Autor: Linda

Leseprobe aus „Tagebuch einer Invasion“ von Andrej Kurkow

Seit 2014 herrscht Krieg in der Ostukraine. Die Menschen dort taumeln seit Jahren zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Trauer und Glaube an eine Zukunft in Freiheit. Mit dem Beginn des Angriffskrieges der russländischen Truppen im Februar 2022 verwandelten sich die schlimmsten Befürchtungen in Realität: Das Land, und damit seine Bewohner*innen und seine Unabhängigkeit stehen unter Beschuss. Was macht der Krieg mit den Menschen, über die er kommt? Wie geht es jenen, die Nächte in U-Bahn-Stationen verbringen, weil sie in ihren eigenen Wohnungen und Häusern nicht mehr sicher sind? Welches Vokabular eignen sie sich in Zeiten des Krieges an? Fragen wie diese haben Andrej Kurkow, den größten Schriftsteller der Ukraine, in den letzten Jahren dazu veranlasst, Tagebuch zu schreiben und damit jene Geschichten festzuhalten, die in den Kurzmeldungen keinen Platz finden.

23.2.2022
Anspannung, aber keine Panik
Seit drei Tagen klingelt mein Telefon ununterbrochen. Ein paar meiner alten Freunde, Ihor und Irina, riefen an, um mir zu sagen, dass sie mit dem Auto in die Karpaten unterwegs waren. Andere Anrufer wollten einfach nur wissen, ob ich glaubte, es würde Krieg geben, und dann wiederum, ob der Krieg meiner Meinung nach sofort oder erst in zwei Wochen ausbrechen würde. Dann wandte sich der russische Präsident in einer Fernsehansprache an das russische Volk, um seine Version der Geschichte Russlands und der Ukraine zu erklären und die Welt zu verändern.
Russland erkannte zwei nicht bestehende „Staaten“ auf ukrainischem Staatsgebiet an und unterzeichnete Freundschaftsverträge und Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit mit ihnen. Putin sagte, die „Grenzen“ zur Ukraine (also die Front) würden nun von der russischen Armee bewacht – was bedeutet, dass das russische Heer von nun an von ukrainischem Grund und Boden aus auf das Staatsgebiet der Ukraine schießen wird.
Sie fragen sich vielleicht: Was hat sich geändert? So einiges! Vor Putins „Umstrukturierung“ erwiderten ukrainische Truppen die Bombardierung durch Separatisten mit Feuerkraft. Wenn das ukrainische Militär nun auf den Beschuss durch russische Soldaten reagiert, wird man das den Russisch-Ukrainischen Krieg nennen müssen. Und die russischen Streitkräfte, die die Ukraine umstellt haben, können von jedem beliebigen Punkt aus entlang der Grenze mit Russland und Belarus ins Staatsgebiet einmarschieren. Zum ersten Mal ist in Kyjiw die Anspannung spürbar. Dennoch ist bislang keine Panik ausgebrochen. In der Nähe meines Hauses legt das libanesische Restaurant „Mon Cher“ eine Sommerterrasse – schließlich hatten wir in diesem Jahr einen sehr kurzen meteorologischen Winter. Der Frühling ist da und die Temperaturen sind auf 13°C bis 14°C gestiegen. Die Sonne scheint, die Vögel singen und von Westen her rollen Militärfahrzeuge und Krankenwagen die Straße entlang. Sie passieren Kyjiw und fahren gen Osten weiter.
Ich erinnere mich noch, als 2014 gepanzerte Mannschaftstransportwagen und Militärfahrzeuge ebenfalls aus der Westukraine in den Osten fuhren, während zerstörte Panzer und ausgebrannte Panzerwagen auf Traktoren zurückgebracht wurden. Jetzt geht der Transport rein Richtung Osten. Dafür gibt es eine andere Ost-West- Bewegung. Geflüchtete aus Stanyzja Luhanska, einer Stadt direkt an der Front in der Nähe von Luhansk, haben es nach Charkiw geschafft. Bisher sind es nur ein Dutzend Menschen. Sie ließen ihre Wohnungen und Häuser zurück in der Erwartung, dass bald nichts mehr von ihnen übrig sein würde. Sie überlebten die Jahre 2014 und 2015, als ein Drittel der Häuser in der 15.000-Einwohner-Stadt durch Artilleriebeschuss beschädigt wurde. Bis vor Kurzem lebten noch etwa 7.000 Menschen dort. Es lässt sich nur schwer sagen, wie viele jetzt noch übrig sind. Vor allem, nachdem eine Bombe der Separatisten in einem Kindergarten eingeschlagen war. Auf wundersame Weise kam dabei niemand ums Leben.
Und ich habe meine Zugfahrkarten verloren. Ich hätte am 2. März nach Sjewjerodonezk in der Oblast Luhansk fahren und mit dem Nachtzug am 4. März nach Kyjiw zurückkehren sollen. Jetzt werde ich nicht hinfahren.
Bis vor ein paar Tagen arbeitete ein Filmteam aus Kyjiw noch in einem halb verlassenen Dorf in der Nähe von Sjewjerodonezk, 16 km von der Front entfernt, an der Verfilmung meines Romans „Graue Bienen“. Vor etwa einer Woche wurde es vom Militär gewarnt, dass man jederzeit mit der Evakuierung beginnen könne. „Die Russen werden uns zwei Stunden Vorwarnung vor dem Angriff geben!“, erklärte ein ukrainischer Offizier dem Filmteam. „Macht euch also bereit!“
Iwanna Djadjura, die Filmproduzentin, regelte mit Fahrern vor Ort, dass sie sich im Falle einer Evakuierung bereithalten sollten. Diese „Versicherung“ kostete sie viel Geld. In der Gegend gibt es immer noch kaum Arbeit, aber die Menschen haben Autos. Es gibt Autos, aber keine Straßen. Genauer gesagt, es gibt keinen Asphalt. Eine Woche lang standen die Autos untätig herum, bis das Militär kam und zur dringenden Evakuierung aufrief.
Das Filmteam ist bereits wieder in Kyjiw. Sie hatten es nicht geschafft, die Dreharbeiten zu beenden. Sie werden einen anderen Drehort finden müssen – vielleicht in der Oblast Tschernihiw oder der Oblast Sumy, wo es viele verlassene oder halb geräumte Dörfer gibt. Diese Oblaste grenzen auch an Russland – und auf Russlands Seite der Grenze warten russische Soldaten. Wie lange wird es dort sicher genug für Dreharbeiten bleiben? Das kann keiner vorhersagen!
Ich mache mir keine Gedanken mehr um diesen Film. Seit Putins Rede denke ich über etwas ganz anderes nach. Immer wieder riefen mich Freunde an. Dann bekam ich einen weiteren Anruf, der mir die Angst nahm.
Die Lehrerin Larisa Alekseewna, die an der Kyjiwer Schule Nr. 92, zu der alle meine drei Kinder gegangen waren, Literatur unterrichtet, bat mich, am nächsten Tag eine Stunde zur Geschichte der Detektivromane zu halten. Diese Bitte kam völlig unerwartet und ich stimmte sofort zu. Der Unterricht lief sehr gut. Während ich über den Unterschied zwischen australischen, japanischen und britischen Kriminalgeschichten sprach, vergaß ich Russland, Präsident Putin und beider Verbrechen. Auch die Kinder schienen sich von Russland und einem möglichen Krieg ablenken zu lassen.
Auf dem Heimweg trank ich in einem Café eine Tasse Tee und aß eine Kleinigkeit. Ich schaute in die Gesichter der Menschen, um ihren Gesprächen zu lauschen, aber niemand unterhielt sich. Es herrschte fast vollkommenes Schweigen, während die Menschen ihren Kaffee tranken und ihre Brote aßen.
Ukrainische Politiker erheben ihre Stimmen nun mehr als gewöhnlich. Das Außenministerium appellierte an Präsident Selenskyj, die diplomatischen Beziehungen zu Russland zu beenden. Der ehemalige Abgeordnete und Aktivist Boryslaw Beresa forderte Selenskyj auf, in den Oblasten Luhansk und Donezk das Kriegsrecht auszurufen. Irgendetwas sagt mir, dass Präsident Selenskyj nichts dergleichen tun wird. Er hatte bereits offiziell erklärt, er hoffe immer noch darauf, einen großen Krieg in der Ukraine vermeiden zu können.
Ich würde seine Logik gern verstehen, aber bisher habe ich das noch nicht geschafft. Der Anführer der „Volksrepublik Lugansk“, die von Russland, Venezuela, Kuba und Abchasien anerkannt wird, forderte die Ukraine auf, die andere Hälfte der Oblast Luhansk, die nicht von Separatisten kontrolliert wird, „freizugeben“. Er will eine „Republik“ gründen, deren Fläche sich mit der der ukrainischen Oblast deckt. Der Führer der „Donezker Volksrepublik“ schweigt zwar für den Moment, hat in der Vergangenheit aber bereits damit gedroht, die gesamte Oblast Donezk von der Ukraine abzuspalten. Russlands Außenministerium erklärte, dass es beide „Republiken“ innerhalb ihrer derzeitigen Grenzen anerkenne, aber dass die Grenzen eines „Staates“ allgemein die Privatsache des „Staates“ selbst seien.
In dieser Aussage verbirgt sich ein zukünftiger Krieg, der aber nicht unmittelbar bevorsteht. Die Pause zwischen der Anerkennung der „Republiken“ und der Fortsetzung der russischen Militäroperationen gegen die Ukraine könnte zwei Wochen, aber auch drei Monate oder noch länger andauern. Alles hängt davon ab, wie die Welt auf diese Situation reagiert. Wenn die Reaktion deutlich ist und die neuen Sanktionen der Wirtschaft Russlands schaden, könnte sich die Pause sechs Monate lang hinziehen. Wenn sich die Reaktion aber als schwach herausstellt, dann wird der Krieg nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Russland verdient sich das Geld für diesen Krieg in Europa, indem es dort Öl und Gas verkauft. Das Land verfügt über enorme Finanzreserven, und nur Sanktionen, die weitere Geldhähne zudrehen, können Russlands Streben aufhalten, weiter in ukrainisches Staatsgebiet vorzudringen.
Während ich diese Zeilen schreibe, lese ich weiterhin den Newsfeed. Nun hat Putin erklärt, dass er die „Republiken“ innerhalb weitläufigerer Grenzen anerkennt als die Gebiete, die derzeit von den Separatisten kontrolliert werden. Und fast gleichzeitig sehe ich eine Erklärung Präsident Selenskyjs, dass er gerade einen Befehl zur Einberufung der Reservisten in die Armee unterzeichnet habe.
In den letzten Wochen sind viele Ukrainer zu Militärexperten geworden. Ich gehöre auch dazu. Ich weiß bereits, dass eine vorrückende Armee Soldaten im Verhältnis von zehn zu eins verliert. Das bedeutet, dass die Verluste unter denjenigen, die ein Gebiet verteidigen, zehnmal geringer sind als unter den Angreifern.
Bekannte haben mir einen Screenshot von einer russischen Website des öffentlichen Beschaffungswesens geschickt. Auf dem Bildschirmfoto steht, dass das Burdenko- Hospital, Moskaus wichtigstes Militärkrankenhaus, 45.000 Leichensäcke sucht. In der Ausschreibung wird der medizinische Begriff „pathologisch-anatomische Säcke“ verwendet. Diese Anzahl an Leichenhüllen entspricht fast genau den Aussagen eines ehemaligen russischen Generals, der meinte, Russland sei bereit, bei einer Militäroffensive in der Ukraine bis zu 50.000 Soldaten einzubüßen. Ich habe diesen Screenshot einem Freund weitergeleitet, der sich mit öffentlichen Beschaffungssystemen auskennt. „Das ist eine Fälschung“, schrieb er zurück. „Die haben schon lange Hunderttausende von Leichensäcken bereitstehen!“
Und da sehe ich beim Schreiben wieder eine Nachricht, dass Putin nicht nur die „Republiken“, sondern auch deren „Verfassungen“ anerkannt hat. In diesen „Verfassungen“ steht, dass die Staatsgebiete dieser „Republiken“ die gesamten Oblaste Donezk und Luhansk umfassen. In dem Moment, als ich diese Nachricht las, rückte der Krieg plötzlich viel näher.
Es ist jetzt schon viel schwieriger, sich von Gedanken über den Krieg abzulenken. Putin sprach schon wieder irgendwo und stellte der Ukraine und der Welt ein Ultimatum: Entweder erkennen die Welt und die Ukraine die Krim als Teil Russlands an und die Ukraine lässt für immer von ihrem Traum eines NATO-Beitritts ab, oder aber die russische Armee wird bis nach Kyjiw vorrücken.
Die ukrainischen Nachrichten sind bereits voll von Prognosen über russische Angriffe. Die „populärste“ davon besagt, dass Russland zunächst drei Städte angreifen wird: Charkiw, Kyjiw und Cherson. Ich gehe davon aus, dass Cherson von der Krim aus und Charkiw von der Oblast Belgorod in Russland aus angegriffen wird, aber von wo aus werden sie einen Angriff auf Kyjiw starten? Der kürzeste Weg nach Kyjiw führt für das russische Heer durch Belarus und die Sperrzone von Tschornobyl. Dort gibt es fast keine Straßen, dafür aber zahlreiche Sümpfe und Bäche. Tatsächlich stehen viele russische Panzer auf der belarussischen Seite der Grenze bereit. Satellitenbilder zeigten das russische Militär bei Übungen zum Bau von panzertauglichen Behelfs-Pontonbrücken über die Flüsse nahe der Ukraine.
Man kann unmöglich Putins nächste Schritte vorhersagen; man kann nur klar erkennen, welches Ziel er verfolgt. In seiner jüngsten Rede sagte er ausdrücklich, dass er die Ukraine nicht als unabhängigen Staat anerkenne. Für ihn ist sie ein Teil Russlands. Sein Ziel ist also, die Ukraine zu erobern und sie zum Föderationskreis Südwestrussland zu machen. Die Staatsduma kann die russische Verfassung innerhalb von zwei Stunden ändern, wie sie es bereits getan hat, um die Krim in die russische Verfassung aufzunehmen. Die gedankenlose ausführende Staatsmaschinerie Russlands ist bereit, jedweder von Putins Launen nachzugeben.
Und in der Ukraine betet man in sämtlichen Kirchen und Moscheen für den Frieden – das heißt, in allen außer den etwa 12.000 orthodoxen Kirchen des Moskauer Patriarchats, wo man immer noch für das Wohlergehen des russischen Patriarchen Kyrill I. betet. Andere Kirchen haben die „Moskauer Kirchen“ bereits gebeten, ebenfalls für den Frieden zu beten, aber das Moskauer Patriarchat schweigt sich aus.
2014, als das ukrainische Parlament eine Sitzung zum Thema Militäroperationen im Donbass abhielt, zu der Vertreter aller Kirchen und Konfessionsgemeinschaften eingeladen waren, wurde eine Schweigeminute zum Gedenken an die im Krieg gefallenen ukrainischen Soldaten eingelegt. Das gesamte Parlament stand dazu auf, mit Ausnahme der Vertreter des Moskauer Patriarchats. Sie blieben trotzig auf ihren Sitzen hocken. Dann weigerten sich die Priester des Moskauer Patriarchats auch noch, ukrainische Soldaten zu beerdigen, die im Krieg umgekommen waren. Dennoch steckte niemand ihre Kirchen in Brand oder versuchte gar, sie zu verprügeln.
Vor ein paar Tagen haben SBU-Beamte jedoch mehrere russische Agenten dabei erwischt, wie sie versucht haben, die Kirchen des Moskauer Patriarchats in Charkiw zu verminen. Die Agenten wollten die Bombenangriffe auf Kirchen zu einem weiteren Casus Belli machen.
Es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als Krieg. Selbst die Coronavirus-Pandemie scheint nun zu etwas Gewöhnlichem und Verständlichem geworden zu sein. Einen Krieg kann man jedoch weder verstehen noch hinnehmen.
Die Ukrainer leben aber weiter wie bisher. Gestern blieb ich vor einem modernen Hipster-Barber-Shop stehen. Dort wurden zwei Kunden die Bärte gestutzt, während ein dritter an der Bar wartete und einen Whisky trank. Unterdessen landete ein mit Waffenlieferungen aus Kanada beladenes Transportflugzeug auf dem Flughafen von Kyjiw. Die neue Realität in der Ukraine übertrifft meine schriftstellerische Vorstellungskraft bei Weitem. Ich kann nicht sagen, dass sie mir gefällt. Aber ich akzeptiere sie.
Zwischenzeitlich haben meine alten Bekannten Ihor und Irina angerufen, die mit dem Auto in die Karpaten gefahren waren, um dem Krieg zu entfliehen. Sie erzählten mir, sie überlegten nun, über Polen nach Litauen weiterzufahren. Sowohl Polen als auch Litauen sind zuverlässige Verbündete der Ukraine und werden, falls erforderlich, nicht nur Ihor und Irina, sondern Hunderttausende weiterer Ukrainer willkommen heißen. Ich hoffe nur, das wird nicht notwendig werden.

24.2.2022
Letzter Borschtsch in Kyjiw
Zwischen Telefonaten bereitete ich gestern Abend für ein paar Journalisten, die zu Besuch gekommen waren, Borschtsch zu. Ich hoffte, Putin würde unser Abendessen nicht stören. Das tat er auch nicht. Er beschloss stattdessen, am nächsten Morgen um 5.00 Uhr Raketen auf die Ukraine abzufeuern. Auch im Donbass brach der Krieg aus und es gab Angriffe auf andere Ortschaften, darunter einen aus Belarus.
Jetzt befinden wir uns im Krieg mit Russland. Aber die U-Bahn in Kyjiw fährt wie gehabt und die Cafés haben geöffnet. Gerade wurde berichtet, dass die Ukraine sämtliche diplomatischen Beziehungen zu Russland abgebrochen hat. Seit Kriegsausbruch hat die ukrainische Armee bereits sechs russische Flugzeuge und zwei Hubschrauber abgeschossen. Es ist eindeutig, dass wir auch bereits große Verluste erlitten haben. Wenn sich die Lage vor dem Angriff durch Russland noch täglich änderte, dann wandelt sie sich nun stündlich. Aber ich werde bei Ihnen bleiben und weiterhin für Sie schreiben, damit Sie wissen, wie die Ukraine während des Krieges mit Putins Russland weiterlebt. Bleiben Sie sicher, wo immer Sie sind.

1.3.2022
Es ist jetzt an der Zeit
Meine Bekannte aus Deutschland, eine Journalistin, kam heute auf keinem meiner beiden Mobiltelefone zu mir durch. Eine automatische Stimme sagte ihr: „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“ Das Internet funktionierte aber und so konnten wir schließlich per Zoom eine Verbindung herstellen und uns unterhalten. Nach unserem Gespräch blieb mir dieser Satz, „Diese Rufnummer ist nicht vergeben“, im Gedächtnis und dann sah ich auf Facebook, dass meine Bekannte, die im Außenministerium der Ukraine arbeitet, sich ebenfalls darüber beklagte, dass niemand aus dem Ausland sie erreichen konnte. Wir müssen nun also aufhören, uns von solchen Dingen überraschen zu lassen. Solange es mich gibt, gibt es auch meine Rufnummer.
Jetzt leben wir bei Freunden in der Westukraine. In der Nähe verläuft eine Straße, die zur ungarischen Grenze führt. Viele Autos fahren diese Straße entlang. Manchmal halten sie an und der Fahrer und die Passagiere steigen aus, um sich zu strecken. Indische und arabische Studierende fahren oft alte Autos. Sie tun mir schrecklich leid. Ich weiß, dass viele von ihnen aus Charkiw, Dnipro oder Sumy hergereist sind, wo viele von ihnen Medizin und andere Fächer studieren. Es sind Studierende, die in diesem Sommer ihre Universitätsdiplome hätten erhalten sollen. Was wird aus ihnen werden? Was wird aus ihrer Zukunft werden? In erster Linie geht es aber ums Überleben! In Charkiw wurde vor ein paar Tagen ein Student aus Indien bei der Explosion einer russischen Rakete getötet. In der Nähe von Kyjiw schossen russische Soldaten auf ein Auto, in dem ein israelischer Staatsbürger saß. Auch er kam ums Leben.
Für mich ist dieser Krieg bereits jetzt ein „Weltkrieg“. Meine Frau und ich machen uns Sorgen um unsere befreundeten Nachbarn aus Kyjiw, ein französisch-japanisches Paar. Er ist ein ehemaliger französischer Diplomat, 85 Jahre alt; seine Frau ist eine japanische Künstlerin. Sie waren schon immer in Kyjiw und die Ukraine versessen und wollten ihren Lebensabend hier verbringen. Sie kauften sich eine Wohnung in der Nähe der Oper; von ihrem Fenster aus kann man die majestätische Wolodymyrkathedrale sehen. In den ersten Tagen des Krieges, als man Kyjiw noch mehr oder weniger problemlos verlassen konnte, wollte unser französischer Freund sein Zuhause einfach nicht aufgeben. Als die Bomben dann ununterbrochen auf Kyjiw niederregneten, bekam es seine Frau mit der Angst zu tun und wollte so schnell wie möglich fliehen. Ich telefonierte mit ihm, überredete ihn, dass sie schlicht gehen mussten. Schließlich haben sie sich zum Aufbruch entschlossen. Sie haben ein Auto, aber nicht genügend Benzin im Tank. Mindestens eine Strecke aus Kyjiw heraus ist sicher – die Richtung Odessa. Am anderen Ende warten dort keine russischen Truppen. Ich weiß, dass sie geflohen sind, aber sie hätten mit einem von den Vereinten Nationen organisierten Konvoi fliehen sollen. Wir wissen noch nicht, wohin sie letztendlich gegangen sind.
In den letzten Tagen sind unsere Nächte sehr kurz geworden. Ich trinke hundert Gramm ukrainischen Cognac vor dem Zubettgehen und schlafe gegen 1.00 Uhr morgens sofort ein. Dann wache ich mehrmals auf, um zu lesen, was es Neues gibt. Dann stehe ich wieder auf, lese mir die Nachrichten sorgfältiger durch, und fange an, meine Freunde anzurufen. Eine meiner Kolleginnen, eine gute Freundin, ist in Melitopol gelandet, das von der russischen Armee besetzt wird. Sie hockt in ihrer Wohnung und verlässt sie nicht. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Sie e-mailt mir ab und zu. Manchmal funktioniert ihr Telefon nicht. Aber dann kommt wieder ein Lebenszeichen.
Ein weiterer Freund, ein Museumsdirektor, hat es heute nicht geschafft, den Zug nach Lwiw zu nehmen. Er hatte versucht, seine halb gelähmte 96-jährige Mutter aus Kyjiw zu retten. Er fuhr sie zum Bahnhof und sie fanden ihren Waggon, aber selbst mit Fahrkarten durften sie nicht in den Zug einsteigen. Die Schaffner sagten, Fahrkarten seien jetzt unwichtig geworden, heute dürften nur Mütter mit kleinen Kindern mitfahren. Von Kyjiw verkehren noch Züge in den Westen der Ukraine. Die Menschen steigen ohne Fahrkarten in die Bahn. Wer es in den Waggon geschafft hat, wird zum Passagier. In jedem Abteil sind sieben- bis achtmal mehr Personen, als es Sitzplätze gibt.
Im Februar 1919 geschah bereits etwas Ähnliches, als die Bolschewiki in Kyjiw einfielen. Damals bombardierten sie das Kyjiwer Stadtzentrum und töteten dabei alle, die ihnen über den Weg liefen. Jetzt wiederholt sich die Geschichte. Die Truppen des sowjetischen Patrioten Putin haben Kyjiw umzingelt, aber sie können die Stadt nicht einnehmen. Sie wird bis aufs Äußerste verteidigt. Und die Zivilbevölkerung versteckt sich entweder in ihren Wohnungen, versucht, die Stadt mit den verfügbaren Transportmitteln zu verlassen, oder tritt der Territorialverteidigung bei, um ihre geliebte Heimatstadt zu verteidigen.

Aus „Tagebuch einer Invasion“ von Andrej Kurkow

Leseprobe aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas

Linda Biallas ist Feministin, Mitte Zwanzig und steckt im Studium als sie ungeplant schwanger wird. Der Freund trennt sich, noch bevor das Baby geboren ist: nicht bereit, Vater zu sein. Heute arbeitet Linda als Sozialarbeiterin in Berlin. In ihrem Buch „Mutter, schafft“ schreibt sie über Ungleichheit und Erziehungsmodelle, Care- und Beziehungsarbeit und bohrt mit dem Finger in den Wunden unserer Gesellschaft, bis wir den Schmerz so richtig spüren!

Herzlich willkommen in der Mutterrolle, bitte geben Sie Ihre persönlichen Interessen an der Kreißsaaltür ab

Zu der Herausforderung, Mutter zu werden, trug auch bei, dass es in Deutschland nicht üblich ist, gleichzeitig Mutter und finanziell unabhängig und junge Frau mit Freizeitinteressen zu sein. Mutterschaft bedeutet in Deutschland Ehe, klassische Rollenverteilung, beruflich vorher etwas erreicht haben, weil das als Frau mit Kind nicht mehr geht.
Die Idee von Mutterschaft hängt damit zusammen, einiges aufgeben zu müssen: Autonomie, eigene Interessen, Freizeit. Rückblickend denke ich, dass ich mit Mitte 20, als ich zum ersten Mal Mutter wurde, wirklich gedacht habe, dass man dann mit Mitte 30 bereit dafür sein würde, mehr Kompromisse für die Mutterschaft zu machen. Aber ich bin auch jetzt mit Mitte 30 nicht dazu bereit, so viel von meinen persönlichen Interessen zu opfern, weil es so wenig Raum dafür gibt, etwas anderes zu sein als „nur Mutter“.
Mutter zu werden, bedeutet nicht nur, ein Kind zu gebären und danach plötzlich einfach so Mutter zu sein – genauso wenig, wie bei Co-Müttern, also Müttern, die ohne Liebesbeziehung gemeinsame Elternschaft leben, oder Müttern von Pflegekindern, Müttern, die ein Kind adoptiert haben, Patchworkmüttern nur der rechtliche Status, der Verwaltungsakt der Moment ist, in dem die Mutterschaft beginnt oder der die Mutterschaft ausmacht.
Mutter zu werden, kann ein längerer Prozess sein, eine Auseinandersetzung mit sich selbst, den Erfahrungen der eigenen Kindheit, den Erfahrungen mit den eigenen Eltern. Diese Auseinandersetzung mit der Mutterrolle kann in verschiedenen Konstellationen schon vor der Geburt, vor der Adoption, vor dem offiziellen Muttersein beginnen. Ich stelle mir immer wieder vor, dass Frauen, die geplant schwanger werden, bestimmt schon vorher überlegen, wie sie leben wollen, wie sie arbeiten wollen, wie das Kinderzimmer eingerichtet werden soll. Bei mir war das nicht so. Mir war vorher auch gar nicht so richtig klar, was und vor allem wie viel ich erfüllen sollte, um als gute Mutter zu gelten. Ich hatte eine grobe Vorstellung davon, dass gute Mütter nur Wolle-Seide-Bodys kauften, natürlich voll stillten, Brei immer frisch selbst kochten, also viel mehr dünsteten, und zwar Biogemüse, na klar. Außerdem würden sie immer gerne vorlesen und nie den Fernseher anmachen, den ganzen Tag Lust haben, mit dem Kind zu spielen, und vieles mehr.
Mutter zu werden, bedeutet in jedem Fall, dass so einiges erledigt werden muss. Also habe ich Babykleidung und Möbel akquiriert, mich informiert über das Stillen und über Milchnahrung und darüber, welche Themen aus dem Bereich Kinderkriegen der Esoterik zuzuordnen sind und nicht der Wissenschaft (Blähungen durch Ernährung der Mutter, Bernsteinketten gegen Zahnschmerzen, Aromatherapie bei der Geburt). Ich habe aufgehört zu rauchen und zu trinken und versucht, irgendwie den Entwicklungsschritt von der Studentin, die sich für Politik, Partymachen und Ausschlafen interessiert, zur alleinerziehenden Mutter, die plötzlich nicht nur für sich selbst verantwortlich ist, zu bewerkstelligen.
Ich habe mich nicht nur gefragt, ob mein Kind im ersten Lebensjahr Zucker essen darf, ab welchem Zeitpunkt ich wie viel Medienkonsum gut finde, wie sich meine Perspektive auf meine eigene Kindheit durch die Mutterschaft verändern würde, sondern mir auch Fragen gestellt, die nicht nur im Persönlichen beantwortet werden können, sondern die Art und Weise betreffen, wie wir leben und wirtschaften: Warum soll ich in der Familie so viel Care-Arbeit alleine machen? Warum soll ich das gerne machen müssen? Weil ich eine Frau bin? Weil die Trennung von Lohn- und Care-Arbeit und die Festlegung von Care-Arbeit als unbezahlte Ressource, die aus Liebe absolviert wird, ein unveränderbarer Fakt ist? Mir war nicht klar, dass es diese „Vereinbarkeit“, von der immer die Rede ist, eigentlich gar nicht so richtig gibt.
Die klassische Geschlechterrolle für Mütter ist die Mutterrolle, und die funktioniert, sehr vereinfacht gesagt, so: Mutti opfert sich gerne ohne Gegenleistung für die Kinder auf, aus Mutterliebe, weil sie so selbstlos ist, so sind Frauen eben. Die Karrierenachteile (wobei die klassische Mutterrolle eigentlich noch nicht einmal eine Arbeitstätigkeit von Müttern vorsieht), die Belastung durch die Second Shift nach der Lohnarbeit in Form von die Kinder von der Kita abholen und beschäftigen, den Haushalt alleine schmeißen, dann die Altersarmut, all das nimmt sie gerne in Kauf, die Mutter, denn das Lächeln der Kinder macht alles wieder gut. Sie macht das nicht fürs Geld, das wäre kaltherzig und irgendwie materialistisch, so sind Mütter nicht. Ganz so, als würden Mütter im Unrecht sein, wenn sie sich sichere finanzielle Verhältnisse wünschten, obwohl sie natürlich durch Schwangerschaft, Wochenbett, Stillzeit weniger an der Lohnarbeit partizipieren können. Dabei ist es eigentlich andersherum: Das kapitalistische System, in dem wir leben, hat sehr viel mit der Art, wie die Mutterrolle angelegt ist, zu tun und „die Wirtschaft“ profitiert davon, dass Frauen neue Arbeiterinnen und Arbeiter gebären und sie im Prinzip nix dafür zurückgeben muss. Kinder zu bekommen, gilt praktischerweise als private Entscheidung in der Familie, in der dann die idealtypische Aufteilung vorherrschen soll: Vater – Lohnarbeit. Mutter – Care-Arbeit.
Der Zeitpunkt und die Konstellation, in der ich Kinder bekommen habe, entsprechen nicht der klassischen Vorstellung darüber, wann und wie Leute Kinder bekommen. Mutter zu werden, das war für mich höchstens ein Vielleicht, ein Irgendwann. Eigentlich hatte ich so gut wie nie drüber nachgedacht, ob ich überhaupt einmal Kinder bekommen wollte und wie das dann sein sollte. Deswegen hatte ich bis dahin auch kaum Anlass, mich in Bezug auf mich selbst damit auseinandersetzen zu müssen, was Mutterschaft für mich bedeuten könnte, und vor allem hatte ich kaum Anlass dazu, mich mit der riesigen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an (werdende) Mütter auseinanderzusetzen. Noch nicht einmal in dieses „Kinder kriegen will ich schon irgendwann später mal“, von dem viele Freundinnen sprachen, stimmte ich mit ein, so wenig relevant war das Thema in meinem Leben.
Das erklärt ein Stück weit, weshalb meine Mutterschaft ein riesiger Entwicklungsschritt für mich war. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es auch Frauen, die die Mutterschaft geplant haben, überrascht und erschreckt, mit welcher Vehemenz die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter herangetragen werden, und wie eng der gesellschaftliche Rahmen für Mütter gesteckt ist. Mutter zu werden, heißt nicht nur, sich die eigenen emotionalen, die pädagogischen, die zwischenmenschlichen Fragen zu stellen. Mutter zu werden, heißt auch, sich mit der übergroßen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Mütter auseinandersetzen zu müssen.
Meine damalige Beschäftigung mit Feminismus und der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft hat mich nicht darauf vorbereitet, was für einen krassen Einschnitt das Mutterwerden im Leben einer Frau darstellt und was es in unserer Gesellschaft für einen „Rückschritt“ darstellt in Bezug auf „Frauen können alles erreichen“. Das hängt auch damit zusammen, dass es wenig Kontinuitäten im Feminismus gibt. Nicht nur gibt es unterschiedliche Theorien und Schwerpunkte, sondern jede Generation Frauen entdeckt den Feminismus immer wieder ein Stück weit neu. Lange Zeit hatte Feminismus einen schlechten Ruf, es war nicht erstrebenswert, Feministin zu sein. Das ist nicht mehr so, aber der Feminismus, der heutzutage medial präsent und sexy ist, speist sich weniger aus der feministischen Theorie, dafür umso mehr aus der marktbezogenen Nutzbarmachung eines popkulturellen Feminismus. Eine verwässerte feministische Botschaft, gedruckt von ausgebeuteten Frauen auf ein „Made-in-Bangladesh“-T-Shirt.
Frauen entdecken Feminismus meist dann für sich, wenn sie ihn brauchen, und als Mutter erwächst da eine besondere Dringlichkeit. Dass man sich mit Anfang  20 noch nicht für die Lage von Müttern, insbesondere alleinerziehenden Müttern interessiert, ist logisch. Die Zeit, in der man selbst ein Teenager war und Eltern langweilig, uncool und uninformiert fand, ist noch nicht lange her. Selbst Kinder zu bekommen, erscheint verdammt fern am Horizont. Rückblickend fand auch ich wohl mit den Zusammenhang zwischen der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft und der Mutterschaft kein ergiebiges Thema, weil es keine so naheliegende Idee ist, dass Frauen, die als Mütter durchschnittlich alle älter sind als man selbst, aufgrund ihrer Lebenslage „unterdrückter“ sind, weniger Wahlfreiheit haben. Das Erwachsenwerden funktioniert doch von der Jugend bis zum Ende der Ausbildung so, dass man immer mehr Autonomie und finanziellen Spielraum dazugewinnt. Ich hatte mich mit Sexismus beschäftigt, Simone de Beauvoir gelesen, fand erschreckend, wie weitverbreitet Gewalt gegen Frauen ist, und war persönlich nicht daran interessiert, aufgrund meines Geschlechts gesellschaftlich einer untergeordneten Position zugeordnet zu werden.
Die Geschlechterrolle „Frau“ ist bereits eine Zumutung, aber die Mutterrolle stellt handfeste Grenzen auf. Wie schwierig die Lebenslage von Müttern sein kann und was das mit Patriarchat und Kapitalismus zu tun hat, das war mir nicht klar, bevor ich selbst Kinder hatte. Und ich war geschockt. Sehr geschockt, dass man als Mutter so derartig im Stich gelassen werden kann, ohne jegliche Konsequenz für den Vater, der keinen Unterhalt zahlt und so gut wie nie das Kind betreut. Weil sich ab und zu um das Kind zu kümmern zwar insofern schön ist, als dass wenigstens ein bisschen Vater-Kind-Bindung entsteht, aber es für die Mutter wegen der fehlenden Planbarkeit keine Entlastung in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Zudem ist es eine zusätzliche Belastung, bis zur letzten Minute nicht zu wissen, ob ein Treffen stattfindet: sich mental darauf vorzubereiten, den Expartner zu treffen, Freizeitaktivitäten spontan absagen zu müssen, weil er doch nicht kommt, all das neben den ganzen anderen Stressoren, wie Armut, Stigma oder Überlastung, die das „So-richtig“-alleinerziehend-Sein mit sich bringt.
In so eine Situation können Männer einen einfach so bringen, und es gibt kein Instrument, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Sich nicht um die eigenen Kinder zu kümmern, keine Verantwortung für die Familie zu übernehmen, passt in das Bild, das wir uns von Vätern in dieser Gesellschaft machen. Am allerschlimmsten sind die Leute, die die Empörung darüber gar nicht verstehen, die irritiert sind: Als Mutter sei es doch sowieso unsere Aufgabe. Man hätte das Kind ja nicht bekommen müssen, wenn man sich jetzt nicht darum kümmern will. 50:50-Elternzeit? Völlig übertriebene Anspruchshaltung! Durch eine Schwangerschaft tun sich jede Menge Themen auf, sowohl die persönliche, die individuelle Entwicklung betreffende als auch Themen, die die eigene Position in der Gesellschaft und den Umgang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betreffen.
Durch meine Schwangerschaft hat sich mein ganzes Leben verändert. Formell betrachtet ist bei mir alles gut gelaufen. Gesunde Mutter, gesundes Kind. Keine Komplikationen, keine Geburtsverletzungen. Aber jede Geburt ist ein einschneidendes Erlebnis. Ich hätte jemanden gebraucht, der in meinem Team ist, auf den ich mich in diesem vulnerablen Moment verlassen kann. Die Geburt meines Sohnes war mein erster großer „Das-war-verdammt-hart-und-ich-habe-das-allein-geschafft,-weilich-es-schaffen-musste“-Moment. Fast ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie das Leben als alleinerziehende Mutter werden würde.
Für mich war völlig klar, dass ich mein Studium abschließen wollte, dass ich es abschließen musste. Und weil ich nicht wusste, dass allgemein üblich ist, dass gute Mütter mindestens ein Jahr Elternzeit machen, in Westdeutschland besser drei, und Väter höchstens, wenn überhaupt, die zwei danach benannten Vätermonate, habe ich nur ein Urlaubssemester lang Elternzeit gemacht. Zum nächsten Semester, als mein Kind acht Monate alt war, habe ich mir dann einen Praktikumsplatz für das anstehende fünfmonatige Praxissemester, das in meinem Studiengang Pflicht war, besorgt. „Ist ja nicht nur mein Kind“, dachte ich, und fand es völlig selbstverständlich und normal, dass der Vater die zweite Hälfte der Elternzeit machen würde. Dem war dann leider nicht so. Kurz vor Beginn meines Praxissemesters hat er mir mitgeteilt, dass er den Kleinen nicht betreuen würde können oder wollen. Wie sollte ich nun das Praxissemester machen, ohne das ich meinen Hochschulabschluss nicht bekommen würde? Und wie sollte ich ohne Abschluss genug Geld verdienen, um für mich und mein Kind zu sorgen? Fragen, die sich der Erzeuger in unserer Gesellschaft offenbar nicht stellen muss.
Care-Arbeit, also das notwendige Sich-um-jemanden-Kümmern, zum Beispiel in Form von Pflege, Erziehung, Hausarbeit, bleibt meistens an Frauen hängen. Nach der Geburt des ersten Kindes findet in bürgerlichen Heterokleinfamilien in der Regel die sogenannte Retraditionalisierung statt, bei der plötzlich die klassischen Geschlechterrollen und Zuständigkeiten in der Familie gelebt werden, die für Frauen viel Selbstaufgabe und wenig Freiheit bedeuten.
Bei mir hat sich das trotz aller gesellschaftlichen Gegebenheiten, Institutionen, Gesetze, des Drucks und der Geschlechterrollen, die uns alle in diese Richtung drängen, dann anders weiterentwickelt, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen war einfach kein Partner da, der die klassische Vaterrolle hätte übernehmen können. Ich lebe nicht in einer traditionellen, bürgerlichen Kleinfamilie, weil ich gar nicht die Möglichkeit dazu hatte. Ohne Partner keine klassische Rollenverteilung. Und der andere Grund, warum ich mich nicht in einer traditionellen Kleinfamilie wiedergefunden habe, ist der, dass ich von vornherein wenig Interesse daran hatte, weil ich den Deal der klassischen Rollenverteilung in der Heterokleinfamilie von Anfang an absolut ungerecht fand.

Aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas