Gespräch mit Alexander Graeff von der Queer Media Society: „Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig.“

Die Queer Media Society, kurz QMS,  ist eine ehrenamtlich organisierte Initiative von Medienschaffenden, die sich gegen Diskriminierung von queeren Personen in allen Mediensparten einsetzt und sich für eine offene Gesellschaft engagiert. Es ist bisher das einzige Netzwerk dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum – und womöglich darüber hinaus. Wir haben uns mit Alexander Graeff, Leiter der Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ über die Notwendigkeit queerer Initiativen und Bücher unterhalten. 

Lieber Alexander, fangen wir am besten am Anfang an: Wer und was ist die QMS, wie ist sie organisiert?
Die QMS ist mehr eine soziale Bewegung, als eine Organisation im engeren Sinne. Wir sind keine NGO oder ein Verein, haben keine Rechtsform. Die QMS existiert allein durch das individuelle und kollektive Engagement unserer ehrenamtlichen Mitstreiter*innen. Jenseits dieser selbst verwalteten Gruppenstruktur gibt es keine übergeordneten Gremien, keinen Vorstand oder Ähnliches. Es gibt Aktive und Menschen, die durch ihre Stimme dem Kollektiv eher passiv Gewicht geben.

Welche Veränderungen hat die QMS bisher vorangetrieben? Wo tritt die QMS auf und mischt sich ein?
Wir versuchen, branchenpolitisch auf die unzureichende Repräsentation queerer Medienschaffender und ganz allgemein auf queere Sichtbarkeit im Hinblick auf produzierte und rezipierte Medien aufmerksam zu machen. Dabei verfallen wir nicht in den binären Modus, dass wir als marginalisierte Personen moralin auf die Mehrheitsgesellschaft zeigen. Wir kooperieren mit den Brancheninstitutionen, mit Verbänden, Produktionsfirmen, Verlagen, um gemeinsam mit den Machtzentren im Medienbereich über Machtverhältnisse und -strukturen zu sprechen. Ergebnisse sind zum einen Aufklärungsarbeit und Beratung, etwa durch Trainings zu relevanten Themen der Diversität, zum anderen möglichst pressewirksame Aktionen, Diskussionspanels, Debatten- und Diskursbeiträge sowie Veranstaltungen, die möglichst hohe queere Sichtbarkeit und Öffentlichkeit im Medienbereich generieren.

Eine große erfolgreiche Aktion der Vergangenheit war z. B. die Vorbereitung der #ActOut-Kampagne 2021 innerhalb der Film-Sektion. Allerdings hölt auch hier steter Tropfen den Stein. Ich denke, kontinuierliche Angebote sind wirksamer, weil sie regelmäßig und dauerhaft an die Schieflagen innerhalb unserer Kultur erinnern, und so die Effekte nicht nach einem Aktionsjahr wieder verpuffen. Nur so viel: Trotz #ActOut ist für 2023 ein Rückgang queerer Figuren in deutschen Filmproduktionen zu verzeichnen.
Mit der Literatur-Sektion veranstalten wir außerdem jährlich zur Buchmesse in Leipzig ein Panel zu relevanten Themen. Der Haymon Verlag ist ja unser Kooperationspartner bei diesem Projekt. Ebenso kooperieren wir auch jährlich mit dem Börsenverein des deutschen Buchhandels für die #PrideBuch-Social-Media-Aktion im Pridemonth Juni.

Alexander Graeff ist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler. Er schreibt Lyrik, Prosa sowie biografisch-philosophische Essays – und mischt die Gattungen ganz gern. Er ist Leiter des Programmbereichs Literatur im Berliner Kunst- und Kulturzentrum Brotfabrik sowie Initiator der Lesereihe „Schreiben gegen die Norm(en)?“. In der Queer Media Society setzt er sich für mehr Sichtbarkeit queerer Personen und Stoffe im deutschsprachigen Literaturbetrieb ein. Graeff engagiert sich kulturpolitisch, u. a. in der Berliner Literaturkonferenz (BLK), im Netzwerk Freie Literaturszene Berlin (NFLB) und im PEN Berlin.

Foto: Sarah Berger

Johannes Kram, Autor, Blogger und QMS-Mitstreiter sagte in seinem Vortrag bei der Kick-Off-Veranstaltung der QMS im Februar 2019 in Berlin, es sei wichtig, dass sich mehr queere Medienschaffende outen würden. Gleichzeitig räumte er ein, dass das Coming-Out insbesondere für Schauspieler*innen eine Belastungsprobe für die Karriere sei. Hieraus ergeben sich gleich mehrere Fragen: Was denkst du, warum halten sich ausgerechnet in der Kulturszene solch starre Strukturen so hartnäckig? Und: Wie schätzt du den Stellenwert des Outings ein für das übergeordnete Ziel, eine offenere und bessere Kreativlandschaft zu erreichen? Sollten sich in einer gerechteren Welt nicht alle Menschen outen müssen – oder niemand? Anders ausgedrückt: Ist diese Erwartungshaltung an ein Outing nicht eine weitere Zumutung für queere Personen, die Ungerechtigkeit zementiert?
Wir wissen ja aus der Geschichtswissenschaft, dass Kunst und Kultur zentrale Parameter einer Aktualisierung gesellschaftlicher Normen waren und sind. Romane, Theaterstücke, Gemälde, Opern usw. waren immer schon Sprachrohre mehrheitsgesellschaftlicher Lebensideale. Die frühe bürgerliche Gesellschaft wäre ohne die Ideologisierung ihrer Werte nicht ausgekommen, Stichwort: Dialektik der Aufklärung. Die Kunst half genauso mit wie die Erziehung. Ein prominentes Beispiel ist die Romantik als Kunstströmung um 1800. Ohne sie hätte sich die heteronormative Matrix mit binärer Geschlechterhierarchie, romantischer Zweierbeziehung und Reproduktionszwang nie so nachhaltig in unsere Hirne und Herzen einpflanzen können.
Die Notwendigkeit eines Outings ist in sozialwissenschaftlich-kritischer Perspektive natürlich immer ein Problem. In lebensweltlicher Hinsicht oft auch. Ich muss mir das Coming-out als notwendigen Entwicklungsschritt schönreden. Emanzipation innerhalb einer Gesellschaft ist nie erreicht, wenn die Markierung von Personen, Perspektiven und Identitäten als Erwartungshaltung existiert. Einfach, weil die Abweichung von der Norm die hegemoniale Norm bestätigt. Nur in einer idealen Gesellschaft braucht es kein Coming-out. Wir leben aber leider nicht im Wolkenkuckucksheim, sondern in einer durch und durch hierarchischen, patriarchalen und von Machtinteressen gesteuerten Kultur mit problematischer, meist unreflektierter Geschichte. In der realistischen Perspektive also ist das Outing immer noch wichtig, um den ersten Schritt der Markierung abweichender Positionen zu machen. Die traditionell nicht markierte Norm folgt dann im Prozess der historischen Emanzipation. Das hat auch viel mit Sprachfindung zu tun, denn Markierung heißt ja nichts anderes als Zustände via Sprache bezeichnen zu können. Zur Erinnerung, das Wort „trans“ ist älter als das Wort „cis“.

Im Oktober 2021 veröffentlichte die Universität Rostock die Fortschrittsstudie „Sichtbarkeit und Vielfalt“. Die Leiterin der Studie, Prof. Dr. Elizabeth Prommer, bilanzierte: „Die Ergebnisse zeigen, dass unser Fernsehprogramm noch nicht die Vielfalt der Bevölkerung abbildet.“ Bei queerer Repräsentation wird festgestellt, dass „nur rund 2 Prozent der im Beobachtungszeitraum erfassten Personen nicht heterosexuell waren.“ Sichtbar wurden nur homosexuelle (0,9%) und bisexuelle (1,3%) Charaktere. Bei 27,4% war die sexuelle Orientierung „nicht erkennbar“.
Weiterführende Erhebungen und repräsentative Zahlen für alle anderen Medienbereiche im deutschsprachigen Raum gibt es bisher nicht. Das möchte die Queer Media Society unter anderem ändern.

Du selbst bist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler – und du leitest die Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ bei der QMS. Kannst du uns ein bisschen was darüber erzählen, wie du zur QMS gekommen bist und wie deine Netzwerk-Arbeit aussieht?
Ich war 2019 beim Kick-Off der Film-Sektion dabei. Dort lernte ich den QMS-Initiator und Regisseur Kai S. Pieck kennen. Gemeinsam mit einer Gruppe von ungefähr zwölf Autor*innen und Comic-Zeichner*innen baute ich dann die Literatur-Sektion auf. Es gab regelmäßige Treffen, bei denen wir über mögliche Aktionen brainstormten. Daraus sind dann die aktuellen Dynamiken erwachsen. Leider hatte uns die Corona-Krise stark getroffen und in Sachen Engagement sehr viel Wind aus den Segeln genommen. Viele ehemals Aktive sind dadurch leider in der Versenkung verschwunden.

Heute koordiniere ich die Aktionen, die wiederum andere, neue Aktive realisieren. Dazu zählen die Panels im Rahmen der Leipziger Buchmesse und die #PrideBuch-Kampagne. Wir arbeiten so, dass jede*r das macht, was sie*er machen kann. Unsere Arbeit ist immer ehrenamtlich, d. h. angesichts der prekären beruflichen Situation vieler Autor*innen und anderer Personen, die im Literaturbetrieb arbeiten, muss die aktivistische Mehrarbeit gut geplant und effizient realisiert werden.

Welche persönlichen Beweggründe gab und gibt es für dein Engagement für die QMS? 
Für mich ist mein Engagement für die QMS bis heute eine Konsequenz meiner eigenen Politisierung seit 2014. In dieser Zeit wurde mein Schreiben insgesamt politischer, und ich auch mutiger. Das war der innere Beweggrund. Es gab auch einen äußeren. Die gesellschaftlichen und wenig später parlamentarischen Veränderungen in Deutschland machten für mich die Sache dringlich. Soviel wusste ich nämlich aus der Geschichte dieses Landes: Die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Tendenz, abweichende Teile des sozialen Miteinanders unsichtbar zu machen, ermöglichte erst den Aufstieg rechtsnationalistischer und faschistischer Projekte und Parteien. Es war fast so, als ob der immer dringlicher werdende Kampf gegen die politischen Unsäglichkeiten der letzten zehn Jahre in meine Literatur und in mein Handeln innerhalb der Branche drängte.

Was würdest du dir für die Zukunft der Buchbranche wünschen? Wo siehst du besonderen Handlungsbedarf?
Handlungsbedarf sehe ich vor allem da, wo unter Diversität ein eigenartiges Neben- und Herausstellen von vermeintlichen Werten betrieben wird. Verlage etwa, für die Queerness bloß ein mehr oder minder abstraktes Thema ist und dieses breitenwirksam verkaufen wollen, beschädigen die Emanzipationsbewegung. Queere Sichtbarkeit ist auf jeden Fall nicht, dass im selben Verlagsprogramm rechtspopulistische Propaganda neben dem Coming-of-Age-Roman eines trans Autors steht, nur weil sich damit mittlerweile auch Geld verdienen lässt. Einige konservative Verlage gehen immer noch so vor. Sie verändern ihr Programm nicht, weil sie sich ihrer Verantwortung als Kulturinstitution und gegenüber einer Gesellschaft, die sich emanzipiert, bewusst werden, sondern weil sie neue Marktanteile gewinnen wollen. Noch enttäuschender finde ich es allerdings, wenn vermeintlich progressive Autor*innen in exakt diesen paternalistischen und konservativen Institutionen ihre Bücher veröffentlichen.

Woran liegt es deiner Meinung nach, dass echte Diversität und Stimmenvielfalt am Buchmarkt scheinbar so schwer zu erreichen sind?
Ich traue Echtheit nicht über den Weg. Wann ist Echtheit erreicht? Wann ist Diversität echt? Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig. Diesen Sachverhalt durch Literatur in die Hirne und Herzen zu bringen, ist mir wichtiger, als Begriffe exakt definieren zu können.

Aber zum Inhalt deiner Frage: Es liegt an einem insgesamt prekären Betrieb, in dem sich bildungsbürgerliche Ideale verknoten mit einem beruflich bedingten Konkurrenzkampf um Honorare, Preise, Kritiken, Programmplätze usw. All das ist begrenzt und unsere Branche ist finanziell schlecht ausgestattet. Der Druck, Literatur als hehres demokratisches Instrument sehen zu wollen bei gleichzeitig unauskömmlicher Finanzierung der Sparte, macht etwas mit seinen Akteur*innen. Offenheit für Diversität jenseits des oben erwähnten Tokenismus ist also nach wie vor schwer herzustellen. Der Literaturbetrieb hat ganz grundlegend ein Verteilungs- und ein Solidaritätsproblem.

Als abschließende Frage: Wer kann Teil des QMS-Netzwerks werden und wie geht das?
Jede*r, die*der professionell im Medienbereich tätig ist, kann mitmachen. Um sich der sozialen Bewegung anzuschließen und einem wachsenden Kollektiv Nachdruck zu verleihen, sind zwei Dinge nötig: Gesicht zeigen und Stimme erheben. Auf der Internetseite der QMS kann man sich mit seinem persönlichen Foto-Statement anmelden.

 

Du arbeitest im Medienbereich und hast Lust, Teil der Queer Media Society zu werden?
Hier findest du alle Infos, die du brauchst!

Ein Essay, der die Dämmerung unserer Zeit durchbricht: Leseprobe aus „Über das Helle“ von Stefanie Jaksch

Krisen, Kriege, Klimawandel – sie haben die Welt fest im Griff, das wird uns Tag für Tag vor Augen gehalten. Beim Scrollen durch Social-Media-Feeds, in den Abendnachrichten, im Podcast, der uns eigentlich Zerstreuung versprach. Wenn wir ehrlich sind, faszinieren und beschäftigen uns Katastrophenmeldungen mehr als die guten Neuigkeiten – so funktioniert die Aufmerksamkeitsökonomie. Und wir haben uns in gewisser Weise an das apokalyptische Dauerfeuer und die alltäglichen Untergangsfantasien gewöhnt. So sehr, dass wir auf das Helle in unserem Leben vergessen. Tatsächlich ist unsere Gegenwart nicht dazu angetan, uns Mut zu machen und den Optimismus nicht zu verlieren. Doch die Autorin Stefanie Jaksch begibt sich auf die Suche: nach dem Licht in dunklen Zeiten.

Mit dieser Leseprobe bekommst du einen Einblick in Stefanie Jakschs „Über das Helle“,  ein Buch, das uns Hoffnung gibt und den Widerstand in uns erweckt.

Notizen aus dem Dunkeln

Out of the dark
And into the light
I give up and you
Waste your tears
To the night
Falco

Nur ein bisschen noch. Fünf Minuten. Drei Minuten. Eine vielleicht? Vorbei, seufze ich in die Kissen und kneife meine Augenlider noch einmal trotzig wie ein Kind zusammen, bevor ich aufgebe. Ich starre in die Nacht, in den lichtlosen Raum über mir, nichts ist zu hören außer dem leisen Luftholen und unrhythmischen Schnarchen des Wolfs, mit dem ich seit einigen Jahren zusammenlebe. In unserem Schlafzimmer gibt es keine Uhr, aber mein Körper braucht auch keine, um zu wissen, dass es eigentlich zu früh ist, um aufzustehen. Was ich ebenfalls weiß: Dass ich, einmal wach, nicht mehr in den Schlaf finden werde, dass mein Gehirn nun anspringt, dass es mich geweckt hat, weil seit gestern Abend zu viele unterschiedliche Baustellen in mir arbeiten. Weil ich wieder einmal nicht dafür gesorgt habe, vor dem zu Bett gehen ein bisschen Ruhe einzuplanen, zu lange noch erst auf meinen Laptop gestarrt habe, dann doch noch schnell einen Blick aufs Smartphone gewagt habe – und natürlich prompt hängengeblieben bin an einigen Desaster-News, die sich etwas unscharf in meine Träume geschlichen haben. Schemenhaft erinnere ich mich daran, dass ich durch eine wirre Abfolge von Actionszenen gejagt wurde und ich dabei penibel darauf achten musste, eine neon-orange Aktentasche nicht zu verlieren und mir das sogar gelang, nur um am Ende auf den billigsten Taschenspielertrick hereinzufallen, mich kurz von einer Frage ablenken ließ und mir das kostbare Gut entwendet wurde, als ich mich zu der Person umdrehte, die die Frage an mich gerichtet hatte. Der Stich in der Magengrube, als mir mein Fehler bewusst wurde, und der leere Fleck, an dem die Tasche gestanden hatte, den ich nun anstarrte, sind mir im Aufwachen realer als der Rest der Welt, der nur unscharf und in Graustufen an mich heranschwappt. Keinen Schlaf finden zu können, verdunkelt alles, besonders aber das Gemüt und ist, hält der Zustand länger als ein paar Tage an, mit einer eigenartigen Versagensangst verbunden. Warum ich? Warum fällt mir das vermeintlich Einfachste zurzeit nicht leichter? Wut gesellt sich dazu, Ungerechtigkeit, eine der dunkelsten Empfindungen, auch und vor allem dem Wolf an meiner Seite gegenüber. Was erlaubt er sich eigentlich, so ohne Probleme in den Schlaf zu finden, einen eigenen Rhythmus zu haben, der ihm erlaubt, sich hinzulegen und sofort in tiefen Schlummer zu finden? Als wäre Schlaf ein Hochleistungssport.

Die längste Zeit, die ein Mensch offiziell dokumentiert ohne Schlaf verbracht hat, beträgt 264 Stunden, das sind elf Tage, und bis heute hält diesen zweifelhaften Rekord aus dem Jahr 1964 der damals 17-jährige Randy Gardner aus San Diego, USA. Aus einem Grund, der sich mir nicht erschließt, zumindest nicht in meinem leicht angeschlagenen Zustand, hat ein Brite aus Penzance im Jahr 2007 einen weiteren Weltrekordversuch gestartet, den er per Video dokumentierte. Er überbot Gardners Leistung um zwei Stunden, darf sich aber bis heute nicht über die Nennung als Rekordhalter freuen, da die Kategorie „Längste Zeit ohne Schlaf“ schon längst nicht mehr existierte im Guinness Buch der Rekorde: „aus gesundheitlichen Bedenken“.1 Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen: In Laborversuchen, bei denen man Mäuse wachhielt und weckte, sobald sie einschliefen, starben die Versuchstiere nach durchschnittlich sieben Tagen. Grund dafür: vermutlich multiples Organversagen.2

Wie ich da so liege, frage ich mich, wie lange ich es wohl aushalten könnte ohne Schlaf, vermutlich keine 48 Stunden, und mir läuft bei dem Gedanken ein Schauer über den Rücken. Ich kenne mich, innerhalb weniger Tage ohne meine normale Dosis Schlaf von sieben bis acht Stunden werde ich zu einem kränklichen, weinerlichen Etwas, bin unkonzentriert, breche schnell in Tränen aus und glaube, dass die Welt dem Untergang nahe ist. Ich finde mich selbst lächerlich, wie ich mir das so überlege, im Warmen, in der Sicherheit meiner Wohnung, in einem insgesamt recht aufgeräumten Leben. Ja, ich habe eine Phase des beruflichen Komplettumbruchs hinter mir, habe mir manche Sicherheiten selbst unter den Füßen weggezogen in einem Mix aus Vertrauen und Wagemut, und sicher, die letzten Jahre mit Pandemie, näher rückenden Kriegen und sich immer mehr radikalisierender Weltpolitik sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen, wie auch, wenn erstmals Menschen rund um den Globus gleichzeitig in eine grundlegende Verunsicherung geworfen waren, die man nicht mehr von sich weghalten konnte, sich eben nicht mehr sicher fühlen konnte, sich nicht mehr zurückziehen konnte auf ein „Ach, zu uns kommt das schon nicht“. Es ist alles zu uns gekommen: das Virus, die Krankheit, die Angst, die Einsamkeit, die Verletzlichkeit, der Tod. Und auch die Erkenntnis: Wir Menschen sind nur bedingt solidarisch, ich erinnere an die allwöchentlichen Demonstrationen der „Querdenker:innen“, eine Petrischale für das Anmischen einer reaktionären, von Wut und Hass getriebenen Soße, in der es sich besorgte Bürger:innen nicht nehmen ließen, mit Rechtsradikalen zu marschieren. Ich erinnere mich an meinen Unglauben, an meinen mir ebenfalls gerecht vorkommenden Zorn auf Menschen, die ich nicht mehr verstand und die mich wohl umgekehrt auch nicht verstanden. Und auch der Krieg steht wieder vor unseren Toren. Ich lebe in Wien, das sind gerade einmal 1.000 Kilometer entfernt von Kiew, für jeden Sommerurlaub nehmen wir gern größere Entfernungen in Kauf, und während ich also hier liege und nachdenke, kämpfen Menschen in der Ukraine um ihr Leben. In vielen Teilen der Welt leiden Menschen Hunger, werden ihre Grundrechte mit Füßen getreten, müssen Frauen, queere Personen, Personen mit anderer Hautfarbe oder anderem Glauben sowie viele andere marginalisierte Gruppen um ihre Unversehrtheit fürchten, sitzen Journalist:innen und unliebsame Regimegegner:innen für kritische Berichterstattung in Isolationshaft oder werden dort „weißer Folter“ unterzogen, der Schlafdeprivation, rund um die Uhr dem Licht ausgesetzt.

Ich setze mich auf und bin wütend, auf mich, weil ich mir wieder selbst auf den Leim gegangen bin. Weil ich mein Gedankenkarussell nicht rechtzeitig gestoppt habe, und noch viel mehr, weil ich klein beigegeben habe und mich in die Negativspirale, die wir alle kennen, hineingedreht habe. Ich bin wütend, weil es so viel schwerer scheint, so viel mehr Energie braucht, sich dem Hellen zuzuwenden, als sich von Negativität fressen zu lassen. Es reicht, und ich steige vorsichtig aus dem Bett, der Wolf grummelt undeutlich, bevor er sich umdreht und weiterschläft, während ich auf Zehenspitzen ins Arbeitszimmer schleiche, die dunklen Gedanken abzuschütteln versuche und mich auf das Jetzt zu besinnen.

Seit ich denken kann, bin ich eine Frühaufsteherin. Meine produktivste Zeit des Tages ist sein Anbruch, wenn (fast) alles noch schläft, vor dem Fenster sich noch keine Auto­lawinen durch die Stadt wälzen, wenn die meisten Woh­nungen noch nicht von Lichterschein erhellt sind, wenn die Nacht noch ihre letzten Ausläufer verteidigt. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, im Dunkeln zu sitzen und einfach nur zu schauen, dabei den einen oder ande­ren Gedanken kommen und gehen zu lassen: Gedanken zum sich anbahnenden Tag, Gedanken zu alten und neuen unbeantworteten Fragen, Gedanken, die mich manchmal schrecken und manchmal ermutigen. Für die erste vor­sichtige Phase der Wachheit schalte ich keine Lampe ein, lasse mich von der Dunkelheit umhüllen und empfinde das als erstaunlich tröstlich, imaginiere sie mir als eine Decke, die mich wärmt mit vorläufiger Gleichgültigkeit gegenüber allen Bemühungen, die wir mit einem erfolg­reichen Tag verbinden. Die Abwesenheit von Licht signa­lisiert mir in diesen Stunden: Du musst nichts, nimm dir noch Zeit, bleib noch ein Weilchen, die meisten sind noch nicht wach, das Zeichen, das Tagwerk zu beginnen, ist noch nicht gekommen (oder ich habe es übersehen).

Dieser paradiesische Zustand ändert sich schlagartig, sobald sich – je nach Jahreszeit früher oder später – der erste Silberstreif am Horizont erblicken lässt. Nichts verheißt uns Geschäftigkeit oder ist uns so sehr Gebot, endlich mit dem Tun zu beginnen, den Müßiggang sau­sen zu lassen, wie der Anfang eines neuen Tages. Carpe diem!, schallt es uns, die wir unsere eigenen gelernten Motivationstrainer:innen sind, immer wieder entgegen, sitze nicht auf der faulen Haut, mach etwas aus dem Tag, aus dem Monat, dem Jahr, deinem Leben! Daran lässt sich grundsätzlich nichts ändern, Lebewesen sind so gepolt, Pflanzen recken sich gottergeben dem Licht entgegen. In Ländern, die dem Polarkreis näherliegen, tut man sich im Sommer mitunter schwer, Schlaf zu finden, wenn die Sonne nicht untergeht, und es muss zu fast gewaltsamen Verdunkelungsmethoden gegriffen werden. Am Ende einer durchtanzten Nacht unter Stroboskoplicht erntet meist eine überrascht hochgezogene Augenbraue, wer sich verabschiedet, bevor die Party zu Ende ist und die letzten Scheinwerfer im Club gelöscht sind. Solange Licht ist, gehen wir nicht heim!

„Mehr Licht!“, so will es die Legende, war Goethes letzte Forderung auf dem Sterbebett, und auch wenn ich bezweifle, dass es ausgerechnet diese zwei Worte waren, die dem Dichtergenie entfuhren, bevor er sein Lebens­licht aushauchte, so verstehe ich doch den Zweck ihrer mythischen Überhöhung: Auch wenn wir noch so viel geschafft haben, auch wenn wir noch so erfolgreich sind, es gibt wohl keinen Menschen, der trotz aller Mühsal die Möglichkeit, einen weiteren Tag zu erleben, ausschlagen würde. Mehr Licht, mehr Möglichkeiten, mehr Beweise für die eigene Existenz und ihre Gewichtigkeit, ihre Rele­vanz, ihre Wirkmächtigkeit. Denn die im Dunkeln sieht man nicht; gesehen werden wollen wir aber alle.

Zugegeben, das klingt ein wenig, als sei ich auf der dunklen Seite der Macht zuhause oder zumindest deren Sympathisantin, als verstünde ich einen Text über das Helle als ein Vehikel, um eine Lanze für das Dunkle zu brechen. Mitnichten. Dass ich mich im lichtlosen Raum ab und an sehr wohl fühle, heißt nicht, dass ich dies generell vorzöge oder frei von Geltungsdrang wäre, der das Aus­leuchten der eigenen, sonst verborgen bleibenden Winkel zulässt; wir alle streben letztendlich dem Hellen entge­gen, und ich möchte glauben, das ist gut so.

1 Vgl. https://www.derstandard.at/story/2000082079528/wie-lange-ueberlebt-ein-mensch-ohne-schlaf

2 https://www.spektrum.de/frage/wie-lange-kann-man-wach-bleiben/1321562

„Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.“ – Till Raether im Interview

Wie alle Literatur verändert sich der Kriminalroman konstant, und immer wieder ist es notwendig, sich die Frage zu stellen: Welche Komponenten braucht ein Krimi, um zeitgemäß zu sein? Der Koblenzer Autor Till Raether spricht mit uns im Interview darüber, was einen „guten Krimi“ ausmacht und was gesellschaftspolitische Entwicklungen damit zu tun haben. 

Lieber Till, vor Kurzem wurde dein Roman „Die Architektin“ von der Hamburger Kulturbehörde zum „Buch des Jahres“ ausgezeichnet. Außerdem hast du u.a. ein großartiges Buch über Zuversicht geschrieben: „Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?“ Und natürlich kennt man deine beliebten Danowski-Krimis. Du bist also in verschiedenen Genres unterwegs. Seit wann schreibst du als Krimi-Autor und wie ist deine Faszination dafür entstanden?
Mein erster Kriminalroman ist 2014 erschienen, ich hab aber schon als Kind angefangen, Krimis zu schreiben. Ich erinnere mich an einen, der „Der Mörder kam im Leichenwagen“ hieß. Meine Mutter war treue Leserin und Sammlerin der rororo-Thriller, deren dunkle Einbände und die geheimnisvollen Titel haben mich von Anfang an fasziniert.

Der Krimi, wie wir ihn heute kennen, hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Friedrich Schiller war im deutschsprachigen Raum beispielsweise einer der ersten, der über Kriminalfälle schrieb. Wie nimmst du das Genre wahr? Hat es sich in deiner Wahrnehmung stark verändert in den letzten Jahren?
Ich finde es erstaunlich, wie groß der Unterschied zwischen Kriminalromanen und Krimis im deutschsprachigen Fernsehen ist. Während die Krimiliteratur eine große Bandbreite von Geschichten und Personen erzählt, wird im Fernsehen in den allermeisten Fällen die klassische Polizeierzählung mit Verbrechen, Ermittlung und Lösung erzählt, zwischendurch ein bisschen Privatleben und Sprüche. Ich glaube, durch die Fernseh-Krimis könnte der Eindruck entstehen, dass der deutschsprachige Krimi erstarrt ist, aber ich finde ihn recht lebendig und vielfältig.

In einem Vortrag bei der Tagung „Kriminalerzählungen der Gegenwart“ der Universität Bonn im April 2021, der auf 54Books nachzulesen ist, sagst du: „Noch viel realistischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Recherche. Aber noch viel literarischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Kunst. Was also soll ich tun, als Genre-Autor?“ Wie schaust du inzwischen auf deine bisherigen Bücher, deine Herangehensweise(n) und auf die deiner Kolleg*innen?
Ich persönlich habe meine Reihe über den Hamburger Kommissar Adam Danowski gerade mit dem siebten Band beendet, und am Ende verlässt Danowski die Polizei. Ehrlich gesagt auch deshalb, weil ich immer noch ratlos bin, wie man heute Polizei erzählen kann, ohne die ganze Zeit die gleichen Strukturen abzubilden und die gleichen Geschichten und Figurenkonstellationen zu wiederholen. Ich bewundere Kolleg*innen, die da länger durchhalten, aber ich finde andererseits, dass Ratlosigkeit auch keine Schande ist. Im Moment arbeite ich jedenfalls an einem psychologischen Thriller, bei dem die Polizei keine Rolle spielt.

 

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u.a. für das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Sein Sachbuch „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ stand 2021 wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seine Romane „Treibland“ und „Unter Wasser“ wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser*innen. Band 2 „Blutapfel“ wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, weitere Danowski-Fernsehkrimis sind in Vorbereitung. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Von der klassischen Detektivgeschichte bis hin zum Thriller, von Cozy-Crime bis Noir gibt es viele Facetten der Spannungsliteratur. Was braucht es, damit ein Krimi zeitgemäß ist?
Eine gewisse Bereitschaft, die Regeln des Genres oder des Sub-Genres hier und da zu durchbrechen. Und ich finde schon auch, dass ein gewisses Verantwortungsbewusstsein dazugehört, also, sich die Frage zu stellen, ob wir beim Krimischreiben zum Beispiel bestimmte Formen von Gewalt als Unterhaltung ausbeuten.

Nicht selten wird der Krimi als Trivialliteratur bezeichnet, ja, geradezu abgewertet. Wie lautet deine Antwort darauf?
Ich finde die Bezeichnung Trivialliteratur irgendwie völlig veraltet. Genreliteratur wie der Krimi folgt nun mal bestimmten Regeln, das heißt, es gibt Vereinbarungen zwischen Autor*innen und Leser*innen, dass bestimmte Erwartungen im Genre erfüllt werden. Trivial finde ich persönlich vielmehr Literatur, bei der Altbekanntes auf handwerklich lieblose Weise zum x-ten Mal wiederholt wird. Das gibt es außerhalb des Genres genauso häufig oder häufiger als innerhalb des Genres, nach meiner Leseerfahrung.

Uns, unsere Gesellschaft beschäftigen viele brisante Fragen. Sollen im Krimi-Genre aktuelle gesellschaftspolitische Themen ihren Raum finden, oder macht es für dich einen „guten Krimi“ aus, dass er zeitlos ist?
Ich denke, dass aktuelle gesellschaftspolitische Themen eigentlich immer die gleichen sind, weil es dabei immer um Machtstrukturen in der Gesellschaft geht. Darum kann ich heute noch die Sjöwall-Wahlöö-Krimis aus den Sechzigern und Siebzigern lesen, obwohl ich weit entfernt von der schwedischen Gesellschaft der damaligen Zeit bin. Ich finde eher Krimis altbacken und schnell veraltet, die die Gesellschaftspolitik ihrer Zeit ignorieren und nur Psychologie erzählen.

Wie würdest du die Zukunft des Genres einschätzen und was würdest du dir für den Krimi wünschen?
Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.

Welche(r) Krimi(s) hat/haben dich in letzter Zeit total begeistert?
Die Aosawa-Morde“ von Riku Onda, „Milchmann“ von Anna Burns und, völlig unbegreiflicherweise bisher nicht auf Deutsch übersetzt, „Lady Joker“ von Kaoru Takamura.

Wir haben deine Neugierde geweckt und du hast Lust auf noch mehr gemischte Krimis bekommen? Wirf einen Blick in unsere aktuelle Vorschau, hier kannst du weitere facettenreiche Bücher entdecken.

„Man könnte für eine Gesellschaft sorgen, in denen weniger Gründe produziert werden, hassen zu müssen oder beschämt zu werden.“ – Videointerview mit Olivier David

„Für gewöhnlich liest unsereins nicht vor Publikum aus Büchern, unsereins trägt  Sicherheitsschuhe beim Arbeiten, hat Kopfhörer auf den Ohren gegen den Lärm, hat Schmerzen irgendwo, lehnt, wo er kann, gähnt, so oft es geht.“  Das schreibt Olivier David in seinem Essay-Band „Von der namenlosen Menge“. In einem Video-Interview haben wir uns mit dem Autor unterhalten, der im Supermarkt, als Malerhelfer, Kellner, Lagerarbeiter, Schauspieler gearbeitet hat, ehe er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte. Darüber, was es heißt, seinen zugewiesenen Platz zu verlassen, darüber, was es bedeutet, eine authentische Sprache zu finden, die sein Herkunftsmilieu nicht preisgibt. Eine Sprache der Analyse, aber auch eine der Wut, der Einsamkeit, der Scham. 

Warum gesellschaftliche Gewalt so oft unsichtbar bleibt, wieso es wichtig ist, die Geschichten der depriviligierten Milieus festzuhalten und was dies mit einer Veränderung der Machtverhältnisse zu tun hat, könnt ihr in unserem Haymon-Interview nachhören und in einer gekürzten, redigierten Version unten nachlesen.

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Im Feuilleton liest man ja immer wieder, dass klassenbewusste, soziologisch angehauchte Literatur eine Art Hochphase erlebt, und deswegen möchte ich auch mit Blick auf dein Buch ein bisschen provokant fragen, ob unter diesen Vorzeichen Armut überhaupt noch ein tabuisiertes Thema ist?

Die Art und Weise, wie über Armut gesprochen wird, ist nicht tabuisiert, es gibt in den letzten Jahren nicht nur in der Literatur, sondern auch im Journalismus auf eine Art ein großes Willkommenheißen für solche Themen. Das hat natürlich auch irgendwie mit dem Druck von unten zu tun, dass für mehr Diversität gesorgt werden soll. Die Frage ist aber, und das gilt für den Journalismus, aus dem ich eigentlich komme, und für die Literatur gleichermaßen: Was darf man und was darf man nicht, also welche Rollen werden einem zugeschrieben? Und wenn man sich das anschaut, dann ist es im Journalismus ganz stark so, dass Menschen objektifiziert werden, das heißt, dass sie einfach ganz konkrete Funktionen erfüllen und innerhalb von bestimmten Schablonen funktionieren sollen. Und jetzt könnte man mit gewissem Recht sagen, dass es in der Literatur anders ist, aber ich bin da vorsichtig geworden, weil ich glaube, der Grund, warum bestimmte Armutsgeschichten oder bestimmte Klassengeschichten Erfolg haben, liegt darin, dass sie in bestimmten Rahmen funktionieren, wo sie Grundsätzliches nicht in Frage stellen und wo sie elementare Widersprüche nicht ansprechen. Also wo sie mit politischer Sprache arbeiten und sich hinter einem Kunstbegriff verstecken, wenn es dann darum geht, Dinge konkret werden zu lassen. Ich bemerke das immer wieder, sobald man sich aufmacht, seinen Platz zu verlassen – und mein Platz ist es mit meinem ersten Buch gewesen, meine eigene Geschichte erzählen zu dürfen. Sobald ich meinen Platz verlasse, wird es skandalisiert, dann wird einem gesagt, das steht dir gar nicht zu. Du bist hier, um deine Geschichte zu erzählen. Und das ist für mich kein Begriff von ehrlicher Teilhabe und kein ehrlicher Begriff von Interesse. Wenn wir Leute einladen, teilzuhaben, dann müssen wir ertragen, dass die eine andere Analyse von der Welt haben. Und das erlebe ich sowohl in der Literatur als auch im Journalismus und eben auch in der Politik nicht.

Olivier David, 1988 in Hamburg-Altona geboren, ist Schriftsteller und Kolumnist. Nach der Schule arbeitete er mehrere Jahre in einem Supermarkt, bevor er eine Schauspielausbildung begann. Olivier David jobbte als Kellner, Malerhelfer und Lagerarbeiter, nebenbei spielte er Theaterstücke für Kinder. Mit 30 gelang ihm der Quereinstieg in den Journalismus. 2022 erschien sein erstes Buch „Keine Aufstiegsgeschichte – Warum Armut psychisch krank macht“. Für die Tageszeitung „nd“ schreibt Olivier David die Kolumne „Klassentreffen“, für das Schweizer Magazin „Das Lamm“ die Kolumne „David gegen Goliath“.

www.oliviercyrilldavid.com

Es wird eine Sprache gewählt, die an den Machtverhältnissen nichts ändert, sondern sie im Gegenteil reproduziert. Wie findet man das – eine Sprache in der man „authentisch“ zum Beispiel über sein Herkunftsmilieu oder seine Zugehörigkeit sprechen kann? 

Ich habe einen Fundus aus 35 Jahren Gefühlen, Erleben, Erfahrungen – von Gewalt, von Deklassierung – in mir und bin mit vielen starken Gefühlen sozialisiert. Auch heute noch bin ich von vielen starken Gefühlen wie Wut und Trauer und großer Angst und Einsamkeit umgeben. Dafür eine Sprache zu finden – das hat einfach lange gebraucht.
Der erste Essay den ich für dieses Projekt geschrieben habe, war der Essay, wo es um die Beschaffenheit armer Körper geht. Wodurch sind arme Körper determiniert, was beeinflusst die Leben von armen Menschen und auch ihre Körper? Da war mir gleich klar, das muss etwas Gehetztes, das muss irgendwie zwischendurch etwas Atemloses bekommen, das muss etwas Grundwütendes haben, das muss diese Wut ausdrücken, die meine Muskeln gespürt haben, als ich am Fließband gearbeitet habe. Diese Hoffnungslosigkeit, wenn du merkst: Ah, okay, zwei Kollegen werden gerade von deinem Fließband weggenommen und du siehst, die Pakete stapeln sich. Und diese ganze Wut, unter einem Maleranzug zu stecken und der Bürgermeister von Hamburg, der später dann unser Bundeskanzler geworden ist, Olaf Scholz, geht mit einem Tross aus 50 Anzugträgern an dir vorbei und verdient in einer Minute so viel wie du in einem ganzen Monat. Dieses auf seinen Platz zurückgewiesen werden. Diese Gefühle, die müssen irgendwie in Sprache gegossen werden und letzten Endes ist es mir leichtgefallen, eine Sprache für diese Wut zu finden, für dieses Atemlose. Es ist mir nicht so leichtgefallen, eine Sprache zu finden für die leisen Töne in mir, für die Einsamkeit. Weil ich gewohnt bin, meine Leerstellen zu überschreiben mit Aktion.

Das Schwierige an dem Essay-Band war, diese Sprachen zu verbinden: also analytische Sprache und die Sprache der Wut miteinander zu verbinden, oder die emotionale Sprache zu verbinden mit den Teilen, in denen ich auf die Suche gehe, was es denn in der Literatur schon für Gedanken zu den Themen gibt, die ich verhandle. Und das zusammenzubringen, mit Momenten, an die ich mich erinnere, meiner Familie, mit Momenten von Menschen aus meinem Umfeld, mit meinen Gefühlen – das zusammen zu verwurzeln, das war für mich eine große Herausforderung. Da einen gemeinsamen Ton, eine Temperatur zu finden.

Olivier David beschäftigt sich in „Von der namenlosen Menge“ anhand von Beobachtungen und Erfahrungen mit dem Einfluss von Klasse auf sein Leben – und die Leben derer, die er seine Leute nennt. In sprachgewaltigen, intimen, wütenden und dabei einfühlsamen Essays schreibt er über innere Migration, vom Fremdsein und einer blauen Angst.

In deinem Buch, so mein persönlicher Eindruck, steckt auch eine Art Rehabilitation von verpönten oder geächteten Emotionen in unserem Diskurs. Also Wut, Frust, Scham, Ohnmacht – die Art und Weise, wie darüber oft öffentlich geredet wird, ist eine des Tone-Policings, eine der Verdrängung,  der Pathologisierung, der Ächtung. Diese Emotionen markieren oft einfach individualisiertes Versagen für das Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Hat zum Beispiel die Wut für dich auch eine Art subversives Potenzial?

Die Wut hat absolut machtvolles, auch subversives Potenzial. Gleichzeitig ist sie im Regelfall schädlich. Zunächst für einen selbst und dann notwendigerweise auch für andere. Wut oder Ohnmacht sind an sich keine guten Gefühle. Es sind Gefühle, denen man mit einer bestimmten Klassenposition dann häufiger ausgesetzt ist.
So ist es auch mit der Scham. In aller Regel schadet Scham dem Individuum. Da ist es wahrscheinlicher, dass Menschen sich durch konstante Beschämung nicht empowern können und dass sie nicht die  Möglichkeiten haben, den Blick zu öffnen und zu sagen: „Dass ich beschämt werde, ist schon ein Fall von Individualisierung sozialer Benachteiligung“. Das ganze Leben über wurde mir signalisiert, dass ich das Problem bin und ich wurde beschämt für Dinge, die institutionell schiefgegangen sind, und genauso ist es auch mit der Wut. Wut richtet sich zuerst gegen einen selbst und dann gegen andere und in aller Regel ist Wut nichts Progressives, aber ich suche nach Schreibweisen, wie man dem Schreiben für betroffene Menschen gerecht werden kann. Für mich ist es dann keine Option, diesen bürgerlichen Impetus von einer Caroline Emcke zu wählen, die sagt „Hass ist per se destruktiv“. Das ist für mich eine Art von Gaslighting. Die Menschen kriegen ein Gefühl auferlegt, das nicht zu ihnen gehört, sie sind nicht mit dem Hass geboren, sondern sie werden zu Hassenden gemacht über die gesellschaftliche Position, in die sie hineingeboren werden. Und sie dann dafür zu beschämen, dass sie diese Hassgefühle haben und dass diese sich vielleicht in einer nicht ganz adäquaten Art und Weise veräußern, das ist Victim Blaming. Diejenigen, die benachteiligt sind, werden für ihre Benachteiligung und die Gefühle, die diese Benachteiligung in ihnen auslöst, ein zweites Mal beschämt, ein zweites Mal zur Verantwortung gezogen. Und das, obwohl sie für beides nicht viel können. Da gibt’s auch Gegenbegriffe und da habe ich mich  natürlich auch auf die Suche gemacht nach Autor*innen, die anders denken. Zum Beispiel Şeyda Kurt, die sagt, erstmal ist Hass nur ein Gefühl und erstmal ist es notwendig, dass wir uns mit unseren Gefühlen auseinandersetzen. Auch als Gesellschaft. Vielleicht ist Hass auch ein politisches Gefühl und vielleicht muss man auch nach den Gründen fragen, warum Leute hassen und das macht Emcke nur ganz marginal. Und damit zahlt sie natürlich ein, in so eine bürgerliche Idee von „Leute, die hassen, sind schlecht.“ Wir kennen diese linksbürgerlichen Schilder auf den Demos gegen Rechts: „Hass macht hässlich“ und „Wer hasst, ist dumm“ und so. Ich habe das auch vor zehn Jahren so ähnlich gedacht und so ähnlich gesagt. Das finde ich aber unüberlegt, es ist performativ, weil es einfach nur darum geht, etwas zu verurteilen, aber nicht nach den Gründen für den Hass zu fragen. Denn am Ende haben die Gesellschaften, in denen wir leben, viel davon in der Hand. Man kann Gesellschaft auf eine sehr gute Art und Weise steuern. Man könnte für eine Gesellschaft sorgen, in denen weniger Gründe produziert werden, hassen zu müssen oder beschämt zu werden. Und für diese Gesellschaft habe ich versucht zu schreiben. Ob es gelungen ist, müssen andere sagen.


Wir entpolitisieren gesellschaftliche Gespräche permanent. Wir müssen zu einer Repolitisierung gesellschaftlicher Phänomene zurückkommen, indem wir sagen: „In allem was wir machen, steckt Gesellschaft drin“.

– Olivier David

Geschichten von der unteren Klasse, Literatur über soziale Herkunft – meist sind das Erzählungen von Aufbruch und Aufstieg. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die unten geblieben sind. Die mit den schmerzenden Körpern, die Nachtarbeitenden, die Vergessenen – und um ihn selbst. Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit den Wohlstand höherer Klassen zu bezahlen? Wie selbstbestimmt kann die Entscheidung, allein zu bleiben, sein, wenn soziale Beziehungen durch Vereinzelung, Geldmangel und eingeschränkte Teilhabe unter Druck stehen? Wie soll Geschichte weitergegeben werden, wenn es kein kollektives Gedächtnis armer Menschen gibt?

Auf dieses Kapitel wollte ich mit der Frage hinaus. Ich glaube, dir gelingt es, auch im besten Sinne aufklärerisch zu wirken mit deinem Buch. Und zwar mit erschreckenden Zahlen: In jedem Jahr erkranken 43% der Frauen der untersten Klassen an psychischen Erkrankungen. Ein Drittel der Männer in den marginalisierten Milieus in Deutschland erleben ihren 65. Geburtstag nicht. Warum ist diese gesellschaftliche Gewalt öffentlich so unsichtbar? 

Ich glaube, wir haben uns als Gesellschaft abgewöhnt, da hinzuschauen, eigentlich liegt alles vor unserer Nase. Ich war vor ein paar Wochen in dem Archiv von der Lokalzeitung in Hamburg, in der ich Volontariat gemacht habe, für die Recherche an einem Buchprojekt, das sich mit den 1970er Jahren auseinandersetzt. Und da wurden früher in so kleinen Spalten am Rand jede Woche die Unfallzahlen rausgegeben, da wurden auch Kapitalverbrechen bekannt gegeben und ich habe gesehen, was für eine gewalttätige Gesellschaft das war. Da waren Nachrichten zu finden: „Mann tötet seine Kinder“, in einer kleinen Spalte mit vier Zeilen. Das wäre heute eine Woche lang in allen Medien deutschlandweit Aufhänger gewesen. Das war den Leuten vier Zeilen wert, weil die ganze Zeitung voll war damit.

Wir sehen auch heute noch diese Nachrichten, aber wir entziehen ihnen Logiken und Schlüsse. Wenn wir zum Beispiel über Migration reden, dann reden wir ganz häufig eigentlich über Klasse. Gerade, wenn man eine konservative Einlassung zur Migration betrachtet: „Wir müssen die Migration begrenzen“. Letzten Endes geht’s da sehr oft um Klasse, und wir schauen nicht hin und unsere medialen und politischen Diskurse verkürzen und individualisieren Dinge, die passieren, auf den Moment der Tat. Wie Bourdieu sagt, wenn wir uns Gewalt anschauen, dann müssen wir hinter die Gründe für Gewalt schauen. Oftmals sind sie eben sozialer Natur. Wenn du zu Hause geschlagen wirst, ist es wahrscheinlicher, dass du selber Gewalt anwendest. Menschen, die aus der unteren Klasse kommen, wenden häufiger Gewalt an als Menschen, die mehr Geld haben. Natürlich können die es auch anders maskieren, in einer 200 Quadratmeter großen Wohnung fällt’s leichter, die Gewalt zu verbergen.

Was ich eigentlich sagen will, ist: Wir entpolitisieren gesellschaftliche Gespräche permanent. Wir müssen zu einer Repolitisierung gesellschaftlicher Phänomene zurückkommen, indem wir sagen: „In allem was wir machen, steckt Gesellschaft drin“.

Wie gesagt, reden wir hier auch von psychischen Erkrankungen: 33% der Frauen der untersten sozialen Statusgruppe in Deutschland erkranken innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Das sind epidemische Ausmaße! Wir haben 14 Millionen, wahrscheinlich mehr, Armutsbetroffene und noch mal vier bis fünf Millionen, die nah dran sind, die nicht weit in den Rückspiegel schauen müssen, um die Armut zu sehen. Wir haben 40% der Menschen in Deutschland, die nicht mal 1000 € gespart haben. Das sind alles Leute, auf die diese Frage zutrifft und das bedeutet, dass Millionen Menschen in diesem Land aufgrund ihres sozialen Status psychisch erkranken. Weil wir sehen in den höheren sozialen Statusgruppen, die das Robert Koch Institut in dieser von dir zitierten Studie erfasst, da sind die Erkrankungszahlen auf einmal fast nur noch ein Drittel. Das heißt, psychische Erkrankung ist ein Ding, und darüber zu sprechen wird langsam populär und das ist gut und notwendig. Aber es wird eben entpolitisiert, indem zu wenig über die sozialen Hintergründe dieser Sachen gesprochen wird.

Auch noch ein letztes Beispiel aus dem Essay „Der arme Körper“: Es vergeht in Zeitungen keine Woche, in der nicht irgendwelche Bauarbeiter von Gerüsten fallen, in der nicht Leute erschlagen werden, in der nicht Müllmänner ums Leben kommen – ich habe in meiner Zeit des Volontariats zwei tote Müllmänner aufgeschrieben, die von ihren Müllautos überfahren worden sind, beim Ausrangieren oder sonst was. Das sind eben originär die Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, die während ihrer Arbeitszeit sterben, weil sie körperliche Arbeit ausüben und das ist eigentlich eine politische Sache. Das heißt, da beginnt die Selektion schon im Kindergarten und in der Vorschule, und über diese Selektion kann man eine Wahrscheinlichkeit ausrechnen, wie viel früher eine Person stirbt. Abhängig davon, welchen Beruf sie ausübt. Also, ob sie einen körperlich-handwerklichen Beruf ausübt, oder ob sie im Büro sitzen darf. Und daraus ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit, wann dein Leben zu Ende ist und mit welchen Vorerkrankungen du frühzeitig, ja, ermordet wirst, denn das lässt sich eben bis zu einem gewissen Grad steuern. Also eigentlich müsste es so sein, dass Leute, die körperlich arbeiten, zum Beispiel 15 Jahre früher in Rente gehen, denn jeder dritte Mann aus der Armutsklasse stirbt vor Beginn seines Renteneintritts. Dass wir das nicht machen, bedeutet einfach, dass es Leute gibt in diesem Land, die aufgrund ihres sozialen Status ermordet werden. So drastisch muss man es leider sagen.


Wer erinnert sich an meine Tante, die Steine auf die Polizei geschmissen hat? Wer erinnert sich an meinen Vater, der im Gefängnis saß? Wenn ich es nicht mache, dann macht’s vielleicht keiner.

– Olivier David

Das ist gesellschaftliche Gewalt, die zugedeckt wird und ich glaube, es ist ja tatsächlich auch die Herausforderung, die Schicksale zwar nachempfindbar zu machen und gleichzeitig diesen Scheinwerfer auf diesen Klassenaspekt zu richten. Denn Ideologie – das haben wir schon vor Kurzem festgestellt – sind immer die anderen. Klar muss aber sein, dass konservative Kräfte, die Machtverhältnisse unangetastet lassen und reproduzieren, sich immer unsichtbar machen und ich glaube dagegen schreibst du ja auch an.
Dieses klassenbewusste, „auto-ethnographische“ Schreiben wirft ja immer Prämissen auf, die auf den ersten Blick ganz deterministisch wirken können. Gibt’s trotzdem etwas, das Olivier David hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt?

Zuversicht ist ein schwieriges Konzept für mich, ich glaube, deswegen hat es mich zum Beispiel sehr viel gekostet, den letzten Essay zu schreiben. Weil ich mir das eben nicht erlauben wollte, da ohne Zuversicht rauszugehen. Ich finde, man muss auch die Zuversicht von der falschen Zuversicht trennen. Man changiert da zwischen so einem Aufwerten von Klasse, da gibt’s viele Lebensläufe von Menschen, die unter großer Kraftanstrengung versuchen, ihre Würde zu erhalten und denen das auch möglich ist. Und dann gibt es wieder den deterministischen Blick darauf, dass es am Ende des Tages eben auch die Frage sein kann, wie lange einen der Staat überhaupt leben lässt in einem Land.

Es geht eben in dem Buch nicht nur um mich, sondern auch um Geschichten, um Menschen um mich herum, und da muss man einfach nur hinhören und dann im Zweifel mal etwas übersetzen, wenn Leute den Zugang nicht dazu haben, dass sie Dinge so sagen, wie sie eigentlich gemeint sind. Da, wo Hoffnung da ist, muss auch – und das ist auch ein Satz aus dem Buch – von ihr berichtet werden. Ich treffe keine Empfehlungen am Ende des Buches und sage nicht, so und so und so muss es sein. Aber man muss Möglichkeiten von Hoffnung aufzeigen, wenn man ein Produzent von symbolischen Gütern ist. Alles andere wäre gefährlich, weil letzten Endes gehören wir Menschen hier im globalen Norden – Leute, die das Privileg haben, über ihre soziale Situation und über die soziale Situation von ihrem Teil der Gesellschaft zu schreiben – zu den privilegiertesten Menschen mit den meisten Ressourcen auf diesem ganzen Planeten.

Natürlich ist im Vergleich zu Multimilliardären mein Einfluss ein Witz. Aber ich glaube auch dieser alten Version von mir, die am Fließband gearbeitet hat, die arbeitslos war, die Nachtschichten, Frühschichten und Spätschichten gemacht hat und die bekifft Käse geschnitten hat hinter der Käsetheke, auch dieser Person bin ich verpflichtet. Und diesen alten Lebenslauf von mir würde ich verraten, wenn ich nicht sagen würde, dass eine andere Welt möglich ist. Ich glaube, da gibt’s einen schmalen Grat dazwischen, die Leute zu verführen, und zu sagen: „Kommt alle mit!“ Und im Gegenteil zu sagen, „Nee, es ist sinnlos“.

Es muss eben über die Hoffnung berichtet werden und, das ist ja auch das Erzählprinzip überhaupt, den Leuten muss ihre Geschichte wiedergegeben werden. Dort, wo ihnen vielleicht die Möglichkeiten fehlen, sie zu konservieren. Den Wert ihrer Geschichte anzuerkennen, das ist absolut notwendig und das ist natürlich auch ein Teil dessen, was mich interessiert an Literatur. Dass ich versuche, Zeugnis zu geben, denn: Wird meine Familie sonst gelebt haben, wenn ich nicht über sie schreibe? Die Menschen in meiner Familie erinnern sich natürlich sehr genau an ihr eigenes Leben, aber wer erinnert sich an ihr Leben in zehn, 20 Jahren? Dagegen strotzen natürlich die Archive der Herrschenden und der Reichen vor Heldengeschichten. Wer kann nicht aus dem Stand fünf Geschichten zu Elon Musk erzählen, aus den letzten zehn Jahren, die der crazy, crazy Unternehmer irgendwie auf die Reihe gekriegt hat? Aber wer erinnert sich an meine Tante, die Steine auf die Polizei geschmissen hat? Wer erinnert sich an meinen Vater, der im Gefängnis saß? Wenn ich es nicht mache, dann macht’s vielleicht keiner. Und da will ich so eine Art Erinnerungsversicherung sein für meine Leute.


Eigentlich müsste es so sein, dass Leute, die körperlich arbeiten, zum Beispiel 15 Jahre früher in Rente gehen, denn jeder dritte Mann aus der Armutsklasse stirbt vor Beginn seines Renteneintritts. Dass wir das nicht machen, bedeutet einfach, dass es Leute gibt in diesem Land, die aufgrund ihres sozialen Status ermordet werden. So drastisch muss man es leider sagen.

– Olivier David

Das finde ich auch einen schönen Gedanken, dass das Buch dann als manifestierte Erinnerung irgendwann im Regal stehen wird – quasi performativ wird. Ein Artefakt, in dem sich zumindest deine Version der Geschichte deiner Eltern oder deiner Verwandten materialisiert. Und genau das ist es ja, was der Arbeiterklasse vorenthalten wird. Schon der Titel „Von der namenlosen Menge“ geht ja zurück auf die Erzählung von Éric Vuillard über den 14. Juli, wo man nach der französischen Revolution sehr genau wusste, wie viele goldene Türknäufe aus den Palästen entwendet wurden, aber über die Protagonist*innen der Aufstände in Paris wurde überhaupt nichts dokumentiert. Vielleicht ist diese Vorstellung ja auch ein bisschen romantisierend und vielleicht auch ein bisschen naiv, aber da steckt ein Stück materialisierte Erinnerung und Geschichte drin.

Ist genau der Aspekt vielleicht auch ein sensibles Thema, dass du deine Version der Geschichte festhältst? Wie geht es dir mit der Vorstellung, dass zum Beispiel dein Vater dieses Buch lesen könnte und sein Leben vielleicht anders interpretiert hätte als du mit diesem spezifisch klassenbewussten, politischen Zugang?

Also zuerst einmal zum ersten Teil, der keine Frage war: Ich sehe und meine das genau so. Für mich ist das Schreiben eine Möglichkeit, Dinge festzuhalten und sie auch später ausgedruckt zu haben, Bücher zu haben, die Zeugnis liefern. Ich finde das auch nicht naiv, sondern für mich ist das eine ganz konkrete, haptisch erfahrbare Art, sich in die Welt einzuschreiben, im wahrsten Sinne des Wortes.

Und zur Frage: Wir können nicht durch die Welt gehen, ohne andere Menschen zu verletzen. Wenn ich über meinen Vater schreibe, dann verletze ich ihn damit und es ist eine andere Verletzung, als wenn ich ihm sage, ich mag dich nicht (was nicht der Fall ist, ich mag meinen Vater). Weil das ein Buch ist, ist es ja noch an eine Leser*innenschaft gerichtet, insofern multipliziert sich diese Verletzung sogar. Wie geht man damit um als Schreibender? Ich versuche, so wenig gewalttätig zu sein und so präzise zu arbeiten wie möglich. Um den Grat zwischen Fiktion, also meiner Idee von meinem Vater, und meinem Vater so schmal wie möglich zu halten. Aber in dieser schmalen Spur verliert sich immer Deutung. Eines der Essays im Buch ist ein Brief, den ich an meinen Vater geschrieben habe, der ergeht sich vor Vermutungen, eben weil ich die Leerstellen, die ich von meinem Vater habe, füllen muss, denn wir leben seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr in einem Land. Und meine Besuche bei ihm, oder die Male, die wir uns gesehen haben in den letzten 25 Jahren, die können diese Leerstellen nicht füllen. Also gibt’s sozusagen eine kleine Brücke. Es hat immer eine Fallhöhe und es wird immer Gewalt transportiert. Die Frage ist, glaube ich, mit welcher Intention das geschieht und ob es vorsätzlich geschieht, oder ob die Gewalt ein Nebenprodukt ist von einer Äußerung. Und so ist es beim Schreiben auch, eben mit dieser erweiterten Zuhörer*innenschaft oder Leser*innenschaft. Da geht’s glaube ich darum, sensibel zu sein.

Auf der anderen Seite diese Geschichten nicht zu erzählen, da frage ich mich, ob das nicht die viel größere Gewalt ist.  Schreiben bedeutet auch Interpretation, und man kann natürlich nicht behaupten, ich erzähle jetzt alle Geschichten von allen Menschen aus der unteren Klasse. Das wäre essenzialisierend, man würde sagen, so wie die Leute sind, so liegt die hundertprozentige Wahrheit.

Was passiert aber jetzt mit Leuten, die arm und wahnsinnig rechts sind? Haben die dann recht, weil sie arm sind? Ich glaube, vielleicht ziehen sie falsche Schlüsse aus einem ehrlich empfundenen Leid. Und die Aufgabe von uns Schreibenden oder uns Menschen, die fürs Schreiben und fürs Denken und fürs Reden bezahlt werden, ist, zu schauen, was zwischen diesen Worten liegt. Und zu sehen, wenn jemand verhärmt vor dir sitzt, dem nur noch sieben oder acht Zähne im Gesicht stehen, wenn der dir sagt, er hat ein glückliches Leben, dann noch mal selber nachzudenken und zu sagen, welcher Kiefer erzählt dir von seinem glücklichen Leben? Der, der verspannt ist, bis ins Gehtnichtmehr? Welche Zähne erzählen dir von einem Leben, welcher Blick erzählt von einem Leben? Und versuchen, das zu dechiffrieren und natürlich geht dabei immer etwas verloren. Und natürlich wird dabei immer Gewalt reproduziert, das geht nicht anders. Aber ich glaube, der wesentliche Punkt ist es, den Vorsatz zu haben, diese Geschichten trotzdem erzählen zu müssen und erzählen zu wollen. Und den Vorsatz zu haben, an einer Literatur zu schreiben, die den eigenen Leuten objektiv nützt, in denen man die Gewalt, die sich an ihnen ausdrückt als politische Kraft verortet. Also für eine Welt zu schreiben, in denen es die Menschen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, objektiv besser haben, weil sie egalitär ist.*

 

Fotos: © Martin Lamberty
* Die kursive Passage wurde nach dem Interview schriftlich ergänzt.

„Es mag Sie irritieren, Herr Inspektor, dass weibliche Gehirne manchmal dem männlichen überlegen sind, doch Sie müssen sich nun leider damit abfinden.“

Dieses Zitat stammt von Miss Marple, mit der Agatha Christie schon in den 90ern zeigte, dass Frauen* das Krimigenre meisterhaft beherrschen. Trotzdem blieben die ermittelnden Figuren oft Cis-Männer: alternde, allmächtige Polizisten oder Detektive mit Genieanwandlungen; eine einzelne, mächtige Figur, die mehr oder weniger im Alleingang ihre Fälle löst, „die Bösen“ bekämpft und für die Sicherheit aller verantwortlich ist. Heute kommen uns aus Krimis dagegen Figuren mit vielen Facetten entgegen, mit denen wir nicht nur deshalb mitfiebern können, weil uns ihr aktueller Fall in Atem hält, sondern auch, weil ihre Haltungen, ihre alltäglichen Probleme und ihr Privatleben uns einen direkten Blick in eine andere Lebenswelt ermöglichen. Sie reflektieren autoritäre Strukturen, sie haben Team- und Kampfgeist, sie haben eine Meinung, die sie uns auch wissen lassen, sie nehmen sich selbst nicht so ernst. Und häufig sind sie: Frauen*. Ein guter Krimi ist immer mehr als ein spannender Plot: Er ist Sprachkunst, Gesellschaftssatire, Systemkritik, Empowerment – oder alles gleichzeitig. Deshalb stellen wir euch nun die Protagonistinnen unserer Krimi-Autor*innen vor.

 

Astrid findet heraus, dass ihr Partner sie betrügt, und will ihren Herzschmerz in Venedig kurieren, einem Sehnsuchtsort auf ihrer Bucketlist. Nichts lenkt besser von einer traumatischen Trennung ab als die wunderschöne Serenissima. Denkt Astrid. Aber: Statt romantischem Dolce Vita und köstlichem Vino findet sie in der Stadt der Gondeln und Kanäle vor allem Hitze. Und Leichen. Jede Menge Leichen. Astrid gerät unversehens in mafiöse Verstrickungen. Entführungsversuche, Verfolgungsjagden in Motorbooten, Schläger und Schmuggler – immerhin wird Astrid dadurch von ihren privaten Kümmernissen abgelenkt. Aber wird sie diese ungeplanten Abenteuer auch überleben?

 

Ellen Dunne und ihre Patsy Logan sind ein kriminalliterarisches Dreamteam. Patsy, Kriminalhauptkommissarin aus München, steht ein paar Monate vor ihrem 40er und ist frisch getrennt, in Dublin, während einer beruflichen sowie privaten Auszeit. Sie hat sich den Kopf an der gläsernen Decke gestoßen – und hat damit zu kämpfen. Doch nicht nur beruflich, sondern auch privat geht es drunter und drüber, ihr Mann hat sich eine Ältere gesucht, und was das mit dem Liebhaber werden soll … das weiß Patsy selbst auch nicht so genau. Wie gut, dass Patsy von ihrer Schöpferin Ellen Dunne jede Menge Entschlossenheit, Selbstironie und schwarzen Humor mitbekommen hat, sodass sie sich dennoch mit voller Energie in die Suche nach der verschwundenen Stella stürzen kann.

 

Auch im Vorgängerband „Boom Town Blues“, mit dem Ellen Dunne den Glauser-Preis gewonnen hat, braucht Patsy Logan schwarzen Humor und Selbstironie, um den Herausforderungen zu begegnen, die das Leben ihr entgegenwirft. Ihre Ehe kriselt, der unerfüllte Kinderwunsch belastet sie schwer und der verdiente Karrieresprung wird ihr zugunsten eines männlichen Kollegen verwehrt. Doch Patsy will in Irland nicht nur Abstand von ihrem Alltag gewinnen. Sie möchte auch Hinweisen von Menschen nachgehen, die ihren Vater lebend in Dublin gesehen haben wollen. Das ist einigermaßen verwirrend, denn: Patsys Vater ist seit vielen Jahren tot. Wir fiebern mit Patsy mit, als deren private Situation sich zuspitzt und die Vergangenheit beängstigend lebendig wird.

 

Nach einem Gefängnisaufenthalt versucht Kiki, zurück in ein geregeltes Leben zu finden. Als ihre unheilbar kranke Freundin Olga rund um die Uhr Pflege benötigt, zieht sie zu ihr und kümmert sich aufopfernd. Das neuartige Viennese Weed, ausnahmslos tödlich, ist für Olga eine Möglichkeit zur Flucht, die sie ergreifen möchte. Kiki ist bereit, für ihre Freundin die tödlichen Blätter zu beschaffen, selbst wenn sie weiß, dass das für sie den ultimativen Abschied von Olga bedeuten wird. Auch die dreizehnjährige Jasse treibt es in den Wald. Sie möchte ihrem Leben ein Ende setzen. Als plötzlich Aufseher auftauchen, fliehen Kiki und Jasse zusammen – und knüpfen eine vorsichtige Verbindung, eine Freundschaft, die sich aus Unglück speist. Das hält Jasse nicht davon ab, den Bärlauch, den sie gesammelt hat, zum Einsatz zu bringen – allerdings nicht an sich selbst …

 

Börnie, gewesene (und jetzt verwesende) Marketingexpertin bei Schön Cosmetics, wacht auf dem Büroboden auf und merkt, dass sie ermordet wurde. Wer zum Aasgeier hat ihr das angetan? Weil die Polizei keinen leichenblassen Schimmer hat, muss frau selber ran. Sterben ist eben auch nicht mehr das, was es mal war! Als Geist Ermittlungen aufzunehmen, ist aber leichter gesagt als getan. Stell dir vor, du bist tot und keiner hört zu. Weil dich überhaupt keiner hören kann! Naja, fast: Auf die kürzlich bei Schön wegrationalisierte Reinigungskraft Jenny und Medium Kai-Uwe ist immerhin Verlass. Wird es dem etwas anderen Ermittlertrio gelingen, Börnies Mörder dingfest zu machen, ehe der gesamte Personalstamm von Schön Cosmetics ein unschönes Ende nimmt?

 

Marias Mutter stirbt und sie genießt die Ruhe, endlich nicht mehr gebraucht zu werden, endlich einen Moment für sich selbst zu haben. Sie fährt los, gönnt sich zuerst ein Sektfrühstück, dann eine Nacht mit einem Fremden im Hotel. Als sie am nächsten Morgen in die Einfahrt biegt, steht die Polizei vor ihrem Haus. Maria bekommt Panik – und verschwindet. Sie wechselt ihre Identitäten und immer wieder wird ihre prekäre Situation schamlos ausgenutzt. Sie sucht den Weg des geringsten Widerstandes, fügt sich und passt sich ihrer Umwelt geschmeidig an … so lange, bis es ihr reicht. Die Flucht vor ihrer eigenen Identität hinterlässt blutige Spuren. Marias Wechselspiel aus Passivität und radikalen Befreiungsschlägen lässt sie dich spüren: die Hilflosigkeit und den lodernden Zorn, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entstehen.

 

Toni Lorenz, Schauspielschülerin am Konservatorium in Wien, ist offen, mutig und mit ihrem persönlichen Rucksack voller negativer Erfahrungen beladen. Während der Sommerferien arbeitet sie mit Privatdetektiv Edgar Brehm. Ein junger Mann verschwindet und Toni und Edgar merken, dass es ganz schön schwierig wird, alle Beziehungswirren, die den Vermissten und seine Familie verbinden, im Blick zu behalten. Wenn zumindest das Privatleben von Toni super unkompliziert wäre, aber nix da: Neben ihren Ermittlungen versucht Toni auch noch einen Sommerkurs an der Schauspielschule zu absolvieren. Blöd nur, dass ihr Dozent ein junger Filmstar ist (und sie ziemlich ablenkt). Toni hat wirklich schon genug miserable Erfahrungen mit Männern gemacht und versucht, vorsichtig zu bleiben – so gut das eben geht …

 

Philomena Schimmer liebt ihre beiden Schwestern, die ihr aber zuweilen auch ganz schön auf die Nerven gehen – vor allem der Nachwuchs. Sie hassliebt ihren Exfreund, von dem sie sich nicht lösen kann, obwohl er längst eine Neue hat. Sie hat Ideale, die sie auch verkündet, selbst wenn sie dafür zur Spraydose greifen muss. Als Polizistin sieht sie Dinge, die sonst niemand sieht: Sie sucht vermisste Personen und entdeckt selbst kleinste Hinweise und unscheinbarste Spuren. Und: Philomena sieht Menschen, die sonst niemand wahrnimmt. Seit einer traumatischen Erfahrung schickt Philomenas Unterbewusstsein ihr regelmäßig mysteriöse „Besucher“. Auf der Suche nach der jugendlichen Karina fällt es ihr immer schwerer, die professionelle Distanz zu wahren, je länger das Mädchen verschwunden bleibt.

 

Laura Mars wird aus ihrem Leben in Wien gerissen, als ein Notar aus Kroatien ihr mitteilt, dass sie die Alleinerbin ihrer gerade verstorbenen Großmutter ist – obwohl Laura schon vor Jahren deren Sterbeanzeige bekommen hat. Und damit nicht genug: Als Laura im Notariat in Pula ankommt, findet sie dort den Notar ermordet vor. Vom Testament fehlt jede Spur. Dafür entdeckt sie das Tagebuch ihrer Großmutter und erfährt mit jeder Seite mehr über die vertrackte und düstere Vergangenheit ihrer Familie. Eines hat sich Laura aber fest vorgenommen: keine komplizierten Männergeschichten mehr. Doch der ermittelnde Kommissar macht es ihr immer schwerer, an ihrem Vorsatz festzuhalten … Und die Zeit drängt: Während Lauras Nachforschungen immer mehr Fragen aufwerfen, taucht ein weiteres Mordopfer auf.

 

Miss Marple heißt jetzt Madame Beaumarie. Florence Beaumarie war Zeit ihres Berufslebens die Seele eines Pariser Kommissariats – jetzt möchte sie eigentlich entspannen. Doch das Verbrechen scheint ihr selbst im Ruhestand an den Fersen zu kleben. Das örtliche Kommissariat freut sich über die Unterstützung durch Madame Beaumarie, denn sie hat sich als findige Ermittlungshelferin weit über Paris hinaus einen Namen gemacht. Abgelenkt wird sie allerdings durch einen besonders charmanten Galan: Charles Florentin, ein attraktiver Antiquar, bringt Florence mit seiner liebevollen Aufmerksamkeit ein wenig durcheinander …

Begleite Astrid auf ihrem ungeplantem Abenteuer nach Venedig, Laura Mars in die düstere Vergangenheit ihrer Familie und Börnie in die Nachwelt. Fliehe mit Kiki und Jasse sowie mit Maria vor den Behörden und der unangenehmen Realität. Patsy Logan und Toni Lorenz nehmen dich mit auf ihre Ermittlungen und Philomena Schimmer sowie Madame Beaumarie kommen von den Verbrechen nicht los. Lies dich rein in die Geschichten unserer Ermittlerinnen!

Baby Got Issues: Leseprobe aus „Potenziell furchtbare Tage“ von Bianca Jankovska

Mit Menstrual Health und Anti-Work die Arbeitswelt revolutionieren: Dieses Ziel verfolgt Bianca Jankovska in ihrem Buch „Potenziell furchtbare Tage“, auf ihrem Blog „Groschenphilosophin“, mit dem Kündigungsunternehmen „THX BYE“ und in ihrem Podcast „The Bleeding Overachiever. Sie hinterfragt unsere Leistungsgesellschaft, in der sich Arbeitnehmer*innen unter Schmerzen und Medikamenteneinfluss zur Arbeit schleppen müssen. Hinterfragt ein System, das uns permanent auslaugt und krank macht.
Die Lösung? Gibt es nicht. Dafür bietet Bianca Jankovska fundierte Fakten und unterhaltsame Utopien und ruft damit zum Beginn des Anti-Work-Feminismus auf! Einen ersten Vorgeschmack darauf bekommst du in dieser Leseprobe. 

Wenn Elon Musk eine Frau wäre

Wäre Elon Musk eine Frau – Essay-Ende. Denn es gibt bis heute keine Frau – von non-binären oder trans Personen gar nicht erst angefangen –, die annähernd so reich, einflussreich und mächtig ist oder war wie er. Und auch keine Frau, die das in naher Zukunft werden könnte. Wir stecken leider noch zu tief im Patriarchat, sorry gurls.
Ich finde trotzdem, der Essay-Titel klingt zu gut, um ihn nicht zu realisieren. Um nicht doch ein bisschen einzutauchen in das Was-wäre-wenn.
Ja, was wäre denn, wenn Elon Musk eine Frau wäre?
Zunächst mal: Nur sein Gender zu ändern, genügt vermutlich nicht. Wir wissen alle, dass es genügend Girlbosse da draußen gibt, die absolut nichts am regressiven Status quo ändern wollen würden. Auch nicht, obwohl es ihnen am Ende helfen könnte.
Was wäre also, wenn ich Elon Musk wäre?
Also: Als Allererstes würde ich Schwangerschaften abschaffen. Die neun Wochen, in denen ich schwanger war, waren mitunter die körperlich unangenehmsten meines Lebens. Davor kommt nur mein Parasiten-Befall, den ich aus Indien mitgenommen hatte, aber dazu gerne ein anderes Mal mehr. Nichts, aber auch rein gar nichts in dieser Zeit hatte etwas von der Romantik, die uns verkauft wird, wenn sich Mütter in der Werbung liebevoll über den prallen Bauch streicheln. Plötzlich sah ich sie ständig um mich, die anderen, watschelnden Schwangeren, die die Übelkeit weglächelten, und nein, ich empfand das nicht als nachahmenswert. Vielmehr fragte ich mich, wie es sein kann, dass wir in den 2020er Jahren immer noch manuell gebären. Literally jede andere Technologie auf der Welt hat sich trotz Einschränkungen weiterentwickelt. Wie kann es also sein, dass es da noch keine neuere Methode gibt und Gebärende immer noch bei einer „natürlichen Geburt“ unter massiven Schmerzen selbst pressen müssen? Stundenlang in den Wehen liegen, um dem Kind kein Trauma zuzufügen, während man selbst eines erleidet? Vagina- und Arschlochrisse in Kauf nehmen, nur, damit man hinterher damit angeben kann, „natürlich“ geboren zu haben?
Elon Musk möchte die Population auf den Mars umsiedeln, aber er sorgt sich nicht darum, wie diese Population aus den Frauen herauskommt, und das ist unfassbar ignorant. Wenn Elon Musk eine Frau wäre, da bin ich sicher, gäbe es bereits artificial wombs, die kein Internet-Gag sind.
Der Wissenschaftler Hashem Al-Ghaili publizierte Ende 2022 ein YouTube-Video über eine Welt, in der manuelles Gebären nicht mehr zwingend nötig ist. „Wir präsentieren: ‚Ectolife‘. Die weltweit erste Fabrikanlage mit künstlichen Gebärmüttern, vollständig mit erneuerbaren Energien betrieben“, hört man dabei ein Roboterstimmen-Voice-Over, während die Kamera durch die Fabrikhallen der Babyproduktion führt. Dort reiht sich Embryo-Kapsel an Embryo-Kapsel, alle vollausgelastet und befüllt mit glücklichen, weißen Babys, die mit allen benötigten Nährstoffen versorgt werden wie Fans im Fußball-Stadion. Die Gesundheit des Kindes kann dank zahlreicher Sensoren sekündlich überwacht werden, auch „genetische Abweichungen“ seien so leichter zu erkennen. Gedacht ist die Embryo-Kapsel übrigens für Paare, die auf natürlichem Weg keinen eigenen Nachwuchs produzieren können. Die „artificial womb facility“ sollte laut Al-Ghaili aber auch in Ländern zum Einsatz kommen, in denen die Geburtenrate (zu) niedrig ist – wie zum Beispiel in Japan, Bulgarien und Südkorea.

 

 

Und genau an dieser Stelle merkt man, dass hier ein Mann am Werk war. Denn die Kapseln stehen nicht allen Menstruierenden zur Verfügung, sondern sie sind strikt für eingeschränkt reproduktionsfähige Frauen reserviert oder werden für politische Zwecke instrumentalisiert. Das Wohl aller Gebärenden steht nicht im Fokus. Stattdessen werden ableistische Werte transportiert. Und das bei 2,6 Millionen Aufrufen auf YouTube.
Artifical wombs – für mich als Elon Musk klingt das prinzipiell großartig. Aber nur, wenn sie hinterher allen Menstruierenden zur Verfügung stehen. Statt mich zu übergeben, könnte ich mich während der neunmonatigen „Grow-Zeit“ auf andere Dinge konzentrieren. Zum Beispiel auf meine Freundschaften, eine schöne Inneneinrichtung, Reisen oder den Ruin großer Technologieplattformen.
Ich frage ChatGPT, ob es grundsätzlich möglich ist, Schwangerschaften und Geburten auszulagern. Das Programm warnt mich. „Die Idee von Gebärboxen, die die Schwangerschaft und Geburt auslagern, mag auf den ersten Blick faszinierend und futuristisch erscheinen, allerdings gibt es viele komplexe ethische, medizinische und soziale Aspekte, die bei der Realisierung einer solchen Technologie berücksichtigt werden müssen.“ Huch, welche denn? Ich als Elon Musk kann das ja bestimmt beurteilen, ob mich das in der Praxis tangiert. ChatGPT gibt mir fünf Gründe, die gegen Gebärboxen sprechen. Etwa, dass Schwangerschaft und Geburt nicht nur biologische Prozesse seien, sondern auch tief in der menschlichen Erfahrung und Kultur verwurzelt seien.

Ich bin keine Historikerin, aber haben wir nicht schon andere, zutiefst menschliche Erfahrungen überwunden? Zum Beispiel das Leben in Höhlen, oder die Pest in Europa? Der zweite Grund, den ChatGPT nennt, ist, dass eine Schwangerschaft verschiedene Gesundheitsrisiken und Komplikationen berge, die von Frau zu Frau unterschiedlich sein können. Ja, sag ich doch! Die Gefahren, die mit einer Schwangerschaft einhergehen, könnten mit artifical wombs sogar besser beobachtet und umgangen werden. Grund drei, den mir das Programm nennt, bezieht sich auf die besondere menschliche Bindung und Entwicklung, die angeblich während der Schwangerschaft entsteht. Das können vermutlich alle Adoptiveltern entkräften, die ihr nicht leibliches Kind uneingeschränkt lieben. Und Grund vier erscheint mir besonders unschlüssig: Die Einführung von Gebärboxen könne erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Verständnis von Elternschaft, Familie und Geschlechterrollen haben. Ja, der Feminismus könnte auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Verständnis von Elternschaft, Familie und Geschlechterrollen haben. Wo liegt das Problem? Nur ein Kritikpunkt ist meiner Meinung nach gerechtfertigt: Schwangerschaft und Geburt sind komplexe biologische Vorgänge, die weit über die bloße mechanische Bereitstellung einer physischen Umgebung hinausgehen. Deshalb gibt es bislang auch keine artifical wombs. Weil es kein Forschungsinstitut auf der Welt gibt, das ausreichend Mittel besitzt, um sich dieser komplexen medizinischen Herausforderung zu stellen.
Aber ganz ehrlich: Ist das wirklich komplizierter als die Besiedlung des Mars?
Wenn ich Elon Musk wäre, würde ich mein Geld in die Erforschung von artifical wombs stecken, sodass niemand jemals wieder bei der Geburt sterben müsste.
Tatsächlich gibt es sogar ein Projekt mit ähnlichem Fokus, das bereits heute finanziell unterstützt werden könnte. Es heißt „Juno Operational Healthcare“. Noch nie gehört? Na ja, Elon Musk ist kein Investor in diesem Fall. Deshalb kennt das Projekt aus den Niederlanden, das mit knapp drei Millionen Euro von der EU gefördert wurde, auch nur eine kleine Nischengruppe. Dabei leisten die Forschenden der Technischen Universität Eindhoven Unglaubliches für Frühgeborene. Jedes Jahr werden weltweit 800 000 Babys extrem früh, noch vor der 28. Woche, geboren. Diese Säuglinge werden normalerweise auf eine besondere Intensivstation für Neugeborene verlegt, um die Herz- und Lungenentwicklung zu unterstützen. Der Kontakt mit der Luft führt jedoch unweigerlich zu Komplikationen, da die Lungen noch nicht vollständig entwickelt sind. Das Juno-Team forscht deshalb an einer neuartigen, alternativen Umgebung, die dem Mutterleib ähnlich ist. Sehr früh geborene Babys könnten so direkt vom Geburtskanal in eine Art artificial womb gebracht werden, wobei die Lungen weiterhin mit Flüssigkeit gefüllt bleiben und die Nabelschnur an einer künstlichen Plazenta befestigt werden würde, um die Organentwicklung zu verbessern und den Übergang zum Neugeborenenleben zu erleichtern. Neben der dafür notwendigen Hardware gibt es auch Software, die hierbei eine wichtige Rolle spielt: Sensoren überwachen die Entwicklung des Frühgeborenen im „Incubator 2.0“. Die Forscher nutzen auch die Technologie der digitalen „twin technology“. Mathematische Modelle auf Basis von gemessenen und verfügbaren Daten sowie künstliche Intelligenz ahmen dabei das Neugeborene nach. Das wiederum ermöglicht es den Forschenden, Ärzte bei Entscheidungen in der Neugeborenenversorgung zu beraten und zu unterstützen.

Historische Erbschaften – Interview mit Hannes Leidinger und Lenz Mosbacher

Wie ging die Geschichte des k.u.k.-Doppelstaates und der Entwicklungen nach 1918, die im Grunde bis heute andauern, weiter? Wie betrachten wir das habsburgische Erbe? Wie steht es um seine Relevanz, nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa? Hannes Leidinger, Historiker und Autor, und Lenz Mosbacher, Illustrator von „Habsburgs langes Sterben“ erzählen vom Ausverkauf der österreichischen Identität, von der Romantisierung und den hartnäckigen Mythen der Geschichte und von den Schlüsselmomenten der Habsburgerzeit.

Offiziell endete die Zeit der Habsburger 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Trotzdem sind die Habsburger noch tief im nationalen Gedächtnis der Österreicher*innen verwurzelt, sie leben weiter „in den Köpfen und Herzen, in den Empfindungen und Vorlieben, in den Sitten und Normen seiner ehemaligen Bewohner“, wie Sie in Ihrem neuen Buch erklären. Hat sich das nationale Selbst- und Fremdbild in den letzten Jahren gewandelt und wenn ja, wie?

Hannes Leidinger: Entscheidend ist nach 1918 das Lagerdenken, das sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Grob gesagt geht es vor allem um die Stellung der Kirche, um den Kampf zwischen antiklerikalen und klerikalen Kräften. Letztere tendieren – vereinfacht gesagt – schon aus weltanschaulichen bzw. konfessionellen Gründen zum katholischen „Erzhaus“. Hinzu kommt eine eigene Mentalität, die dem Herrscher verpflichtet war, auch ohne religiöse Gefühle. Beamte, städtisches Bürgertum oder „mittelständische Gruppen“ gehören hier dazu. Ein klar republikanisches Bekenntnis legt die organisierte Arbeiterbewegung. Der Nationalsozialismus wird darüber hinaus zu einer eigenen antihabsburgischen Kraft, vor allem im Laufe der 1930er Jahre. Politisch haben Monarchisten bzw. Legitimisten keine Massenbasis. Sympathien beschränken sich vor allem auf eine prohabsburgische Geschichtspolitik und entsprechende (erinnerungs-)kulturelle Initiativen, insbesondere während des „Austrofaschismus“ bzw. des sogenannten „Ständestaates“.
Diese durchaus einflussreiche Strömung hat aber keine Chance, zur Restaurationsbewegung zu werden. Die Wiedererrichtung einer Monarchie ist auch aufgrund internationaler Kräfteverhältnisse kein Thema, trotz gelegentlicher Tendenzen innerhalb konservativer österreichischer Eliten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösen sich dann nach und nach die älteren Gesellschaftsstrukturen auf. Ideologische Lager, traditionelle Berufsgruppen und soziale Milieus erodieren, in den 1980ern ändert sich auch die Geschichtsbetrachtung. Die dunklen Kapitel der Vergangenheit rücken in den Mittelpunkt der Betrachtung, tendenziell auch eine kritische Betrachtung der k.u.k.-Monarchie. Österreich rückt mehrheitlich, wenn auch nicht vollständig, von seinem bisherigen Selbstbild ab, von älteren Stereotypen und Geschichtsklitterungen. Eine über Dekaden anhaltende Liberalisierungstendenz drängt hierarchische Denkweisen teilweise zurück, der fortgesetzte Säkularisierungsprozess trennt die Gegenwart von der Religiosität früherer Epochen. Das alles kann sich mit autoritären Trends und neuen Glaubensvorstellungen auch wieder ändern. Im Augenblick aber ist das Thema Habsburg vor allem ein klischeebesetztes Stück Kultur und vor allem Tourismus – und in diesem Sinne mehr nach außen als nach innen, also auf das Fremdbild und nicht auf das Selbstbild, gerichtet.

Weshalb ist ein besseres Verständnis der Habsburger wichtig für ein besseres Verständnis der Gegenwart?

Hannes Leidinger: Wer Geschichte als Erklärung zum besseren Verständnis der Gegenwart begreift, wird die heutige Alpenrepublik nicht zuletzt auch aus der Perspektive der jahrhundertelangen Habsburgerherrschaft betrachten. Die Prägung durch Gegenreformation, Administration, Kultur, Gesellschaftsstrukturen, Feindbilder, Geschlechter- und Eigentumsverhältnisse, beginnende Demokratisierung bei gleichzeitiger Autoritätsgläubigkeit und hierarchischem Denken erfolgt in hohem Maße unter dem „Doppeladler“, ist in gewisser Weise also eine „lange Zeitgeschichte“.

Die Habsburgerfamilie und monarchische Strukturen allgemein sind häufig Gegenstand von Romantisierung und Kommerzialisierung. Welche Probleme können durch diese Verklärung oder Idealisierung entstehen?

Hannes Leidinger: Die Auseinandersetzung mit einer Romantisierung der Geschichte könnte man als eher „akademisches Geschäft“ der HistorikerInnen verstehen. Eine Verklärung monarchischer Strukturen steht aber oft der kritischen Beurteilung von Verantwortlichkeiten und Machtfragen generell im Weg.
Mit Gegenwartsbezug geht es dabei etwa um den Umgang mit Schwächeren und Minderheiten, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Entscheidung über Krieg und Frieden. Die Imagebildung der Monarchie geht auch gerne über das Thema Privilegien und Geburtsrechte hinweg. Sie widersprechen demokratischen Prinzipien, die sich letztlich nur in einer Republik zur Gänze verwirklichen können.

Und wie sehen Sie den Ausverkauf der Identität, der durch Tourismus und Souvenirs nicht nur in Österreich gang und gäbe ist?

Hannes Leidinger: Gewiss hat der Tourismus gerade die österreichische Republik sowohl mit Blick auf Fremd- als auch auf Selbstbilder sehr stark geprägt. Der „Doppeladler“ hat da oft für Ausblendungen herhalten müssen, Kriege der Habsburger waren eher kein Thema. Eine Art Eskapismus, die Flucht in idyllische Phantasiewelten der Könige, Kaiser, Prinzessinnen, Reichen und Schönen, ist gerade nach dem Zweiten Weltkrieg ein Instrument der Geschichtsvergessenheit und der Verdrängung von Schuld und Traumata gewesen. Das war ein internationales Phänomen, ebenso wie die spätere kritische Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und den NS-Verbrechen.
Seit der Waldheim-Affäre hat sich die Wahrnehmung Österreichs im Ausland stark geändert, parallel zu den internen Transformationen. Ebenso grenzüberschreitend bleibt aber auch das Bedürfnis nach harmonischen Scheinwelten bestehen. Wenngleich mit Augenzwinkern, konsumieren doch viele die Produkte einer Art Sisi-Industrie weiterhin gerne. Persönliche Nöte und Beschwerden der HerrscherInnen werden dabei gelegentlich als Hinweise auf die Schattenseiten der „guten alten Zeit“ präsentiert und empfunden.

Kann eine nationale und kulturelle Identität der Österreicher*innen getrennt von den Habsburgern existieren?

Hannes Leidinger: Habsburg war das „(Erz)Haus Österreich“. Für viele MitteleuropäerInnen gab es lange keinen anderen Österreich-Begriff. Ansonsten definierte man sich über Nation und Sprachgemeinschaft, Religion, Berufe, Gesellschaftsschicht, Regionen und Kronländer. Habsburg, der Kaiser, war die gemeinsame Klammer. Das Übrige waren „Trümmer“, würde die verklärende Literatur sagen. Es dauerte lange, bis sich gerade die Menschen in der Alpenrepublik vom großen Reich verabschiedeten. Über den tragischen und schuldbeladenen Umweg des Nationalsozialismus, des „völkischen Ungeistes“ und der gewaltsamen Expansion gelangte man zur Kleinstaatsidentität und damit zu einem neuen, weithin anerkannten Österreich-Begriff. Dieser verliert allerdings im Rahmen der Europäischen Union, der Globalisierung, internationaler Militärbündnisse und einer schwelenden Neutralitätsdebatte bereits wieder an Strahlkraft und wirkt gelegentlich außerdem chauvinistisch und realitätsfremd.

Hannes Leidinger erzählt in seinem neuen Buch „Habsburgs langes Sterben – Eine kurze Geschichte vom schleichenden Untergang der Donaumonarchie“ vom habsburgischen Erbe und dessen Relevanz für Österreich und Europa. Die Publikation dient als Portal, als Eintritt in die Welt der Habsburger lange nach dem Einläuten der Republik. Mit Illustrationen von Lenz Mosbacher.

Sie sind ein langjähriger Experte auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie. Haben Sie bei Ihren Recherchen für dieses Buch vielleicht doch etwas Überraschendes entdeckt?

Hannes Leidinger: Wenn man sich schwerpunktmäßig mit dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang Österreich-Ungarns befasst, stößt man erwartungsgemäß auf Zeichen des Zerfalls, auf Zentrifugalkräfte, Erklärungen für das Auseinanderbrechen der Doppelmonarchie – sowohl international als auch innerhalb der Grenzen des Habsburgerreiches. Bekannt war seit Langem, dass sich die Großmächte eine „Desintegration“ des Donauraumes nur bedingt oder gar nicht wünschten. Daher gab es selbst bei den feindlichen Mächten noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Befürworter des k.u.k.-Doppelstaates. Überraschend war die Haltung der Menschen in der Monarchie, der habsburgischen „Untertanen“, das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der Zustimmung und der Loyalität gegenüber dem Herrscherhaus. Der Einfluss mehr oder minder nationaler und nationalistischer Geschichtsinterpretationen hat dieses Phänomen oft wirkmächtig marginalisiert oder verschwiegen. Da habe auch ich gängige Darstellungen hinterfragen und revidieren müssen.

Es gibt viele weitverbreitete Fehlannahmen über die Habsburger. Welche hartnäckigen Mythen sind falsch, lassen sich aber einfach nicht abschütteln?

Hannes Leidinger: Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II. werden gerne als fortschrittliche Maßnahmen gesehen, gerade wenn es sich um Maßnahmen im Justiz- und Bildungswesen oder um Lockerungen von feudalen Bindungen handelte. Das ist zumindest nur die halbe Wahrheit. Erstens wirkten sich viele Regelungen nicht auf sämtliche Reichsteile aus und zweitens ging es vielfach um die Schaffung eines Machtstaates, der effizientere Verwaltungsstrukturen und eine schlagkräftige Armee mit besser ausgebildeten „Untertanen“ brauchte. Die starke, homogene „Monarchia Austriaca“ blieb jedoch eher ein Wunschgebilde. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Meinungen darüber in der Forschung auseinandergehen.

Dass das „Haus Österreich“ eher eine friedliebende Heiratspolitik betrieben hat und Kriege eher vermeiden wollte, ist sicher ein weitverbreitetes Klischee. Vor allem wird außer Acht gelassen, dass dynastische Ehen und militärische Auseinandersetzungen einander vielfach bedingten und miteinander verbunden waren. Überdies suchte gerade Kaiser Franz Joseph die Entscheidung im Konfliktfall mehrmals auf dem Schlachtfeld. Das passt freilich nicht so ganz zu den Verniedlichungsversuchen einer prohabsburgischen Historiographie. Franz Joseph muss eher als Wiederholungstäter unter widrigen politischen und militärischen Rahmenbedingungen angesehen werden, mit einem gerade selbstmörderischen Prestigedenken. In „Ehren unterzugehen“ hieß dann auch, die Welt oder wenigstens Europa mit in den Abgrund zu reißen. Auch unter HistorikerInnen wird immer wieder betont, dass er keinen „Flächenbrand“ auslösen wollte und nur auf eine Abrechnung mit Serbien abzielte. Durch die Bündnissysteme bis 1914 wurde eine Eingrenzung des Konflikts aber unmöglich. Franz Joseph und seine engsten Berater wussten nachweislich von den Gefahren, die mit ihren Entscheidungen verbunden waren.

Die Illustrationen öffnen einen weiteren Gedankenraum zu Hannes Leidingers Einordnungen. Wie drücken Sie, als Illustrator, die Gefühle einer Zeit, die Sie nicht persönlich erlebt haben, in Ihren Bildern aus?

Lenz Mosbacher: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es eine anwachsende Fülle an Zeitungen und Zeitschriften, die vielzählig in Archiven erhalten sind. Um ein Gefühl für eine Zeit zu bekommen, lassen sich Tageszeitungen – mit Vorsicht genossen – als gesellschaftliches Barometer verwenden. Für mich als Zeichner war zusätzlich noch interessant, dass bis in den Ersten Weltkrieg hinein der Großteil an Nachrichten illustriert war. Hierbei handelt es sich teils um idealisierte oder verzerrte Illustrationen von Tagesthemen oder um politische Cartoons und Karikaturen. Im Buch bemühte ich mich daher um einen Stil, der über das Dargestellte hinausweist, aber im Gegensatz zu den historischen Zeitungsillustrationen keine idealisierten Szenen darstellt.
Mir war deshalb wichtig, einen sinnlichen Zugang zur Zeit und den jeweiligen Situationen zu bekommen. Wie fühlt es sich an? Wie riecht die Luft? Welche Geräusche hört man auf der Straße? Auch wenn ich um die Jahrhundertwende nicht am Leben war, suchte ich nach Parallelen zu meinem eigenen Erfahrungsschatz. Erst dann konnte ich Zeichnungen machen, die sich (für mich) anfühlen, als wäre ich vor Ort gewesen.

War hierfür eine besondere Recherche notwendig oder ist die Ikonografie der Zeit ohnehin sehr präsent in unserem kollektiven Gedächtnis? Ist das vielleicht sogar eine besondere Herausforderung an der Arbeit mit einer Epoche, deren Bildsprache in unseren Köpfen so allgegenwärtig scheint?

Lenz Mosbacher: Eine ausgedehnte Recherche und Beschäftigung mit der Zeit war notwendig, um mich vom Kitsch des Heimatfilms zu befreien, der das kollektive Bild der Habsburgermonarchie seit den 1950ern stark verfärbt. Meine Recherche beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Bildsprache. In einer Zeit, in der visuelle Medien noch nicht so allgegenwärtig verbreitet waren wie heute, kam der Sprache mehr Bedeutung zu. Einige Monate las ich intensiv Literatur um die Jahrhundertwende herum. In ihr konnte ich die Aufbruchs- und Umbruchstendenzen, die sich durch die Gesellschaft zogen, weit besser nachvollziehen und auch emotional in meinen Zeichnungen verbildlichen.

Im Laufe Ihrer Zusammenarbeit musste eine Auswahl der Motive getroffen werden, die Sie ausdrucksvoll illustriert haben. Wie haben Sie diese Wahl getroffen? Wie haben sich diese Schlüsselmomente herauskristallisiert?

Lenz Mosbacher: Der Niedergang der Habsburgermonarchie lässt sich kaum in einen dramatischen Handlungsbogen pressen – diese Vereinfachung wird dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht und steht auch quer zum Inhalt des Buchs. Trotzdem sollten die Zeichnungen einen Strang durch das Buch bilden, entlang dessen man sich hanteln kann. Unterstützend sind die Bildtexte, die ich gemeinsam mit Hannes geschrieben habe und die sozusagen das Bindeglied zwischen Buchtext und Zeichnungen sind. Idealerweise soll das Lesevergnügen so sein, dass die Zeichnungen den Text mit Emotion und der Text die Zeichnungen mit Information auflädt. Zusammen ergibt sich dann ein Bild.

Noch eine kleine Frage zum Schluss an Sie beide: Haben Sie einen Lieblingshabsburger?

Hannes Leidinger: Hagiographien sind grundsätzlich meine Sache nicht. Es darf als Gemeinplatz gelten, dass Menschen nicht selten zu widersprüchlichen Handlungen neigen und sehr verschiedene Charaktereigenschaften entwickeln. Lassen wir einmal unbeantwortet, was darunter wiederum genau zu verstehen ist und wie die Beurteilungskategorien für diverse Wesenszüge festgelegt werden. Es gibt immerhin Momente, in denen mir überlieferte Verhaltensweisen, wenn sie denn so stimmen, sympathisch erscheinen. Im Augenblick des Reichszerfalls und drohender gewaltsamer Konfrontationen will Karl, der letzte Kaiser und König, kein Blut mehr vergießen. Das darf nicht unerwähnt bleiben. Auch die eher moderate Denkweise Leopolds II. nach dem Reformeifer seines stürmischen Bruders Joseph ist von tieferen Einsichten geprägt. Kronprinz Rudolf hätte vielleicht das Potenzial zu zeitgemäßen Liberalisierungen und einer offeneren Politik gegenüber maßgeblichen europäischen Mächten gehabt, wäre er nicht Opfer seiner psychischen Leiden geworden.
In Summe geht es wohl um System- und Gesellschaftsanalysen, weniger um persönliche Vorlieben. Lediglich bei besonderen Machtpositionen und größeren Handlungsspielräumen stellt sich in einem gewissen Maße die Frage der individuellen Verantwortung mehr als sonst.
„Habsburg-Kannibalismus“ ist jedenfalls ebenso wenig am Platz wie die Idealisierung oder die kollektive Be- und Aburteilung einer Familie, die unter den Herrschaftsverhältnissen gelegentlich selbst gelitten hat und manchmal auch daran zerbrochen ist. Nicht nur die Tragödie von Mayerling und der Thronfolger Rudolf erinnern uns daran.

Lenz Mosbacher: Der Hof der Habsburgermonarchie war schrecklich repressiv und starr. ZeitzeugenInnen berichten etwa immer wieder, wie stinklangweilig es im engeren Familienkreis um Franz Joseph gewesen sei: Betretenes Schweigen, niemand traut sich, offen miteinander zu reden. Da halte ich zu den AußenseiterInnen des Hofs, wie etwa Kaiserin Sisi oder Kronprinz Rudolf, die wenigstens versuchten, auszubrechen – und daran leider schlussendlich zerbrachen.

„Darauf zu schauen, was vor unseren Augen liegt, bringt uns eventuell auch auf die rückwärtige Seite der Dinge“ – Interview mit Angelika Rainer

Im Herbst wird Angelika Rainer der Otto Grünmandl-Literaturpreis verliehen, eine Auszeichnung, die das Land Tirol alle zwei Jahre als Würdigung für ein Gesamtwerk oder herausragende schriftstellerische Leistungen vergibt. Wir haben uns mit der Autorin und Instrumentalvirtuosin über die jüngste Auszeichnung, die Musikalität ihrer Werke und die Literatur als Erkenntnisweg und Mittel gegen Urängste unterhalten.

„Eine Behausung lässt sich auch mit Worten errichten“ schreibst du in deinem neuesten Buch „Zweckbau für Ziegen“. Schreiben wir alle in gewissem Sinn gegen die angsteinflößende, unbegrenzte Weite des Kosmos an?

Das Schreiben als eine Form die Welt wahrzunehmen und sich in ihr zurechtzufinden erfordert Aufmerksamkeit, ein gewisses Maß an Stille, Genauigkeit im Schauen und in der Sprache, in der Wahl der Worte. Je mehr man die Augen aufmacht umso mehr sieht man und umso vielfältiger und unbegreiflicher wird die Welt, das ist ein altes Lied.
Man hantelt sich an den Dingen, den Tatsachen, den Ereignissen entlang.
Ich staune, ich nehme zur Kenntnis, ich verbinde die Dinge, ich begreife die Welt also auf meine Weise, und es entsteht etwas Neues. Sich auf Details zu konzentrieren, Worte zu finden für etwas, was ohne Worte geschieht, das schafft Realität und Konkretheit.
Was einem begegnet und zufällt, wird intensiviert und was intensiv betrachtet ist, ist konkret und bindet an die Wirklichkeit. Und das wiederum ist sehr hilfreich, um sich nicht in Gedanken, in der Weite, in der Angst zu verlieren.

Schreiben ist also eine Form, sich in der Welt zurechtzufinden. Und darauf zu schauen, was vor den Augen uns liegt, bringt uns eventuell auch auf die rückwärtige Seite der Dinge.

Glaubst du, auch Leser*innen und Hörer*innen bauen sich Satz für Satz, Buch für Buch, Lied für Lied einen Schutzbau, um den Horror der furchteinflößenden Unendlichkeit zu bannen?

Lesen und Zuhören bedeutet, die Welt mit anderen Augen wahrzunehmen, zu erfahren, andere denken und fühlen ähnlich, sogar dasselbe wie ich, sie sorgen sich nachts ungefähr um das Gleiche. Also ist man in seiner Einzigartigkeit nicht ganz so einzigartig und deshalb mit den anderen verbunden, auch über die Angst hinaus.

Portrait: © Haymon Verlag / Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Zäune, Dächer, Schirme und Hecken – die Behaglichkeit und Schutz bietende Funktion von Begrenzungen ist offensichtlich nur ein Aspekt. Man könnte sagen, besonders kennzeichnend für deine Kunst ist auch, dass viele Zäune übertreten und Grenzen passiert werden. Ob als Teil der legendären Musicbanda Franui, einem musikalischen Umspannwerk und Gesamtkunstwerk zwischen den Genres, oder als Schriftstellerin, deren Inspirationen aus einer schier unglaublichen Vielfalt zu kommen scheinen. Gibt es besonders wichtige Bezugspunkte, die für deine schriftstellerische Laufbahn prägend waren?

Vieles verdanke ich Begegnungen, ich würde wahrscheinlich nicht mehr Musik machen, wenn wir uns nicht bei Franui getroffen hätten.

Auch für das Schreiben sind es wohl Begegnungen, die den Ausschlag gegeben haben, Begegnungen, in einem anderen Sinn, nämlich von mir als Leserin mit den Schriftsteller*innen.

Seit einigen Tagen ist bekannt, dass du mit dem Otto Grünmandl-Literaturpreis ausgezeichnet wirst. Mit dem Schriftsteller und Kabarettisten, zu dessen Ehren der Preis verliehen wird, gab es in der Vergangenheit ja immer wieder Berührungspunkte. Ist der Preis vielleicht auch deswegen eine besondere Auszeichnung für dich?

Ich habe den Otto Grünmandl durch die Arbeit am Tiroler Landestheater in den letzten Monaten besser kennen gelernt. Seine Art und Weise, die Welt zu betrachten, aufzunehmen, was er hört und sieht – vor allem was er hört –, das erschließt sich nicht sofort, aber wenn man länger damit zu tun hat, also durch die Wiederholung, entdeckt man die Feinheiten, Nuancen, man hört anderen und sich selber anders zu. Lyrik – und ich hoffe, auch meine Weise des Schreibens – ist ähnlich. Vieles erschließt sich nicht sofort, es arbeitet langsam, so wie Salz oder Wasser den Stein, eine Landschaft bearbeiten, irgendwann wird etwas durchlässig und dann begreift man und ist aufnahmefähiger als vorher. Je öfter man etwas macht, desto vertrauter wird es einem. Je öfter man Gedichte liest, desto mehr sagen sie einem etwas.

Es geht darum, diese Zeit, in der man etwas nicht versteht, auszuhalten, sich mit dem Bruchteil, den man einstweilen versteht, zufriedenzugeben, sich als Anfänger*in zu begreifen und zu verhalten, das Nichtwissen auszuhalten, einen Satz schön zu finden, ohne ihn gleich erfassen zu müssen. Irgendwann fügen sich die Dinge zu einem kleinen Ganzen und man hat sich mit der Welt vertrauter gemacht.

Liest man deine Texte laut, gewinnt man einen Eindruck von Rhythmus, Musikalität, Beziehungsreichtum, die ihnen innewohnen. Hast du beim Schreiben gewissermaßen eine Vertonung im Kopf? Läuft ein Stück im Hintergrund?

Wenn ich schreibe, ist es still. Ich brauche keine Musik während des Schreibens. Und sollte ein Stück im Hintergrund laufen, höre ich es nicht. Was beim Musikmachen  – und in einem Ensemble auf eine spezielle Art und Weise –  von Bedeutung ist, das ist das Zusammenspiel, der Zusammenklang, ein Gefühl für Pausen, für die Dauer von Nachklängen, der Mut, eine Stille zu unterbrechen, Pausen aufzuheben, etc.

Das alles ist auch in einem Text, in einem Gedicht relevant: Wann kommt was, wie ordnet man an, wie großzügig ist man im Weglassen, für welches Tempo, welche Dynamik entscheidet man sich, etc.

Otto Grünmandl-Literaturpreis – aus der Jurybegründung:

„In ihren vier Bänden, die zwischen Lyrik und Kurzprosa changieren, entwirft Angelika Rainer eine einzigartige und stilistisch unverkennbar souveräne Art des Schreibens und der Beobachtung. Sie schafft mit ihrer Lyrik dichte Poesie, aber auch Augenzwinkerndes, das ihren feinen Humor zeigt“

⇒ Zum Otto Grünmandl-Literaturpreis

Gibt es vielleicht Komponist*innen, die deinem einzigartigen literarischen Universum besonders nahestehen?

Hier eine Auswahl zu treffen ist wie eine Auswahl beim Streamen zu treffen; wenn ich etwas hören will, fällt mir nicht ein, was es jetzt sein soll, so als gäbe es nicht Milliarden Minuten von Musik zu hören sondern keinen einzigen Ton. Was ich aber sagen kann: Musik im Zusammenspiel mit Sprache wirkt immer sehr besonders auf mich. Ein Beispiel aus der Matthäuspassion, die ich vor kurzem wieder gehört habe:  Mit den Worten Erbarme dich, mit der damit verbundenen Erzählung, wird die Musik eine andere.

Woran arbeitest du aktuell?

Ich habe mehrere Vorhaben, für die ich zusammentrage und die mit der Zeit immer konkreter werden, wie man es von Polaroidbildern kennt. Es braucht Geduld und ein bisschen Dunkelheit, bis sich zeigt, was man gesehen hat.

Weiter fortgeschritten ist eine Arbeit, die mit der Überprüfung von Sätzen zu tun hat, eine Suche nach dem Second Sense of Sentences. Ich schaue, ob ein Satz standhalten kann, ob er Sinn macht, ob er alleine für sich und damit für den Kontext zu gebrauchen ist. Es ist auch eine handwerkliche Arbeit, ich verwende dafür eine Schreibmaschine, das ist eine vergnügliche Sache, und hält davon ab, sich zu verbeißen, weil man immer etwas zu tun hat.

„In den Köpfen der Protagonist*innen ist es dämmrig. Gerade das ist erhellend.“ Eine Laudatio auf Manfred Rebhandl

Das Krimifest-Aufenthaltsstipendium der Tiroler Tageszeitung wurde 2021 im Rahmen des vierten Krimifest Tirol an Manfred Rebhandl verliehen. Linda Müller streute dem Autor in ihrer Laudatio rote Nelken. Auch in seinem neuen Buch „Hundert Kilo Einsamkeit“, das im April 2024 erscheint, leuchtet Manfred Rebhandl wieder in die schattigen Ecken Wiens.

Es ist nicht leicht, Manfred Rebhandl gerecht zu werden, umso schwerer in wenigen Zeilen. Denn Manfred Rebhandl ist ein Mann mit vielen Facetten, und jede ist der Rede wert. Einige davon möchte ich hier nun besonders hervorstreichen.

Manfred Rebhandl ist ein Kenner der österreichischen Seele. Und damit meine ich nicht die Wiener-Blut-summende, ballkleidtragende Opernballseele. Ich meine die dunkelsten Ecken unseres Landes und die dunkelsten Stellen in den menschlichen Köpfen, den Abschaum, das Grindige, den Schmutz, all das, was uns mindestens ebenso sehr auszeichnet wie all der Prunk. Nicht umsonst wird Rebhandl von seinen Kritiker*innen zuweilen auch „Drecksau“ genannt. Seine Bücher haben außergewöhnliche Titel, die uns schon ahnen lassen, dass hier Dinge anders laufen. Das Schwert des Ostens beispielsweise, bezugnehmend auf das Arbeitsgerät eines anatolischen Pornostars. Sie bringen die Leser*innen ins Pornokino und ins Dealer-Hinterzimmer, sie konfrontieren mit Sexismus, Rassismus und so einigen anderen unschönen -ismen. Der Fall, die Ermittlung sind da manches Mal fast zweitrangig, es geht um ein hochgradig ehrliches, um ein schonungsloses Sittenbild. Ein Sittenbild ohne Filter, ohne mahnende, einordnende Erzählstimme, direkt durch die Augen seiner Protagonist*innen. Es gibt keine Tabus. Das ist manchmal hochunterhaltsam, an anderen Stellen verstörend. Es tut weh. Und das soll es auch.

Manfred Rebhandl hat Landflucht betrieben, und zwar im doppelten Sinne. Er selbst stammt eigentlich aus Windischgarsten, lebt aber schon lange in Wien. Und nach seinem Protagonisten Biermösel, der in der Ausseer Provinz ermittelt oder es vielmehr versucht, wenn er gerade hinreichend nüchtern ist, liegt Rebhandls Fokus zur Zeit wieder beim Wiener Rock Rockenschaub. Der löst in der Hauptstadt auf alle Fälle alle Fälle, seien sie noch so grausig. Sogar dann, wenn er eigentlich viel lieber im Ottakringer Freibad chillen und die Ladies mit Sonnencreme einölen würde.

Manfred Rebhandl hat es nicht mit braven Held*innenfiguren. Seine Ermittler*innen sind keine glattgebügelten Superman-Charaktere, sie sind nicht hochintelligent und auch nicht selbstlos. Sie sind Menschen, die man vielleicht nicht unbedingt zum Freund oder zur Freundin haben wollen würde, wenn man ihnen denn begegnet. Und sich schon gar nicht einölen lassen von ihnen. Schonungslos nimmt Rebhandl uns mit in den Kopf von all den Biermösels und Rockenschaubs dieser Welt. Dort ist es dämmrig. Und trotzdem ist die Lektüre erhellend.

Manfred Rebhandl fragt nach. Für Zeitungen und Zeitschriften. In Texten und Reportagen. Bei ziemlich spannenden Menschen. So spricht er zB mit Reinhold Mitterlehner über den heiligen Sebastian, mit Stefanie Sargnagel über Penisse, mit Peter Filzmaier über Socken und mit Richard Lugner übers Duschen.

Manfred Rebhandl will in seiner Kolumne für den Standard aber auch wissen, wie es geht. Zum Beispiel von Marc, 28, der gerade sein E-Auto auflädt, und von Edith, 57, die ihr Saxophon liebt. Und von Giovanni, 65, der eigentlich gar nicht Giovanni heißt, aus Ägypten stammt und früher Pferdepfleger war. Giovanni geht es nicht gut, sein Geschäft läuft pandemiebedingt schlecht – und er vermisst das Meer.

Manfred Rebhandl grüßt mit Freundschaft! Und am Ersten Mai zieht er mit gehisster Fahne durch die Stadt. Er ist ein politischer Mensch und ebenso hellsichtiger wie urkomischer Kommentator des Tagesgeschehens.

Manfred Rebhandl hat Alter Egos. Die Lyrikerin Mariandl zum Beispiel. Textprobe:
D’Erna hot den Werna vü gerna.
Ois er sie.
Oisa waunn soi des endlich wos wern mit eahrna?
I glaub sche laungsam: Nie.

Manfred Rebhandl ist das perfekte Krawatten-Model. Das kann man nicht erklären. Man muss es sehen. Auf seiner Facebook-Seite zum Beispiel.

Manfred Rebhandl ist Vater einer Tochter. Die ist noch jugendlich. Schreibt aber auch schon. Der Papa allerdings darf ihre Texte nicht lesen. Was eventuell dafür sprechen könnte, dass sie das Skandal-Talent ihres Vaters geerbt hat. Aber das ist Spekulation.

Ich gratuliere allen Facetten von Manfred Rebhandl zum Krimifest-Aufenthaltsstipendium der Tiroler Tageszeitung!

 

Superschnüffler Rock Rockenschaub ermittelt in tattrigem Umfeld. Wie jedes Jahr versammelt er seine (Wahl-)Familie am Wiener Zentralfriedhof. Doch diesmal ist alles anders! Nicht genug, dass ein altes Filmchen Pornokinobesitzer Dirty Willi gehörig die Laune verdirbt. Nein, ein alter Freund von Herschel muss auch noch den Löffel abgeben. Da bleibt Rock nichts übrig, als mit Ziegenbock Viktor loszubrettern, um wieder mal den Tag zu retten. Bewaffnet mit Bier und Schokoriegeln löst er in Manfred Rebhandls neuem Buch „Hundert Kilo Einsamkeit“ auf alle Fälle alle Fälle.

 

 

„There have been so many versions of us over the years“ – Interview mit Raoul Eisele über sein Prosadebüt

Wir haben uns mit Raoul Eisele über sein Prosadebüt „Als Versprechen dieser Zeit“ unterhalten. Über das Verhältnis von Vergessen und Schreiben, über die vielen Versionen unseres Selbst, die wir alle in uns tragen. Darüber, wie man sich mit Worten an sein eigenes Ich heranschreiben kann, wie dieser Versuch zwangsläufig zugleich flüchtig und beständig ausfällt und uns unserem Selbst dennoch näherbringt:

Ist das Vergessen eine unumgängliche Bedingung, um lieben und leben zu können?

Ich glaube, nicht zwingenderweise das Vergessen, aber das Vergeben. Vergessen trägt etwas in sich, das der Mensch braucht, um einen Umgang mit gewissen familiären, gesellschaftlichen, aber auch weltweiten Problemen (oder auch generationalen Traumata) finden zu können. Wenn wir selbst aber ständig nach Perfektion streben und uns keine Fehler erlauben, ebenso keine Toleranz verspüren, wenn wir mal Fehler machen, dann werden wir vermutlich zu keiner tiefergehenden Beziehung fähig sein und jegliches Vertrauen in unser Gegenüber wird geschwächt.

Wir brauchen daher eine deutlich größere Akzeptanz (was das Vergessen bitte nicht inkludieren soll, aber ein Verständnis für vieles bringen könnte). Vergessen wäre dann nur noch von peripherer Bedeutung, weil wir als Individuen auch einen Umgang mit dem eigenen Fehler finden werden, wenn wir uns nicht ständig vorhalten müssen, etwas falsch gemacht zu haben. Oder dafür angeprangert werden und damit nicht mehr dem scheinbaren „Ideal“ entsprechen, das wir zwangsweise aufbauen bzw. durch gesellschaftliche Normen aufbauen müssen (Stichwort: „Selbstoptimierung“ und „Social Media“). Wenn wir aber gegenseitig auf Anerkennung treffen, selbst wenn wir mal in ein „Fettnäpfchen“ treten, denke ich, stärkt es unser Vertrauen, das uns dann wiederum zum Lieben und Leben verhilft.

Ist das Niederschreiben für dich Befreiung oder das Schaffen von unauslöschlichen Tatsachen?

Schreiben und Vergessen sind für mich persönlich nicht vereinbar und stehen im völligen Gegensatz zueinander; vielmehr hat das Schreiben für mich mit einem Weggehen und Wiederkehren zu tun, mit einem ständigen Prozess, der nie aufhört, ob man nun aktiv vor dem weißen Blatt Papier sitzt und schreibt oder nicht. Das Schreiben an sich hat, meiner Einsicht nach, je nach Person aber immer einen anderen Charakter, ob dieser nun befreiend ist, ein erstes oder wiederholtes Ordnen von Gedanken, ein Ausbruch an Emotion oder eben auch ein unauflösliches Festhalten von Tatsachen sein muss, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen.

Bei meinem eigenen Schreiben hat es in erster Linie einen befreienden Charakter, der wiederum nichts mit Vergessen zu tun hat. Es ist eher die Suche nach den richtigen Worten, um zu einer Klarheit zu gelangen, zu einer Unabhängigkeit, die hilft, alles in sich Tragende aus dem Körper zu bekommen und für sich und andere sichtbar zu machen. Es ist dann wie ein Versuch, sein eigenes Leben und seine Verhältnisse und Verhaltensweisen wiederholt zu hinterfragen, zu rekonstruieren und neue Sichtweisen bei sich und anderen kennenzulernen, wenn einem das Schreiben einmal entgleitet oder die Führung übernimmt; dabei ist es dann besonders überraschend, wo man hingelangt, wenn man einfach mal (wie im Fieber oder im Fluss) zu schreiben ansetzt und dann langsam wieder heraustritt. Es ist, wie wenn man einem Vogel die Hand entgegenhält und hofft, dass er landet; oder wie Hilde Domin schrieb: „Man muß den Atem anhalten, bis der Wind nachlässt, und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt.“

Es ist also manchmal unergründlich und dann wieder wie eine Notwendigkeit, der man nachkommen muss.

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„Als Versprechen dieser Zeit“ | Songbook 1

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„Als Versprechen dieser Zeit“ | Songbook 2
© Verena Gotthardt

Raoul Eisele ist Schriftsteller und veröffentlichte bisher Gedichtbände und Theaterstücke. 1991 in Eisenstadt geboren, lebt und arbeitet Eisele heute in Wien, wo er u. a. das Magazin process*in und die Veranstaltungsreihe Mondmeer und Marguérite gegründet hat. In seinem Schreiben fängt er die Einzigartigkeit und Komplexität des Menschseins ein. Jedes Gefühl wird zum Wort, bis sich die Grenzen von Anfang und Ende zu vermischen beginnen. „Als Versprechen dieser Zeit“ ist sein Prosadebüt und: eine Erkundung des eigenen Ichs.

Welche Funktion erfüllt das Schreiben für dich auf dieser Suche nach dem, was man ist oder zu sein glaubt?

Schreiben ermöglicht es einem, zu denken, sich vor sich selbst auszubreiten und auszusprechen, wofür man lange nicht die richtigen Worte fand. Schreiben ermöglicht es mir, zu einer Klarheit zu gelangen, Erkenntnisse zu gewinnen, eine Verlässlichkeit, die einem wiederholt die Frage vor Augen führt: Wer und wie möchte ich sein? In diesem Spannungsfeld drängen sich dann auch die Fragen auf: Wie sehen mich andere und wie möchte ich von anderen wahrgenommen werden (das „Ich“ im Schreiben ist für mich, und wie man heutzutage sieht, für viele nicht mehr auszuklammern). Schreiben lässt mich wachsen und wie Tove Ditlevsen sagte, hieße es „sich selbst auszuliefern“, dem Text gegenüber, sich selbst und seiner Vergangenheit und im Weiteren dann auch den Leser*innen. Es ist ein ständiges Wechselspiel und ein Dialog, den wir eingehen im Schreiben oder wie Frieda Paris in ihrem Buch „Nachwasser“ schreibt: „Ohne Gegenüber atmet das Gedicht nicht“ und was könnte schlimmer sein, als wenn einem die Luft wegbliebe.

 

Die Makellosigkeit ist ein wiederkehrendes Motiv in deinem Buch: „Nicht ein Fleck, nicht eine Schramme“. Können wir erst beginnen, unser Ich zu konstruieren, wenn wir nicht mehr damit beschäftigt sind, unsere Unbeflecktheit zu bewahren?

Wir konstruieren ständig neue „Ichs” bzw. Selbstverständnisse, die uns betreffen oder wie es im Buch heißt: „there have been so many versions of us over the years“. Heute bin ich anders, als ich es gestern war und morgen oder in ferner Zukunft sein werde. Was nicht bedeutet, dass das jetzige Ich keinen Wert hat, weil es ohnehin der ständigen Veränderung ausgesetzt ist. Es hat Bestand und sollte in seiner aktuellen „Schönheit“ gesehen werden dürfen; ebenso wie jeder Text auch in seiner Momenthaftigkeit seine Berechtigung und Wahrheit innehat; und sicher auch noch zukünftig haben wird und sei es nur für unser eigenes Schreiben. Denn alles entwickelt sich weiter und so muss das Schreiben auch im ständigen Prozess bleiben (oder wie Octavio Paz sagte: „Jedes Gedicht ist der Entwurf eines anderen, das wir niemals schreiben werden.“).

Und so ist die Makellosigkeit auch ein unmöglich zu erreichender Zustand, den wir zwar, da katholisch-christlich geprägt, erhoffen und erschaffen wollen, gleichzeitig aber unerreichbar bleiben muss. Und so sollten wir auch uns gegenüber mehr Akzeptanz zulassen und uns für die Eigenschaften liebgewinnen, die uns ausmachen und nicht versuchen, eine „Unbeflecktheit“ zu erreichen oder zu bewahren, die es so nicht gibt.

Raoul Eisele erzählt in seinem Prosadebüt „Als Versprechen dieser Zeit“ von den Kämpfen, die wir in uns austragen, von der Ruhe, die wir fürchten, könnte sie doch Einsamkeit bedeuteten. Und: Er erzählt von Geborgenheit, die der schützende Arm sein kann, der sich um uns legt. Geborgenheit: die das Dasein erträglich macht.

 

„Als Versprechen dieser Zeit“ kann man auch als tastende Suchbewegung, Ausloten von Widersprüchlichkeiten lesen. Gibt es im Leben trotz allem unverrückbare Gewissheiten für dich?

Am unverrückbarsten sind mit Sicherheit Freundschaften, die seit Jahren/Jahrzehnten bestehen, bei denen man weiß, dass man sie selbst bei 1-2 Jahren Abstand nicht verliert. Natürlich auch die Familie, der engste Kreis an mir nahen Menschen, auf die man sich in jeder Lebenslage verlassen kann. Und natürlich das Vertrauen in die Liebe und in den bestehenden Respekt, den man vor Menschen und allen Lebewesen haben sollte (aber hierbei bin ich auch einfach unverbesserlich optimistisch).

Neben dem nuancierten Ausloten von Ambivalenzen kommt eine Kritik in deinem Buch sehr klar heraus: sie gilt übergestülpten Erwartungen, einengenden Rollenbildern, aufgezwungenen Gesellschaftsnormen. Sind sie für dich das größte Hindernis für ein selbstbestimmtes, freies Leben?

Ich glaube, dass man immer schon versucht hat, gegen herrschende Normen zu rebellieren. Oftmals hat man sich aber dann doch in die Gesellschaft eingegliedert und ist einen ähnlichen Weg gegangen, wie man ihn vorgelebt bekommen hat. Denn es ist schwierig, sich von den gesellschaftlichen Prägungen und familiären Verhältnissen völlig loszusagen oder sich aus ihnen herauszulösen. Denken wir nur, wie schwer es uns fällt, Angelerntes wieder zu verlernen. Trotzdem denke ich, dass es nötig ist, die herrschenden Verhältnisse in der Welt (im Kleinen, ebenso wie im Großen) ständig zu hinterfragen und bei Veränderungen mitzugehen, die ein Allgemeinwohl für alle zu schaffen versuchen.

Ist „Als Versprechen dieser Zeit“ ein Versuch, unseren Glauben an essenzielle, ungebrochene Wahrheiten, behauptete Tatsachen und Zuschreibungen zu erschüttern?

Mein Schreiben bleibt ausschließlich ein Herantasten an das eigene Erlebte, ein Versuch, mich im Verhältnis zu anderen zu hinterfragen. Wenn es mir damit gelingen sollte, etwas gesellschaftlich Relevantes oder Allgemeines zu schaffen, ist es vermutlich ein glücklicher Zufall und wenn es in diesem auch noch zu einer Erschütterung kommt, umso schöner, aber auch unrealistischer – aber ich denke, dass es in erster Linie unbedingt diesen Versuch braucht, der bei sich und seinem nahen Umfeld anfängt und dann mit viel Bedacht auch an weitreichende und allgemeinere Probleme herantreten kann.

Die Uneindeutigkeit spiegelt sich auch in der lustvoll genresprengenden Form deiner Erzählung wider. Englischsprachige Einschübe, Songbooks, literarische, popkulturelle und wissenschaftliche Bezüge, Whatsappnachrichten – in „Als Versprechen dieser Zeit“ findet man eine erstaunliche Fülle des Ausdrucks. – Oder vielleicht auch: Die neuronale Überreizung unserer Zeit, die Kakophonie der Notifications, das gleichzeitige Gewimmel unterschiedlichster Kommunikationsformen. Ist diese aufregende, beziehungsreiche, nichtlineare Form ein Ausdruck unserer Zeit?

Wir suchen verstärkt im eigenen Umfeld, um aus den eigenen Erfahrungen heraus zu schreiben, da es immer wichtig wird, zu hinterfragen, wer spricht und welche Probleme von welcher Position/Sichtweise/Ausgangslage aufgegriffen und verhandelt werden.

Gleichzeitig fügt es sich in die Suche nach einer neuen Erzählweise ein; und in den Versuch, einen Umgang mit unserer Zeit zu finden, mit der ständigen Veränderung und der Frage nach Wertigkeiten und (Schreib-)Prozessen, die den eigenen Erfahrungsschatz offenbaren und zeigen. Die Suche wirft Fragen auf, wie: Woraus schöpfe ich? Mit welchem Wissensstand nähere ich mich einem Thema an? Welches Archiv steckt hinter meinem Schreiben & Denken oder dem des „Lyrischen Ich“, das spricht? Und was bewegt die Autor:innen, die das Erzählen wagen?

Wichtig ist es mir, festzuhalten, dass es einen Neubeginn braucht und ich denke, dass das immer schon die Aufgabe von Kunst war, Wege aufzuzeigen und nach Möglichkeiten zu suchen, die dann von anderen ebenfalls gegangen werden können.

Ob das gelingt, ist aber wie so oft in der Historie, sicherlich vermehrt dem Zufall geschuldet, als irgendetwas anderem.