Schlagwort: Auszeichnung

Epiphanien des Alltags

Kleine Rede auf Klaus Merz zur Eröffnung der Ausstellung «Merz Welt», Galerie Litar Zürich, 12. 9. 2025

Von Manfred Papst

Auf der Einladung der Galerie Litar zur Ausstellungseröffnung sehen wir eine etwas unscharfe Farbfotografie aus dem Jahr 1971: Klaus Merz und sein Bruder Martin stehen am Strand im südfranzösischen Aigues-Mortes. Der Schnappschuss führt direkt zum Thema der Ausstellung «Merz Welt» und ruft eine Beziehung in Erinnerung, die für Klaus Merz wie für sein Schreiben prägend war. In seinem Meisterwerk «Jakob schläft», das im Zentrum der von Christa Baumberger kuratierten Schau steht, hat sie ihre dichterische Ausformung gefunden. In der autobiografischen Erzählung «Querfahrt», die Klaus Merz 1994 in den Band «Am Fuss des Kamels» aufgenommen hat, lesen wir: «Der Bruder schlief, als wir ankamen, sein modelliertes Köpfchen lag auf dem weissen Kissen und wusste nichts von sich selbst. Auch ich sah nicht, was ich wusste. Das Wort Wasserkopf hat uns das sachdienliche Leben erst später beigebracht.»

 

Diese unheimlichen Sätze finden sich drei Jahre später fast unverändert im 5. Kapitel von «Jakob schläft» wieder. Sie sprechen von Martin Merz (1950-1983), dem fünf Jahre jüngeren Bruder des Dichters. Eine innige, geheimnisvolle Beziehung, vielfältig wirksam auch über den Tod des Jüngeren hinaus, verband die beiden Brüder, die in Menziken im aargauischen Wynental aufwuchsen. Martin lernte trotz seiner schweren Beeinträchtigung lesen und schreiben (nicht aber gehen und rechnen) und verfasste schon als Halbwüchsiger selbst Gedichte. Immer wieder ist Klaus Merz auf Martin (der im Roman «Sonne» heisst) zurückgekommen, immer wieder hat er sich für dessen schmales Werk eingesetzt: als gälte es, eine späte Dankesschuld abzutragen und Zeugnis abzulegen von einem so erschütternden wie beglückenden gemeinsamen Leben.

 

Bild: Klaus und Martin Merz, Aigues-Mortes 1971. Foto: Selma Merz. Schweizerisches Literaturarchiv, Nachlass Martin Merz. Bildgrafik: Rahel Arnold.

Die Ausstellung „Merz Welt“ ist von 13. September bis 29. November 2025 in der
Galerie Litar Zürich zu sehen.

Kuratiert von Christa Baumberger, mit Beiträgen von Mariann Bühler, Sascha Garzetti, Marion Graf, Susanne Schmetkamp.

Im Abstand von zwanzig Jahren hat er das Werk des Bruders zweimal herausgegeben; zuletzt 2003 unter dem Titel «Zwischenland», im Innsbrucker Haymon Verlag, der auch sein eigenes Œuvre betreut. Die Texte von Martin Merz bewegen sich vom Engen ins Weite. Sie sprechen aus dem Inneren einer Familie, auf die sich früh schon Kummer legte. Wir sind darüber unterrichtet:

Ein erstes Kind – der schlafende «Jakob» im Buch – wurde tot geboren, den Vater begannen epileptische Anfälle heimzusuchen, und dann kam auch noch der jüngste Sohn mit einer schweren neurologischen Erkrankung zur Welt. «Hydrozephalus» hiess der Terminus technicus für das Unglück. Aus Spitalaufenthalten, Operationen, Privatunterricht, Fortbewegung im Rollstuhl bestand fortan der Alltag. Lektüre wurde wichtig, auch das Radio: Hörspiele, Lesungen, Schlager. Die Schallplatten mit Märchen konnte der Bub alle auswendig. Als etwa Zehnjähriger kam er in die Heilpädagogische Sonderschule Reinach. Das Leben zu Hause entfaltete seine eigene Dynamik: Indem die Familie sich um das Sorgenkind kümmerte, wuchs sie zusammen – wobei das Leben im Magnetfeld des Bedürftigen nicht einfach war und der Bruder sich auch an Zustände ohnmächtiger Wut erinnert. Ein befreundeter Velomechaniker konstruierte ein Dreirad, auf dem Martin, den seine Füsse nicht trugen, sich fortbewegen konnte, eingeschirrt in ein «Gestältli» und in Obhut einer Begleitperson. Im 20. Kapitel von «Jakob schläft» verunfallt er auf diesem Gefährt.

Manfred Papst, geboren 1956 in Davos, studierte Sinologie, Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich. Von 1989 bis 2001 war er Programmleiter des NZZ-Buchverlags, seit 2002 ist er Ressortleiter Kultur der NZZ am Sonntag. Er hat zahlreiche Publikationen zu Literatur und Musik verfasst.

Der vorliegende Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von Litar im Haymon Magazin.

Zum Dichter wurde Martin, als der bewunderte grosse Bruder in die Rekrutenschule einrückte. «Ich kann jetzt lange keine Gedichte schreiben, du musst es für mich tun», soll er zum Jüngeren gesagt haben. Klaus Merz selbst hatte auf Anregung der Dichterin Erika Burkarts, der er ein Leben lang verbunden bleiben sollte, schon im Gymnasium Verse verfasst.

Martin nahm den Auftrag des Bruders ernst. Er schrieb nicht kontinuierlich, sondern in heftigen Schüben. Seine Gedichte tippte er mit zwei Fingern in eine Schreibmaschine, ohne später je noch ein Wort zu ändern. Auch wohlmeinende Ratschläge erreichten ihn nicht. Dennoch wuchern seine Texte nicht nach Adolf Wölflis Manier. Sie haben durchaus etwas von jener Lakonie, Präzision und verhaltenen Trauer, für die sein Bruder berühmt ist.

 

Sie alle kennen die weitere Geschichte: Klaus wurde Lehrer, Schriftsteller, Familienvater, liess sich in Unterkulm nieder. Die ersten Gedichtbände der Brüder waren fast gleichzeitig erschienen: Klaus’ «Mit gesammelter Blindheit» 1967 im Tschudy Verlag, Martins «Gedichte eines Kindes» nur ein Jahr später bei Fretz & Wasmuth. 1971 reiste Martin mit Klaus und dessen junger Frau Selma nach Südfrankreich, in einem Renault 4. Bei Aigues-Mortes, ging er, gestützt vom Bruder, einige Schritte im Meer. Da sind wir wieder beim eingangs erwähnten Bild. In den folgenden Jahren verschlimmerte sich Martins Leiden, doch lebte er länger, als die Ärzte erwartet hatten. Nach dem Tod der Mutter (1980) stand er unter der Obhut des Vaters; im Frühjahr 1982 kam er ins «Lindenfeld» Suhr. 1983 schloss sich sein Lebenskreis.

 

Die eminente Literaturkritikerin Elsbeth Pulver hat notiert, dass es den Dichter Martin Merz ohne seinen älteren Bruder nicht gäbe; in gewissem Sinn lässt der Satz sich auch umkehren. Jedenfalls trifft er in zweifachem Sinn zu: Klaus Merz hat das Werk des Bruders angeregt, und er hat es für die Nachwelt gerettet. Beides hat er nicht gönnerhaft getan. Indem er in die Seele des leidenden Geschöpfs blickte, sah er in einen Abgrund, der auch sein eigener war – und aus dem die Kunst entsteht. Deshalb sind seine Darstellungen des Bruders, die mit der einzigen Ausnahme des kurzen Textes «Hochzeit» (1978) alle erst nach Martins Tod entstanden sind, bei aller Drastik nicht ohne Zärtlichkeit und Humor, auch nicht ohne Selbstironie. Die Erzählung «Report», (in «Tremolo Trümmer», 1988), die Martin gewidmet ist und ausgiebig aus seinen Gedichten zitiert, ist ein Beispiel hierfür. Sie erinnern sich vielleicht: Ein umtriebiger Journalist macht eine windschnittige Reportage über Schlachthäuser und trifft dabei auf einen Arbeiter, der ihm mit unbeholfener Wortgewalt von seinem behinderten Bruder erzählt. Wie Klaus Merz hier seinen Bruder würdigt, während er sich selbst in zwei gegenläufigen Gestalten spiegelt, das zeugt von narrativer Meisterschaft auf engstem Raum.

Zahlreiche Wegbegleiter haben die Fertigstellung der Werkausgabe zum Anlass genommen, um ihre persönlichen Merz-Lektüren festzuhalten. Die der Werkausgabe beiliegende Broschüre „Klaus Merz lesen“ ist hier auch als PDF-Download zugänglich.

 

 

Klaus Merz gehört zu jenen Schriftstellern, die stets am gleichen Lebensbuch schreiben. Sein Werk ähnelt einem Teppich. Es fällt schwer zu sagen, welcher Teil zuerst gewoben wurde. Melancholie und Anmut, Lakonie und verhaltener Humor, der ureigene Kammerton – alles ist von Anfang an da.

Kein unpassender Faden im komplexen Gewirke stört die Textur. Das gilt für das Oeuvre als Ganzes, auch und besonders für die Bildessays, die für meine Begriffe vom gleichen hohen Rang sind wie die Lyrik und die erzählende Prosa dieses Autors, der wie ein erratischer Block in der Schweizer Literaturlandschaft steht.

Schon im frühen Text «Latentes Material» ist alles angelegt, was später auseinandergefaltet, variiert und weiterentwickelt wird. Immer wieder geht es um das absichtslose Sehen als sinnstiftende Kraft, um die Erlösung der bedrängten Seele im Bildwerk, das ewig stillsteht und doch über sich hinausweist, um die Brüderlichkeit unter den Dingen und um die Geborgenheit des an die Welt verlorenen Menschen in Gott. Wie Klaus Merz immer wieder auf dieses Grundthema zurückkommt, es erweitert, vertieft, zum Kaleidoskop perspektivisch verschobener Sehweisen auffächert, ist meisterhaft. Die Fähigkeit, seine so wache wie innige Wahrnehmung und Erinnerung immer wieder in dunkel leuchtende Sprachbilder zu bannen, erweist ihn als grossen Autor. Die Schweizer Gegenwartsliteratur hat er mit erzählender Prosa von konstanter Qualität bereichert. Zu Recht hat Peter von Matt «Jakob schläft» mit dem «Grünen Heinrich» verglichen: Weil das Buch ungeachtet seines geringen Umfangs genau so viel durchlittenes, bestandenes und gestaltetes Leben enthält wie das grosse Schmerzensbuch des Zürcher Staatsschreibers.

Klaus Merz meldet sich auch immer wieder als Lyriker von Rang zu Wort. Wir erleben es seit Jahrzehnten – dankbar und stets auf neue überrascht. Seit jeher ist er ein Meister des präzisen Aperçus, der Verknappung und der Andeutung. Einer, der die Farbe, den Klang, das spezifische Gewicht jedes Wortes sorgsam betrachtet, bevor er es setzt. Das braucht Zeit, Geduld, auch Strenge gegen sich selbst. Deshalb ist das Werk von Klaus Merz vergleichsweise schmal – obgleich die von Markus Bundi betreute Werkausgabe bereits auf sieben stattliche Bände sowie einen Materialienband angewachsen ist und ein abschliessender neunter Band demnächst erscheinen soll.

Klaus Merz versteht es, tiefgründig zu schreiben, ohne schwer verständlich zu sein.

Ähnlich wie bei Günter Eich lässt sich in seinen Gedichten ein Prozess fortwährender Klärung beobachten. Sie werden immer lakonischer und kürzer – manche von ihnen umfassen nur drei oder vier Zeilen –, dabei aber keineswegs kryptischer, hermetischer, abweisender, sondern immer durchsichtiger und leichter. Die Sehnsucht nach Leichtigkeit auf dem dunklen Grund des Lebens begegnet uns denn auch explizit: «Der Schwermut sich beugen / und leicht werden dabei», lesen wir in «Die Brünner Mädchen», «Zukunft bleibt flüchtig / nur die Toten sind nah. / Und die Gegenwart / verliert ihr Gewicht», heisst es in «Zurüsterin Nacht». An anderer Stelle im Band «Aus dem Staub» (2010), aus dem ich diese Verse zitiere, ist von Tagen die Rede, die leichter sind als Luft, und von Gott, der Luft für uns ist und den wir einatmen.

 

Dass Klaus Merz die Reduktion immer weitertreibt, heisst nun allerdings nicht, dass seine Texte spröd und fahl würden. Im Gegenteil. Es verblüfft, wie mit wenigen Worten hier reiche Welten erschaffen werden und Epiphanien des Alltags vor unseren Augen erstehen. Rainer Maria Rilke hat es pathetischer formuliert, doch im Kern geht Klaus Merz mit ihm einig: Wer sich für ein Leben als Dichter entscheidet, wählt eine Existenzform, nicht nur eine Tätigkeit, die man manchmal ausübt und manchmal nicht. Der Vierzeiler «Biografie», den man als Selbstbildnis, zugleich aber auch als versteckte Hommage an Gerhard Meier lesen kann, hält den Tatbestand mit feinem Humor fest:

«Im Lauf der Zeit selber
zum Bleistift geworden
der auch ein Bleistift bleibt
wenn er nicht schreibt.»

Von Abschied, Tod, Vergänglichkeit ist bei Klaus Merz viel die Rede, aber auch immer wieder von der Schönheit der Welt in ihrer steten Gefährdung. Er wagt – ohne Tremolo, dafür mit zärtlicher Akribie – etwas, das seit Jahrtausenden die Aufgabe der Dichter ist, auch wenn wir das grosse Wort mittlerweile scheuen: Er feiert das Dasein.


© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des KamelsGeschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze DurchsageGedichte & Prosa (1995), Jakob schläftEigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, FräuleinRoman (1998), GarnProsa & Gedichte (2000), Adams KostümDrei Erzählungen (2001), Das Turnier der BleistiftritterAchtzehn Begegnungen (2003), Löwen LöwenVenezianische Spiegelungen (2004), LOSErzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas MiniaturenErzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte BlickSehstücke (2007), Der ArgentinierNovelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem StaubGedichte (2010), Unerwarteter VerlaufGedichte (2013), Helios TransportGedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes LichtEin Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweiterte er seine Publikationen um Noch Licht im Haus. Gedichte & Kurze Geschichten.

Drei Fragen an Klaus Merz

Zum 80. Geburtstag von Klaus Merz erscheint die vollständige neunteilige Werkausgabe, herausgegeben von Markus Bundi – ein literarisches Ereignis, das das eindrucksvolle Lebenswerk eines der bedeutendsten Schriftsteller der Schweizer Gegenwartsliteratur würdigt. Im Kurzinterview gibt Merz Einblick in seine aktuelle Lektüre, erzählt von seiner frühen Begegnung mit Literatur und erklärt, was für ihn ein gutes Gedicht ausmacht.

Der Haymon Verlag vollendet mit dem letzten Band ein Gesamtwerk, das in seiner stillen Kraft, poetischen Präzision und Tiefe einzigartig ist.

Zahlreiche Wegbegleiter haben die Fertigstellung der Werkausgabe zum Anlass genommen, um ihre persönlichen Merz-Lektüren festzuhalten. Die der Werkausgabe beiliegende Broschüre „Klaus Merz lesen“ ist hier auch als PDF-Download zugänglich.

 

Wie kam die Literatur in dein Leben?

Ich habe im Lehrseminar mit 15, 16 einen ganz tollen Deutschlehrer gehabt. Und der hat uns moderne Literatur zuerst unterlegt, nicht die Klassiker. Und auch natürlich Gedichte, aber auch Prosa, nach dem Krieg, 15 Jahre nach dem Krieg. Und da habe ich eigentlich gemerkt, dass für mich Literatur, dann auch selber schreiben, eine Möglichkeit ist, die Fremdheit zwischen mir und der Welt irgendwie etwas sagbarer zu machen. Also, es ist ja so, wenn ich deinen Namen weiß, dann bist du mir auch weniger fremd. Schreiben heißt im Grunde genommen, „benamsen“ würden wir Schweizer sagen, Namen geben. Sich der Befremdlichkeit, die ja im Grunde genommen immer auch etwas Furchterregendes ist, zu stellen, damit man die Furcht vor der Welt, die Furcht voreinander, abbauen kann. Ich glaube, das ist etwas Wichtiges gewesen.

Welches Leseerlebnis hat dich zuletzt so richtig überrascht?

Also, ich stecke seit Wochen eigentlich in einem Buch von Claire Keegan. Das sind die gesammelten Erzählungen von ihr, „Liebe im hohen Gras” heißt diese Sammlung. Das sind ganz dichte, unheimlich luzide und sinnliche Geschichten. Sie ist eine großartige Erzählerin, kompakt, dicht und sie schneidet mir immer wieder den Atem ab.

Schreiben, wie man eine Trockenmauer baut: Stein um Stein ohne Füllmaterial. Wie macht man das?

Ja, also das Entscheidende ist bei der Trockenmauer, dass der Pfludi, der Zement, weggelassen wird, dass die Mauer in sich ruhen muss und auch luftdurchlässig bleibt eigentlich. Und so soll auch ein Gedicht atmen können, finde ich. Und es soll reduziert sein auf das nötigste Material. Wenig genug, das zeichnet eigentlich, finde ich, ein Gedicht aus.


© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des KamelsGeschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze DurchsageGedichte & Prosa (1995), Jakob schläftEigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, FräuleinRoman (1998), GarnProsa & Gedichte (2000), Adams KostümDrei Erzählungen (2001), Das Turnier der BleistiftritterAchtzehn Begegnungen (2003), Löwen LöwenVenezianische Spiegelungen (2004), LOSErzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas MiniaturenErzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte BlickSehstücke (2007), Der ArgentinierNovelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem StaubGedichte (2010), Unerwarteter VerlaufGedichte (2013), Helios TransportGedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes LichtEin Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweiterte er seine Publikationen um Noch Licht im Haus. Gedichte & Kurze Geschichten.

Dichte Poesie und feiner Humor: Angelika Rainer erhält den Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck

Vor 30 Jahren stellte die große Friederike Mayröcker – in wenigen Tagen werden ja Mayröcker-Festspiele einsetzen, anlässlich der einhundertsten Wiederkehr des Geburtstages dieser Poetin, die übrigens ihren mutmaßlich letzten langen Lese-Auftritt, wenn auch digital, bei einem Tiroler Literaturfestival hatte – vor 30 Jahren also stellte Friederike Mayröcker in einem Gedicht, das den Titel „was brauchst du“ trägt, die Frage: „was brauchst du?

Die Antwort folgte stante pede:

„was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch“.

Und einige Zeilen später hieß es da:
„du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus“.

Und vom Baume abbrechend, natürlich unter gesittet försterlicher Aufsicht, braucht man den „Kunst – Zweig Literatur“. Und dazu, wie Frau Mayröcker meinte, ein Haus. Denn, wie es in Frau Rainers „See’len“ an einer Stelle heißt:

„In den pelagischen Regionen des Auges tritt die Welt auf –
ein Baum, ein Haus, ein Vogel, ein Mensch.“

Statt eines Hauses kann es aber auch ein Zweckbau sein.

Portrait: © A. Darmann

Angelika Rainer, die Trägerin des Preises für künstlerisches Schaffen 2024 in der Sparte Literatur, mit (v.l.) Vizebürgermeister Georg Willi, Kulturamtsleiterin Isabelle Brandauer und Alexander Kluy (Jury).
 

Angelika Rainer gebührt der heute verliehene Preis aber nicht nur für ihren Band „Zweckbau für Ziegen“. Sondern mit gleichermaßen egalitärer Berechtigung und ob schriftstellerischer Verve und für poetischen Furor gebührt er ihr für ihr Gesamt-Werk. Davon ist „Zweckbau für Ziegen“ der letzte, der neueste Band.

Der Titel schon irritiert. Und er irisiert.

Zweckbau, wird da gleich im Auftakt erläutert, geht zurück auf Gion Caminada, einen Schweizer Architekten – oder wäre nicht: Baumeister treffender? –, der aus dem Dorfe Vrin stammt, das zur Gemeinde Lumnezia gehört und das im Kanton Graubünden liegt.

„Vrin“„Lumnezia“ – Worte und Namen, die die Poesie kaum besser und kaum schöner erfinden kann.

Das Werk Caminadas, des inzwischen Mittend-Sechzigers, weist neben Erwartbarem, einem Hotelumbau, einer Gemeindehalle und einigen Wohnhäusern, auch einen Käserei-Neubau auf, eine Telefonkabine und mit der Stiva da morts tatsächlich eine: Totenstube – sowie in Puzzatsch, einem Weiler nahe Vrin, das zur namenstraum-verlorenen Gemeinde Lumnezia gehört, – einen Geissenstall. Der in zwei Baukörper aufgeteilte Entwurf schmiegt sich riegelig an den Hang. Aus Holz und Stein errichtet, mutet er einerseits traditionell an. Und ist es andererseits auf der Stelle, auf seiner Stelle nicht. Ein Weg führt daran vorbei. Auf jüngeren Fotografien mutet das Ganze an, als stünde das ställerne Gebäude schon seit Generationen dort, wo es steht und vor dem knollig jäh ansteigenden Berghang schützt.

Gleich-Ähnliches gilt für „Zweckbau für Ziegen“.

Der Band, von dem man inzwischen meint, es habe ihn schon immer gegeben, schmiegt sich riegelig in die knollig ansteigende Handinnenseite einer und eines jeden, der das schön gestaltete Buch in die Hand nimmt und aufschlägt. Und sich festliest.

Über den so fein wie feinsinnig alliterierend tänzerischen Titel „Zweckbau für Ziegen“ meditierten nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker.

Ist dieser Zweckbau nun – eine Heimstatt?

Steht es für – Zuflucht? Signalisiert es – Gemeinschaft? (Und sei es auch nur die mengenmäßig überschaubare Gemeinschaft von Lyrik-Lesenden …)

Oder ist es nicht einfacher – weil man schon auf der ersten Seite nur lesen muss. Da steht es:
ein Nutzbau, ein Gebäude für eine begrenzte Zeit, er schützt wie die Hecke, der Baum, der Schirm“ – jedoch wovor?

Vor, Überraschung: „dem fremden, dem neugierigen, dem beschämenden Blick.“

Zu „Ziegen“ übrigens bietet dieses Haus, die Stadtbibliothek, 54 Medien-Einträge, von der Ziegen-Haltung bis zum – und das ist etwas irritierend – „Schaf-Thriller“, in dem die Ziegen kaum mehr als Nebendarsteller sind. Bei Angelika Rainer sind solcherart Überraschungen wortreich treffend beseelt.

„Wer ist zuständig für die Beseelung der Dinge?“ hieß es in Angelika Rainers Zweitling „Odradek“, der schon im Titel eine Verbeugung Richtung Prag vollzog. Es war ein Verweis auf Anker. Auf Verankerndes und auf ihren Ort, ihren eigenen Ort, findende Bilder und Sprach-Bilder. Und auf stets und stetig Banges.

Es werden Ereignisse in verschiedenen Größen, Farben, Formen gesammelt.
Liest man da. Und: Nichts ist zu gering, alles ist gleich gültig, um ein schützendes Dach über dem Kopf zu schaffen.

Formal ist das außerordentlich ausgepicht. Und mit leichter Hand konstruiert. Wobei der Verlag gerne mitspielt. Entfernen Sie beispielsweise den Schutzumschlag des Bandes, den eine weißlineare Konstruktionszeichnung auf himmelblauem Grunde schmückt, dann entdecken Sie darunter – Sterne auf Nachtdunkelblau.

Daher, daher?, steht geschrieben in Numero 12:

Dass das Weltall wächst
habe ich staunend vernommen
bestand es doch bisher vornehmlich
aus erloschenen, nachglühenden Sternen
wie die Erinnerung.

Tief in die eigene Erinnerung, ins Lesegedächtnis prägen sich die Gedichte Angelika Rainers ein. Sie glühen zwischen Emotionen und der Evidenz von Vergänglichkeit.

Es geht bei ihr um: Sammeln, Ordnen und Aufbewahren – die drei Urformen der Literatur seit Anbeginn – und um stille Existenz, um die Stille der Existenz und um in der Tiefe, auch der eigenen Tiefe, lauernde Ängste und Unsicherheiten.

Portrait: © Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Kunstvoll kommt das daher, manchmal balladesk, dann wieder austariert lakonisch. Hier erscheint es erzählerisch additiv – der Auftakt von „Luciferin“ etwa mit den vielen, vielen Anaphern –:

Sie kommt zur Welt
Sie wirft einen großen Schatten
Sie rächt sich für alles.
Sie hat nichts zu geben.

Dort ist es aphoristisch: Schlafgedanken halten sich nicht im Licht.

Vor allem ist es alles andere als so einfach, wie es klingt und so unverstellt frisch klingen mag – denn, so zwei Zeilen in „Odradek“:
Warum soll nicht auch ich Umgang haben dürfen mit großen Gedanken?
Ich will die Hilfe von Vordenkern annehmen.

Angelika Rainer nimmt solche Hilfe an, von Poeten, von Ovid über Trakl zu John Berger und – welch Zufall! Friederike Mayröcker –, sie nimmt aber auch die Hilfe und Klang-Unterstützung von speziellem Wissen an, sei es botanischer Art oder physikalischer Natur.

Es ist das Geflüsterte, in Klammern Gedachte“, was sie an- und umtreibt und wortmalerisch bewegt.

Es sind die verwilderten Hecken und die Apokalypse, der Nasenzwicker und die Aniskekse, es sind Torf und Vierkant-Ruine, es sind Nod, ein Land in der Bibel, und der Jennesey-Strom in Sibirien, es sind Betrachtungen, psychogrammatische Rekonstruktionen und diaphanes Dunkel, durch das hier und da etwas Helles mit zitternd zithernder Stimme aufzirpt, während eine Selbstgedrehte zur „Musik der kleinen Planeten“ aufgeraucht wird.

Harfe, Zither, Stimme. Das ist, was Angelika Rainer musikalisch zu Franui beisteuert. Joseph Roth und Thomas Bernhard, Mahler-Lieder, Schubert-Lieder und Georg Kreisler-Lieder. Schnitzler als Prosa-Puppenspieler und Nikolaus Habjan als echter Puppenspieler, das waren und sind Programme dieser Musicbanda. Auch eines, das – sehr beruhigend in heutigen Zeiten – „Alles wieder gut“ hieß. Und ein anderes war das „Ständchen der Dinge“.

Bei Angelika Rainer ist ein solches Ständchen fragil, erträumt, hochartistisch, all und das All memorierend:

„Die genaue Seele vergisst
[…] Nichts wird verloren gegangen sein
Nur ich mir selber ein wenig im Schlaf“

liest man in „Luciferin“.

Portrait: © Filippo Cirri

Alexander Kluy, geboren 1966, Studium der Germanistik und Amerikanistik. Autor, Journalist und Herausgeber erfolgreicher Anthologien und der Reihe „Wiener Literaturen“. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen, österreichischen und schweizer Zeitungen und Zeitschriften.

Angelika Rainer macht uns zu Staunenden in Sachen Welt-Wunder. Und zu Staunenden in Sachen Welt-Verwunderung. Auch darüber, was Zeit ist. Und besser als in ihre Bücher lässt sich die eigene Lese-Zeit kaum investieren.
Auch Angelika Rainer lässt sich Zeit. Zwischen dem Debüt „Luciferin“ und dem Zweitling „Odradek“ lagen vier, zwischen „Odradek“ und „See’len“ sechs, zwischen „See’len“ und „Zweckbau für Ziegen“ fünf Jahre. Dies virtuose Warten kommentierte Lucy einst im Erstling schon treffend, mit diesen ihr von Angelika Rainer in den Mund gelegten Worten:

„Meine Geschichte zu erzählen braucht die Zeit, die ich bei den Lebenden war.“

Für ihre große, für ihre bezwingende, für ihre durchsichtige und verspielte Lyrik, für ihre verständlichen und verstehenswerten Gedichte, die sich ganz konkret, dabei gebildet durch Segmente des Sinns hindurch schlängeln und durch alle 26 Buchstaben des Alphabets sich hindurchmusizieren, gebührt Angelika Rainer der Preis.

Ganz am Ende von „Zweckbau für Ziegen“, in der finalen, der Nummer 60 der 60 Nummern heißt es: „Alle Bilder habe ich umsonst gemacht.“

Dies zu Ihrem Glück und für unsere Lese-Fortüne stimmt denn doch nicht am heutigen Abend und für das künstlerische Schaffen von Angelika Rainer.


Weitere Infos zum Preis und die vollständige Begründung der Jury bestehend aus Elisabeth R. Hager (Schriftstellerin und Klangkünstlerin), Roland Sila (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum) und Alexander Kluy (Schriftsteller, Kritiker) findet ihr hier.

Klaus Merz wird mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2024 ausgezeichnet.

Mit dem Grand Prix Literatur 2024 würdigt das Schweizer Bundesamt für Kultur Klaus Merz für sein Lebenswerk und verleiht ihm damit die höchste literarische Auszeichnung des Landes.

„Innenschau und sprachliche Verdichtung prägen das Werk von Klaus Merz. Mit dem Aargauer Autor wird eine eher leise, jedoch umso eindringlichere und gewichtige Stimme ausgezeichnet, die einen Echoraum weit über die Schweizer Grenzen hinaus findet.“

 

Mit den 2012 eingeführten Schweizer Literaturpreisen ehrt das Bundesamt für Kultur jährlich Kulturschaffende und würdigt ihre Werke. Die Preise und Auszeichnungen berücksichtigen alle vier Sprachregionen der Schweiz und die verschiedenen literarischen Gattungen.

Die Preisverleihung findet am Freitag, 10. Mai 2024 um 18 Uhr im Stadttheater Solothurn, im Rahmen der Solothurner Literaturtage statt.

© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des Kamels. Geschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze Durchsage. Gedichte & Prosa (1995), Jakob schläft. Eigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein. Roman (1998), Garn. Prosa & Gedichte (2000), Adams Kostüm. Drei Erzählungen (2001), Das Turnier der Bleistiftritter. Achtzehn Begegnungen (2003), Löwen Löwen. Venezianische Spiegelungen (2004), LOS. Erzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas Miniaturen. Erzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte Blick. Sehstücke (2007), Der Argentinier. Novelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem Staub. Gedichte (2010), Unerwarteter Verlauf. Gedichte (2013), Helios Transport. Gedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweitert er seine Publikationen um Noch Licht im Haus.