Schlagwort: Krieg

Bücher in den Schützengräben – Andrej Kurkow über die Literatur in der Ukraine

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow schreibt über seine Landsleute und deren Schicksale, über die Ereignisse, die seine Heimat erschüttern – und das seit Jahren. Festgehalten sind seine Eindrücke unter anderem im „Tagebuch einer Invasion“ (Haymon, 2022), für das er im selben Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Im folgenden Beitrag geht der Autor auf die Literatur der Ukraine ein, weist auf aktuelle Phänomene während des Krieges hin und blickt, trotz allem, hoffnungsvoll in die Zukunft.

Es gibt wohl keine dramatischere Literaturgeschichte als die der ukrainischen Literatur.

Diese Aussage mag Sie überraschen, aber fragen Sie sich selbst: „Was weiß ich über klassische ukrainische Autor*innen?“
Sicherlich sind klassische russische Schriftsteller*innen wie Dostojewski, Tschechow und Tolstoi international bekannt. Aber nur sehr wenige Menschen in Europa oder einem anderen Teil der Welt können eine*n einzige*n ukrainische*n Schriftsteller*in des 18. oder 19. Jahrhunderts außer Mykola Gogol nennen. Diesem wird alles zugeschrieben, was die klassische russische Literatur ausmacht.
Viele russische Autor*innen, die sich einen Platz in den Reihen der Klassiker erarbeitet hatten, hatten ukrainische Wurzeln. Das ist nicht weiter wichtig, außer dass es auf einen Kontext hinweist, in dem Erfolg für jede*n Autor*in im russischen Reich bedeutete, nach St. Petersburg oder Moskau zu ziehen und auf Russisch zu schreiben. Zu der Zeit, als sie ihre Romane und Erzählungen schrieben, schrieben auch Dutzende von ukrainischen Autor*innen ihre Romane und Erzählungen in der Ukraine – auf Ukrainisch. Die Welt weiß so gut wie nichts über sie oder ihr Werk, obwohl sie in der Ukraine in Schulen und Universitäten besprochen werden, Romane und (Dokumentar-)Filme über sie geschrieben und gedreht werden.
Warum haben europäische Verlage die klassische ukrainische Literatur fast nie übersetzt oder veröffentlicht? Die Antwort ist einfach: Sie wussten nicht von ihrer Existenz. Sie glaubten, dass es auf dem Gebiet des Russischen Reiches und später auf dem Gebiet der UdSSR nichts Interessantes außer russischer Literatur gab.

Russland hat seine Kultur und seine Literatur stets gekonnt und beharrlich gefördert. Niemand bestreitet den Wert der Romane von Dostojewski und der Erzählungen von Tschechow – aber darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Literatur einer großen europäischen Nation in Europa nicht aus kulturellen, sondern aus geopolitischen Gründen unbekannt geblieben ist. Die Hauptbotschaft der russischen Politiker*innen in Bezug auf die Kultur war die Behauptung, dass in den riesigen Weiten des ehemaligen und heutigen Russischen Reiches den Leser*innen in aller Welt nichts Größeres als die russische Literatur geboten werden könne.
Die neue russische Aggression hat dazu geführt, dass die Welt die Ukraine mit Verspätung entdeckt hat. Erst jetzt erscheinen die Werke der ukrainischen Klassiker*innen – unter ihnen Lesya Ukrainka, Ivan Franko, Ivan Kotlyarevsky, Olga Kobylyanska, Mykola Khvylovy – in Übersetzungen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Sie erscheinen hauptsächlich in kleinen Auflagen, dank kleiner, unabhängiger Verlage. Es ist ein guter Anfang, besser als nichts, besser spät als nie … Trotzdem wäre es besser gewesen, dies wäre früher und vor allem ohne Krieg passiert.
Während Leser*innen weltweit versuchen, die Vergangenheit und Gegenwart der ukrainischen Literatur zu verstehen, verändert sich die Literatur erneut und versucht, sich an das Leben in Kriegszeiten anzupassen. Dieser Veränderungsprozess ist sehr schwierig, und ich muss zugeben, dass der Erfolg noch lückenhaft ist.
Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, begann sich die ukrainische Literatur sofort von der russischen durch ihre Romantik, ihren unpolitischen Charakter und ihre Liebe zur postmodernen Literatur zu unterscheiden. Der prominenteste ukrainische Postmodernist der frühen Nach-Unabhängigkeitszeit war der Romancier Juri Andruchowytsch, der mit seinem witzigen und bitteren Roman „Moscoviada“ in der ganzen Ukraine Wellen schlug. Er ist nach wie vor einer unserer bekanntesten Schriftsteller*innen – ein Vorreiter der neuen ukrainischen Literatur.
In den späten 90er Jahren erschienen in der Ukraine viele Romane über „Sex, Drugs und Rock’n‘Roll”. Die Autor*innen dieser Romane, unter ihnen die Schriftstellerin und Sängerin Irena Karpa, versammelten Hunderte von jungen Leser*innen bei ihren Lesungen. Es schien, als sei eine wunderbare neue Ära der Freiheit angebrochen.
Nachdem sie die Nische für diese Art von Literatur gefüllt hatten, zogen die ukrainischen Schriftsteller*innen weiter und begannen Anfang der 2000er Jahre, Liebesromane, historische Romane und Abenteuerromane zu schreiben.
Die Orange Revolution von 2004-2005 war das erste Ereignis, das die ukrainische Literatur zu politischen und sozialen Themen hinführte. Die Euromaidan Proteste von 2014 gaben den Anstoß zu einer fast vollständigen Politisierung der ukrainischen Literatur, die sie militant machte und endgültig von ihrer traditionellen Poetik und Romantik löste. Die Poesie, für die die ukrainische Literatur berühmt war – für diejenigen, die überhaupt etwas von ihr wussten –, blieb ein wichtiges Merkmal, obwohl sie bürgerlicher und weniger lyrisch wurde.
Seit der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbass hat sich sehr viel verändert, und die russische Aggression von 2022 hat die ukrainische Literatur schließlich völlig neu reformiert. Nicht nur das geschriebene Wort wurde verändert. Die ukrainischen Schriftsteller*innen und Dichter*innen formierten sich selbst neu, mehr als 30 von ihnen wurden getötet. Dies zwang die ukrainischen Leser*innen sofort dazu, die toten Autor*innen „wiederzubeleben”, indem sie sich bemühten, herauszufinden, wer sie waren, was sie schrieben und wofür sie standen. Dies führte zur Entdeckung einer ganzen Generation ukrainischer Schriftsteller*innen – Hunderte von Namen –, die in der Sowjetzeit unter Stalin unterdrückt und getötet worden waren. In den 1930er Jahren beschloss das kommunistische Regime, die ukrainische Kultur ausbluten zu lassen – sie war zu intelligent und zu unabhängig, auch wenn die meisten Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Dramatiker*innen jener Zeit der „richtigen” kommunistischen Ideologie anhingen.

© Concreative

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. Zuletzt erschien bei Haymon 2022 Andrej Kurkows Werk mit seinen Aufzeichnungen aus der Ukraine: „Tagebuch einer Invasion“ (aus dem Englischen von Rebecca DeWald), in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. In „Im täglichen Krieg“ (voraussichtlich 2024) schreibt Kurkow weiterhin gegen die Zerstörung an – und für die Zukunft der Ukraine.

Heute bitten Soldat*innen ihre Freund*innen, ihnen Bücher von Schriftsteller*innen dieser „hingerichteten Wiedergeburt“ zu schicken – ebendiese zerstörte Generation ukrainischer Autor*innen, deren Erwähnung zu Sowjetzeiten verboten war.
Neben Büchern hingerichteter Autor*innen fragen die Soldat*innen oft auch nach Büchern über die Geschichte der Ukraine und nach Büchern klassischer ukrainischer Schriftsteller*innen. Viele an der Front wollen die ukrainische Literatur früherer Epochen wiederentdecken, angefangen im 17. Jahrhundert mit Meletiy Smotrytsky, der auf Polnisch schrieb, und dem Philosophen, Schriftsteller und Dichter Grigory Skovoroda, der seine Werke auf Altukrainisch, Polnisch und Latein verfasste.
In überraschender Symmetrie entdecken Leser*innen weltweit die ukrainischen Klassiker gleichzeitig mit den ukrainischen Soldat*innen in den Schützengräben – Soldat*innen, die sich vor dem Krieg kaum für Literatur interessiert haben.
In der ukrainischen Literatur selbst tut sich unter dem Bombardement nicht viel. Es werden nur wenige Romane geschrieben. Die meisten Autor*innen sind zu Essays und Sachbüchern übergegangen oder haben ganz aufgehört zu schreiben und sind zu zivilen Aktivist*innen geworden.
Andriy Lyubka, ein Romanautor und Übersetzer von Balkanliteratur, begann gleich zu Beginn des Krieges, die ukrainischen Soldat*innen zu unterstützen. Er sammelt im Internet über Fundraising Spenden für den Kauf alter Jeeps und Pickups für die ukrainische Armee. Mit Gleichgesinnten reist er nach Europa, um die Fahrzeuge zu kaufen, sie durch den Zoll in die Ukraine zu transportieren und sie dann zusammen mit Freund*innen direkt an die Front zu fahren. Über seine Geschichte könnte ein Buch geschrieben werden. Vielleicht schreibt er es eines Tages selbst, aber jetzt hat er dafür keine Zeit. Seit dem 24. Februar 2022 hat er Millionen Griwna gesammelt und die Armee mit mehr als 200 Fahrzeugen versorgt.
„Während des Krieges ist es unmöglich, sich voll und ganz der Literatur zu widmen“, sagt Andriy Lyubka. „Aber gerade in diesen Monaten habe ich das Gefühl, dass die Menschen die Literatur mehr denn je brauchen. In der Ukraine besuchen heute so viele Menschen wie noch nie literarische Veranstaltungen und Vorträge. Sie brauchen diese Gelegenheiten, um sich im Raum umzusehen und Menschen zu sehen, um zu spüren, dass sie hier lebendig sind, dass sie nicht weglaufen oder aufgeben dürfen. Es ist eine Art Appell. Kürzlich traf ich mich mit Schriftstellerkolleg*innen auf dem Poesiefestival Meridian Czernowitz, das zum zweiten Mal seit der Invasion stattfand. Das Hauptthema unserer Gespräche war: Wie ist es möglich, dass die Auflage unserer Bücher im zweiten Jahr in Folge gestiegen ist, obwohl so viele Millionen Menschen das Land verlassen haben und so viele Druckereien und Buchläden bombardiert worden sind? Die Antwort ist einfach: Die Menschen brauchen Literatur in ukrainischer Sprache. Dies ist eine symbolische Art und Weise, ihre Zugehörigkeit zur ukrainischen Identität zu bekunden. Darüber hinaus kaufen viele Ukrainer*innen Bücher, um den Übergang vom Russischen zum Ukrainischen als Kommunikationssprache zu erleichtern. Dies ist ein Massenphänomen, und ein der Tat ist es ein großer Schock für uns alle“.
Vor dem Krieg hatten einige Leser*innen den Eindruck, dass Andriy Lyubka mit einem anderen ukrainischen Kultautor und Dichter, Serhiy Zhadan, um Popularität konkurrierte. Jetzt zeigt sich, dass die beiden auch in Sachen Fundraising im Wettbewerb zu stehen scheinen. Serhiy Zhadan unterstützt ebenfalls aktiv die ukrainische Armee und kauft Jeeps und Pickups für die Soldaten an der Front. Im Gegensatz zu Lyubka schreibt er weiterhin neue Gedichte und Prosa. Kürzlich sammelte der deutsche Verlag Suhrkamp Zhadans Facebook-Beiträge und veröffentlichte sie in Form eines Tagebuchs. Zhadan und seine Rockband „Zhadan and The Dogs“ reisen regelmäßig nach Europa und in die USA, wo sie Geld für die ukrainische Armee und ukrainische Flüchtlinge sammeln. Mit anderen Worten, er tut alles für den Sieg der Ukraine in diesem Krieg – genau wie Dutzende andere ukrainische Autor*innen, von denen nur sehr wenige gleichzeitig viel schreiben können. In der Geschichte der ukrainischen Literatur werden die Jahre 2022-2023 daher „mager“ sein.

Wird das literarische Leben in der Ukraine nach dem Krieg wieder an Fahrt aufnehmen? Ich denke ja. Aber es besteht die Gefahr, dass sich ein Großteil der neuen Literatur auf die russische Aggression konzentriert. Das bedeutet, dass wir das sowjetische Muster des „Siegeskults“ wiederholen würden, das in der UdSSR nach 1945 bestand. Damals ersetzten Bücher über den Krieg fast alle anderen Genres und dienten der patriotischen Erziehung der sowjetischen Jugend. Der Siegeskult des Zweiten Weltkriegs lebt in der russischen Kultur weiter und ist auch einer der Gründe für die aggressive Politik der Russischen Föderation. Heute lautet einer der beliebtesten russischen Slogans „Wir können es wieder schaffen“.
Dennoch bleibe ich optimistisch. Ich hoffe, dass die Liebesromane die Bücher über den Krieg am Ende besiegen oder zumindest dazu beitragen werden, ein Gleichgewicht und eine Harmonie in der ukrainischen Literatur zu schaffen, ohne die ein Vorankommen unmöglich ist.

Andrej Kurkow, im Herbst 2023

Dankesrede von Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis 2022

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow erhielt am 28. November 2022 den Geschwister-Scholl-Preis 2022 für sein „Tagebuch einer Invasion“. Das Buch sei zugleich als „eindringliche Chronik wie auch als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen, so die Jurybegründung. Die Auszeichnung wird jährlich an ein Buch verliehen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern.

Der Preis wird vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München vergeben.

Hier die berührende Dankesrede von Andrej Kurkow im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, den Sophie- und Hans-Scholl-Preis zu erhalten. Ich bin den Mitgliedern der Jury für diese Entscheidung dankbar und nehme diese Auszeichnung an, im Bewusstsein der großen Verantwortung für mein weiteres Handeln.

Wenn Sie heute Abend von oben aus dem Kosmos auf Europa blicken, werden Sie sehen, dass Europa hell erleuchtet ist. Aber es gibt auch einen dunklen, unbeleuchteten Flecken auf seinem Territorium. Das ist die Ukraine. Die Ukraine ist aber kein schwarzes Loch in Europa. Die Ukraine lebt heute wegen der russischen Aggression in Dunkelheit und Kälte. In den meisten ukrainischen Haushalten werden jetzt Kerzen statt Glühbirnen angezündet. Statt fernzusehen oder Radio zu hören, sitzen die Ukrainer jetzt an ihren Küchentischen. Sie trinken Tee und reden über die Zukunft.

Ja, in der Ost- und Südukraine finden schwere Kämpfe statt. Russische Truppen bereiten einen erneuten Versuch vor, Kyjiw von Belarus aus anzugreifen. Das Ende dieses Krieges ist vielleicht noch weit weg, aber viele Ukrainer sind bereits in Gedanken mit Plänen für die Zukunft beschäftigt. Und all diese Pläne beziehen sich auf den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Städte und Dörfer, die Wiederherstellung zerstörter Museen, Universitäten, Schulen und Kirchen.

Übrigens brennen jetzt in vielen ukrainischen Haushalten auch Kirchenkerzen. Aber nicht etwa vor Ikonen wie in Kirchen. Wenn einem Dorfladen die gewöhnlichen Kerzen ausgehen, gehen die Ukrainer nicht nur in die Kirche, um für Siege und für ihre Familien zu beten, sondern auch, um von dort Kerzen nach Hause zu bringen.

Leider wiederholt sich die Geschichte viel zu oft. Im Januar 1918 griff der General der Roten Armee, Michail Murawjow, Kyjiw an, die Hauptstadt der damals schon unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik. Er marschierte 1918 auch von Nordosten auf Kyjiw – so wie Putins Armee am 24. Februar dieses Jahres. Am 10. Oktober dieses Jahres feuerte Russland Raketen auf die Straßen des historischen Zentrums von Kyjiw, einschließlich der Wolodymyrska-Straße. Dieselben Straßen wurden im Januar 1918 vom bolschewistischen General Murawjow mit Kanonen beschossen, bevor er die Stadt stürmte. Nach der Eroberung Kyjiws durch die Bolschewiki gab General Murawjow die Stadt zur Plünderung frei, er erlaubte den Soldaten die Bevölkerung Kyjiws zu töten und auszuplündern [mit der Begründung, es handle sich um ukrainische Nationalisten!]. Die Gewalt von damals kann nur mit der Gewalt verglichen werden, die die Bewohner der Städte Bucha, Irpin, Hostomel und Worzel im Februar/März dieses Jahres ertragen mussten. Es sind diese Vororte in der Nähe von Kyjiw, die zu Symbolen des russischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine geworden sind. Dort werden noch immer Bürger der Ukraine gefunden, die von russischen Soldaten gefoltert und erschossen wurden. Dort, in Bucha, wurde Oleksandr Kisljuk, Professor an der Pädagogischen Universität Drahomanov und Übersetzer aus dem Altgriechischen, vor seinem Haus erschossen. Die Werke von Aristoteles in seiner Übersetzung ins Ukrainische werden immer noch in ukrainischen Buchhandlungen verkauft, zusammen mit Büchern anderer Autoren, die in diesem Krieg getötet wurden, wie Ilya Chernilewskyj, Ewgen Bal, Wolodymyr Wakulenko und drei Dutzend anderer ukrainischer Dichter und Schriftsteller.

Aber trotz der Opfer in diesem Krieg planen die Ukrainer weiterhin die Zukunft ihres Landes. Eines der bereits in Umsetzung befindlichen Projekte ist die Restaurierung des alten Gebäudes der Tschernihiwer Regionalbibliothek für Jugend, das von russischer Artillerie zerstört wurde. Dieses Gebäude überlebte den Krieg von 1918-1921, es überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber nicht die russische Aggression von 2022. Freunde der Bibliothek wollten anfangen, Geld für die Restaurierung der Bibliothek zu sammeln, aber dann entschieden sie, dass es jetzt wichtiger sei, die Armee mit Spenden zu unterstützen. Aber sie begannen, Bücher für die Bibliothek von Tschernihiw zu sammeln, und wenn das Gebäude nach dem Krieg restauriert wird, wird die Bibliothek neue ukrainische Bücher anstelle der verbrannten Bücher bekommen. Das gilt nicht nur für die Bibliothek von Tschernihiw, sondern auch für viele andere von der russischen Armee zerstörte Bibliotheken.

Auf dem Rückzug aus der Region Cherson plünderten russische Truppen und die Besatzungsverwaltung lokale Museen und nahmen mehr als 15.000 Gemälde und andere Artefakte mit. Aus Cherson wurden alle Archive, einschließlich der historischen, gestohlen. Russland will die Geschichte der Ukraine stehlen und zerstören. Aber das wird sie nicht können. Die Geschichte der Ukraine gehört der Ukraine.

Die Ukraine kennt und schätzt ihre Geschichte. Die Ukraine bewahrt ihr historisches Gedächtnis. Und nur eines kann bei den Ukrainern wie bei den Einwohnern jedes anderen demokratischen Landes Bedauern hervorrufen: dass sich die Geschichte wiederholt. Dass Putin glaubt, das Ergebnis des bolschewistischen Generals Murawjow wiederholen und Kyjiw erobern zu können, ist sein persönlicher Irrglaube. Die Tatsache, dass sein Wunsch, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören, von der großen Mehrheit der russischen Bürger unterstützt wird, ist eine russische Entscheidung und russische Verantwortung. Eines Tages werden ihre Kinder und Enkel das verstehen und für ihre Sünden büßen, aber heute stehen die Russen auf der Seite des Bösen, auf der Seite von Gewalt und Aggression.

Aber die Ukrainer sind heute anders als 1918. Die Ukrainer sind heute bereit, die Unabhängigkeit ihres Landes zu verteidigen, und tun dies erfolgreich. Auch während der Okkupation.

Während der gesamten 9 Monate der Besetzung Chersons operierte in der Stadt die patriotische Untergrundorganisation „Gelbes Band“, deren Mitglieder jeden Tag patriotische Flugblätter und Plakate in der Stadt aufhängten. Sie haben unter hohem persönlichem Risiko russische Fahnen abgehängt und ukrainische aufgehängt. Unter den Aktivistinnen dieser Organisation sind viele Frauen. Eine von ihnen, die 50-jährige Swetlana, erzählte nach der Befreiung der Stadt, dass sie das Haus während der Besetzung nie ohne ein gelb-blaues Band in der Tasche oder versteckt in ihrer Kleidung verlassen habe. Während der Besetzung verbrannte das „Gelbe Band“ Auflagen russischer Propagandazeitungen und zerstörte Bestände an SIM-Karten für Mobiltelefone, die aus Russland mitgebracht worden waren. Sie führten sogar illegale Importe von Sprühdosen mit Graffiti-Farbe durch, und nachts bemalten Cherson-Teenager die Wände von Häusern mit der Erinnerung, dass Cherson Teil der Ukraine ist. All dies geschah während der vollständigen Informationsblockade der Stadt, als es nicht möglich war, mit dem freien Territorium der Ukraine zu kommunizieren. Und das zu einem Zeitpunkt als die russischen Invasoren ständig und immerzu wiederholten: „Die Ukraine hat dich vergessen. Russland wird für immer hier sein!“

Am meisten beeindruckten mich die Flugblätter des Gelben Bandes, auf denen ein einzelner Buchstabe „Ї“ abgebildet war, ein Buchstabe, der zum Symbol des Widerstands wurde, ein Buchstabe, der die Besatzer wütend machte, in Rage brachte. Er wurde auf Wände und auf Säulen gemalt. Der Buchstabe „Ji“ ist ebenso zu einem Symbol des Widerstands geworden wie die gelb-blauen Bänder, die die Bewohner Chersons abends heimlich an Äste banden.

Die Verleihung dieses Ehrenpreises hat mich in die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs zurückversetzt. Sophie und Hans Scholl und ihre Mitstreiter liebten ihr Land, liebten Deutschland und wollten das Beste für ihre Heimat. Sie wollten in einem anderen Deutschland leben, ohne Antisemitismus, ohne Nazi-Ideologie. Sie hatten die Wahl zwischen Konformismus und dem Kampf für ein anderes, demokratisches, vor allem freies Deutschland. Sie entschieden sich für den Kampf. Mit friedlichen Mitteln versuchten sie, die deutsche Gesellschaft mit Worten zu erreichen.

„Man darf nicht nur dagegen sein, man muss etwas tun,“ sagte Sophie Scholl.

Die Ukrainer lernen heute zu gewinnen. Sie kennen den Preis, der für die Freiheit und eine glückliche Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu zahlen ist. Sie lernen, dem Bösen und Unrecht zu widerstehen, unter anderem von der Weißen Rose, von Sophie und Hans Scholl und ihren Gleichgesinnten.

„Die Sonne scheint noch,“ sagte Sophie Scholl vor ihrem Tod.

Die Sonne scheint immer noch und wird immer scheinen. Auch im Dunkeln. Sonne der Hoffnung. Die Sonne, die täglich die Dunkelheit besiegt.

Das Engagement und die Aufopferungsbereitschaft von Hans und Sophie Scholl, 80 Jahre nach ihrem Tod, ist ein Beispiel für staatsbürgerliche Verantwortung. Ihr Kampf und ihr Schicksal werden zukünftige Generationen immer inspirieren.

Ja, die Geschichte wiederholt sich. Aber sie wird sich auf beiden Seiten der Front wiederholen. Und wenn eine Seite das alte Böse wiederholt, dann wiederholt sich auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen dieses Böse. Und am Ende besiegt stets das Gute das Böse, so wie die Sonne immer die Dunkelheit besiegt.

 

Herzlichen Glückwunsch, Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis!

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt

Magdalena Baran-Szołtys ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte Germanistik und Slawistik an der Universität Wien, der Jagiellonen-Universität in Krakau und der Universität Breslau und forscht seit März 2021 zu ihrem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation – Transformations- und Ungleichheitsnarrative im postsozialistischen Polen“. In unserem Beitrag erzählt sie uns, wie wichtig Literatur für die Erinnerungskultur ist und welche Transformation die Ukraine durchläuft.


© Pamela Rußmann

In deinen Forschungen beschäftigst du dich mit der Beziehung zwischen Literatur und Politik. Wie hängt dies für dich, gerade in Hinblick auf die derzeitige Situation in der Ukraine, zusammen?

Ganz grundsätzlich gilt, dass es keine Literatur ohne Politik gibt, denn Politik bestimmt die Welt, in der wir leben, in der Literatur entsteht und von der sie erzählt. Das ist ein Gemeinplatz, grundsätzlich ist es aber gut, sich das vor Augen zu halten, vor allem in Anbetracht von Künstler*innen und Bürger*innen, die meinen, „neutral“ oder „politisch nicht interessiert“ zu sein oder sich von der Politik abschirmen wollen.

Literatur und Kunst entstehen nicht im luftleeren Raum und ihr Wert besteht im Spiegeln der Realität, im Aufbrechen von Vorstellungen und Imaginieren von Möglichkeiten. Das ist der gesellschaftliche Sinn von Kultur, weit mehr als nur Unterhaltung ist sie der Ort für unsere Ängste und legt den Finger in unsere Wunden. Sie lässt uns Angst und Trauer artikulieren und macht diese zugänglich.

Literatur tröstet uns, gestaltet unsere Deutung der Welt und nimmt damit Einfluss auf unser Handeln sowie den öffentlichen Diskurs.

 

Besonders in Zeiten von großen Erschütterungen wie dem Krieg sind diese Funktionen wichtig. In Krisen ist sinnstiftendes Erzählen essenziell, denn es animiert zum Verstehen und Weitermachen, zum Kämpfen. Wir können uns in ihren Utopien und Dystopien verlieren und lassen uns von ihnen gleichzeitig den Weg weisen.

In der Ukraine sieht man das gerade besonders gut. Schriftsteller*innen sind hier im Kampfmodus. Manche sind an der Front im Einsatz, andere unterstützen die Armen und alle schreiben gegen den Krieg an. Ihre neuesten vom Krieg handelnden Werke sind nicht nur eine Quelle der Dokumentation, sondern vor allem auch eine Quelle der Hoffnung für die ukrainische Bevölkerung. Im Zentrum dieser Werke stehen die Freiheit und der Sinn des Überlebens, des Kämpfens. Dies motiviert, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen. Die Sachen klar zu benennen und zu sehen. Das ist ein politischer Akt.

Ukrainische Kulturschaffende sind zudem die Sprachrohre der Ukraine im Ausland, mit einer klaren diplomatischen Agenda. Durch ukrainische Literatur lernt das Ausland die Ukraine kennen und wird zum Verbündeten. Autor*innen als Intellektuelle sind mit ihren Büchern, Texten und Auftritten die Botschafter*innen des Landes. Das ist ein nicht zu unterschätzendes, politisch sehr einflussreiches Kapital.

Welche Bedeutung hat Kriegsliteratur für die Geschichtsschreibung?

Zunächst muss hier zwischen zwei Sachen unterschieden werden: der Geschichtsschreibung in einem wissenschaftlichen Sinne als Geschichtswissenschaft und der Geschichtsschreibung in einem gesellschaftlichen, viel breiteren Sinne als Gedächtnispolitik bzw. Erinnerungskultur, also der Umgang der Gesellschaft mit der Erinnerung allgemein. Beide bestimmen, was ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und woran überhaupt erinnert wird. Wir haben es mit Politiken der Erinnerung zu tun. Vieles wird bewusst oder unbewusst vergessen. Den unerzählten Teil der Geschichte muss man mitdenken, denn viele Stimmen bleiben stumm.

In der Erinnerungskultur hat Literatur einen fixen Platz, weil der*die Rezipient*in zu ihr eine emotionale Verbindung herstellt. Während uns Daten oft unberührt lassen, können wir mit literarischen Figuren empathisch sein, mit ihnen mitleiden. Botschaften kommen so besser an und bleiben in unserer Erinnerung, weil sie uns berühren. So kann man uns leichter überzeugen. Nicht zu unterschätzen ist, dass unsere Vorstellung von historischen Ereignissen und Zeiten oft auf Kunst, Literatur oder Film zurückgeht. Oft verbinden wir Geschichte im Kopf unmittelbar mit Bildern, die aus der Kultur kommen. Wenn ich an die Französische Revolution denke, habe ich unmittelbar das Gemälde von Eugène Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ vor Augen. Beim Ersten Weltkrieg denke ich an „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Diese Vorstellungen müssen nicht unbedingt viel mit den historischen Abläufen zu tun haben, aber sie bestimmen unsere Erinnerung daran. Das ist ihre große Wirkmacht. So spielen gegenwärtig die literarischen Texte über die Ukraine eine ausschlaggebende Rolle – sie erinnern uns an den Krieg, geben uns Einblicke und wecken unser Mitgefühl. Gleichzeitig werden sie als Dokumente in die Geschichtsschreibung eingehen und unsere Vorstellung von diesem Krieg prägen.

In deinem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation“ beschäftigst du dich mit Transformation und Ungleichheit. Wie siehst du diese zwei Punkte in der Ukraine? Welche Entwicklungen gibt es?

Für die postsozialistischen und -sowjetischen Länder Ostmitteleuropas ist dieses Thema bestimmend. Diese Länder, u.a. eben die Ukraine wurden auch nach 1989 bzw. 1991, dem Jahr der Wende bzw. des Zerfalls der Sowjetunion, vom Westen und Russland nie als ebenbürtig angesehen, sondern als Objekte ihrer eigenen Wirtschaft, Politik und Kultur. Das fühlten auch die Betroffenen und wussten, dass sie aus einer unterlegenen Position agieren. Das russische Volk und ukrainische Volk wurden seit Jahrhunderten als Brudervölker bezeichnet, wobei die Russen sich in der Rolle des großen Bruders sehen. Der Westen sah sich wiederum gegenüber den postsozialistischen Ländern als Erzieher in Sachen Kapitalismus, Konsumtionismus und Demokratie und investierte viel Geld in diese Staaten. Dazu kommt der Antislawismus, ein Rassismus gegenüber den slawischen Völkern, der im Westen immer noch weit verbreitet ist. Die Konsequenzen dieser historischen Entwicklungen sehen wir heute.

Die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus vergrößerte überdies die sozioökonomische Ungleichheit in der Bevölkerung. Es gab zahlreiche Menschen, die ihr Vermögen und ihre Freiheit vergrößern konnten, doch für eine größere Anzahl war es eine sozioökonomische Katastrophe, auch in der Ukraine. Die sozialistischen Länder wiesen weltweit ein sehr niedriges Niveau der Ungleichheit auf. Der Staat versorgte seine Bürger*innen mit dem Wichtigsten: Wohnen, Essen, Bildung etc. Doch musste man auf viele Freiheiten wie Reisen oder vollständige Meinungsfreiheit verzichten. Das Problem vieler ehemals sozialistischen Länder, einschließlich vieler der Erfolgsbeispiele wie Polen, besteht darin, dass die Profite der Transformation so ungleich verteilt sind, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Veränderungen in dieser Form nicht mehr unterstützt.

In der Ukraine war die Situation noch dramatischer: Sie ist eines der sechs postsozialistischen Länder, deren Bruttoinlandsprodukt 2016 unter dem von 1989 lag. Nicht einmal das Kapital, das ungleich verteilt werden könnte, war hier groß. Dazu kommen Probleme wie die Korruption. Die Lage ist deshalb besonders schwierig, da die Ukraine zwischen Ost und West gefangen ist, somit aus geopolitischen Gründen nicht in die NATO oder EU aufgenommen wurde, gleichzeitig aber aufgrund der Geschichte verständlicherweise mehrheitlich keine gemeinsame Politik und Wirtschaft mit Russland mehr haben wollte. Das war eine Pattsituation.

Gibt es etwas, das du den Leser*innen noch mitgeben möchtest?

Nicht aufzugeben, an seine Ideale zu glauben und sich davon in seinem Lebensweg leiten und von der Literatur unterstützen zu lassen. Dies gilt in Zeiten des Friedens wie des Krieges. Wir dürfen nicht auf unsere Werte vergessen, auch wenn es scheint, dass wir dafür einen hohen Preis bezahlen könnten.

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt.

 

Und auch in schwierigen Zeiten gibt es immer etwas, was wir lieben können – unser Leben und die Literatur: „Ich liebe alles, was mir geschenkt ist, ich muss es einfach teilen. Ich muss einfach über die Freude und Bitterkeit, über die Sorge und Melancholie reden. Dazu habe ich tausend Bücher, die ich lesen soll, dazu habe ich das Schreiben.“ Literatur ist und bleibt. Wie diese von Zhadan.

„Der Krieg verändert alles. Er verändert die Politik. Er verändert Leben. Er verändert Menschen.“

Kateryna Malko ist Managing Editor beim in Kyjiw ansässigen Verlag Laboratorija. Am 15. Juni 2022 hielt sie im Rahmen des Young Publishing Professionals Programms in Brüssel eine eindringliche Rede: Sie erzählte von den Umständen, unter denen Verlage seit Beginn des Krieges arbeiten, davon, wie der Krieg alles verändert, wie der Schock dem Wunsch und der Notwendigkeit weicht, etwas zu bewegen. Wie die Menschen zusammenhalten. Kateryna Malko macht bewusst: Um Dinge zum Besseren zu verändern, müssen wir mit vereinter Kraft zusammenarbeiten, müssen wir ukrainische Stimmen hörbar machen.

Kateryna Malko ist Managing Editor beim ukrainischen Verlag Laboratorija.
© Laboratory Office

Liebe Europäer*innen, liebe Kolleg*innen,

zunächst einmal vielen Dank, dass Sie uns zusammengebracht haben. Ich bin wirklich dankbar, dass ich heute hier sein und meine Geschichte mit Ihnen teilen kann. Ich bin aus der Ukraine hierher gekommen. Und ich muss sagen, es war keine einfache Reise. Ich brauchte zwei Tage, um von meinem kleinen Dorf in der Zentralukraine nach Brüssel zu reisen. Und Sie kennen den Grund dafür.

Vor 112 Tagen hat Russland einen brutalen und unprovozierten ausgewachsenen Krieg gegen mein Land begonnen. Aber in Wirklichkeit fing dieser Krieg nicht im Februar an. Er begann vor acht Jahren nach der Annexion der Krim, als Russlands Armee in den Osten der Ukraine einmarschierte. Und schon damals hat er das Leben von Millionen Menschen verändert. Zu dieser Zeit war ich 16 Jahre alt. Und ich erinnere mich sehr genau, dass sogar mein klitzekleines Dorf Flüchtlinge aus dem Donbas aufgenommen hat.

Dennoch haben die meisten Menschen und ich selbst diesen Krieg hauptsächlich im Fernsehen gesehen, in den Nachrichten, und natürlich haben wir in Büchern darüber gelesen. Aber am 24. Februar hat sich für uns alle alles geändert.

Die Russen begannen, mein Land zu bombardieren, während alle noch schliefen, genau wie Hitler es getan hat. Ich wurde an diesem Tag um 6 Uhr morgens von den Explosionen in Kyjiw geweckt. Ich überprüfte mein Handy und sah Dutzende von Nachrichten meiner Freund*innen und Kolleg*innen. „Russland ist einmarschiert. Geh heute nicht zur Arbeit. Kauf dir etwas zum Essen, Wasser und Medizin“.

Die russische Armee griff friedliche Dörfer und Städte in der Ukraine an. Putin behauptete, es handle sich um eine „militärische Spezialoperation“, die ausgerufen worden sei, um Menschen zu „retten“ – so wie Stalin 1939 Polen „rettete“.

Dieser Krieg hat alle in eine Situation gebracht, in der niemand vorhersagen konnte, wie man sich verhalten würde. Ich selbst habe ein riesiges Messer gekauft und mir vorgestellt, mit den Russen zu kämpfen. Gut für sie, dass ich nie die Gelegenheit hatte, es zu benutzen. Ich scherze natürlich, aber einer Sache bin ich mir sicher: Damals gab es viele Ukrainer*innen, denen es genauso ging wie mir. Sie waren bereit, mit allen möglichen Mitteln für ihr Leben, für ihre Familien, für ihr Land zu kämpfen.

Der Krieg verändert alles. Er verändert die Politik. Er verändert Leben. Er verändert Menschen.

Vor der Invasion hätte ich mir nicht vorstellen können, wie stark die Menschen in meiner Nähe sind. Einige von ihnen schlossen sich den ukrainischen Streitkräften an, andere lokalen Verteidigungseinheiten, einige wurden Freiwillige, kämpften an der Informations- oder IT-Front, andere boten unbekannten Menschen Schutz oder kochten Essen für Flüchtlinge. Ich habe noch nie zuvor eine solche Einheit in meinem Land gespürt.

„Das Wichtigste für uns ist, das Team zu retten“, sagte der CEO unseres Verlags Laboratorija, Anton Martynov, den ich für eine wahre Führungspersönlichkeit halte. „Wir als Unternehmen sollten diesen Krieg gemeinsam überstehen. Ich brauche jeden von euch“, sagte er.

Mit Beginn der russischen Invasion wurde Anton ein Soldat der lokalen Verteidigungseinheit und verteidigte seitdem unsere Hauptstadt mit der sowjetischen Kalaschnikow. Hatte Anton etwas Freizeit, schrieb er anstelle unserer Social-Media-Managerin Iryna Yurtschenko Posts, wenn Iryna aufgrund des ununterbrochenen Luftalarms ihren Luftschutzbunker keine Minute verlassen konnte.

Unser Bookscout Zina Bakumenko und ihre vierjährige Tochter sind wie durch ein Wunder aus Charkiw entkommen, das damals fast ununterbrochen beschossen wurde.

Unser Übersetzer und Lektor Mykola Klymtschuk hat Dutzenden von Menschen, die aus Städten wie Charkiw, Tschernihiw, Sumy und Mariupol geflohen sind, eine Möglichkeit zur Übernachtung angeboten. Dies sind meist russischsprachige Städte, die gnadenlos mit russischen Bomben zerstört wurden.

Ich habe ein paar Tage in der nächstgelegenen U-Bahn-Station verbracht, nachdem eine russische Rakete das Nachbarhaus getroffen und dort lebende Menschen getötet hat.

Erst gestern haben mein Team und ich die Liste der Bücher besprochen, die wir auf dem Book Arsenal-Festival – der größten jährlichen Buchmesse in der Ukraine – präsentieren werden. Wir hatten eigentlich geplant, bis dahin sieben weitere Bücher zu veröffentlichen. Alle waren so aufgeregt. Aber der Krieg hat alles verändert.

„Das Wichtigste ist, das Team zu retten.“ – Diese Worte haben uns inspiriert. Sie haben uns so inspiriert, wie es unsere Armee jeden Tag tut, indem sie mutig unser Land verteidigt und die russischen Truppen zurückschlägt.

Vor knapp vier Monaten hat sich in der Ukraine eine neue Sprache der Liebe entwickelt. Statt „Ich denke an dich“, „Du bist mir wichtig“ oder „Ich liebe dich“ sagen wir jetzt „Wie geht es dir?“, „Wie fühlst du dich?“, „Bist du in Sicherheit?“.

Meine Kolleg*innen leben in verschiedenen Städten und Dörfern der Ukraine. Nach der Invasion beschlossen wir, uns jeden Morgen kurze Nachrichten zu schreiben, um festzustellen, dass alle in Sicherheit und am Leben waren.

„Es geht mir gut. Letzte Nacht habe ich mit meinem Mann und meinem Sohn in einem Luftschutzbunker geschlafen. Ich habe Todesangst um ihn, aber es geht ihm gut. Er darf sein Lieblingsvideospiel spielen.“ Oder:

„Es geht mir gut. Ich habe letzte Nacht einige Explosionen gehört. Man sagt, es sei unsere Flugabwehr.“ Oder:

„Die Russen sind hier. Ich habe ihre Panzer gesehen. Ich könnte bald die Internetverbindung verlieren.“

 

Die letzte Nachricht stammt von unserer Buchdesignerin Olena Bilochwost, die einen Monat lang unter russischer Okkupation lebte. Es war die letzte Nachricht, die sie uns schickte, bevor wir wirklich die Verbindung zu ihr verloren.

Dank der ukrainischen Armee wurde ihr Dorf in der Nähe von Bucha am 30. März geräumt. Ihre Scheune und der Hof wurden von russischen Granaten getroffen, als sie sich im Keller versteckte. Aber sie lebte und war glücklicher als je zuvor, nachdem ukrainische Soldaten ihr Dorf betreten hatten.

Sicher, unter solchen Umständen konnten wir unsere Arbeit nicht fortsetzen. Als Managing Editor habe ich mit unseren Freelancern gesprochen – Übersetzer*innen, Lektor*innen, Korrektor*innen. Ich sagte: „Vergessen Sie die Deadlines. Kümmern Sie sich um sich und Ihre Familien. Stellen Sie sicher, dass Sie in Sicherheit sind. Erst dann macht es Sinn, die Arbeit wieder aufzunehmen.“

Ich persönlich konnte in den ersten ein oder zwei Kriegsmonaten kein Buch in den Händen halten. Und ich habe das gleiche von fast allen gehört. Damals konnte niemand Bücher lesen. Nur unaufhaltsames Doomscrolling.

Und trotzdem haben einige Leute Bilder von Büchern gepostet, die sie in die Luftschutzbunker gebracht hatten. Viele Bücher unseres Verlags waren darunter – „Coffeeland“ von Augustine Sedgewick, „Die Dopamin-Nation“ von Anna Lembke, „Hitler und Stalin“ von Laurence Rees.

Die Leute hörten auf, neue Bücher zu kaufen. Im März gingen die Verkäufe auf unserer Website um 90 Prozent zurück, was zu einem dreifachen Rückgang der Gehälter führte. Nun geht es vielen Verlagen in der Ukraine nicht mehr um den Profit. Es geht ums Überleben. Als wir nach langen Kriegstagen unsere erste Bestellung bekamen, konnten wir es kaum glauben. Fünf Bücher! Jemand hat gerade fünf Bücher auf einmal gekauft.

Nachdem wir uns vom ersten Schock erholt hatten, beschlossen wir, das zu tun, was wir als Team am besten können – neue Bücher zu veröffentlichen. Die meisten unserer alten Projekte wurden pausiert und die Arbeit an ihnen erst nach einem Monat wieder aufgenommen. Es war uns wichtig, nicht alles zu verlieren, woran wir in den letzten Jahren gearbeitet hatten.

Und dieser Krieg hat uns dazu gedrängt, etwas zu tun, von dem wir zuvor nur geträumt hatten. Als Verlag, der sich auf die Veröffentlichung ausländischer Sachbücher spezialisiert hat, haben wir schließlich einen offenen Aufruf an ukrainische Autor*innen gerichtet, um neue Stimmen in der ukrainischen Literatur zu finden – sowohl in der Belletristik als auch in der Sachliteratur. Der Fokus würde auf der Berichterstattung über den Krieg und die tektonischen Verschiebungen liegen, die er in unserer Gesellschaft verursacht hatte.

Wir wollen der Welt unsere eigene Geschichte dieses Krieges erzählen. Die Geschichte der Wahrheit. Wir wollen mit ausländischen Verlagen zusammenarbeiten, die ihren Leser*innen die Wahrheit über den Russisch-Ukrainischen Krieg zugänglich machen möchten, egal wie hart und brutal sie auch ist. Wir sind bereit, Anpassungen für ausländische Leser*innen vorzunehmen, damit sie den Kontext besser verstehen.

Denn: In diesen Zeiten kämpft unser kleines Team für die ukrainische Kultur und für die ukrainische Geschichte, die in Büchern erzählt werden muss. Während unsere Armee für Hunderttausende kleiner Teams wie das unsere kämpft.

Der Krieg verändert alles. Er verändert Menschen. Aber die Menschen können immer noch alles ändern.