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Warum wir uns mit dem eigenen Sterben nicht gerne beschäftigen wollen, es aber trotzdem unbedingt tun sollen! – ein Interview mit Fabian Neidhardt

David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam erwachsen geworden und haben jung geheiratet. Als Katha plötzlich bei einem Autounfall ums Leben kommt, steht Davids Welt still. Tag für Tag schleppt er sich an den Friedhof und fragt sich: Wie geht Trauern eigentlich? Er trifft dort auf Marie, die Tochter des Totengräbers, die nur zu gut weiß, dass niemand zu viel Zeit hier verbringen sollte. Wo endet Trauern, wo beginnt loslassen? Wir haben mit Fabian Neidhardt über seinen neuen Roman „Endlosschleifentage“  gesprochen und warum es so wichtig ist, dass wir uns auch mit dem Ende des Lebens beschäftigen: 

Bereits zum zweiten Mal hast du ein wunderschönes Buch geschrieben, das sich mit den Themen „Trauer“ und „Abschied“ beschäftigt. Gibt es einen Grund, warum dich diese Themen so bewegen?

Themen wie Trauer, Tod und Sterben, das sind Themen, die uns alle einmal betreffen. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft ist es nun mal so, dass wir alle einmal sterben werden. Und wir lernen in unserem Leben mehr als genug Menschen lieben und  kennen, die halt auch alle einmal sterben. Trotzdem gehört das Sterben zu den Themen, über die wir viel zu wenig reden und ich wünsche mir, dass wir es Menschen einfacher machen können in ihrer Trauer, in ihrem Umgang mit Krebs, mit dem Tod, mit Krankheit. Ich merke, dass mich diese Themen selbst ganz stark interessieren und beschäftigen, und ich erzähle deshalb Geschichten, die sich damit eben auseinandersetzen. Wenn ich mit Menschen darüber spreche, merke ich, dass ich damit ganz offensichtlich nicht allein bin.

Kannst du etwas zur Entstehungsgeschichte dieses Buches sagen, wie bist du zum Thema dieses Buches gekommen?

2010 ist meine Oma gestorben. Sie war sehr viele Jahrzehnte mit meinem Opa zusammen und relativ kurz nach dem Tod meiner Oma ist mein Opa mit einer neuen Frau zusammengekommen. Für ganz viele Leute in meiner Familie war das ganz komisch. Es gab Leute, die haben sich darüber gefreut, dass er, als damals Mitte/Ende 70-jähriger, nicht allein seinen Lebensabend verbringen muss, und andererseits gab es Leute, die enttäuscht und  verletzt waren und auch an der Liebe meines Großvaters zu meiner Großmutter gezweifelt haben. Ich fand das unglaublich spannend, wie unterschiedlich Menschen darauf reagieren und auch wie offensichtlich so ein unausgesprochenes Regelwerk von „Wie trauert man richtig?“ und „Was bedeutet Trauern?” zu existieren scheint. Ab da ging es los, dass ich mich gefragt habe: Muss das so sein und schränkt das nicht auch ganz viele Leute in ihrer Trauer ein, wenn es ganz viel gefühlten Zwang gibt und Regeln und wie könnten wir vielleicht Trauer auch anders sehen und irgendwie anders öffnen und dann habe ich mich damit auseinandergesetzt über viele Jahre mittlerweile, habe zwei andere Bücher geschrieben und jetzt auch das, hab ein Praktikum in einem Bestattungsinstitut gemacht und ganz viel darüber gelernt und habe hoffentlich ganz viel davon in dieses Buch fließen lassen.

Spricht man übers Sterben, sind die meisten Menschen erstmal betroffen und möchten sich gar nicht so wirklich damit auseinandersetzen. Glaubst du, ist es die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, die diese Hemmung verursacht und warum ist die Auseinandersetzung damit dennoch wichtig?

Ich glaube diese letzte Deadline, dieses „der eigene Tod“, das macht natürlich etwas mit uns. Das fühlt sich erstmal absolut an, ganz egal, ob jemand daran glaubt, wie oder ob es danach weitergeht. Es ist ein krasser Einschnitt im Leben, wortwörtlich der letzte große Einschnitt. Ich kann total verstehen, dass das unangenehm ist, gleichzeitig glaube ich aber, dass es total sinnvoll ist sich damit auseinander zu setzen, vor allem mit dem eigenen Sterben. Nicht im Sinne davon, dass man das glorifizieren muss, aber uns ist ja allen klar, dass dies passieren wird, und vielleicht gibt es aber Dinge, die vorher passieren sollen. Wie bei jeder Deadline haben Menschen die Tendenzen, Dinge vor sich herzuschieben, aber ich behaupte, diese letzte Deadline, von der wir alle nicht wissen, wann sie kommt, eröffnet Fragen: Was möchtest du noch Leuten gesagt haben? Wie möchtest du den Leuten in Erinnerung bleiben? Aber auch, wie möchtest du, dass mit dir umgegangen wird, wenn du gestorben bist? Wie möchtest du beerdigt werden? Möchtest du verbrannt werden? Wie bunt dürfen die Klamotten sein, die auf deiner Beerdigung getragen werden? Für all diese Sachen sollten wir dann doch am besten den Mut finden, dass wir sie vorher besprechen.

David hat nach dem Tod von Katha manchmal das Gefühl, dass er es nur falsch machen kann: sowohl das Weiterleben im Hier & Jetzt, als auch das Trauern, das sich wie Stillstand anfühlt. Was ihm hilft, ist die Musik. Hast auch du Lieder, die dich bewegen und berühren? Welche sind das?

Ich selbst spiele tatsächlich kein Instrument. Aber klar gibt es Musik, die mich regelmäßig neu berührt, die mich tröstet und die mich auch in ganz unterschiedliche Stimmungen bringt. Eines der Lieder, das mich auf jeden Fall einen großen Teil meines Lebens schon begleitet ist „first day of my life“ von Bright Eyes. Diesen Song hat mir meine Cousine vor mehr als zwanzig Jahren gezeigt. Ein großartiges Lied, das mich jedes Mal wieder aufs Neue sehr berührt. Oder „proof“ von I am Kloot. Aber es gibt fast jährlich einen Song, den ich irgendwo zufällig höre und von dem ich merke, boah krass, auf irgendeine Art berührt er mich, tröstet, erfreut mich oder bringt mich in irgendeine Stimmung, die ich gerade brauche. Es gibt zum Buch auch eine Playlist auf Spotify mit Songs aus dem Roman, aber auch mit Songs, die vorkommen könnten, wenn das Buch ein Film wäre oder ein Film in euren Köpfen ist. Das heißt, es ist nicht nur die Musik aus dem Buch, sondern auch darüber hinaus.

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„Endlosschleifentage“: Du verlierst die Liebe deines Lebens – und jetzt? David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam groß geworden und haben jung geheiratet. Doch dann kommt Katha bei einem Autounfall ums Leben, und Davids Welt steht still. Sie war jedes seiner ersten Male, ist in jeder seiner Erinnerungen. Er schleppt sich Tag für Tag auf den Friedhof und fragt sich: Wie geht Trauern eigentlich? Dort trifft er Marie, die Tochter des Totengräbers, die nur zu gut weiß, dass niemand zu viel  zeit hier verbringen sollte. Wo endet Trauern, wo beginnt Loslassen? David kann weder das eine noch das andere. Alles fühlt sich falsch an. Nur die Musik, die er macht, klingt richtig.

 

„Die Sprachlosigkeit hat sich in den Roman eingeschrieben” – ein Interview mit Michèle Yves Pauty

Familienkörper” ist ein Debütroman mit erzählerischer Wucht über das Geflecht einer Familie, drei Generationen von Frauen, Medical Gaslighting und Gender Medizin:

Das Ich wächst im Tirol der 80er-Jahre auf, zwischen schneebedeckten Bergspitzen und dem schlammgrünen Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt, lebt im Olympischen Dorf. Wächst als gesunder Körper zwischen kranken auf. Großmutter, Mutter, Schwestern – Krankheit trifft alle. Nieren, Schilddrüse, Allergien, Erschöpfung, jede Geburt eine Opfergabe, Gebärmutterentfernung beinahe Tradition. Die Ärzt*innen reagieren nicht, wiegeln ab. Um sich selbst zu schützen, entfremdet die Ich-Figur sich immer mehr. Und beginnt dann doch, alles zusammenzusetzen, verwebt einen Familienkörper.

Wir haben uns mit Michèle Yves Pauty über das Debüt unterhalten.

Medical Gaslighting und Gender Medizin sind zwei zentrale Themen in deinem Roman, die eng miteinander verbunden sind. Dabei handelt es sich um strukturelle, kontinuierliche Problematiken, die doch immer noch sehr wenig thematisiert werden. Was war für dich der ausschlaggebende Punkt, genau diese Themen in einem Roman zu verarbeiten? Hat dich die Familiengeschichte dazu bewegt oder konntest du erst durch den Schreibprozess einordnen, dass diese Themen eng mit der Familie verknüpft sind? 

Am Beginn des Schreibprozesses waren diese beiden Themen noch nicht bewusst als Schlagwörter in meinen Überlegungen vorhanden. Es war mehr ein Nachtasten, was diesen Familienkörper umtreibt, warum manche Episoden sich zu wiederholen scheinen, warum es so wenige Orte gab, zu denen Mitglieder meiner Familie gehen konnten. Ich wollte verstehen. Medical Gaslighting und Gender Medizin haben sich erst im Laufe des Schreibens als Themen herauskristallisiert, die inhärent mit der Gesundheit von Frauen im allgemeinen und besonders mit der meiner Familie zusammenhängen.

In deinem Roman erzählst du über drei Generationen von Frauen. Das Buch setzt bei allen drei Perspektiven in der Kindheit ein und berichtet über lange Spannen hinweg auch über ganze, unterschiedliche Jahrzehnte. Wie war es für dich, in diese verschiedenen Figuren, Leben und auch Zeiten einzutauchen, die du selbst nicht erlebt hast? Welche Herausforderungen gab es dabei?

Die erste Version waren elf Seiten, in denen eine Erzählstimme das Geschehen von außen beobachtet hat. Inhaltlich ging es damals ausschließlich um meine ältere Schwester, den Super-GAU in Tschernobyl und ihre Hashimoto-Diagnose. Als der Text länger wurde, war es nicht mehr möglich, mich aus den Erzählungen herauszuhalten. Die Stimme des Kindlichen wurde zum roten Faden für die Geschichte, sie bietet eine gewisse Chronologie in den Zeitsprüngen. An einem Punkt war alles von meiner Erinnerung dominiert, das war nicht, wie ich schreiben wollte. Zusätzlich gibt es die Erzählungen im Roman, die vor meiner Geburt stattgefunden haben. Um diese Episoden nah an den Personen zu gestalten, habe ich viel recherchiert und Interviews mit meinen Familienmitgliedern begonnen. Zuerst waren es nur gelegentliche Anrufe, „Wie war das damals mit Tschernobyl?“, aber irgendwann habe ich die Interviews in das Manuskript mit aufgenommen. Ich fand den Blick der anderen spannend, die Unsicherheit von Erinnerung. Immer wieder kamen vollkommen unterschiedliche Erzählungen über dasselbe Ereignis. Erinnerung ist wie Wahrheit, es gibt nicht eine, sondern viele subjektive.

Medical Gaslighting beschreibt eine Praxis, in der Krankheiten oder Symptome von medizinischem Fachpersonal nicht ernst genommen und heruntergespielt werden. Dabei wird Patient*innen nicht geglaubt und auch nicht zugehört und die Krankheiten oder Symptome werden als eingebildet oder (bei körperlichen Beschwerden) psychosomatisch abgesprochen. Wenn eine Diagnose nicht sofort feststellbar ist, werden auch oft keine weiteren Verfahren wie beispielsweise eine Überweisung oder eine Laboruntersuchung angeordnet. Davon sind vor allem Frauen und weiblich gelesene Personen betroffen, aber auch Menschen mit Mehrgewicht oder chronischen Erkrankungen und Menschen mit Rassismuserfahrungen.

 

Gender Medizin heißt, dass Krankheiten sowohl geschlechtssensibel als auch geschlechtsspezifisch untersucht, erforscht und behandelt werden. Gender Medizin beinhaltet die Auswirkungen von sex und gender auf Krankheit und Gesundheit. Das bedeutet, dass soziale und psychologische Unterschiede in der Medizin berücksichtigt werden, ebenso wie der Faktor, dass Symptome und Krankheiten aufgrund unterschiedlicher biologischer Voraussetzungen verschieden ausgeprägt sein können.

Das Ich im Roman wächst als gesunder Mensch zwischen und mit Kranken auf. Es entfremdet sich zum Schutz immer mehr von der Familie und dem Geschehen, um dann alles zusammenzusetzen. Wie war es für dich, diesen Familienkörper zu verweben, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten?

Herausfordernd. Alle möglichen Emotionen sind aufgekommen. Zu Beginn war es spielerisch, bis mir aufgefallen ist, dass ich nur die angenehmen Episoden erzähle oder Stellen, die wenig mit mir zu tun haben. Dann bin ich chronologisch alles abgegangen, habe in einem halben Jahr das Grundgerüst des jetzigen Romans geschrieben. Mit dem Text habe ich zu diesem Zeitpunkt am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Eine Studienkollegin, Oliwia Hälterlein, hat damals in einer Textwerkstatt gesagt, „sie liest den Schmerz dieses Ich“. Und ich glaube, das war das erste Mal, dass mir das bewusst wurde. Danach hat sich das Ende einfach gefunden. Ursprünglich war es nicht mein Plan, über die Entfremdung zu schreiben. Aber als es sich in das Manuskript hineingeschrieben hat, dachte ich mir, das will der Text.

Krankheit und gerade chronisches Kranksein sind auch heute oft noch eine Art Tabuthema. In unserer Gesellschaft gilt es, zu funktionieren. Das spiegelt sich auch in deinem Roman wider. Was muss sich diesbezüglich ändern und was können wir individuell für eine Entstigmatisierung und Enttabuisierung tun?

Ein Problem sehe ich in dem schulmedizinischen Zugang, der sich oft nur der Beseitigung der Symptome widmet und nicht den Ursachen. Ich hatte eine Zeit lang chronische Rückenschmerzen, worauf mir die Ärzte Schmerzspritzen angeboten haben. Damals war ich Anfang dreißig. Ich dachte mir, ich kann nicht jetzt schon mit Schmerzmitteln anfangen. Ich  war schockiert, wie wenig die Ärzte daran interessiert waren, die Ursache zu finden. Unserer Medizin fehlt ein ganzheitlicher Zugang. Viele Erkrankungen haben multifaktorielle Ursachen. Und der Kapitalismus ist generell kein gesundes System, wie sollen wir darin gesund bleiben? Viele Dinge, die wir in der Vergangenheit als normal angesehen haben, brechen auf und zeigen, wie schädlich sie für uns sind/waren. Es ist eine Zeit der Wandlung.

In deinem Roman fragst du einmal: „Bin ich mein Körper, oder habe ich einen Köper?“. Der Roman lässt die Frage einfach stehen – kann man darauf überhaupt eine Antwort finden, wenn die Körperlichkeit und die Entscheidungen über den eigenen Körper gerade auch in einem medizinischen Kontext immer noch gesellschaftlich und politisch so fremdbestimmt sind?

Deine Frage beantwortet die meine bereits perfekt.

Im Roman wird immer wieder thematisiert, dass der Ich-Figur Erinnerungen fehlen, aber auch das Nichtvorhandensein von Sprache in der Familie ist ein zentrales Motiv. Durch deinen Roman gestaltest du sozusagen Sprachlosigkeit mit Sprache. Wie bist du hinsichtlich einer literarischen Form dafür vorgegangen?

Die Sprachlosigkeit hat sich in den Roman eingeschrieben. Bei der Form war ich konzentriert auf einen multiperspektivischen Blick, das Verhandeln des Ich mit der Mutter ist erst später dazugekommen. Hier wollte ich trotz der ungleichen Machtverteilung eine Art von Waagschale schaffen, wo beide Teile – aus unterschiedlichen Gründen – dasselbe Gewicht tragen.

Du bist Schriftsteller*in, aber auch Fotograf*in. In „Familienkörper“ hast du dich für eine bildhafte Sprache entschieden, beim Lesen wird deutlich, wie intensiv optische Reize, Licht, Räumliches auf die Ich-Figur wirken. Wie stark beeinflusst das Visuelle dein literarisches Schaffen, sind die beiden Bereiche für dich stark miteinander verknüpft?

Ich höre öfters, dass ich so schreibe, weil ich Fotograf*in bin. Aber wahrscheinlich bin ich Fotograf*in geworden, weil ich so wahrnehme. Und dasselbe gilt für das Schreiben, nur, dass ich dort tiefer gehen kann, als es mir mit der Fotografie möglich ist. Fotografie ist trügerisch. Wir interpretieren aufgrund eines Bildes, dabei kann die Bildunterschrift den gesamten Kontext ändern.

© Ian Ehm Iowres

Autor*in

Michèle Yves Pauty (*1982) hat Fotografie und Deutsche Philologie in Wien und Literarisches Schreiben in Hildesheim und Leipzig studiert. Pauty hat in diversen Magazinen und Anthologien veröffentlicht, 2021 folgte die Auszeichnung mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium. Pauty lebt in Wien und Leipzig und ist Teil des Künstler*innen-Kollektivs sy:rup. Im Februar 2025 erscheint das Debüt „Familienkörper“ im Haymon Verlag.


Familienkörper” erzählt von der Geschichte mehrerer Frauenleben und von den Zusammenhängen zwischen Geschlecht, Herkunft, Klasse, Bildung und Gesundheit; ein großer, ein traurig-schöner Roman. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!

Zwischen Beatles-Frisuren, Flower-Power und der Sehnsucht nach der großen Welt: Mach dich bereit für eine Zeitreise in die 70er! Herbert Dutzlers Roman „Wenn die Welt nach Sommer riecht“ in 5 Songs + Leseprobe

Siegfried ist 13 – ein Alter, in dem Abenteuerromane und das Spielen draußen auf den Feldern in den Hintergrund rücken, etwas anderes dafür immer interessanter wird: Mädchen. Was zuerst lästiges Geschnatter war, hört sich plötzlich an wie engelsgleicher Gesang. Außerdem locken der erste Schluck Alkohol, der erste Zug an der Zigarette – die Kindheit ist vorbei, die Ära der Pubertät ist eingeläutet! Herbert Dutzler verwebt meisterhaft Siegfrieds persönliche Erlebnisse mit den gesellschaftlichen Umwälzungen der 1970er-Jahre. Ein Buch, das uns mit auf eine fesselnde Reise nimmt – in eine Zeit, in der sich für Sigi alles nach Sommer anfühlt, in eine Zeit voller erster Male.

1 Zimmer mit Fließwasser, warm und kalt

(…)
„Morgen kommen die Engländer!“, seufzt Tante Hermi und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Hoffentlich geht das gut. Ich meine, mein Englisch … ich hab ja nur zwei Jahre gelernt, und das ist lang her.“ „Aber ich kann Englisch! Ich hab im Zeugnis einen Einser, einen lupenreinen! Ich kann ja mit denen reden!“ Die Tante zieht die Stirn in Falten. „How do you do mit die Gummischuh!“, schmettert Onkel Fredi fröhlich, geht zum Fernseher hin und dreht am Einschaltknopf. „Hau i di a mit die Goisara!“ Das ist ein beliebter Scherz, den er sehr oft anbringt. Onkel Fredi wartet auf die „Zeit im Bild“, die Nachrichtensendung um halb acht, und ich wende mich wieder meinem Buch zu.
„Ja, du! How do you do! Du hast ja nicht einmal eine Ahnung, was das bedeutet!“, sagt Tante Hermi. „Natürlich!“, erwidert Onkel Fredi. „So grüßt man sich in Amerika!“ Ich klappe mein Buch zu, denn nun muss ich mich einmischen. „Also, wir haben gelernt, dass man bis Mittag ‚Good morning‘ sagt. Danach ‚Good afternoon‘ und am Abend ‚Good evening‘. Wenn man ganz höflich ist, sagt man noch ‚Pleased to meet you‘.“
Die Tante verzieht ihr Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse. „Sigi, das war mir jetzt schon zu viel. Wie war das noch einmal? Das muss ich mir aufschreiben!“ Sie läuft zu ihrem Schreibtisch und greift nach einem Notizblock. Ich sage ihr die Grußformeln noch einmal an. „Ich schreib mir’s einfach so auf, wie es sich anhört!“, sagt sie. „Weil wenn ich’s englisch aufschreibe, weiß ich dann nicht mehr, wie man’s ausspricht!“ „Es ist doch ganz einfach!“, prahle ich. „Das lernt man schon in der ersten Klasse! Sogar die Uschi kann das!“ „How do you do mit die Gummischuh, hau i di a mit die Goisara!“, wiederholt Onkel Fredi grölend. Er hat nicht zugehört und schon reichlich Bier getrunken. Gott sei Dank wird er dann immer zuerst lustig und dann schläfrig, während mein Papa gern zu fluchen und zu schimpfen anfängt, wenn er zu viel getrunken hat.
„Habt ihr denn noch nie Gäste aus England gehabt?“, frage ich die Tante. Sie schüttelt den Kopf, während Uschi den Kopf zur Tür hereinsteckt. „England?“, fragt sie. „Was ist mit England?“ Die Tante erklärt es ihr. „Ich muss aber nicht mit denen reden, oder?“, fragt sie. Uschi ist nämlich ein wenig schüchtern und hat überhaupt nicht gern mit fremden Leuten zu tun. Sie mag nicht einmal einkaufen gehen, hier in St. Edelgund, weil sie da die Leute im Geschäft nicht kennt.
„Natürlich nicht“, beruhigt sie die Tante. „Der Sigi wird dolmetschen. Hat er versprochen!“ Es klopft an der Wohnzimmertür, und die Tante öffnet. Draußen steht der Herr, der mit seiner Frau im zweiten Kinderzimmer wohnt. „Hätten Se wohl noch ’n Bierchen für uns, liebe Frau Wirtin?“ Er ist ein Deutscher, die sprechen so. Natürlich hat Tante Hermi, obwohl sie eigentlich keine Gastgewerbekonzession hat und kein Bier verkaufen darf. Im Geschäft kostet eine Flasche Bier zwei Schilling, und die Tante verkauft sie für vier Schilling weiter. „Das deckt mir grad die Schlepperei ab!“, sagt sie. „Ich muss ja schließlich auch die leeren Flaschen wieder zurückbringen. Und billiger als im Gasthaus ist es bei mir immer noch.“

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„Wie bist du denn überhaupt zu den Engländern gekommen?“, frage ich Tante Hermi. „Die Kurverwaltung hat sie mir vermittelt“, sagt sie. „Seit neuestem heißt unser Fremdenverkehrsbüro so. Wir sind nämlich jetzt ein Kurort. Wegen dem Wasser.“ „Das so stinkt!“, mischt sich Uschi ein. „Das würd ich nie trinken! Bäh!“ Sie streckt die Zunge heraus. „Wenn du so Kreuzweh hast wie ich“, ächzt der Onkel Fredi und hievt seine Füße auf den Couchtisch, „dann würdest alles trinken, wenn sie dir nur versprechen, dass es besser wird!“ „Ja, aber von den Füßen auf dem Tisch wird’s sicher nicht besser!“, schimpft Tante Hermi. „Was bist denn du für ein Vorbild für die Kinder! Runter mit den Flossen!“ Stöhnend gehorcht der Onkel. Es ist mir schon aufgefallen, dass hier im Haus die Tante den Ton angibt, noch mehr als bei uns zu Hause, wo Papa wenigstens meistens aufbegehrt, wenn Mama irgendwas entscheidet, ohne ihn zu fragen.
„Und die haben mich halt gefragt“, fährt die Tante fort, „ob ich auch Engländer nehmen täte, ob ich mir das zutraue. Und mit den Franzosen, da ist es ja auch gut gegangen, da haben wir uns halt mit Händen und Füßen …“ „Franzosen waren auch schon da?“, staune ich. „Wie sind denn die hierhergekommen?“ Die Tante zuckt mit den Schultern. „Genauso wie die Engländer, nehme ich an. Mit dem Auto halt.“

Ich bin verblüfft. Dass man so weite Reisen mit dem Auto unternehmen kann! Wir haben zwar seit ein paar Jahren einen VW Käfer, den Papa günstig von einer Nachbarin gekauft hat, deren Mann an Lungenkrebs gestorben ist. Der VW steht aber meistens im Heustadel und Papa muss ständig daran herumschrauben oder -schweißen. Mama schimpft dann immer und erinnert Papa daran, dass sie lieber noch ein wenig gespart und dann einen Ford Cortina gekauft hätte. Weil der hätte wenigstens einen ordentlichen Kofferraum, und außerdem hat der Mann von einer ihrer Freundinnen einen Ford Cortina, und da ist nie etwas kaputt. Ich kenne die Streitereien meiner Eltern praktisch auswendig, weil sie sich immer um die gleichen Dinge drehen und immer gleich ablaufen. Enden tun sie meistens damit, dass Papa die Tür hinter sich zuschlägt, zum Kirchenwirt geht und spät nachts die Stiege hinaufpoltert.

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Ich hab schon den ganzen Tag gebettelt, dass ich heute Abend die Sondersendung über Apollo 15 sehen darf. Diesmal haben die Astronauten ein Mondauto mit an Bord gehabt und sind auf dem Mond herumgefahren. Sie sind zwar gestern schon wieder zurück zur Erde gestartet, aber heute soll es eben eine Sondersendung geben, mit Filmmaterial, das bisher noch nicht gesendet worden ist. Leider bin ich der Einzige, den die Mondlandungen noch interessieren, sie sind inzwischen zum Alltag geworden und bei weitem keine Sensationen mehr. Mit 15 km/h sind die da oben herumgefahren, und auf manchen Aufnahmen kann man sehen, dass das Mondauto richtig über die Hügel hüpft. Es ist ja auch viel leichter, als es auf der Erde wäre. Auf dem Rückflug wird es noch einen spannenden Moment geben, denn der Kommandant der Kapsel muss aussteigen, um Datenkassetten einzusammeln. Es wird der erste Raumspaziergang in Mondnähe sein. Ich erkläre das alles der Tante und dem Onkel, aber die gähnen leider nur. Es ist eine Tragödie, dass sich so wenige Leute bei uns für den Fortschritt in der Wissenschaft interessieren. In zehn Jahren, das versprechen die Wissenschaftler, wird es eine ständig bewohnte Mondbasis geben, und in 20 Jahren wird man als Tourist dorthin fliegen und dabei zuschauen können, wie die Marsrakete auf dem Mond zusammengeschraubt wird.

Später im Bett lese ich noch in meinem Thor Heyerdahl und staune über so viel Mut. Mit einem aus Schilfstengeln zusammengebundenen Boot nach Amerika zu fahren, das ist eine ganz unglaubliche Geschichte. Amerika, das ist überhaupt ein Zauberwort für mich. Die ganzen Wildwestgeschichten von Karl May spielen dort, und die Raketen zum Mond, die starten auch in Amerika. Ob ich einmal auf dem höchsten Wolkenkratzer der Welt, auf dem Empire State Building, stehen werde? Das wird wohl ein Traum bleiben, fürchte ich. Denn gegen Ende der Ferien fahren wir wieder nach Caorle, mit dem Bus, weil unser Käfer für eine so weite Reise nicht taugt, sagt Mama. Weiter bin ich in meinem Leben bisher nicht gekommen.
Den nächsten Tag verbringe ich in großer Anspannung, denn wir erwarten die Engländer. Ich halte mich meist auf der Terrasse auf, damit ich sie nicht übersehe. Leider vertreibt mich zu Mittag der Regen, und ich muss mit meinem Buch unter dem Balkon Schutz suchen. Aber ich will trotzdem der Erste sein, der sie begrüßt.

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Endlich, gegen halb vier am Nachmittag, taucht ein seltsames Auto in unserer Einfahrt auf. Es ist ziemlich groß, grün und von einer Marke, die ich nicht kenne. Das Kennzeichen hat viel dickere Buchstaben als unsere und endet mit einem „G“. Ein österreichisches Auto kann es also nicht sein. „Tante Hermi!“, schreie ich und stürme durch die Terrassentür in die Küche. „Sie sind da! Die Engländer sind da!“ „Mein Gott!“ Die Tante springt auf und streicht ihre Schürze glatt. „Hoffentlich geht das alles gut!“ „Welches Zimmer kriegen sie denn?“, frage ich. „Die Nummer drei! Das mit dem Eckbalkon!“ Die Tante rennt zur Haustür, ich in ihrem Schlepptau. Die Engländer stehen hinter dem geöffneten Kofferraumdeckel und haben Schirme aufgespannt. „Sag ‚Good afternoon‘“, flüstere ich Tante Hermi noch zu. Sie schüttelt schon Hände. „Good afternoon, Missis Langdon!“, sagt sie. Und „Good afternoon, Mister Langdon!“. Es werden Hände geschüttelt, die Ankömmlinge lächeln. Er hat rötliches Haar und einen ebenso rötlichen Vollbart, während die Frau dunkelhaarig ist und in einem recht eleganten grünen Kleid steckt, das ungefähr dieselbe Farbe wie das Auto hat.
„I am Sigi!“, dränge ich mich vor, weil die Tante vergessen hat, mich vorzustellen. „And I can speak English!“ Die beiden lachen. „Wonderful!“, sagt Mrs. Langdon. Ich hab mir natürlich schon zurechtgelegt, was ich sagen werde. „May I carry your suitcase?“, frage ich und greife nacheinem Koffer, der schon auf dem Boden steht. Er ist auch grün, genauso wie Auto und Kleid. Damit er nicht nass wird, schnappe ich ihn gleich, um ihn aufs Zimmer zu tragen. Mrs. Langdon duftet auch ganz wunderbar, was mich erstaunt, weil sie doch sicher stundenlang im Auto unterwegs waren.
Mr. Langdon wuchtet einen noch größeren braunen Koffer aus dem Auto. Hinten auf dem Auto steht „Rover P6“, und es ist auch ein internationales Kennzeichen angebracht, auf dem „GB“ steht. „You have room number three!“, erkläre ich und gehe voran. Den Engländern scheint das Zimmer zu gefallen, sie loben die Aussicht auf den Zwölferkogel und hinunter ins Dorf bis zur Kirche. „Marvellous!“, zwitschert Mrs. Langdon und schiebt den Vorhang zur Seite. Mr. Langdon kramt in seiner Hosentasche und drückt mir schließlich einen Zehner in die Hand. Zehn Schilling! Dafür muss ich normal Tante Hermi zehnmal beim Abtrocknen helfen! So viel Trinkgeld habe ich noch nie bekommen! „Aber das wäre doch gar nicht nötig!“, beeilt sich Tante Hermi, die ein bisschen rot geworden ist, weil sie außer Nicken und Mit-den-Händen-Deuten noch nichts gesagt hat, nachdem sie die Langdons begrüßt hat.

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„And now“, sagt Mrs. Langdon, „I’d like to take a bath. After that long drive.“ Ich verstehe jedes Wort, sie spricht sehr deutlich und fast genauso wie unser Englischlehrer. Oje, denke ich mir, da wird die Tante nicht so erfreut sein. Denn wenn zwei Leute baden, dann wird bei uns das warme Wasser knapp, und weil der Boiler bloß mit Nachtstrom aufheizt, der viel billiger ist, haben dann die anderen Gäste möglicherweise kein warmes Wasser mehr für ihre Waschbecken. „Sie möchte baden!“, erkläre ich der Tante. „Selbstverständlich!“, nickt sie. „I show you the bath!“ Leider sagt sie „Bass“, ohne das „th“. Aber immerhin hat sie sich getraut. Sie geht auf den Gang hinaus und zeigt Mrs. Langdon den Weg.
„Oje“, seufzt die Tante, als wir wieder unten in der Küche sind. „Wenn die womöglich jeden Tag baden wollen, dann gute Nacht!“ „Vielleicht können wir ihnen das mit dem Boiler erklären?“, schlage ich vor. Die Tante schüttelt den Kopf. „Jetzt schauen wir einmal. Man darf die Gäste schließlich nicht vergrämen. Vielleicht geht es sich ja eh aus mit dem Warmwasser. Müssen wir halt sparen, ich mach mir zum Abwaschen was auf dem Herd heiß.“ „Schließlich“, erinnere ich sie, „steht auf dem Schild auch ‚Warmwasser‘.“ Die Tante verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. „Schilder sind geduldig!“, sagt sie. „Die müssen Geld haben wie Heu!“, fügt sie hinzu. „Das Kleid, das Auto, zehn Schilling Trinkgeld … warum die nicht in ein Hotel gegangen sind?“, fragt sie mehr sich selbst als mich. „Vielleicht, weil’s ihnen mit Familienanschluss besser gefällt!“ Die Tante wiegt zweifelnd den Kopf.
Familienanschluss bedeutet, dass sich manche Gäste am Abend zu uns ins Wohnzimmer setzen und mit der Tante und dem Onkel Wein und Bier trinken. Manchmal spielt Onkel Fredi dann auf der Ziehharmonika und alle singen dazu. Der Fernseher bleibt natürlich ausgeschaltet. Ich selber halte nicht so viel vom Familienanschluss, ich lese lieber.
Ich schleiche mich noch einmal in die Pension hinüber. Vielleicht brauchen die Engländer ja was, und ich bekomme noch einmal ein Trinkgeld. Im ersten Stock höre ich es dann kichern und platschen. Anscheinend hat Mrs. Langdon schon ihr Bad einlaufen lassen. Aber hört man da nicht zwei Stimmen aus dem Bad? Natürlich! Ein gekichertes „No, Jim!“ verstehe ich, und dann höre ich auch Mr. Langdon grummeln. Sind die beiden miteinander in die Badewanne gestiegen? Davon habe ich überhaupt noch nie gehört, dass ein Mann und eine Frau sich eine Badewanne teilen. Und wahrscheinlich ist es sogar ein bisschen unanständig. Andererseits wird es die Tante freuen, wenn ich es ihr erzähle, denn so sparen die beiden wenigstens warmes Wasser. Ich verziehe mich, bevor mich noch jemand sieht und womöglich denkt, dass ich an der Badezimmertür lausche.
Weil es noch immer regnet, gehe ich in unser Zimmer, wo Uschi gerade damit beschäftigt ist, ihrer Puppe die Haare zu kämmen. „Ich hab schon Englisch geredet!“, prahle ich. „Und die beiden Engländer, die sitzen gerade miteinander in der Badewanne!“ Uschi klappt die Kinnlade hinunter. „In der Badewanne? Miteinander?“ Ich nicke. „Wahrscheinlich seifen sie sich gegenseitig ein.“ Meine Fantasie spielt mir gerade wilde Streiche. Mrs. Langdon ist eine sehr hübsche Frau. „Aber … darf man denn das?“, fragt Uschi. Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht macht man das in England so. Und vielleicht haben sie ja auch eine Badehose an, und einen Badeanzug.“ „Aber das … der Mitzi-Oma darfst du das nicht erzählen!“, flüstert Uschi. „Die schmeißt die zwei dann nämlich gleich hinaus!“

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