruled werden, falls in einer Petition des Frauenvereins an den am 17. Oktober 1848 tagenden Reichstag auch die Unterschriften von Hermine und Ottone auftauchen sollten. Da bin ich noch auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. An einer kleinen, inneren Revolution haben Hermine und Ottone ohne Zweifel teilgenommen, nämlich die Entscheidung, ihren despotisch-psychopathischen Vater in einer regelrechten Nacht- und Nebelaktion zu verlassen.

Was den „Ersten Wiener demokratischen Frauenverein“ betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob sich dieser die politisch heißen Themen, wie Gleichberechtigung oder gleiche Bildung für Frauen, von Anfang an auf die Fahnen geheftet hat. Gegründet wurde der Verein, nachdem ein Protest von Erdarbeitern, aber vor allem auch Erdarbeiterinnen, die wegen einer einschneidenden Lohnkürzung protestiert hatten, von der Exekutive brutal niedergeschlagen wurde. Es gab eine große Anzahl an Toten und Verletzten. Für diese Arbeiterinnen und deren Kinder wollte sich der Frauenverein – so ist es in einem ersten handgeschriebenen Entwurf der Statuten noch zu lesen! – ausschließlich karitativen Angelegenheiten widmen. Wenige Tage später erschienen die Statuten gedruckt. Der karitative Inhalt war jedoch in den Hintergrund gerückt. Plötzlich dominierten die brisanten politischen Forderungen, um offenbar dem Demokratiegedanken dieser Tage Rechnung zu tragen.

Was wurde aus den Forderungen des Frauenvereins und was geschah nach der Niederschlagung der Revolution?

Die Forderungen des 1848er-Frauenvereins, wie Gleichberechtigung und Schulbildung für alle, wurden, wie es bei uns so schön heißt, nicht einmal ignoriert. Allein bei dem Begriff „Gleichberechtigung“ dürften die Männer (aber auch ein Großteil der Frauen) tief nach Luft gerungen haben. – Transferieren wir eine derartig unmögliche Möglichkeit in die heutige Zeit: Vor wenigen Jahren wäre es völlig unvorstellbar gewesen, von rauchfreien Lokalen zu träumen! Heute ist es – zumindest aus meiner persönlichen Erfahrung heraus – eine Selbstverständlichkeit. – Gehen wir einen Schritt weiter, in unsere Tage: Hier wird das Anliegen, neben der männlichen stets auch die weibliche Form zu schreiben und auszusprechen, mehrheitlich noch immer als „Genderwahn“ wahrgenommen. So manchem graut vor einem Gender-Doppelpunkt, -Sternchen, -Binnen-I, -Unterstrich noch immer derartig, als wären sie der in diakritische Zeichen gegossene Gott-sei-bei-uns höchstpersönlich. Die Rede vom alten, weißen Mann ist jetzt zwar auch nur ein Klischee und Narrativ (auch ich bin alt und weiß), aber es gibt ihn immer noch. – Ob die damaligen Forderungen des Frauenvereins nach Gleichberechtigung im Heute des 21. Jahrhunderts bereits zur Gänze angekommen sind, darf sich jede*r selbst ausrechnen.

Bei den Nachforschungen zu ihrem Roman stieß Bettina Balàka auf Ungereimtheiten und Hindernisse. Zur Existenz Ottones von Reichenbach gibt es wohl widersprüchliche Darstellungen, zum demokratischen Frauenverein gibt es noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag (Anm.: Stand 18.10.2023). Sie recherchieren aktuell an einem Buch über Karoline von Perin, die unter anderem die Vorsitzende des ersten politischen Frauenvereins in Österreich war.  Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Errungenschaften dieser mutigen Frauen im öffentlichen Diskurs so wenig präsent sind. (Ganz zu schweigen vom hohen Preis, den sie für ihren Einsatz bezahlen mussten.)

Eine sehr komplexe Frage, die einer komplexen Antwort bedarf. Was die Existenz Ottones betrifft, wäre diese gar nicht so widersprüchlich, wenn nicht der Name „Wurzbach“, der Verfasser des „Biographischen Lexikons des Kaiserthums Österreich“, nicht derartig wuchtig nachwirkte. Im konkreten Fall geht es um seinen 150 Jahre alten Eintrag, es habe einen „Otto Eugen“ (Reichenbach) gegeben, während Bettina Balàka in ihrem Roman „behauptete“, es handle sich um eine „Ottone Eugenie“. So.

Wenn nun die in der Gegenwart lebende (weibliche!) Bettina Balàka, die einen historischen Roman geschrieben hat, dem historisch-biographisch arbeitenden (männlichen) Konstantin von Wurzbach – eine beinahe sakrosankt wahrgenommene Institution in der Wiener Geschichtsforschung – gegenübergestellt wird, wem wird letztlich das bessere Wissen zugeschrieben werden? – Richtig! Dann sehen wir, wie tiefgreifend das patriarchiale System in uns allen weiterhin funktioniert. Und wir sehen auch gerade in diesem Fall, wie schwerfällig moderne Enzyklopädien, wie in diesem Fall Wikipedia, darauf reagieren. Offenbar gilt noch immer das Zitat aus dem Western-Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“

Fundstück: Auszug aus dem Blansker Geburtenregister. „Otto Eugen“ war demnach tatsächlich „Ottone Eugenie von Reichenbach”.
Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, gilt als einzigartige und wirkmächtige historische Referenz und scheint auch hier ursächlich für die nachhaltige Löschung Ottones aus den Enzyklopädien zu sein.
Das Register liegt öffentlich zugänglich im Mährischen Archiv zu Brünn auf. (Moravian Provincial Archives – Book #51, Blansko region, Births 1805-1839). Dig. Archivlink.

Kurios: Ausgerechnet Karoline von Perin erlitt ebenfalls ein „Wurzbach-Schicksal“. Bei den Einträgen unter „Pasqualati“ findet sich auch Andreas Joseph Pasqualati, der Vater von Karoline. Allerdings werden lediglich seine Söhne Joseph und Moritz erwähnt. Die Tochter wird totgeschwiegen.
Gedenkstein im Volksgarten
Credit: Geolina163, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Was den noch nicht vorhandenen Wikipedia-Eintrag zum ersten politischen Frauenverein in Österreich betrifft, bin ich schon froh über den Wikipedia-Eintrag, der Karoline von Perin vor wenigen Jahren gewidmet worden ist. Was die historische Faktizität betrifft, möchte ich den gut versteckten, nicht einmal kniehohen Gedenkstein im Wiener Volksgarten als Beispiel nehmen, auf dem sich eine Minimalstbiographie von Karoline von Perin befindet, der sage und schreibe in einem einzigen Satz gleich drei grobe Fehler beinhaltet: Nein, Karoline von Perin wurde nicht 1808 geboren; nein, sie ist nicht die Gründerin des Vereins gewesen; nein, die Vereinsversammlungen fanden nicht regelmäßig im Volksgarten-Café statt.

Die Errungenschaften des Vereins lagen vor allem darin, etwa zwei Wochen nach seiner Gründung ein Statut herausgegeben zu haben, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Die Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Um es auf den Punkt zu bringen: Es waren die Menschen, sowohl Männer als auch Frauen, die noch nicht reif dafür waren. Den im Raum stehenden psychoanalytischen Ansatz möchte ich nur andeuten: Wie schützen sich Männer vor starken Frauen? Indem sie etwas per Gesetz verbieten oder gesetzliche Vorgaben ohnehin an der Praxis scheitern lassen! Mit letzterem könnten wir gar in der Jetztzeit gelandet sein.

Sind Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch ebenfalls auf Lücken oder gar tätige Geschichtsklitterungen und Hindernisse gestoßen?

Häufig ergeben sich historiographische Fehler aus unabsichtlichen Schlampereien, Missverständnissen, Abschreibfehlern und und und. Klassische Geschichtsklitterungen, im Sinne von absichtlichen Irreführungen, sind mir während meiner Recherche immer wieder untergekommen.

Zwei Beispiele möchte ich nennen, die unterschiedlich motiviert waren: Zum einen hat Karoline von Perin vermutlich selbst geschichtsgeklittert, als sie in ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit dem revolutionären Gedanken abschwor, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Der Treppenwitz daran: Die Rückkehr in die Gesellschaft wurde ihr zeitlebens nicht mehr gewährt. Man hat an ihr – vermutlich zur Abschreckung – ein Exempel statuiert.

Zum anderen gibt es einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen war. Das Bemerkenswerte daran: Einmal erschien der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. Die Einleitung in der ersten Zeitung wurde auf die Zukunft hin formuliert, in etwa: „Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen …“, während in der zweiten Zeitung geschrieben stand: „Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil …“. Hier wird das ursprünglich noch nicht stattgefundene Ereignis in ein historisches Faktum umgeschrieben. Das ist zutiefst infam und beschämend.

Haben Sie zum Abschluss vielleicht einen Tipp für unsere Leser*innen, die mehr über die Zeit und das Schicksal der ersten politisch organisierten Frauenbewegung erfahren möchten?

Über den ersten demokratischen Frauenverein während der Revolutionszeit sind die Bücher und Artikel von der Historikerin Gabriella Hauch zu empfehlen. Das Schicksal des ersten politisch organisierten Frauenvereins war mit der Niederschlagung der Revolution derartig rasch besiegelt, dass der Verein nach nur zwei Monaten Geschichte war. Spannend wäre es – neben Karoline von Perin – weitere Mitstreiterinnen ausfindig zu machen und deren Lebensläufe nach der Revolution weiterzuerzählen. Etwa jene von der Nichte eines Vereinsmitglieds, die einen Vater hatte, der sich zeit seines Lebens für die Frauenrechte einsetzte, und die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität promovieren konnte: Dr. Isabella Eckardt: „Der Romzug Kaiser Sigmunds (1431-33)“ aus dem Jahr 1902.

 

Möchtest auch du mehr erfahren über eine Zeit im Umbruch, einen Roman, der einen Wissenschaftskrimi beinhaltet und der erlebbar macht, wie Frauen in Wien zum ersten Mal organisiert für bessere Lebensbedingungen auf die Barrikaden gehen? „Der Zauberer vom Cobenzl“ ist in deiner Lieblingsbuchhandlung erhältlich. Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Beruflich kenne ich keine Tabus und keine Scheu: Wo immer man eine Leiche findet, da findet man auch mich.“ – Siggi Seifferheld im Interview

Siggi Seifferheld, der charmante Ex-Polizist und Frühpensionist, kommt einfach nicht zur Ruhe. Und das ist auch gut so: Tatjana Kruse, Königin der Krimödie, schenkt ihm mit „Strippen statt sticken!” ein neues Abenteuer, welches Siggi direkt in einen Swingerclub führt – und uns Lachtränen in die Augen treibt. Für uns konnte sich der vielbeschäftigte Ermittler ein paar Minuten freischaufeln, um über seinen bisher schlüpfrigsten Fall zu sprechen. 

 

Hallo Siggi! Wir freuen uns, dass du Zeit für ein Interview mit uns findest. Du bist ja eigentlich im Ruhestand, aber kann es sein, dass du als Frührentner noch weniger zur Ruhe kommst als im aktiven Polizeidienst?

Wenn man so aktiv war wie ich, kann man nicht so einfach von hundert auf null zurückfahren, nur weil man jetzt eine inoperable Kugel in der Hüfte hat. Wann immer in Hall ein Verbrechen passiert, juckt es mich in den Knochen und ich muss los – so schnell es mir meine Gehhilfe erlaubt.

Foto: © Jürgen Weller

Du bist nicht nur ein leidenschaftlicher Sticker, sondern hast sogar eine Männersticker-Radio-Kolumne. Wie bist du zu diesem besonderen Hobby gekommen und was macht dir daran so viel Spaß?

Jetzt muss ich beichten: Anfangs fand ich meine Leidenschaft fürs Sticken, zu der ich nach der Frühverpensionierung durch einen alten Stickrahmen meiner verstorbenen ersten Frau fand, ein bisschen peinlich. Gestandene Männer sticken doch nicht. Das dachte ich zumindest als Kleinstadtbewohner meiner Generation. Aber irgendwann fragte ich mich: Warum nicht? Auch echte Kerle dürfen sticken – sie tun es nur ohne Fingerhut! Je offensiver ich mit meinem Hobby umging, desto mehr Erfolg hatte ich. Der Rest ist Geschichte.

In „Strippen statt sticken!“ heißt es für dich: „Weg mit der Sticknadel und ab in den Swingerclub“. Wie war es für dich, an diesem doch recht ungewöhnlichen Ort zu ermitteln – und das ausgerechnet in einer Kleinstadt wie Schwäbisch Hall?

Ich muss zugeben, in einem Swingerclub war ich als Privatmensch noch nie. Aber beruflich kenne ich keine Tabus und keine Scheu: Wo immer man eine Leiche findet, da findet man auch mich.

Aufgrund deiner Ermittlungen wurdest du von der Lokalpresse vor dem Swingerclub fotografiert. Hättest du je gedacht, mal solche Schlagzeilen zu verursachen?

Klar, dass ich von den Jungs meiner VHS-Männerkochkurs-Truppe aufgezogen wurde. Und klar auch, dass meine ältere Schwester Irmi das nicht lustig fand, von wegen Renommee der Familie und so. Aber kleine Skandälchen zwischendurch sind ja die Würze des Lebens. Und je älter ich werde, desto mehr prallt an mir ab, was andere von mir denken.

Jetzt mal ehrlich, Siggi: Glaubst du, du kannst das Schnüffeln jemals lassen und deine Zeit vollkommen dem Sticken und deiner Familie (inklusive Hund Onis) widmen? Oder würde dir da in Wahrheit ein kleines bisschen langweilig werden? 

Man muss sich nützlich machen, sonst setzt man Moos an. Ich ermittle, solange mich meine Gehhilfe noch trägt. Versprochen!

Rabenschwarz, rasant und unglaublich wortwitzig: „Strippen statt sticken!” von Tatjana Kruse.

 

Seifferhelds Freund und Ex-Polizeikollege Dombrowski (der von der Sitte!) hat Sorgen. Sein Neffe ist nämlich in einen alles andere als sittlichen Fall verwickelt: Der Schriftsteller weilt gerade dank des Comburg-Stipendium im schönen Schwäbisch Hall. Weil man aber nicht immer nur arbeiten kann, sondern auch etwas Abwechslung und Inspiration braucht, hat Dominik Dombrowski einen privaten Swingerclub aufgesucht – rein aus Recherchegründen, versteht sich. Hüstel. Dort verbringt er einen sehr vergnüglichen Abend mit einer jungen Frau. Doch als er mitten in der Nacht in einem der Nebenzimmer aufwacht, liegt die Frau erdrosselt neben ihm.

 

Mehr Infos zu dem Buch gibt es hier.

„Manchmal sind wir die Müllabfuhr des Internets.“ Ein Interview mit der Content-Managerin Hannah Schlüter

In „Unfollow Stella“ von Ellen Dunne muss Kriminalhauptkommissarin Patsy Logan tief in die Schattenseiten der Sozialen Medien eintauchen. Was User*innen und Follower*innen oft nicht sehen, ist Alltag derer, die täglich in die tiefsten Abgründe schauen, um andere vor ihnen zu schützen: Content-Moderator*innen. Hannah Schlüter ist eine von ihnen. 

 

Wie bist du Content-Moderatorin geworden und wie lange bist du schon in dieser Sparte tätig?

Ich bin seit 15 Monaten im Community Management für News tätig. Ich habe Soziologie und im Master Gesellschaftstheorie in Hamburg und Jena studiert, und journalistische Arbeitserfahrung bei Extra3, fluter und freiberuflich schreibend für den Freitag und Missy Magazine gesammelt. Ich war nach dem Studium erst mal freiberuflich unterwegs, habe einen Dokumentarfilm produziert und ein Theaterstück über den Klimawandel geschrieben, für das ich weiter in Regie und Produktion arbeite. Um in schlecht bezahlten künstlerischen Projekten autonom und entspannt zu bleiben, habe ich gemerkt, dass ein Teilzeitjob für mich eine notwendige und gute Ergänzung ist. Das Community Management hat mich aus mehreren Gründen interessiert. Erst mal ist es natürlich so, dass in der Kommentarspalte ziemlich ungefiltert die Meinungen von verschiedenen Menschen zu lesen sind – das ist politisch spannend. Mich hat es gereizt, mit den User*innen kommunizieren zu können – ich finde immer noch, dass der Erfahrungsaustausch, der auf unsere Fragen hin unter Beiträgen manchmal stattfindet, etwas sehr Wertvolles, Schönes und Empathie Förderndes ist – wenn es eben zu diesem respektvollen Austausch kommt.

 

Was würdest du sagen, inwiefern sich die Kommentare und deine Arbeit verändert haben, seit du diese Tätigkeit ausübst? Was sind die größten Herausforderungen für dich?

Als ich im Mai 2022 mit der Arbeit begonnen habe, haben mich vor allem die oft entgleisenden Kommentare zum Krieg in der Ukraine und die Corona-Debatte erschlagen. Da es hier detailreich zugeht und es oft viele medizinische und historische Debatten gibt, habe ich mich ziemlich unwissend gefühlt. Zum Glück war meine Aufgabe hier nicht, alles in Gänze nachzuvollziehen oder Fakten zu checken, sondern zu schauen, wo gegen die Netiquette verstoßen wird oder strafrechtlich Relevantes weiterzuleiten ist wie bspw. Drohungen gegen Karl Lauterbach.

Besonders auffällig finde ich nach wie vor die Häufigkeit, in der Kommentierende die Menschen, die sie ablehnen, pathologisieren und behaupten, diese seien psychisch krank und müssten „in die Psychiatrie“ und „weggesperrt“ werden. Wenn die wütenden Menschen aus den Kommentarspalten politische Entscheidungsgewalt hätten, wären die Gefängnisse und Psychiatrien voll von Politiker*innen.

Die beiden Themen sind noch da, aber deutlich abgeflaut in der Härte und Aggression, in der diesbezüglich kommentiert wird. Als Jina Amini vergangenes Jahr starb, erreichten uns über Wochen und Monate viele Direktnachrichten und Bitten um Berichterstattung. Auf Kommentarebene war es angenehm, die große Solidarität zu erleben. Es ist absurd, dass es dieses Jahr bisher ein bisschen ruhiger wirkt, obwohl wir durch die Klimakrise ja in einer Zeit wachsender Katastrophen leben – aus der Warte von Desinformation und Fake News war es allerdings aufwendiger, mit dem Angriff auf die Ukraine und Corona umzugehen als mit Klimawandelleugnung, die gefühlt etwas weniger präsent ist mittlerweile, auch wenn da einige echt hartnäckig bleiben. In allen Bereichen gibt es zum Glück Engagierte, die informierende Gegenrede leisten und Falschbehauptungen richtigstellen. Die größte Herausforderung ist für mich, der Negativität im Job einen ausgleichenden, sozialen und ausgeschlafenen Alltag entgegenzusetzen, der mir so guttut, dass er den größtmöglichen Kontrast zu den Gewaltfantasien und der Destruktivität darstellt, die ich lesen muss. Ich entscheide genau, mit welchen Themen ich mich zwischenmenschlich und medial in meiner Freizeit und freiberuflich befassen will und kann. So funktioniert es meistens, sich vom Zynismus und der Verbitterung abzugrenzen, die online herrscht. Gut auf mich selbst zu achten, ist durch Schichtarbeit, Früh-, Spät und Wochenendschichten eine Sache, die nicht immer leicht ist, denn manchmal brauche ich mehrere Dinge: Ruhe und Zeit mit meinen Freund*innen oder Sport. Dann muss ich halt entscheiden und irgendwas kommt zu kurz. Mittlerweile bin ich manchmal neidisch auf 9 to 5 und sehne mich nach einem festen, immer gleichen Arbeitsrhythmus.

 

Wie sieht dein Arbeitsalltag aus – und welche Art von grenzüberschreitenden Kommentaren begegnet dir bei deiner Arbeit am häufigsten?

Je nach Uhrzeit der Schicht und zu betreuendem sozialen Netzwerk, also YouTube, Facebook oder Instagram, sehen unsere Schichten etwas unterschiedlich aus. Gleich ist immer, dass wir bei neu erscheinenden Beiträgen unmittelbar alle Kommentare monitoren und Eingangskommentare mit mehr Infos zum Beitragsthema oder einer Frage an die User*innen setzen. Kommentare, die gegen die Netiquette verstoßen, werden gelöscht, bei starken Verstößen werden die Verfasser*innen verwarnt. Sperrungen erfolgen nach mehreren Verwarnungen. Am häufigsten gibt es, würde ich sagen, rassistische Kommentare. Und sonst alle -ismen durch. Wer vor dem Job noch nicht weiß, was für Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit es gibt, weiß es nach zwei Wochen im CM. Die heftigsten Kommentare sind Morddrohungen und -aufforderungen, Todes- und Gewaltwünsche und Suizidankündigungen. So Leute, die von Selbstjustiz und Todesstrafe fantasieren sind auch arg.

 

Warum glaubst du, schreiben Menschen unangebrachte Kommentare? Welche Intention steckt dahinter?

Ich denke, besonders gut kann es den Menschen, die bei uns hasserfüllt kommentieren, nicht gehen – also sofern sie Privatpersonen sind und nicht politisch motivierte und organisierte Accounts, die bewusst Narrative pushen, indem sie immer dieselben Kommentare posten. Das lese ich viel, so lässt sich wunderbar Stimmung machen. Die Kommentarspalte sehe ich als Kanal für die, die Dampf ablassen müssen und scheinbar nicht wissen, wo sie das analog machen können. Manchmal sind wir da wie die Müllabfuhr des Internets. Mit wenig Material zum Recyceln. Von den Kommentatoren wurden wir auch schonmal „Löschknechte“ getauft, was ich extrem witzig finde. „Meldemuschi“ gab‘s auch schon. Manchmal ist die Kommentarspalte auch ein Kotzbecken, so viele Kotzemojis wie hier gibt’s sonst nirgendwo. Die Intentionen der Kommentierenden sind ganz verschiedene: politische Stimmungsmache oder Aggressionen rauslassen. Dann gibt’s Leute, die Lust haben zu provozieren und rum zu trollen. Und dann eben solche, zum Glück, die Interesse am Austausch mit anderen haben, sich für andere Meinungen interessieren und bereit sind, eigene blinde Flecken zu erkennen und dazuzulernen, ohne sich angegriffen zu fühlen. Die Konstruktiven.

 

Manche Kommentare sind nicht auf den ersten Blick beleidigend oder diskriminierend. Wie entscheidest du bei Grenzfällen? Oder: Wie entscheidest du darüber, welche Kommentare grenzüberschreitend sind?

In manchen Kommentaren ist die Beleidigung sehr metaphorisch oder implizit. Zum Beispiel „Du hast wohl mit der Schaukel zu nah vor der Wand gestanden.“ Es gibt Beleidigungen, die ich als noch nicht grenzüberschreitend genug bewerte, „Torfkopf“ zum Beispiel oder „Vogel“. Es gibt auch ständig Diskussionen zwischen User*innen, die sich gegenseitig auf verschiedenste Weisen als „dumm“ bezeichnen, auch das finde ich nicht grenzüberschreitend genug. Was ab wann eine Grenze überschreitet und schon eine Beleidigung ist oder nicht, ist ein Stück weit subjektiv, das ist auch an den unterschiedlichen Gerichtsurteilen, zum Beispiel bei Renate Künast, zu sehen. Bei Grenzfällen schauen wir auch auf den Kontext, ob die Diskussion kaputtgemacht wird und sie andere abschreckt, sich zu beteiligen. Bei starken Unsicherheiten besprechen wir uns im Team und entscheiden gemeinsam.

 

Manche Kommentare treffen einen, auch wenn sie nicht an einen selbst gerichtet sind. Wie gehst du damit um, wenn dich verfasste Kommentare persönlich betreffen? Wie schützt du dich selbst? Gibt es eine Möglichkeit zur Supervision für dich und deine Kolleg*innen?  

Wenn mir in einem Beitrag Kommentare zu nahe gehen und ich merke, dass ich wütend oder traurig werde, kann ich immer entscheiden, das Ticket an Kolleg*innen abzugeben. Es hilft, gemeinsam über den Frust zu sprechen, den Kommentare bei uns auslösen und wir haben zum Glück eine hochkompetente Supervisorin, mit der wir über die Mechanismen und Hintergründe sprechen können.  Und wie immer mit Gefühlen: zulassen. Ist noch nicht oft gewesen, aber ich schätze, ich habe schon zwei bis dreimal geheult während der Arbeit oder der Supervision. Ich schütze mich vor allem, indem ich den Job nur Teilzeit mache und meine Freiberuflichkeit mit konstruktiven Tätigkeiten fülle, in denen ich handlungsfähiger bin. Ich suche mir also aktiv Austausch, inhaltlichen und körperlichen Ausgleich.

 

Welche Konsequenzen gibt es für Personen, die unangebrachte Kommentare schreiben im schlimmsten Fall? Bringt ihr auch Anzeigen ein?

Strafrechtlich relevante Kommentare leiten wir natürlich an die Zuständigen weiter, da kann auch Gefahr im Verzug sein. Um daraus folgende Anzeigen und notwendige Aktionen kümmern sie sich – je nach dem, um was es geht, folgen dann polizeiliche oder rechtliche Schritte. Bestenfalls kann da eine Gewalttat oder ein Suizid verhindert werden.

 

Ein Blick in die Zukunft: Denkst du, die Möglichkeit der ungebremsten Meinungsäußerung, selbst wenn diese voller Hass ist, wird zu Nachrichtenthemen dauerhaft bestehen bleiben?

Es gibt Nachrichtenformate, die ihre Kommentarsektionen geschlossen haben – verständlich ist das allemal. Denn sie aufzuräumen und zu einem sicheren Raum für alle zu machen, ist aufwendig, teuer und belastend. Ich finde es persönlich begrenzt sinnvoll, News zu kommentieren, sehe es aber auch gerade als Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien, das Netz als Diskursraum ernst zu nehmen.

Ich lese zu viele autoritäre Fantasien, um die Idee zu mögen, dass die Kommentarsektionen besser geschlossen werden. Sie müssen – wie jeder Ort, an dem viele Menschen kommunizieren möchten – gut moderiert werden. Diese Kapazitäten können und wollen sich nicht alle leisten. Hier wird insbesondere von den sozialen Netzwerken zu wenig Verantwortung übernommen. Ich muss bspw. keine Videos schauen. Die weit schlechter bezahlten Content-Moderator*innen des globalen Südens sind hier wie so oft die Leidtragenden, weil sie die schlimmste Arbeit für Meta und Co. übernehmen. Hier hoffe ich, dass sehr bald KI diese Arbeit übernehmen kann, weil diese Arbeit Menschen schnell zugrunde richtet. Ich fände es gut, wenn es im Netz weiter viele Diskussionsmöglichkeiten gibt. Ich sehe nur so die Möglichkeit, dass Gesellschaften lernen zu differenzieren zwischen freier Meinungsäußerung und Gewalt. Ich glaube, eigentlich haben fast alle Menschen ein ganz gutes Verständnis davon, was respekt- oder gewaltvoll ist und was nicht.

Über die Zukunft des Ganzen kann ich letztlich wenig sagen; was mit und wegen KI passiert, ist auch hier nicht absehbar. Wenn man sich vorstellt, dass die jetzt schon präsenten Sex-, Krypto- und Liebeszauber-Bots noch mehr werden und gar nicht mehr unterscheidbar ist, welche Kommentare von realen User*innen kommen und welche gefakt sind, wären offene Kommentarspalten tatsächlich für die Katz.

Dublin online und offline: „Unfollow Stella“ von Ellen Dunne.

 

Die irische Hauptstadt mit ihren Gassen, Pubs und dem idyllischen Straßenbild ist ein absoluter Sehnsuchtsort – und Patsys alte Heimat. Auch Stella Schatz war vor ihrem Verschwinden dabei, auf der Insel heimisch zu werden. Die Ermittlungen von Patsy und Sam allerdings ergeben, dass Stella kürzlich eine neue Arbeit angetreten hat – in einer Agentur für Content-Prüfung, dort, wo sich die dunkelsten Abgründe der virtuellen Welt auftun. Welche Folgen das für den Menschen hinter den Bildschirmen haben kann, wird von Kapitel zu Kapitel deutlicher. Hat Stella im Netz etwas gesehen, was niemand sehen durfte? Hat ihr Job sie auf unbekannte und gefährliche Wege geführt?

 

Mehr Infos zu dem Buch gibt es hier.