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»Wenn die Welt gefährlich ist, dann darf die Literatur nicht harmlos sein!« – Interview mit der Literaturkritikerin Sieglinde Geisel

Brennende Wälder, schmelzende Polkappen, Extremwetterereignisse, Kriege und soziale Verteilungskämpfe: Die multiplen Bedrohungen unserer Lebensweisen, Gesellschaften und der uns umgebenden Umwelt spielen selbstverständlich auch in den Büchern, Filmen und Computerspielen unserer Gegenwart eine wichtige Rolle. Gerade die weitreichenden Folgen des Klimawandels werfen die Frage auf, ob die Kunst unserer Zeit auch wirklich im Bewusstsein einer planetaren Katastrophe entsteht und dieses (naturwissenschaftlich breit artikulierte) Bewusstsein zum Teil unseres Lebensgefühls, unseres Zeitgeists, unserer Alltagsgespräche macht. Kann sie das? Soll sie das überhaupt? Wir haben uns mit der Autorin, Literaturkritikerin und Kuratorin Sieglinde Geisel über diese Frage unterhalten. Über die ästhetischen Herausforderungen, gute Erzählungen zwischen Dystopie und Utopie zu schreiben. Und über Climate Fiction. Unter dieser Bezeichnung werden erzählerische Werke unterschiedlicher Genres, Ausdrucksformen und Gattungen versammelt, die sich genau dieser Herausforderung widmen: künstlerische Antworten auf die globalen ökologischen Krisen finden. Sieglinde Geisel war Mitkuratorin des Climate Fiction Festivals 2020 – dem weltweit ersten Literaturfestival mit dem Schwerpunkt Klimakrise und Literatur. Was sich seitdem aus ihrer Sicht in der öffentlichen Wahrnehmung, in unserer Popkultur und in den Köpfen verändert hat, kannst du in diesem Interview nachlesen:

Sie waren im Jahr 2020 Mitinitiatorin des ersten Climate Fiction Festivals in Berlin. Wie kam es, dass Sie sich zu dieser Initiative entschlossen haben?

Das war ein Zufall. Ich trug mich schon länger mit dem Gedanken, etwas über die fehlenden Narrative des Klimawandels zu schreiben. Da lernte ich bei einer Weiterbildungsveranstaltung des Deutschlandfunk Kultur für freie Mitarbeiter Martin Zähringer und Jane Tversted kennen. Sie hatten schon einige Features zum Thema Climate Fiction gemacht, und beim Mittagessen erzählten sie mir, dass sie ein Festival mit Climate Fiction planten und noch jemanden zur Verstärkung suchen. Spontan entschloss ich mich, mitzumachen, obwohl wir uns noch gar nicht kannten.

Es ist interessant, dass ein Thema, das die mediale Berichterstattung der vergangenen Jahre mitprägt, in den Kulturressorts im deutschsprachigen Raum wenig präsent war (wie etwa Mitinitiator Martin Zähringer in diesem Interview befindet). Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Das ist mir ein absolutes Rätsel. Wenn ich etwa beim Deutschlandfunk Kultur einen Kommentar zur Klimakrise anbiete, heißt es manchmal: „Ach gut, dass Sie wieder einmal etwas dazu machen!“ Als würde sich sonst niemand darum kümmern. Letztlich sind die Kulturressorts dann eben doch kein Korrektiv, sondern ein Teil der Gesellschaft, man hat Anteil an der Verdrängung. Womit die Medien ihre Verantwortung nicht wahrnehmen: Die Klimakrise ist nicht nur ein Politik-, sondern auch ein Medienversagen.

Climate Fiction: 

Climate Fiction oder Cli Fi ist eine neue Strömung in der internationalen Literatur, die die Klimakrise ernst nimmt. Krimi, Thriller, Science Fiction, Lyrik, Gesellschaftsroman und erzählendes Sachbuch – Cli Fi ist Literatur mit Haltung und ein offener Zugang zur wichtigsten Herausforderung unserer Zeit.

Auf der Seite des Cli Fi Festivals findest du eine ausführliche Zusammenfassung.

Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

Sieglinde Geisel arbeitet als freie Literaturkritikerin, Moderatorin und Schreibcoach in Berlin. Sie war Kulturkorrespondentin der NZZ in New York (1994–1998) und Berlin (1999–2016) und ist Gründerin von tell, einem Onlinemagazin für Literaturkritik und Zeitgenossenschaft. Als Literaturkritikerin war Sieglinde Geisel regelmäßig Studiogast bei SRF Kultur in der Sendung „Literatur im Gespräch“ sowie im Deutschlandfunk Kultur. Dort äußert sie sich in Kommentaren zu Klimadebatten, und sie rezensiert Bücher, die sich mit der Klimakrise beschäftigen. Für das Climate Fiction Festival arbeitet sie als Kuratorin und Moderatorin.

Foto: © Niklaus Bächli

Man bekommt immer häufiger den Eindruck, dass die diffuse Krisenhaftigkeit der Gegenwart insgesamt zu einer Art Hintergrundgeräusch unserer Zeit geworden ist. Bemerken Sie – als Literaturkritikerin – seit 2020 eine Änderung innerhalb der Literatur in dieser Hinsicht? 

Seltsamerweise eben gerade nicht. Ich wundere mich vielmehr darüber, dass sich die Themen nicht geändert haben: Man schreibt immer noch über seine Kindheit, die zerrüttete Ehe oder den Nazi-Opa, als wäre alles ganz normal.
Eine Reaktion auf die Zustände der Gegenwart fällt mir bei einem ganz anderen Thema auf, und das ist kein bisschen diffus: Es geht um die Katastrophe namens Russland. Diese ist allerdings nur in Büchern osteuropäischer Autor*innen präsent, dort aber umso erschütternder: Autoren wie Sergej Lebedew, Alhierd Bacharevič, Szczepan Twardoch läuten hier die Alarmglocken, und zwar auf höchstem literarischem Niveau.

Glauben Sie, dass Kunst an den sozialen, politischen Bedingungen, aus denen sie entsteht, etwas ändern kann?

„Poetry makes nothing happen“, sagt W. H. Auden. Das stimmt allerdings nur für die Politik im großen Maßstab, auf der Ebene der individuellen Leser*innen setzt Poesie durchaus Dinge in Gang. Mein Denken und Fühlen ändert sich ständig durch die Kunst, die ich in mein Leben hineinlasse. Durch Kunst „lernt“ man nichts, sondern man macht Erfahrungen, daher lassen sich die Änderungen nicht leicht dingfest machen.
Hans Magnus Enzensberger sagt: „Schriftsteller erfinden Gefühle.“ Das ist vielleicht der Hebel, an dem Kunst ansetzt. Sie bringt Dinge in unser Bewusstsein. Dass die Kunst kaum etwas dazu beiträgt, uns die Klimakatastrophe zu vergegenwärtigen, ist fatal.

Engagierte Literatur vs. literarischer Aktivismus: Wo liegen für Sie als Kritikerin die ästhetischen Herausforderungen, gute Texte über drängende Probleme zu schreiben?

Wenn Literatur politisch eingreifen will, ist sie oft ästhetisch unbefriedigend (Stichwort Thesenroman). Literatur jedoch, die ästhetisch keine Wirkung entfaltet – bei der wir eben keine unmittelbare Erfahrung machen –, wird auch politisch nichts erreichen. Ein frühes Beispiel engagierter Climate Fiction ist Ilija Trojanows „Eistau“ (2011). Der Roman wurde durchgehend verrissen, er wirkt konstruiert. Man spürt die Absicht und ist verstimmt …
Was ich in der gegenwärtigen Literatur vermisse, sind nicht diese typischen Cli-fi-Romane (Zukunftsszenario, Klimawissenschaftler als Protagonist, der den Leuten die Klimakrise erklärt etc.), sondern Literatur, die im Bewusstsein geschrieben ist, dass mit uns möglicherweise die Geschichte der Menschheit oder zumindest der Zivilisation endet. Das müsste uns erschüttern, und wenn Autor*innen in diesem Bewusstsein schreiben würden, kämen dabei andere Bücher heraus. Es ginge etwa um solche Fragen: Wie verändert das mein Lebensgefühl bzw. das Lebensgefühl einer Figur? Hat sie Angst vor dem Sommer, vor der unentrinnbaren Hitze? Wovon träumt diese Figur dann? Was hat noch Sinn, was nicht mehr?
Aber man kann Autor*innen nicht vorschreiben, was und wie sie schreiben. Auch sie sind Teil der Gesellschaft, in der sie leben. In diesem Sinn hat eine Gesellschaft auch immer die Literatur, die sie verdient.


Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

Mein Denken und Fühlen ändert sich ständig durch die Kunst, die ich in mein Leben hineinlasse. Durch Kunst „lernt“ man nichts, sondern man macht Erfahrungen, daher lassen sich die Änderungen nicht leicht dingfest machen.

– Sieglinde Geisel

Ihr Fokus richtet sich ja besonders auch auf die Literatur des afrikanischen Kontinents und zuletzt auf die gegenwärtige Exilliteratur, etwa aus Russland, Belarus, Iran, der Türkei. Hier begegnet man ja etwa am politischen Feld ganz ähnlichen Fragestellungen. Können uns literarische Werke näher an eine empfundene Wirklichkeit heranführen als journalistische Beiträge?

Die osteuropäische Literatur habe ich oben bereits erwähnt. Was ich an den nicht-westlichen Literaturen spannend finde, ist das Verhältnis zur Politik. Bei Autor*innen aus Nigeria, Indien oder dem Iran stößt man mit der Frage, ob sie sich als politische Autor*innen verstehen, oft auf Unverständnis: „Als was denn sonst?“ Ein unpolitisches Schreiben ist für viele undenkbar. Ich scheue mich vor allgemeinen Zuschreibungen, aber mir scheint, diese Literatur entstehe aus einer anderen Dringlichkeit. Der Rückzug ins Private, in die autofiktionale Selbstbespiegelung ist hier ein Luxus, den man sich nicht leisten kann. Im Weiteren jedoch sind die Individuen in nicht-westlichen Gesellschaften viel stärker mit der Gemeinschaft verbunden, in der sie leben (was wiederum Fluch und Segen sein kann). „Der Dichter begleitet sein Volk in dem, was es durchmacht.“ Diesen Satz habe ich vor Jahren auf einer Buchmesse aufgeschnappt, es war ein Autor aus dem arabischen Raum, und er antwortete damit auf die Frage nach der Aufgabe des Schriftstellers. In der westlichen Wohlstandsgesellschaft ergibt dieser Satz kaum einen Sinn. Überall sonst auf der Welt ist er selbstverständlich.
In Diktaturen jedoch wird die Literatur entpolitisiert. Sergej Lebedew beschreibt das sehr genau für Russland: Innerhalb Russlands gibt es keine literarische Auseinandersetzung mit Themen wie Tschernobyl, den Tschetschenienkriegen, geschweige denn mit dem Krieg gegen die Ukraine. Deshalb hat Lebedew mit seinem Werken auch das Anliegen einer Re-Politisierung der russischen Literatur.


Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

Was ich in der gegenwärtigen Literatur vermisse, (…) Literatur, die im Bewusstsein geschrieben ist, dass mit uns möglicherweise die Geschichte der Menschheit oder zumindest der Zivilisation endet.

– Sieglinde Geisel

Alle Fakten liegen – so scheint es – auf dem Tisch, trotz einer sehr weitreichenden rationalen Anerkennung der drohenden Klimakatastrophe scheinen unsere Gesellschaften unentschlossen, träge und passiv auf die Herausforderungen zu reagieren. Erleben wir in Wahrheit eine Krise der Kommunikation und ist dies aus Ihrer Sicht ein spezifisches Symptom unserer Zeit?

Einerseits ist es eine Krise der Kommunikation. Der Klimawandel bietet etwa Greenpeace wenig Material für Kampagnen: Es gibt keinen klar identifizierbaren Feind, er bietet keine Gelegenheit für öffentlichkeitswirksame Aktionen wie das Anbringen eines Transparents auf dem Kühlturm eines AKWs. Die fehlenden Bilder (zumindest bis vor kurzem) sind für die Medien ein Problem. Angesichts der fortschreitenden Medienkrise sind Zeitungen und Funkmedien stärker als früher auf hohe Zugriffszahlen angewiesen (auch der ÖRR, der wiederum durch die Rechten in eine künstliche Legitimationskrise getrieben wird). Doch Klimawandel ist nicht sexy, damit holt man sich keine Klicks. Zum Kommunikationsproblem gehört im Weiteren die politische Agitation von rechts, die den Klimadiskurs durch Fake News und Halbwahrheiten verzerrt.

Andererseits hat man es mit einem tieferen Problem zu tun: dem Kassandra-Syndrom. Kassandra wurde mit dem Fluch belegt, dass ihre Prophezeiungen immer eintreffen, doch niemand ihr glaubt. Genau das ist die Situation der Klimawissenschaft. Dieses Nicht-Glauben hat auch eine psychologische Komponente: Probleme, für die wir keine Lösung haben, verdrängen wir. Die Klimakommunikation ist von einem klischeehaften Bemühen gezeichnet, trotz allem eine positive Stimmung zu verbreiten, jedes Interview hört mit der Frage auf: „Gibt es noch Hoffnung?“. Hans Joachim Schellnhuber, der sich als Klimawissenschaftler seit Jahren für die Klima-Kommunikation einsetzt, sagt: „Gute Geschichten sind Geschichten, in denen Menschen vorkommen möchten.“


Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

In unserer Lebenswelt gibt es nichts, das nicht von der Erderwärmung betroffen wird. Literatur, die auf diese Veränderung reagiert, kann sich daher in jede Richtung bewegen.

– Sieglinde Geisel

Nature Writing als einer der großen Trends der letzten Jahre zeugt von einem gesteigerten Interesse der Menschen an ihrer Umwelt. Das Schreiben über die Natur und über die Beziehung des Menschen zu ihr ist so alt wie das Schreiben selbst. Liegt in der Hinwendung zur Zukunft und zum Überleben der Menschheit als Kollektiv die eigentliche Sprengkraft von Climate Fiction?

Ich würde Nature Writing klar von Climate Fiction unterscheiden. Nature Writing feiert die Natur auf eine Weise, die ich zwiespältig finde: Im Moment des Verlusts erkennen wir, wie wunderbar die Natur doch ist. Das hat etwas seltsam Apolitisches, Eskapistisches, ein wenig im Sinn von: „Genießen wir sie, solange wir sie noch haben.“

Was die Hinwendung zur Zukunft angeht, ist sie bei der Climate Fiction meist kein politisches Programm, sondern dem Gegenstand geschuldet: Solange die Erderwärmung noch nicht auf dramatische Weise zu spüren ist, kann ein Roman nur dann davon erzählen, wenn er das Geschehen in die Zukunft verlegt. Je mehr diese Zukunft Gegenwart wird, desto weniger muss die Climate Fiction auf die Zukunft ausweichen.

Bedeutet das Ihrer Meinung nach – jenseits der verhandelten Inhalte – auch formal neue Zugänge, einen anderen Fokus? Einen erzählerischen Paradigmenwechsel gar?

Der indische Schriftsteller Amitav Ghosh kritisierte in „Die Verblendung“ den Roman als bürgerliche Gattung, die sich stark auf das Abenteuer von Individuen bezieht. Oft befinden diese Romanhelden sich im Konflikt mit der Gesellschaft. Bei der Bekämpfung der Klimakrise brauche es aber nicht so sehr imposante Heldenfiguren, sondern Kollektive, die zusammenarbeiten, so Goshs Kritik.
Es ist schwer vorherzusagen, welcher erzählerische Paradigmenwechsel daraus hervorgehen könnte. In unserer Lebenswelt gibt es nichts, das nicht von der Erderwärmung betroffen wird. Literatur, die auf diese Veränderung reagiert, kann sich daher in jede Richtung bewegen.

Lohnt vielleicht auch in Sachen Cli Fi der Blick auf außereuropäische, vielleicht postkoloniale, nicht-hegemoniale Erzähltraditionen? 

Es gibt in der Tat neue Denkrichtungen des Posthumanismus, die aus der nicht-westlichen Welt kommen: die Idee des Pluriversums etwa oder der neue Materialismus. Es sind Visionen einer Welt, in der alle Akteure  miteinander verbunden sind: menschliche und nicht-menschliche, belebte und nicht-belebte. Der Band „All We Can Save: Truth, Courage, and Solutions for the Climate Crisis“ (2020, herausgegeben von Ayana Elizabeth Johnson und Katharine K. Wilkinson) versammelt Texte ausschließlich von Frauen, mit einem Fokus auf indigene und postkoloniale Stimmen.
Doch das sind Randerscheinungen, der Mainstream nimmt von solchen Bewegungen keine Notiz.

 

Gibt es Werke, die Sie in letzter Zeit besonders beeindruckt oder überrascht haben?

Es gibt wenig Klima-Literatur, die mich literarisch überzeugt. Der beste Klima-Roman, den ich kenne, ist bereits 1987 erschienen und stammt von dem australischen Autor George Turner: „The Sea and Summer“. Ansonsten haben mich die Romane der drei bereits genannten Exilautoren überrascht: „Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit“ von Sergej Lebedew, „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič und „Kälte“ von Sczcepan Twardoch.

Lesetipp: 

Wenn dich dieses Interview interessiert hat und du auf der Suche nach weiteren Artikeln, Büchern, Autor*innen bist, die sich mit Literatur und Klimakrise beschäftigen, dann schau doch bei unserem Schwesternverlag Löwenzahn vorbei – die Bücher von Rob Hopkins, Katharina Mau und Sara Fromm könnten genau das Richtige für dich sein!

Tax us now! – Warum wir endlich Steuergerechtigkeit brauchen. Ein Gastbeitrag von Marlene Engelhorn und Yannick Haan

Taxmenow Initiative für Steuergerechtigkeit ist ein Zusammenschluss von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich gegründet hat, um Antworten auf das Problem der stetig anwachsenden Ungleichheit der Vermögensverteilung in unseren Gesellschaften zu finden. Diese extreme Ungleichheit ist den Initiator*innen zufolge auch das Ergebnis einer Steuerpolitik, die systematisch Vermögende privilegiert und die Besteuerung, insbesondere von Vermögen und Erbschaften, kontinuierlich verringert hat. Das Resultat ist eine demokratiegefährdende Machtkonzentration in Form von Kapital und Einfluss in den Händen von Wenigen, die der wachsenden materiellen Unsicherheit von Vielen gegenübersteht. 

Aus einer privilegierten Position heraus setzen sich hier Vermögende ein, um ihre Vision von Wohlstand, Teilhabe und sozialer Sicherheit für alle zu ermöglichen. Wir haben mit Marlene Engelhorn und Yannick Haan, beide Mitglieder im Presseteam von taxmenow, nach ihren Beweggründen für ihr Engagement und nach ihren Zielen gefragt. Mit diesem lesenswerten Gastbeitrag haben sie geantwortet:

Wir haben beide geerbt. In sehr unterschiedlichem Maße, aber wir haben beide von einem System profitiert, das wir selbst anprangern. Wir haben beide erlebt, wie die eigenen Privilegien die Chancen verändern und wie andere in unserer Gesellschaft nie eine Chance bekommen. Während die einen in Reichtum aufwachsen und diesen meist vermehren können, haben andere nie eine Chance. Diese Ungleichheit hat System und ist politisch gewollt.


taxmenow – Initiative für Steuergerechtigkeit e.V.<br>ist eine Initiative von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt.

„Obwohl wir die angebliche Leistungsgesellschaft rhetorisch weiter vor uns hertragen, können wir nicht behaupten, dass wirklich alle dieselben Chancen haben.“

Marlene Engelhorn & Yannick Haan, taxmenow

Die Politik hat unsere Gesellschaft so gestaltet, dass trotz Demokratie die Herkunft zum zentralen Faktor für wirtschaftlichen Erfolg geworden ist. Obwohl wir die angebliche Leistungsgesellschaft rhetorisch weiter vor uns hertragen, können wir nicht behaupten, dass wirklich alle dieselben Chancen haben. Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, in der die Reichen ihren Reichtum immer weiter vermehren können und auf der anderen Seite jede*r Fünfte von Armut bedroht ist. Das Leistungsnarrativ dient letztlich nur dazu, jenen, die es wirtschaftlich „nicht schaffen”, weil sie es strukturell nie schaffen können, das Gefühl zu geben, an ihrer wirtschaftlichen Situation selbst schuld zu sein. Das Problem sitzt aber tief in den Strukturen. Und strukturelle Probleme lassen sich nun mal nicht durch individuelles Handeln lösen. Gerade weil Reichtum und Armut strukturell miteinander verbunden sind, sehen wir bei taxmenow, die wir vom jetzigen System profitiert haben, eine besondere Verantwortung, die Ungleichheit zu kritisieren.

Marlene Engelhorn und Yannick Haan sind Teil des Presseteams von taxmenow – einer Initiative von Vermögenden, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt. Sie finden es wichtig, dass Vermögende nicht zu den Ungerechtigkeiten, von denen sie profitieren, schweigen und sich stattdessen solidarisch an der öffentlichen Diskussion beteiligen.

Unsere Gesellschaften sind weltweit in den letzten Jahren wirtschaftlich immer weiter auseinandergedriftet. Wir sehen deutlich, dass der Reichtum bei einigen Wenigen immer mehr zugenommen hat. Aber auch in Österreich und Deutschland haben wir mittlerweile eine neue und gefährliche Dimension der Vermögensungleichheit erreicht. In Deutschland besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung rund 35 Prozent des Vermögens. Auf der anderen Seite haben 40 Prozent der Bevölkerung überhaupt kein Vermögen, sie sind den aktuellen Krisen wirtschaftlich schutzlos ausgeliefert.[1] Gleichzeitig nimmt die Armut in unserer Bevölkerung weiter zu. Jedes fünfte Kind ist heute von Armut betroffen. Und das in einem der reichsten Länder der Welt. In Österreich ist die Ungleichheit sogar noch größer. Das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt über 40 Prozent des Vermögens.[2]

Neben der Ungleichheit können wir einen sich selbst verstärkenden und überbordenden Überfluss an Vermögen bei Einzelnen beobachten. Es sind Menschen mit unvorstellbarem Vermögen, die sich letztlich selbst verstärken. In Österreich hat Mark Mateschitz, Sohn des Red-Bull-Gründers Dietrich Mateschitz, ein Vermögen von 39,6 Milliarden US-Dollar geerbt. In Deutschland wiederum besitzt der Erbe Klaus-Michael Kühne ein Vermögen von über 40 Milliarden Dollar. Es ist kein Zufall, dass in beiden Ländern Erben an der Spitze der Vermögensliste stehen.

Historisch gesehen leiden Gesellschaften schon Jahrhunderte an Ungleichheit. Es wirkt, als sei es normal, unabänderlich, schließlich hat es immer Menschen in Reichtum und Armut gegeben. Ganz stimmt das nicht. Denn gerade die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat deutlich mehr Regulierung, mehr Gleichheit und mehr Wohlstand für alle gekannt als jede Zeit vor ihr. Die Schere zwischen Arm und Reich konnte auf einem demokratieverträglichen Niveau gehalten werden, insbesondere durch hohe Steuern auf Einkommen und Vermögen – Steuern waren einfach ein Mittel zum Zweck einer sinnvollen Haushaltspolitik. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wir erleben, wie die Überreichen aus jeder Krise noch reicher hervorgehen, wie die Gewinne privatisiert und die Verluste der Überreichen sozialisiert werden. „Too big to fail” lautet bis heute die Devise. Wir haben es in der Finanzkrise erlebt, wo der Staat für die Fehler der Wenigen bezahlt und die Rechnung übernommen hat. In der Corona-Krise hingen viele in der Kurzarbeit fest, während die Vermögenden ihr Vermögen weiter ausbauen konnten. Während die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen seit 2020 mehr als verdoppelt haben, haben die ärmsten fünf Milliarden Menschen mehrere Milliarden verloren.[3]

Das kann und darf so nicht bleiben. Vermögensungleichheit und Überreichtum stellen aus vielen Gründen ein wachsendes Problem für unsere Gesellschaft dar. Auf individueller Ebene wirkt sich die Vermögensungleichheit negativ auf die physische und psychische Gesundheit, die Lebenserwartung, die Bildung, den Drogenkonsum, die Selbstmordraten und die Inhaftierungsraten aus.[4] Reiche Menschen verursachen durch ihren Konsum und ihre Investitionen außerdem extrem hohe Emissionen. Nimmt man die Emissionen aus Konsum und Investitionen zusammen, so verursachen die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung fast 50 Prozent der Emissionen.[5]

Aber es gibt ein zentrales Argument gegen Ungleichheit. Demokratie bedeutet, dass jeder eine Stimme hat. Demokratie bedeutet, dass jeder sich beteiligen kann und potenziell gehört wird. Sie bedeutet, dass Macht geteilt wird. Das ist der Kern des demokratischen Gedankens; die Praxis sieht aber anders aus, denn: Macht ist leider auch in einer Demokratie nie wirklich gleich verteilt. Geld bedeutet Macht, es bedeutet, Gehör in der Politik zu bekommen und Einladungen in die Medien – wir zwei, die hier schreiben, belegen das eindeutig. Wenn eine Demokratie vor allem das Wohlergehen weniger Reicher im Auge hat, dann funktioniert sie nicht mehr, dann befinden wir uns in einer Krise und entfernen uns immer weiter vom demokratischen Gedanken. Unsere extreme Ungleichheit verhindert derzeit jede Veränderung der Situation.

Die Reichen nutzen heute ihre politische Macht gegen jede Form der Veränderung. Wir erleben immer im Ergebnis politischer Entscheidungen, wie sich die Lobby des großen Geldes mit ihrem Vermögen gegen das Wohl der Gesellschaft stellt – ob es um Lieferketten, CO2-Bepreisung oder Besteuerung von Vermögen und Erbschaften geht. Die größten Gegner politischer Reformen sind Verbände, die von Milliardenunternehmen finanziert werden und ihre große Lobbymacht ungeschützt ausnutzen, um Veränderungen zu verhindern.[6] Einige Abgeordnete haben sich bereits über das aggressive Verhalten der Lobby des großen Geldes beschwert: Für den deutschen Bundestagsabgeordneten Toni Hofreiter sind die Verbände aggressiver als etwa die Rüstungs- oder Chemieindustrie.[7] Dabei verstecken sich die Lobbygruppen gerne hinter dem schwammigen Label „Familienunternehmen“.

Die Liste der Interessenvertretungen der Vermögenden ist lang und kaum einer scheut sich, drastische Worte an die Öffentlichkeit und die Politik zu richten. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2014 die Erbschaftssteuer in Deutschland kippte, musste diese neu geregelt werden. Der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble wollte bereits zu Beginn der Debatte über die Umsetzung des Urteils nur minimale Änderungen am System der Erbschaftsteuer vornehmen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt gewesen, das Thema noch einmal grundlegend anzugehen. Doch dazu wollte sich die damalige Regierung nicht durchringen. Bis heute rühmen sich die Verbände, an der Neuregelung der Erbschaftssteuer mitgeschrieben zu haben. Leider hat die Politik auf sie gehört.


taxmenow – Initiative für Steuergerechtigkeit e.V.<br>ist eine Initiative von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt.

„Ungleichheit, das muss man sich immer wieder vor Augen führen, ist kein Naturereignis.“

Marlene Engelhorn & Yannick Haan, taxmenow

Aber: Ungleichheit, das muss man sich immer wieder vor Augen führen, ist kein Naturereignis. Sie ist ein politisch bewusst herbeigeführter Zustand, der über die Verteilung von Ressourcen gestaltet wird. Darum kann man Armut als das eine Extrem der Verteilung nur abschaffen, wenn man auch das andere Extrem abschafft: Überreichtum. Die politische Grundlage dafür: Gesetze, die unser Miteinander so regeln, dass wir Menschen weder zur Armutsbetroffenheit verdammen noch ihnen durch extremen Reichtum Macht in die Hände drücken, die weder legitim noch reguliert ist, wie es die Demokratie eigentlich verlangen würde. Dass das gehen kann, zeigt die Geschichte.

Bis in die 1980er Jahre gab es in den westlichen Ländern eine demokratieverträgliche Ungleichheit. Es gab Ungleichheit, aber sie hielt sich auf einem relativ niedrigen Niveau. Individueller sozialer Aufstieg war für viele weiße Cis-hetero-Männer noch möglich. Inwieweit patriarchale und strukturell rassistische Verschränkungen die damaligen Aufstiegschancen einer spezifischen Gruppe, deren Mitglieder gesellschaftlich und strukturell als politisches Subjekt anerkannt waren, vorbehalten haben, ist umfangreich belegt, aber wir beide haben nicht ausreichend Expertise, um das gründlich auszuführen. Dennoch wollen wir es dringend anmerken, da Intersektionalität bei einer seriösen Kritik an Ungleichheit nicht ausgeklammert werden kann. Zurück in der Nachkriegszeit konnten also gerade die Babyboomer-Jahrgänge einen wirtschaftlichen Aufstieg erleben. Das System war wirklich nicht perfekt, aber es ist ein eindrückliches Gegenbeispiel zu heute.

In unserer Generation ist die Situation nämlich ganz anders. Wir haben eine hohe und verfestigte Ungleichheit. Wir haben eine Ungleichheit, die immer weiter und immer schneller wächst. Und wer heute mindestens Millionär:in werden will, muss im Lotto gewinnen oder erben. Es ist ohne bestehende finanzielle Rücklagen und Glück nicht mehr möglich, durch Arbeit oder Anstrengung ein Vermögen aufzubauen.


taxmenow – Initiative für Steuergerechtigkeit e.V.<br>ist eine Initiative von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt.

„Wer heute durch Geldanlage andere für sich arbeiten lässt, zahlt weniger Steuern als die Mehrheit der Bevölkerung, die ein reguläres Arbeitseinkommen selbst erwirtschaftet.“

– Marlene Engelhorn & Yannick Haan, taxmenow

Diese wirtschaftliche Situation der Gesellschaft ist vor allem auf die Veränderung des Steuersystems zurückzuführen. Seit den 1980er Jahren wurden sowohl in Österreich als auch in Deutschland sämtliche Steuern mit Bezug auf Vermögen massiv gesenkt. In Österreich wurde beispielsweise die Erbschaftsteuer 2008 komplett abgeschafft. In Deutschland wiederum haben wir die absurde Situation, dass vor allem sehr hohe Erbschaften nicht besteuert werden.[8] Die Steuer unterstützt damit die Umverteilung von Vermögen aus der Mitte nach oben in die Gesellschaft. Klassische Vermögensteuern gibt es in beiden Ländern nicht mehr und Aktiengewinne werden niedriger besteuert als Arbeitseinkommen und obendrein nicht progressiv. Wer heute durch Geldanlage andere für sich arbeiten lässt, zahlt weniger Steuern als die Mehrheit der Bevölkerung, die ein reguläres Arbeitseinkommen selbst erwirtschaftet. Eine neue Studie kommt obendrein zu dem Ergebnis, dass die Steuer- und Abgabenquote von Millionär*innen in Deutschland bei 29 Prozent und in Österreich bei 30 Prozent liegt. Eine Durchschnittsfamilie kommt in Deutschland dagegen auf 43 Prozent, in Österreich auf 42 Prozent.[9] Diese Zahlen zeigen die Absurdität und Ungerechtigkeit unseres Steuersystems. „Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache“, das war einmal der Leitsatz unseres Steuersystems. Heute hat sich das System ins Gegenteil verkehrt. Das ist der zentrale Grund, warum die Ungleichheit in unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren geradezu explodiert ist. Und hier liegt auch der zentrale politische Hebel, um die Ungleichheit zu reduzieren. Die London School of Economics hat die Auswirkungen von Steuersenkungen für Reiche über einen längeren Zeitraum untersucht. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Steuerpolitik – anders als oft propagiert – keinen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum hatte. Im Gegenzug ist die Ungleichheit durch den Umbau des Steuersystems explodiert.[10]

Deshalb halten wir bei taxmenow einen Umbau unseres Steuersystems für zentral. Wir brauchen eine Erbschaftsteuer, die diesen Namen auch verdient und endlich die hochvermögenden Erb*innen besteuert. Wir brauchen eine Vermögensteuer. Und wir brauchen eine progressive Besteuerung von Kapitalerträgen. Wir wissen heute, welche verheerenden Folgen die Ungleichheit für unsere Gesellschaft hat. Ein Steuersystem, wie wir es vorschlagen, wäre keine Revolution, im Gegenteil. Es wäre die logische Fortführung eines Steuersystems, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Motor des Wohlstands bewährt hat. Zumindest, bis die neoliberale Ideologie den Rückwärtsgang eingelegt hat und nun versucht, uns ins feudale Zeitalter zurück zu katapultieren. Die Demokratie wird dabei aber auf der Strecke bleiben.

Steuerpolitik ist in Zahlen gegossene Sozialpolitik. Deshalb ist es Zeit für einen Wandel. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der auch die Reichen verpflichtet sind, ihren Teil beizutragen. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der jede*r eine echte Chance hat. Und wir brauchen eine Gesellschaft, in der alle eine politische Stimme haben. Es ist an der Zeit, unsere Gesellschaft zum Wohle der Vielen zu verändern.

Daher gilt heute mehr denn je: tax us now!


Du möchtest mehr über die Tätigkeiten der Initiative für Steuergerechtigkeit taxmenow erfahren? Unter taxmenow.eu findest du alle Informationen.

Vielleicht bist du jetzt auch neugierig, wie die ungleich verteilte Teilhabe, die anwachsende Ungleichverteilung von Mitteln, Zugängen, Öffentlichkeit und Wohlstand sich in den Lebensrealitäten von marginalisierten Menschen auswirkt. Und wie dieses sich verschärfende Problem auf unser gesellschaftliches Zusammenleben wirkt, wie es Ungerechtigkeiten hervorbringt, verstärkt oder deren Beseitigung verhindert.

We’ve got you covered: In den Büchern unserer Autor*innen kannst du aus erster Hand nachempfinden, wie gläserne Decken gesellschaftlichen Aufstieg verhindern, soziale Benachteiligung direkt und indirekt mit psychischen Erkrankungen, Extremismus, der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zusammenhängt. Und sie zeigen Wege auf: Wie wir uns ein anderes Zusammenleben vorstellen können, wie wir die Spirale der Ungerechtigkeit durchbrechen können und wie wir einem guten Leben für alle (!) einen Schritt näherkommen.

Du findest in unseren Buchtipps „Own Voice“ und Analyse, Anklage und Utopie, Wut, aber auch Zuversicht.

Schau jetzt rein und entdecke unsere Sachbücher und Essays zum Thema!

Gespräch mit Alexander Graeff von der Queer Media Society: „Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig.“

Die Queer Media Society, kurz QMS,  ist eine ehrenamtlich organisierte Initiative von Medienschaffenden, die sich gegen Diskriminierung von queeren Personen in allen Mediensparten einsetzt und sich für eine offene Gesellschaft engagiert. Es ist bisher das einzige Netzwerk dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum – und womöglich darüber hinaus. Wir haben uns mit Alexander Graeff, Leiter der Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ über die Notwendigkeit queerer Initiativen und Bücher unterhalten. 

Lieber Alexander, fangen wir am besten am Anfang an: Wer und was ist die QMS, wie ist sie organisiert?
Die QMS ist mehr eine soziale Bewegung, als eine Organisation im engeren Sinne. Wir sind keine NGO oder ein Verein, haben keine Rechtsform. Die QMS existiert allein durch das individuelle und kollektive Engagement unserer ehrenamtlichen Mitstreiter*innen. Jenseits dieser selbst verwalteten Gruppenstruktur gibt es keine übergeordneten Gremien, keinen Vorstand oder Ähnliches. Es gibt Aktive und Menschen, die durch ihre Stimme dem Kollektiv eher passiv Gewicht geben.

Welche Veränderungen hat die QMS bisher vorangetrieben? Wo tritt die QMS auf und mischt sich ein?
Wir versuchen, branchenpolitisch auf die unzureichende Repräsentation queerer Medienschaffender und ganz allgemein auf queere Sichtbarkeit im Hinblick auf produzierte und rezipierte Medien aufmerksam zu machen. Dabei verfallen wir nicht in den binären Modus, dass wir als marginalisierte Personen moralin auf die Mehrheitsgesellschaft zeigen. Wir kooperieren mit den Brancheninstitutionen, mit Verbänden, Produktionsfirmen, Verlagen, um gemeinsam mit den Machtzentren im Medienbereich über Machtverhältnisse und -strukturen zu sprechen. Ergebnisse sind zum einen Aufklärungsarbeit und Beratung, etwa durch Trainings zu relevanten Themen der Diversität, zum anderen möglichst pressewirksame Aktionen, Diskussionspanels, Debatten- und Diskursbeiträge sowie Veranstaltungen, die möglichst hohe queere Sichtbarkeit und Öffentlichkeit im Medienbereich generieren.

Eine große erfolgreiche Aktion der Vergangenheit war z. B. die Vorbereitung der #ActOut-Kampagne 2021 innerhalb der Film-Sektion. Allerdings hölt auch hier steter Tropfen den Stein. Ich denke, kontinuierliche Angebote sind wirksamer, weil sie regelmäßig und dauerhaft an die Schieflagen innerhalb unserer Kultur erinnern, und so die Effekte nicht nach einem Aktionsjahr wieder verpuffen. Nur so viel: Trotz #ActOut ist für 2023 ein Rückgang queerer Figuren in deutschen Filmproduktionen zu verzeichnen.
Mit der Literatur-Sektion veranstalten wir außerdem jährlich zur Buchmesse in Leipzig ein Panel zu relevanten Themen. Der Haymon Verlag ist ja unser Kooperationspartner bei diesem Projekt. Ebenso kooperieren wir auch jährlich mit dem Börsenverein des deutschen Buchhandels für die #PrideBuch-Social-Media-Aktion im Pridemonth Juni.

Alexander Graeff ist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler. Er schreibt Lyrik, Prosa sowie biografisch-philosophische Essays – und mischt die Gattungen ganz gern. Er ist Leiter des Programmbereichs Literatur im Berliner Kunst- und Kulturzentrum Brotfabrik sowie Initiator der Lesereihe „Schreiben gegen die Norm(en)?“. In der Queer Media Society setzt er sich für mehr Sichtbarkeit queerer Personen und Stoffe im deutschsprachigen Literaturbetrieb ein. Graeff engagiert sich kulturpolitisch, u. a. in der Berliner Literaturkonferenz (BLK), im Netzwerk Freie Literaturszene Berlin (NFLB) und im PEN Berlin.

Foto: Sarah Berger

Johannes Kram, Autor, Blogger und QMS-Mitstreiter sagte in seinem Vortrag bei der Kick-Off-Veranstaltung der QMS im Februar 2019 in Berlin, es sei wichtig, dass sich mehr queere Medienschaffende outen würden. Gleichzeitig räumte er ein, dass das Coming-Out insbesondere für Schauspieler*innen eine Belastungsprobe für die Karriere sei. Hieraus ergeben sich gleich mehrere Fragen: Was denkst du, warum halten sich ausgerechnet in der Kulturszene solch starre Strukturen so hartnäckig? Und: Wie schätzt du den Stellenwert des Outings ein für das übergeordnete Ziel, eine offenere und bessere Kreativlandschaft zu erreichen? Sollten sich in einer gerechteren Welt nicht alle Menschen outen müssen – oder niemand? Anders ausgedrückt: Ist diese Erwartungshaltung an ein Outing nicht eine weitere Zumutung für queere Personen, die Ungerechtigkeit zementiert?
Wir wissen ja aus der Geschichtswissenschaft, dass Kunst und Kultur zentrale Parameter einer Aktualisierung gesellschaftlicher Normen waren und sind. Romane, Theaterstücke, Gemälde, Opern usw. waren immer schon Sprachrohre mehrheitsgesellschaftlicher Lebensideale. Die frühe bürgerliche Gesellschaft wäre ohne die Ideologisierung ihrer Werte nicht ausgekommen, Stichwort: Dialektik der Aufklärung. Die Kunst half genauso mit wie die Erziehung. Ein prominentes Beispiel ist die Romantik als Kunstströmung um 1800. Ohne sie hätte sich die heteronormative Matrix mit binärer Geschlechterhierarchie, romantischer Zweierbeziehung und Reproduktionszwang nie so nachhaltig in unsere Hirne und Herzen einpflanzen können.
Die Notwendigkeit eines Outings ist in sozialwissenschaftlich-kritischer Perspektive natürlich immer ein Problem. In lebensweltlicher Hinsicht oft auch. Ich muss mir das Coming-out als notwendigen Entwicklungsschritt schönreden. Emanzipation innerhalb einer Gesellschaft ist nie erreicht, wenn die Markierung von Personen, Perspektiven und Identitäten als Erwartungshaltung existiert. Einfach, weil die Abweichung von der Norm die hegemoniale Norm bestätigt. Nur in einer idealen Gesellschaft braucht es kein Coming-out. Wir leben aber leider nicht im Wolkenkuckucksheim, sondern in einer durch und durch hierarchischen, patriarchalen und von Machtinteressen gesteuerten Kultur mit problematischer, meist unreflektierter Geschichte. In der realistischen Perspektive also ist das Outing immer noch wichtig, um den ersten Schritt der Markierung abweichender Positionen zu machen. Die traditionell nicht markierte Norm folgt dann im Prozess der historischen Emanzipation. Das hat auch viel mit Sprachfindung zu tun, denn Markierung heißt ja nichts anderes als Zustände via Sprache bezeichnen zu können. Zur Erinnerung, das Wort „trans“ ist älter als das Wort „cis“.

Im Oktober 2021 veröffentlichte die Universität Rostock die Fortschrittsstudie „Sichtbarkeit und Vielfalt“. Die Leiterin der Studie, Prof. Dr. Elizabeth Prommer, bilanzierte: „Die Ergebnisse zeigen, dass unser Fernsehprogramm noch nicht die Vielfalt der Bevölkerung abbildet.“ Bei queerer Repräsentation wird festgestellt, dass „nur rund 2 Prozent der im Beobachtungszeitraum erfassten Personen nicht heterosexuell waren.“ Sichtbar wurden nur homosexuelle (0,9%) und bisexuelle (1,3%) Charaktere. Bei 27,4% war die sexuelle Orientierung „nicht erkennbar“.
Weiterführende Erhebungen und repräsentative Zahlen für alle anderen Medienbereiche im deutschsprachigen Raum gibt es bisher nicht. Das möchte die Queer Media Society unter anderem ändern.

Du selbst bist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler – und du leitest die Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ bei der QMS. Kannst du uns ein bisschen was darüber erzählen, wie du zur QMS gekommen bist und wie deine Netzwerk-Arbeit aussieht?
Ich war 2019 beim Kick-Off der Film-Sektion dabei. Dort lernte ich den QMS-Initiator und Regisseur Kai S. Pieck kennen. Gemeinsam mit einer Gruppe von ungefähr zwölf Autor*innen und Comic-Zeichner*innen baute ich dann die Literatur-Sektion auf. Es gab regelmäßige Treffen, bei denen wir über mögliche Aktionen brainstormten. Daraus sind dann die aktuellen Dynamiken erwachsen. Leider hatte uns die Corona-Krise stark getroffen und in Sachen Engagement sehr viel Wind aus den Segeln genommen. Viele ehemals Aktive sind dadurch leider in der Versenkung verschwunden.

Heute koordiniere ich die Aktionen, die wiederum andere, neue Aktive realisieren. Dazu zählen die Panels im Rahmen der Leipziger Buchmesse und die #PrideBuch-Kampagne. Wir arbeiten so, dass jede*r das macht, was sie*er machen kann. Unsere Arbeit ist immer ehrenamtlich, d. h. angesichts der prekären beruflichen Situation vieler Autor*innen und anderer Personen, die im Literaturbetrieb arbeiten, muss die aktivistische Mehrarbeit gut geplant und effizient realisiert werden.

Welche persönlichen Beweggründe gab und gibt es für dein Engagement für die QMS? 
Für mich ist mein Engagement für die QMS bis heute eine Konsequenz meiner eigenen Politisierung seit 2014. In dieser Zeit wurde mein Schreiben insgesamt politischer, und ich auch mutiger. Das war der innere Beweggrund. Es gab auch einen äußeren. Die gesellschaftlichen und wenig später parlamentarischen Veränderungen in Deutschland machten für mich die Sache dringlich. Soviel wusste ich nämlich aus der Geschichte dieses Landes: Die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Tendenz, abweichende Teile des sozialen Miteinanders unsichtbar zu machen, ermöglichte erst den Aufstieg rechtsnationalistischer und faschistischer Projekte und Parteien. Es war fast so, als ob der immer dringlicher werdende Kampf gegen die politischen Unsäglichkeiten der letzten zehn Jahre in meine Literatur und in mein Handeln innerhalb der Branche drängte.

Was würdest du dir für die Zukunft der Buchbranche wünschen? Wo siehst du besonderen Handlungsbedarf?
Handlungsbedarf sehe ich vor allem da, wo unter Diversität ein eigenartiges Neben- und Herausstellen von vermeintlichen Werten betrieben wird. Verlage etwa, für die Queerness bloß ein mehr oder minder abstraktes Thema ist und dieses breitenwirksam verkaufen wollen, beschädigen die Emanzipationsbewegung. Queere Sichtbarkeit ist auf jeden Fall nicht, dass im selben Verlagsprogramm rechtspopulistische Propaganda neben dem Coming-of-Age-Roman eines trans Autors steht, nur weil sich damit mittlerweile auch Geld verdienen lässt. Einige konservative Verlage gehen immer noch so vor. Sie verändern ihr Programm nicht, weil sie sich ihrer Verantwortung als Kulturinstitution und gegenüber einer Gesellschaft, die sich emanzipiert, bewusst werden, sondern weil sie neue Marktanteile gewinnen wollen. Noch enttäuschender finde ich es allerdings, wenn vermeintlich progressive Autor*innen in exakt diesen paternalistischen und konservativen Institutionen ihre Bücher veröffentlichen.

Woran liegt es deiner Meinung nach, dass echte Diversität und Stimmenvielfalt am Buchmarkt scheinbar so schwer zu erreichen sind?
Ich traue Echtheit nicht über den Weg. Wann ist Echtheit erreicht? Wann ist Diversität echt? Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig. Diesen Sachverhalt durch Literatur in die Hirne und Herzen zu bringen, ist mir wichtiger, als Begriffe exakt definieren zu können.

Aber zum Inhalt deiner Frage: Es liegt an einem insgesamt prekären Betrieb, in dem sich bildungsbürgerliche Ideale verknoten mit einem beruflich bedingten Konkurrenzkampf um Honorare, Preise, Kritiken, Programmplätze usw. All das ist begrenzt und unsere Branche ist finanziell schlecht ausgestattet. Der Druck, Literatur als hehres demokratisches Instrument sehen zu wollen bei gleichzeitig unauskömmlicher Finanzierung der Sparte, macht etwas mit seinen Akteur*innen. Offenheit für Diversität jenseits des oben erwähnten Tokenismus ist also nach wie vor schwer herzustellen. Der Literaturbetrieb hat ganz grundlegend ein Verteilungs- und ein Solidaritätsproblem.

Als abschließende Frage: Wer kann Teil des QMS-Netzwerks werden und wie geht das?
Jede*r, die*der professionell im Medienbereich tätig ist, kann mitmachen. Um sich der sozialen Bewegung anzuschließen und einem wachsenden Kollektiv Nachdruck zu verleihen, sind zwei Dinge nötig: Gesicht zeigen und Stimme erheben. Auf der Internetseite der QMS kann man sich mit seinem persönlichen Foto-Statement anmelden.

 

Du arbeitest im Medienbereich und hast Lust, Teil der Queer Media Society zu werden?
Hier findest du alle Infos, die du brauchst!

„Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.“ – Till Raether im Interview

Wie alle Literatur verändert sich der Kriminalroman konstant, und immer wieder ist es notwendig, sich die Frage zu stellen: Welche Komponenten braucht ein Krimi, um zeitgemäß zu sein? Der Koblenzer Autor Till Raether spricht mit uns im Interview darüber, was einen „guten Krimi“ ausmacht und was gesellschaftspolitische Entwicklungen damit zu tun haben. 

Lieber Till, vor Kurzem wurde dein Roman „Die Architektin“ von der Hamburger Kulturbehörde zum „Buch des Jahres“ ausgezeichnet. Außerdem hast du u.a. ein großartiges Buch über Zuversicht geschrieben: „Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?“ Und natürlich kennt man deine beliebten Danowski-Krimis. Du bist also in verschiedenen Genres unterwegs. Seit wann schreibst du als Krimi-Autor und wie ist deine Faszination dafür entstanden?
Mein erster Kriminalroman ist 2014 erschienen, ich hab aber schon als Kind angefangen, Krimis zu schreiben. Ich erinnere mich an einen, der „Der Mörder kam im Leichenwagen“ hieß. Meine Mutter war treue Leserin und Sammlerin der rororo-Thriller, deren dunkle Einbände und die geheimnisvollen Titel haben mich von Anfang an fasziniert.

Der Krimi, wie wir ihn heute kennen, hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Friedrich Schiller war im deutschsprachigen Raum beispielsweise einer der ersten, der über Kriminalfälle schrieb. Wie nimmst du das Genre wahr? Hat es sich in deiner Wahrnehmung stark verändert in den letzten Jahren?
Ich finde es erstaunlich, wie groß der Unterschied zwischen Kriminalromanen und Krimis im deutschsprachigen Fernsehen ist. Während die Krimiliteratur eine große Bandbreite von Geschichten und Personen erzählt, wird im Fernsehen in den allermeisten Fällen die klassische Polizeierzählung mit Verbrechen, Ermittlung und Lösung erzählt, zwischendurch ein bisschen Privatleben und Sprüche. Ich glaube, durch die Fernseh-Krimis könnte der Eindruck entstehen, dass der deutschsprachige Krimi erstarrt ist, aber ich finde ihn recht lebendig und vielfältig.

In einem Vortrag bei der Tagung „Kriminalerzählungen der Gegenwart“ der Universität Bonn im April 2021, der auf 54Books nachzulesen ist, sagst du: „Noch viel realistischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Recherche. Aber noch viel literarischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Kunst. Was also soll ich tun, als Genre-Autor?“ Wie schaust du inzwischen auf deine bisherigen Bücher, deine Herangehensweise(n) und auf die deiner Kolleg*innen?
Ich persönlich habe meine Reihe über den Hamburger Kommissar Adam Danowski gerade mit dem siebten Band beendet, und am Ende verlässt Danowski die Polizei. Ehrlich gesagt auch deshalb, weil ich immer noch ratlos bin, wie man heute Polizei erzählen kann, ohne die ganze Zeit die gleichen Strukturen abzubilden und die gleichen Geschichten und Figurenkonstellationen zu wiederholen. Ich bewundere Kolleg*innen, die da länger durchhalten, aber ich finde andererseits, dass Ratlosigkeit auch keine Schande ist. Im Moment arbeite ich jedenfalls an einem psychologischen Thriller, bei dem die Polizei keine Rolle spielt.

 

Veränderung im Krimi-Genre, Krimi-Autor Till Raether im Interview.

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u.a. für das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Sein Sachbuch „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ stand 2021 wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seine Romane „Treibland“ und „Unter Wasser“ wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser*innen. Band 2 „Blutapfel“ wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, weitere Danowski-Fernsehkrimis sind in Vorbereitung. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Von der klassischen Detektivgeschichte bis hin zum Thriller, von Cozy-Crime bis Noir gibt es viele Facetten der Spannungsliteratur. Was braucht es, damit ein Krimi zeitgemäß ist?
Eine gewisse Bereitschaft, die Regeln des Genres oder des Sub-Genres hier und da zu durchbrechen. Und ich finde schon auch, dass ein gewisses Verantwortungsbewusstsein dazugehört, also, sich die Frage zu stellen, ob wir beim Krimischreiben zum Beispiel bestimmte Formen von Gewalt als Unterhaltung ausbeuten.

Nicht selten wird der Krimi als Trivialliteratur bezeichnet, ja, geradezu abgewertet. Wie lautet deine Antwort darauf?
Ich finde die Bezeichnung Trivialliteratur irgendwie völlig veraltet. Genreliteratur wie der Krimi folgt nun mal bestimmten Regeln, das heißt, es gibt Vereinbarungen zwischen Autor*innen und Leser*innen, dass bestimmte Erwartungen im Genre erfüllt werden. Trivial finde ich persönlich vielmehr Literatur, bei der Altbekanntes auf handwerklich lieblose Weise zum x-ten Mal wiederholt wird. Das gibt es außerhalb des Genres genauso häufig oder häufiger als innerhalb des Genres, nach meiner Leseerfahrung.

Uns, unsere Gesellschaft beschäftigen viele brisante Fragen. Sollen im Krimi-Genre aktuelle gesellschaftspolitische Themen ihren Raum finden, oder macht es für dich einen „guten Krimi“ aus, dass er zeitlos ist?
Ich denke, dass aktuelle gesellschaftspolitische Themen eigentlich immer die gleichen sind, weil es dabei immer um Machtstrukturen in der Gesellschaft geht. Darum kann ich heute noch die Sjöwall-Wahlöö-Krimis aus den Sechzigern und Siebzigern lesen, obwohl ich weit entfernt von der schwedischen Gesellschaft der damaligen Zeit bin. Ich finde eher Krimis altbacken und schnell veraltet, die die Gesellschaftspolitik ihrer Zeit ignorieren und nur Psychologie erzählen.

Wie würdest du die Zukunft des Genres einschätzen und was würdest du dir für den Krimi wünschen?
Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.

Welche(r) Krimi(s) hat/haben dich in letzter Zeit total begeistert?
Die Aosawa-Morde“ von Riku Onda, „Milchmann“ von Anna Burns und, völlig unbegreiflicherweise bisher nicht auf Deutsch übersetzt, „Lady Joker“ von Kaoru Takamura.

Wir haben deine Neugierde geweckt und du hast Lust auf noch mehr gemischte Krimis bekommen? Wirf einen Blick in unsere aktuelle Vorschau, hier kannst du weitere facettenreiche Bücher entdecken.

„Man könnte für eine Gesellschaft sorgen, in denen weniger Gründe produziert werden, hassen zu müssen oder beschämt zu werden.“ – Videointerview mit Olivier David

„Für gewöhnlich liest unsereins nicht vor Publikum aus Büchern, unsereins trägt  Sicherheitsschuhe beim Arbeiten, hat Kopfhörer auf den Ohren gegen den Lärm, hat Schmerzen irgendwo, lehnt, wo er kann, gähnt, so oft es geht.“  Das schreibt Olivier David in seinem Essay-Band „Von der namenlosen Menge“. In einem Video-Interview haben wir uns mit dem Autor unterhalten, der im Supermarkt, als Malerhelfer, Kellner, Lagerarbeiter, Schauspieler gearbeitet hat, ehe er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte. Darüber, was es heißt, seinen zugewiesenen Platz zu verlassen, darüber, was es bedeutet, eine authentische Sprache zu finden, die sein Herkunftsmilieu nicht preisgibt. Eine Sprache der Analyse, aber auch eine der Wut, der Einsamkeit, der Scham. 

Warum gesellschaftliche Gewalt so oft unsichtbar bleibt, wieso es wichtig ist, die Geschichten der depriviligierten Milieus festzuhalten und was dies mit einer Veränderung der Machtverhältnisse zu tun hat, könnt ihr in unserem Haymon-Interview nachhören und in einer gekürzten, redigierten Version unten nachlesen.

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Im Feuilleton liest man ja immer wieder, dass klassenbewusste, soziologisch angehauchte Literatur eine Art Hochphase erlebt, und deswegen möchte ich auch mit Blick auf dein Buch ein bisschen provokant fragen, ob unter diesen Vorzeichen Armut überhaupt noch ein tabuisiertes Thema ist?

Die Art und Weise, wie über Armut gesprochen wird, ist nicht tabuisiert, es gibt in den letzten Jahren nicht nur in der Literatur, sondern auch im Journalismus auf eine Art ein großes Willkommenheißen für solche Themen. Das hat natürlich auch irgendwie mit dem Druck von unten zu tun, dass für mehr Diversität gesorgt werden soll. Die Frage ist aber, und das gilt für den Journalismus, aus dem ich eigentlich komme, und für die Literatur gleichermaßen: Was darf man und was darf man nicht, also welche Rollen werden einem zugeschrieben? Und wenn man sich das anschaut, dann ist es im Journalismus ganz stark so, dass Menschen objektifiziert werden, das heißt, dass sie einfach ganz konkrete Funktionen erfüllen und innerhalb von bestimmten Schablonen funktionieren sollen. Und jetzt könnte man mit gewissem Recht sagen, dass es in der Literatur anders ist, aber ich bin da vorsichtig geworden, weil ich glaube, der Grund, warum bestimmte Armutsgeschichten oder bestimmte Klassengeschichten Erfolg haben, liegt darin, dass sie in bestimmten Rahmen funktionieren, wo sie Grundsätzliches nicht in Frage stellen und wo sie elementare Widersprüche nicht ansprechen. Also wo sie mit politischer Sprache arbeiten und sich hinter einem Kunstbegriff verstecken, wenn es dann darum geht, Dinge konkret werden zu lassen. Ich bemerke das immer wieder, sobald man sich aufmacht, seinen Platz zu verlassen – und mein Platz ist es mit meinem ersten Buch gewesen, meine eigene Geschichte erzählen zu dürfen. Sobald ich meinen Platz verlasse, wird es skandalisiert, dann wird einem gesagt, das steht dir gar nicht zu. Du bist hier, um deine Geschichte zu erzählen. Und das ist für mich kein Begriff von ehrlicher Teilhabe und kein ehrlicher Begriff von Interesse. Wenn wir Leute einladen, teilzuhaben, dann müssen wir ertragen, dass die eine andere Analyse von der Welt haben. Und das erlebe ich sowohl in der Literatur als auch im Journalismus und eben auch in der Politik nicht.

Olivier David, 1988 in Hamburg-Altona geboren, ist Schriftsteller und Kolumnist. Nach der Schule arbeitete er mehrere Jahre in einem Supermarkt, bevor er eine Schauspielausbildung begann. Olivier David jobbte als Kellner, Malerhelfer und Lagerarbeiter, nebenbei spielte er Theaterstücke für Kinder. Mit 30 gelang ihm der Quereinstieg in den Journalismus. 2022 erschien sein erstes Buch „Keine Aufstiegsgeschichte – Warum Armut psychisch krank macht“. Für die Tageszeitung „nd“ schreibt Olivier David die Kolumne „Klassentreffen“, für das Schweizer Magazin „Das Lamm“ die Kolumne „David gegen Goliath“.

www.oliviercyrilldavid.com

Es wird eine Sprache gewählt, die an den Machtverhältnissen nichts ändert, sondern sie im Gegenteil reproduziert. Wie findet man das – eine Sprache in der man „authentisch“ zum Beispiel über sein Herkunftsmilieu oder seine Zugehörigkeit sprechen kann? 

Ich habe einen Fundus aus 35 Jahren Gefühlen, Erleben, Erfahrungen – von Gewalt, von Deklassierung – in mir und bin mit vielen starken Gefühlen sozialisiert. Auch heute noch bin ich von vielen starken Gefühlen wie Wut und Trauer und großer Angst und Einsamkeit umgeben. Dafür eine Sprache zu finden – das hat einfach lange gebraucht.
Der erste Essay den ich für dieses Projekt geschrieben habe, war der Essay, wo es um die Beschaffenheit armer Körper geht. Wodurch sind arme Körper determiniert, was beeinflusst die Leben von armen Menschen und auch ihre Körper? Da war mir gleich klar, das muss etwas Gehetztes, das muss irgendwie zwischendurch etwas Atemloses bekommen, das muss etwas Grundwütendes haben, das muss diese Wut ausdrücken, die meine Muskeln gespürt haben, als ich am Fließband gearbeitet habe. Diese Hoffnungslosigkeit, wenn du merkst: Ah, okay, zwei Kollegen werden gerade von deinem Fließband weggenommen und du siehst, die Pakete stapeln sich. Und diese ganze Wut, unter einem Maleranzug zu stecken und der Bürgermeister von Hamburg, der später dann unser Bundeskanzler geworden ist, Olaf Scholz, geht mit einem Tross aus 50 Anzugträgern an dir vorbei und verdient in einer Minute so viel wie du in einem ganzen Monat. Dieses auf seinen Platz zurückgewiesen werden. Diese Gefühle, die müssen irgendwie in Sprache gegossen werden und letzten Endes ist es mir leichtgefallen, eine Sprache für diese Wut zu finden, für dieses Atemlose. Es ist mir nicht so leichtgefallen, eine Sprache zu finden für die leisen Töne in mir, für die Einsamkeit. Weil ich gewohnt bin, meine Leerstellen zu überschreiben mit Aktion.

Das Schwierige an dem Essay-Band war, diese Sprachen zu verbinden: also analytische Sprache und die Sprache der Wut miteinander zu verbinden, oder die emotionale Sprache zu verbinden mit den Teilen, in denen ich auf die Suche gehe, was es denn in der Literatur schon für Gedanken zu den Themen gibt, die ich verhandle. Und das zusammenzubringen, mit Momenten, an die ich mich erinnere, meiner Familie, mit Momenten von Menschen aus meinem Umfeld, mit meinen Gefühlen – das zusammen zu verwurzeln, das war für mich eine große Herausforderung. Da einen gemeinsamen Ton, eine Temperatur zu finden.

Olivier David beschäftigt sich in „Von der namenlosen Menge“ anhand von Beobachtungen und Erfahrungen mit dem Einfluss von Klasse auf sein Leben – und die Leben derer, die er seine Leute nennt. In sprachgewaltigen, intimen, wütenden und dabei einfühlsamen Essays schreibt er über innere Migration, vom Fremdsein und einer blauen Angst.

In deinem Buch, so mein persönlicher Eindruck, steckt auch eine Art Rehabilitation von verpönten oder geächteten Emotionen in unserem Diskurs. Also Wut, Frust, Scham, Ohnmacht – die Art und Weise, wie darüber oft öffentlich geredet wird, ist eine des Tone-Policings, eine der Verdrängung,  der Pathologisierung, der Ächtung. Diese Emotionen markieren oft einfach individualisiertes Versagen für das Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Hat zum Beispiel die Wut für dich auch eine Art subversives Potenzial?

Die Wut hat absolut machtvolles, auch subversives Potenzial. Gleichzeitig ist sie im Regelfall schädlich. Zunächst für einen selbst und dann notwendigerweise auch für andere. Wut oder Ohnmacht sind an sich keine guten Gefühle. Es sind Gefühle, denen man mit einer bestimmten Klassenposition dann häufiger ausgesetzt ist.
So ist es auch mit der Scham. In aller Regel schadet Scham dem Individuum. Da ist es wahrscheinlicher, dass Menschen sich durch konstante Beschämung nicht empowern können und dass sie nicht die  Möglichkeiten haben, den Blick zu öffnen und zu sagen: „Dass ich beschämt werde, ist schon ein Fall von Individualisierung sozialer Benachteiligung“. Das ganze Leben über wurde mir signalisiert, dass ich das Problem bin und ich wurde beschämt für Dinge, die institutionell schiefgegangen sind, und genauso ist es auch mit der Wut. Wut richtet sich zuerst gegen einen selbst und dann gegen andere und in aller Regel ist Wut nichts Progressives, aber ich suche nach Schreibweisen, wie man dem Schreiben für betroffene Menschen gerecht werden kann. Für mich ist es dann keine Option, diesen bürgerlichen Impetus von einer Caroline Emcke zu wählen, die sagt „Hass ist per se destruktiv“. Das ist für mich eine Art von Gaslighting. Die Menschen kriegen ein Gefühl auferlegt, das nicht zu ihnen gehört, sie sind nicht mit dem Hass geboren, sondern sie werden zu Hassenden gemacht über die gesellschaftliche Position, in die sie hineingeboren werden. Und sie dann dafür zu beschämen, dass sie diese Hassgefühle haben und dass diese sich vielleicht in einer nicht ganz adäquaten Art und Weise veräußern, das ist Victim Blaming. Diejenigen, die benachteiligt sind, werden für ihre Benachteiligung und die Gefühle, die diese Benachteiligung in ihnen auslöst, ein zweites Mal beschämt, ein zweites Mal zur Verantwortung gezogen. Und das, obwohl sie für beides nicht viel können. Da gibt’s auch Gegenbegriffe und da habe ich mich  natürlich auch auf die Suche gemacht nach Autor*innen, die anders denken. Zum Beispiel Şeyda Kurt, die sagt, erstmal ist Hass nur ein Gefühl und erstmal ist es notwendig, dass wir uns mit unseren Gefühlen auseinandersetzen. Auch als Gesellschaft. Vielleicht ist Hass auch ein politisches Gefühl und vielleicht muss man auch nach den Gründen fragen, warum Leute hassen und das macht Emcke nur ganz marginal. Und damit zahlt sie natürlich ein, in so eine bürgerliche Idee von „Leute, die hassen, sind schlecht.“ Wir kennen diese linksbürgerlichen Schilder auf den Demos gegen Rechts: „Hass macht hässlich“ und „Wer hasst, ist dumm“ und so. Ich habe das auch vor zehn Jahren so ähnlich gedacht und so ähnlich gesagt. Das finde ich aber unüberlegt, es ist performativ, weil es einfach nur darum geht, etwas zu verurteilen, aber nicht nach den Gründen für den Hass zu fragen. Denn am Ende haben die Gesellschaften, in denen wir leben, viel davon in der Hand. Man kann Gesellschaft auf eine sehr gute Art und Weise steuern. Man könnte für eine Gesellschaft sorgen, in denen weniger Gründe produziert werden, hassen zu müssen oder beschämt zu werden. Und für diese Gesellschaft habe ich versucht zu schreiben. Ob es gelungen ist, müssen andere sagen.


Wir entpolitisieren gesellschaftliche Gespräche permanent. Wir müssen zu einer Repolitisierung gesellschaftlicher Phänomene zurückkommen, indem wir sagen: „In allem was wir machen, steckt Gesellschaft drin“.

– Olivier David

Geschichten von der unteren Klasse, Literatur über soziale Herkunft – meist sind das Erzählungen von Aufbruch und Aufstieg. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die unten geblieben sind. Die mit den schmerzenden Körpern, die Nachtarbeitenden, die Vergessenen – und um ihn selbst. Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit den Wohlstand höherer Klassen zu bezahlen? Wie selbstbestimmt kann die Entscheidung, allein zu bleiben, sein, wenn soziale Beziehungen durch Vereinzelung, Geldmangel und eingeschränkte Teilhabe unter Druck stehen? Wie soll Geschichte weitergegeben werden, wenn es kein kollektives Gedächtnis armer Menschen gibt?

Auf dieses Kapitel wollte ich mit der Frage hinaus. Ich glaube, dir gelingt es, auch im besten Sinne aufklärerisch zu wirken mit deinem Buch. Und zwar mit erschreckenden Zahlen: In jedem Jahr erkranken 43% der Frauen der untersten Klassen an psychischen Erkrankungen. Ein Drittel der Männer in den marginalisierten Milieus in Deutschland erleben ihren 65. Geburtstag nicht. Warum ist diese gesellschaftliche Gewalt öffentlich so unsichtbar? 

Ich glaube, wir haben uns als Gesellschaft abgewöhnt, da hinzuschauen, eigentlich liegt alles vor unserer Nase. Ich war vor ein paar Wochen in dem Archiv von der Lokalzeitung in Hamburg, in der ich Volontariat gemacht habe, für die Recherche an einem Buchprojekt, das sich mit den 1970er Jahren auseinandersetzt. Und da wurden früher in so kleinen Spalten am Rand jede Woche die Unfallzahlen rausgegeben, da wurden auch Kapitalverbrechen bekannt gegeben und ich habe gesehen, was für eine gewalttätige Gesellschaft das war. Da waren Nachrichten zu finden: „Mann tötet seine Kinder“, in einer kleinen Spalte mit vier Zeilen. Das wäre heute eine Woche lang in allen Medien deutschlandweit Aufhänger gewesen. Das war den Leuten vier Zeilen wert, weil die ganze Zeitung voll war damit.

Wir sehen auch heute noch diese Nachrichten, aber wir entziehen ihnen Logiken und Schlüsse. Wenn wir zum Beispiel über Migration reden, dann reden wir ganz häufig eigentlich über Klasse. Gerade, wenn man eine konservative Einlassung zur Migration betrachtet: „Wir müssen die Migration begrenzen“. Letzten Endes geht’s da sehr oft um Klasse, und wir schauen nicht hin und unsere medialen und politischen Diskurse verkürzen und individualisieren Dinge, die passieren, auf den Moment der Tat. Wie Bourdieu sagt, wenn wir uns Gewalt anschauen, dann müssen wir hinter die Gründe für Gewalt schauen. Oftmals sind sie eben sozialer Natur. Wenn du zu Hause geschlagen wirst, ist es wahrscheinlicher, dass du selber Gewalt anwendest. Menschen, die aus der unteren Klasse kommen, wenden häufiger Gewalt an als Menschen, die mehr Geld haben. Natürlich können die es auch anders maskieren, in einer 200 Quadratmeter großen Wohnung fällt’s leichter, die Gewalt zu verbergen.

Was ich eigentlich sagen will, ist: Wir entpolitisieren gesellschaftliche Gespräche permanent. Wir müssen zu einer Repolitisierung gesellschaftlicher Phänomene zurückkommen, indem wir sagen: „In allem was wir machen, steckt Gesellschaft drin“.

Wie gesagt, reden wir hier auch von psychischen Erkrankungen: 33% der Frauen der untersten sozialen Statusgruppe in Deutschland erkranken innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Das sind epidemische Ausmaße! Wir haben 14 Millionen, wahrscheinlich mehr, Armutsbetroffene und noch mal vier bis fünf Millionen, die nah dran sind, die nicht weit in den Rückspiegel schauen müssen, um die Armut zu sehen. Wir haben 40% der Menschen in Deutschland, die nicht mal 1000 € gespart haben. Das sind alles Leute, auf die diese Frage zutrifft und das bedeutet, dass Millionen Menschen in diesem Land aufgrund ihres sozialen Status psychisch erkranken. Weil wir sehen in den höheren sozialen Statusgruppen, die das Robert Koch Institut in dieser von dir zitierten Studie erfasst, da sind die Erkrankungszahlen auf einmal fast nur noch ein Drittel. Das heißt, psychische Erkrankung ist ein Ding, und darüber zu sprechen wird langsam populär und das ist gut und notwendig. Aber es wird eben entpolitisiert, indem zu wenig über die sozialen Hintergründe dieser Sachen gesprochen wird.

Auch noch ein letztes Beispiel aus dem Essay „Der arme Körper“: Es vergeht in Zeitungen keine Woche, in der nicht irgendwelche Bauarbeiter von Gerüsten fallen, in der nicht Leute erschlagen werden, in der nicht Müllmänner ums Leben kommen – ich habe in meiner Zeit des Volontariats zwei tote Müllmänner aufgeschrieben, die von ihren Müllautos überfahren worden sind, beim Ausrangieren oder sonst was. Das sind eben originär die Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, die während ihrer Arbeitszeit sterben, weil sie körperliche Arbeit ausüben und das ist eigentlich eine politische Sache. Das heißt, da beginnt die Selektion schon im Kindergarten und in der Vorschule, und über diese Selektion kann man eine Wahrscheinlichkeit ausrechnen, wie viel früher eine Person stirbt. Abhängig davon, welchen Beruf sie ausübt. Also, ob sie einen körperlich-handwerklichen Beruf ausübt, oder ob sie im Büro sitzen darf. Und daraus ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit, wann dein Leben zu Ende ist und mit welchen Vorerkrankungen du frühzeitig, ja, ermordet wirst, denn das lässt sich eben bis zu einem gewissen Grad steuern. Also eigentlich müsste es so sein, dass Leute, die körperlich arbeiten, zum Beispiel 15 Jahre früher in Rente gehen, denn jeder dritte Mann aus der Armutsklasse stirbt vor Beginn seines Renteneintritts. Dass wir das nicht machen, bedeutet einfach, dass es Leute gibt in diesem Land, die aufgrund ihres sozialen Status ermordet werden. So drastisch muss man es leider sagen.


Wer erinnert sich an meine Tante, die Steine auf die Polizei geschmissen hat? Wer erinnert sich an meinen Vater, der im Gefängnis saß? Wenn ich es nicht mache, dann macht’s vielleicht keiner.

– Olivier David

Das ist gesellschaftliche Gewalt, die zugedeckt wird und ich glaube, es ist ja tatsächlich auch die Herausforderung, die Schicksale zwar nachempfindbar zu machen und gleichzeitig diesen Scheinwerfer auf diesen Klassenaspekt zu richten. Denn Ideologie – das haben wir schon vor Kurzem festgestellt – sind immer die anderen. Klar muss aber sein, dass konservative Kräfte, die Machtverhältnisse unangetastet lassen und reproduzieren, sich immer unsichtbar machen und ich glaube dagegen schreibst du ja auch an.
Dieses klassenbewusste, „auto-ethnographische“ Schreiben wirft ja immer Prämissen auf, die auf den ersten Blick ganz deterministisch wirken können. Gibt’s trotzdem etwas, das Olivier David hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt?

Zuversicht ist ein schwieriges Konzept für mich, ich glaube, deswegen hat es mich zum Beispiel sehr viel gekostet, den letzten Essay zu schreiben. Weil ich mir das eben nicht erlauben wollte, da ohne Zuversicht rauszugehen. Ich finde, man muss auch die Zuversicht von der falschen Zuversicht trennen. Man changiert da zwischen so einem Aufwerten von Klasse, da gibt’s viele Lebensläufe von Menschen, die unter großer Kraftanstrengung versuchen, ihre Würde zu erhalten und denen das auch möglich ist. Und dann gibt es wieder den deterministischen Blick darauf, dass es am Ende des Tages eben auch die Frage sein kann, wie lange einen der Staat überhaupt leben lässt in einem Land.

Es geht eben in dem Buch nicht nur um mich, sondern auch um Geschichten, um Menschen um mich herum, und da muss man einfach nur hinhören und dann im Zweifel mal etwas übersetzen, wenn Leute den Zugang nicht dazu haben, dass sie Dinge so sagen, wie sie eigentlich gemeint sind. Da, wo Hoffnung da ist, muss auch – und das ist auch ein Satz aus dem Buch – von ihr berichtet werden. Ich treffe keine Empfehlungen am Ende des Buches und sage nicht, so und so und so muss es sein. Aber man muss Möglichkeiten von Hoffnung aufzeigen, wenn man ein Produzent von symbolischen Gütern ist. Alles andere wäre gefährlich, weil letzten Endes gehören wir Menschen hier im globalen Norden – Leute, die das Privileg haben, über ihre soziale Situation und über die soziale Situation von ihrem Teil der Gesellschaft zu schreiben – zu den privilegiertesten Menschen mit den meisten Ressourcen auf diesem ganzen Planeten.

Natürlich ist im Vergleich zu Multimilliardären mein Einfluss ein Witz. Aber ich glaube auch dieser alten Version von mir, die am Fließband gearbeitet hat, die arbeitslos war, die Nachtschichten, Frühschichten und Spätschichten gemacht hat und die bekifft Käse geschnitten hat hinter der Käsetheke, auch dieser Person bin ich verpflichtet. Und diesen alten Lebenslauf von mir würde ich verraten, wenn ich nicht sagen würde, dass eine andere Welt möglich ist. Ich glaube, da gibt’s einen schmalen Grat dazwischen, die Leute zu verführen, und zu sagen: „Kommt alle mit!“ Und im Gegenteil zu sagen, „Nee, es ist sinnlos“.

Es muss eben über die Hoffnung berichtet werden und, das ist ja auch das Erzählprinzip überhaupt, den Leuten muss ihre Geschichte wiedergegeben werden. Dort, wo ihnen vielleicht die Möglichkeiten fehlen, sie zu konservieren. Den Wert ihrer Geschichte anzuerkennen, das ist absolut notwendig und das ist natürlich auch ein Teil dessen, was mich interessiert an Literatur. Dass ich versuche, Zeugnis zu geben, denn: Wird meine Familie sonst gelebt haben, wenn ich nicht über sie schreibe? Die Menschen in meiner Familie erinnern sich natürlich sehr genau an ihr eigenes Leben, aber wer erinnert sich an ihr Leben in zehn, 20 Jahren? Dagegen strotzen natürlich die Archive der Herrschenden und der Reichen vor Heldengeschichten. Wer kann nicht aus dem Stand fünf Geschichten zu Elon Musk erzählen, aus den letzten zehn Jahren, die der crazy, crazy Unternehmer irgendwie auf die Reihe gekriegt hat? Aber wer erinnert sich an meine Tante, die Steine auf die Polizei geschmissen hat? Wer erinnert sich an meinen Vater, der im Gefängnis saß? Wenn ich es nicht mache, dann macht’s vielleicht keiner. Und da will ich so eine Art Erinnerungsversicherung sein für meine Leute.


Eigentlich müsste es so sein, dass Leute, die körperlich arbeiten, zum Beispiel 15 Jahre früher in Rente gehen, denn jeder dritte Mann aus der Armutsklasse stirbt vor Beginn seines Renteneintritts. Dass wir das nicht machen, bedeutet einfach, dass es Leute gibt in diesem Land, die aufgrund ihres sozialen Status ermordet werden. So drastisch muss man es leider sagen.

– Olivier David

Das finde ich auch einen schönen Gedanken, dass das Buch dann als manifestierte Erinnerung irgendwann im Regal stehen wird – quasi performativ wird. Ein Artefakt, in dem sich zumindest deine Version der Geschichte deiner Eltern oder deiner Verwandten materialisiert. Und genau das ist es ja, was der Arbeiterklasse vorenthalten wird. Schon der Titel „Von der namenlosen Menge“ geht ja zurück auf die Erzählung von Éric Vuillard über den 14. Juli, wo man nach der französischen Revolution sehr genau wusste, wie viele goldene Türknäufe aus den Palästen entwendet wurden, aber über die Protagonist*innen der Aufstände in Paris wurde überhaupt nichts dokumentiert. Vielleicht ist diese Vorstellung ja auch ein bisschen romantisierend und vielleicht auch ein bisschen naiv, aber da steckt ein Stück materialisierte Erinnerung und Geschichte drin.

Ist genau der Aspekt vielleicht auch ein sensibles Thema, dass du deine Version der Geschichte festhältst? Wie geht es dir mit der Vorstellung, dass zum Beispiel dein Vater dieses Buch lesen könnte und sein Leben vielleicht anders interpretiert hätte als du mit diesem spezifisch klassenbewussten, politischen Zugang?

Also zuerst einmal zum ersten Teil, der keine Frage war: Ich sehe und meine das genau so. Für mich ist das Schreiben eine Möglichkeit, Dinge festzuhalten und sie auch später ausgedruckt zu haben, Bücher zu haben, die Zeugnis liefern. Ich finde das auch nicht naiv, sondern für mich ist das eine ganz konkrete, haptisch erfahrbare Art, sich in die Welt einzuschreiben, im wahrsten Sinne des Wortes.

Und zur Frage: Wir können nicht durch die Welt gehen, ohne andere Menschen zu verletzen. Wenn ich über meinen Vater schreibe, dann verletze ich ihn damit und es ist eine andere Verletzung, als wenn ich ihm sage, ich mag dich nicht (was nicht der Fall ist, ich mag meinen Vater). Weil das ein Buch ist, ist es ja noch an eine Leser*innenschaft gerichtet, insofern multipliziert sich diese Verletzung sogar. Wie geht man damit um als Schreibender? Ich versuche, so wenig gewalttätig zu sein und so präzise zu arbeiten wie möglich. Um den Grat zwischen Fiktion, also meiner Idee von meinem Vater, und meinem Vater so schmal wie möglich zu halten. Aber in dieser schmalen Spur verliert sich immer Deutung. Eines der Essays im Buch ist ein Brief, den ich an meinen Vater geschrieben habe, der ergeht sich vor Vermutungen, eben weil ich die Leerstellen, die ich von meinem Vater habe, füllen muss, denn wir leben seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr in einem Land. Und meine Besuche bei ihm, oder die Male, die wir uns gesehen haben in den letzten 25 Jahren, die können diese Leerstellen nicht füllen. Also gibt’s sozusagen eine kleine Brücke. Es hat immer eine Fallhöhe und es wird immer Gewalt transportiert. Die Frage ist, glaube ich, mit welcher Intention das geschieht und ob es vorsätzlich geschieht, oder ob die Gewalt ein Nebenprodukt ist von einer Äußerung. Und so ist es beim Schreiben auch, eben mit dieser erweiterten Zuhörer*innenschaft oder Leser*innenschaft. Da geht’s glaube ich darum, sensibel zu sein.

Auf der anderen Seite diese Geschichten nicht zu erzählen, da frage ich mich, ob das nicht die viel größere Gewalt ist.  Schreiben bedeutet auch Interpretation, und man kann natürlich nicht behaupten, ich erzähle jetzt alle Geschichten von allen Menschen aus der unteren Klasse. Das wäre essenzialisierend, man würde sagen, so wie die Leute sind, so liegt die hundertprozentige Wahrheit.

Was passiert aber jetzt mit Leuten, die arm und wahnsinnig rechts sind? Haben die dann recht, weil sie arm sind? Ich glaube, vielleicht ziehen sie falsche Schlüsse aus einem ehrlich empfundenen Leid. Und die Aufgabe von uns Schreibenden oder uns Menschen, die fürs Schreiben und fürs Denken und fürs Reden bezahlt werden, ist, zu schauen, was zwischen diesen Worten liegt. Und zu sehen, wenn jemand verhärmt vor dir sitzt, dem nur noch sieben oder acht Zähne im Gesicht stehen, wenn der dir sagt, er hat ein glückliches Leben, dann noch mal selber nachzudenken und zu sagen, welcher Kiefer erzählt dir von seinem glücklichen Leben? Der, der verspannt ist, bis ins Gehtnichtmehr? Welche Zähne erzählen dir von einem Leben, welcher Blick erzählt von einem Leben? Und versuchen, das zu dechiffrieren und natürlich geht dabei immer etwas verloren. Und natürlich wird dabei immer Gewalt reproduziert, das geht nicht anders. Aber ich glaube, der wesentliche Punkt ist es, den Vorsatz zu haben, diese Geschichten trotzdem erzählen zu müssen und erzählen zu wollen. Und den Vorsatz zu haben, an einer Literatur zu schreiben, die den eigenen Leuten objektiv nützt, in denen man die Gewalt, die sich an ihnen ausdrückt als politische Kraft verortet. Also für eine Welt zu schreiben, in denen es die Menschen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, objektiv besser haben, weil sie egalitär ist.*

 

Fotos: © Martin Lamberty
* Die kursive Passage wurde nach dem Interview schriftlich ergänzt.

Coming of Age in Österreich: Drei Haymon-Autor*innen im Interview

Ach, Kindheitserinnerungen: Mit dem Postbus ewig in die Schule brauchen, Jollyeis im Freibad im Sommer genießen, Skifahren lernen (bevor man überhaupt Lesen und Schreiben kann) … Viele Erinnerungen teilen wir mit anderen, viele sind ganz unterschiedlich: Es gibt unzählige verschiedene Lebenswelten in diesem Land, so viele einzigartige Kindheiten und Coming-of-Age-Erlebnisse in Österreich. Vieles, was fast schon als kollektives Kindheitsgedächtnis zählt, ist nur eine Seite, eine Perspektive. Jede*r hat schöne, aber auch schwere Erinnerungen. Vielleicht auch welche, an die man nicht so gern zurückdenkt oder auch erst als Erwachsene*r richtig einordnen kann. Was hat sich seitdem geändert, was ist genau gleichgeblieben? Was vermisst man – und was gar nicht? Im Interview erzählen Nada Chekh, Herbert Dutzler und Precious Chiebonam Nnebedum vom Eiskunstlaufen und Comiclesen, von den Süßigkeiten, die unsere uns Eltern niemals erlaubt hätten (hätten sie davon gewusst) und von den Lektionen, die sie erst heute verstehen gelernt haben …

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. In den 1990ern und 2000ern wuchs sie im Wiener Gemeindebau auf. Heute schreibt sie als Journalistin darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt.
Foto: © Zoe Opratko

Was ist deine prägendste oder präsenteste Kindheitserinnerung?

Nada Chekh: Es gibt viele Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mir – je nach Gefühlslage – in den Kopf kommen. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich unbedingt Eiskunstläuferin werden. Mich in einem Verein anzumelden, konnten sich meine Eltern damals nicht leisten, aber dafür hat mein Vater mich mehrmals die Woche zu einem Eislaufplatz gebracht, wo ich nach der Schule abends zwei Stunden lang üben konnte. Einmal hatte ich den ganzen Platz im Außenbereich für mich alleine, und es schneite gerade so richtig dicke Flocken, und der Himmel war ganz erleuchtet davon, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war. Ich drehte ganz glückselig ein paar einfache Pirouetten vor mich hin und spürte so eine Ruhe in mir, wie selten zuvor. Lustigerweise erinnert mich der Song „Blue Dress“ von Depeche Mode an diesen Moment, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob dieses Lied damals über die Anlage gespielt wurde.

Herbert Dutzler: Wenn ich versuche, mich zurückzuerinnern, fallen mir fast nur Szenen im Freien ein, wo ich mit anderen Kindern zusammen war. Meist beim Radfahren, Fußball spielen oder einfach nur im riesigen Haselnussbusch herumhängen. Ein besonderer Nachmittag sticht aber heraus: Ich war in Bad Aussee bei einem Schulfreund zu Besuch, der eine riesige Sammlung von Micky-Maus-Heften hatte. Ich bin den ganzen Nachmittag auf der Veranda gesessen, der Regen rauschte durch die Bäume im Garten, und ich war völlig in die Comics vertieft.

Precious Chiebonam Nnebedum: Die präsenteste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe, muss mein siebter Geburtstag sein. Das war das Jahr, in dem ich jeden einzelnen Tag genossen habe, und es scheint wirklich sehr, sehr bedeutsam in meiner Erinnerung zu sein. Um ehrlich zu sein, habe ich an dem Tag nicht viel gemacht, aber eine Sache, die ich sehr lebhaft erinnere, ist, dass ich zu Hause einen kleinen Kuchen mit meinen Cous*inen gegessen habe, die zu Besuch gekommen waren. Danach habe ich ein bisschen Geld von der Familie bekommen, und es war nicht einmal viel, aber für eine Siebenjährige war ich reich. Ich bin damit mit meinen Cous*inen zum Laden an der Ecke gegangen und habe Süßigkeiten und Milchpulver gekauft, denn das war für uns damals eine Delikatesse, R.I.P. an unsere Zähne.
Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube ich habe auch eine Geburtstagskarte bekommen. Es muss eine rosa und blau glitzernde Geburtstagskarte gewesen sein, ich habe vergessen, von wem. Und ich war einfach glücklich. Es ist nicht viel passiert, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass dieses Alter der Höhepunkt war. Und jedes Mal, wenn ich denke, oh Mann, Erwachsensein ist eine Abzocke, erinnere ich mich an mein siebtes Jahr zurück. Denn damals war ich einfach am glücklichsten.

Herbert Dutzler ist in den 1960er Jahren in Altaussee im Salzkammergut großgeworden, heute schreibt er Bestseller.
Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

 

Was waren die größten Kämpfe, die du als junge*r Erwachsene*r ausfechten musstest?

Precious Chiebonam Nnebedum: Ich bin sehr dankbar und erkenne an, dass ich zu den wenigen POC in Österreich gehöre, die das Privileg hatten, in sehr jungen Jahren die Möglichkeit geboten zu bekommen, einflussreich zu werden und eine beeindruckende Liste von Erfolgen anzuhäufen. So sehr ich weiß, dass dies eine lobenswerte Tatsache ist, ging es auch mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Fragen einher. Eine der größten hatte definitiv damit zu tun, ob ich überhaupt das Recht hatte, in bestimmten Räumen zu sein, in die ich hineinging. Ich betrat politische Räume, ich betrat leitende, autoritäre Räume und Rollen, und jedes Mal hinterfragte ich die Tatsache, ob es einer jungen Schwarzen Frau erlaubt war, dort zu sein, ob sie dort sein sollte und ob sie überhaupt etwas Wertvolles beizutragen hatte oder ob sie einfach nur eine Beobachterin sein durfte. Ich denke, das Schwierige daran war, dass mir klar wurde, dass das nur in meinem Kopf war, aber aus irgendeinem Grund war es dennoch sehr schwer, diese Hürde zu überwinden und einfach zu handeln.
Ich muss wirklich Anerkennung zollen, wo Anerkennung gebührt, und offenlegen, dass es nur durch die Gnade Gottes war, dass ich in den meisten Fällen tatsächlich gehandelt und gesprochen habe. Ich habe eine Einstellung entwickelt, die besagt: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht ich, wer dann?“ Ich könnte nie sagen, dass es allein meine Leistung war. Ich verdanke das dem Support und Rückhalt von den Menschen um mich herum – meinen Geschwistern, meiner Familie, meinem Partner, meiner Community. Menschen, die Dinge in meinem Leben gesehen und über mich gesprochen haben, so oft, dass ich einfach daran glauben musste. Ich musste daran glauben, um weiterzukommen, und letztendlich habe ich das getan.

Herbert Dutzler: Da ging es vor allem um Kleidung und Haare. Meine Eltern hatten wenig Verständnis dafür, dass es unbedingt Jeans sein mussten, und noch dazu welche einer bestimmten Marke (Levis). Später mussten Jeans her, die einen V-Cut am Knie hatten, der irgendwann in den Siebzigern ein modisches Must-have war. Und unten mussten sie so weit ausgestellt sein, dass man die Schuhspitzen drinnen verstecken konnte. Die Haare waren auch ein ständiges Thema. Sie mussten zumindest so lang sein, dass man sie unterhalb der Ohren zusammenführen konnte, sonst war man komplett und völlig out. „So stellt sich der Bub nicht unter den Christbaum!“, hieß es, wenn die Frisur für die Feiertage dem Vater unpassend erschien.

Nada Chekh: Ich glaube, dass im Allgemeinen der Kampf um meine Privatsphäre der schwierigste in meiner Jugend war. Also nicht nur räumlich – es gab in unserer Wohnung nur drei Schlafzimmer für fünf Kinder und meine Eltern – sondern auch persönlich. Solange man finanziell und strukturell von seiner Familie abhängig ist, gelten auch deren Regeln unter dem Dach. Je erwachsener ich wurde, desto mehr spürte ich gewisse Rollenbilder, die mir als Frau auferlegt wurden. Dazu gehörte nicht nur, keinen Kontakt zum anderen Geschlecht zu haben, sondern auch eine Unfreiheit über meinen eigenen Körper. Als Jugendliche reagierte ich sehr empfindlich und frustriert auf diese Kontrolle, das hat mich ziemlich geprägt. Ich habe mich zudem nie mit meiner Religion wirklich identifiziert, was mich eine Stufe weiter von meiner Familie, meiner Muttersprache und den Sitten entfremdet hat.

 

Precious Chiebonam Nnebedum wuchs in Nigeria und Österreich auf. Nachdem sie zahlreiche Poetry-Slam-Bühnen gestürmt hat, lebt die Lyrikerin und Musikerin heute in Wien.
Foto: © Ella Börner

Gibt es etwas, das dir deine Eltern früher vermittelt haben, das für dich heute noch sehr wichtig ist? Oder gibt es vielleicht Haltungen, Werte, die dir deine Eltern mitgegeben haben, die du irgendwann beim Älterwerden verworfen hast?

Herbert Dutzler: Meine Mutter hat mich ab der ersten Klasse Volksschule wöchentlich in die Bibliothek mitgenommen, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Das Regal mit den Büchern für Leseanfänger war für mich die reinste Wunderkammer, und ich hatte alle Bücher darin noch vor dem Ende der ersten Klasse durch. Die politische Einstellung meiner Eltern und ihre Haltung fremden Menschen gegenüber ist ein Wert, den ich mit etwa 16 endgültig verworfen habe. Ihre Haltung war von distanzloser Verherrlichung einer schrecklichen Vergangenheit geprägt, was später auch zu gröberen Auseinandersetzungen geführt hat, als mein politisches Interesse erwachte und in eine völlig andere Richtung ging.

Nada Chekh: Heute finde ich es sehr schade, dass ich mich in meiner zweiten Muttersprache Arabisch niemals wohlgefühlt habe, obwohl meine Eltern mehrere Offensiven dazu gestartet haben, dass ich richtig lesen und schreiben lerne. Leider hat es mit Diktaten von Koransuren und Gebeten beim Sprachunterricht kaum funktioniert, weil ich nicht religiös war. Das ist so eine Sache, die ich meinen Eltern beim Aufwachsen vorgeworfen habe – dass sie mir die arabische Sprache vor allem über die islamische Religion näherbringen wollten, obwohl ich mich sehr heftig dagegen gesträubt habe. Auch über die Tatsache, dass die Bekannten meiner Eltern sich ohne Weiteres über meinen deutschen Akzent lustig machen konnten, habe ich mich lange geärgert. Mittlerweile sehe ich das gelassener, womöglich weil ich stattdessen Russisch gelernt habe und zuhause mit meinem Mann eine quasi „neue Muttersprache“ spreche, die ich an meine Kinder weitergeben würde, sollte ich eines Tages welche haben.

Precious Chiebonam Nnebedum: Eine der vielen Haltungen, die ich von meinen Eltern übernommen habe, ist die „offene-Haustür-Regel“. Unser Zuhause war immer offen, für jeden, seien es Cous*inen, die kamen und übernachteten. Wir hatten Tanten, Onkel, wir hatten Freund*innen, die kamen und übernachteten. Es wurde nie wirklich in Frage gestellt, ob wir genug zu bieten und teilen hatten, es war einfach die Tatsache klar, dass Menschen Bedarf hatten und wir immer bereit waren, zu helfen. Das ist etwas, dem ich auch heute noch folge. Immer wenn Freund*innen oder Familie oder wer auch immer in meiner Nähe sind, ist meine erste Aussage: „Hast du einen Platz zum Schlafen? Möchtest du bei mir bleiben?“ „Möchtest du abhängen? Ich kann für dich kochen. Du kannst kommen und so lange bleiben, wie du möchtest.“ Das ist mir zuallererst von meinen Eltern eingeprägt worden, bevor es später von Freund*innen und meiner Community verstärkt wurde.
Es gibt jedoch auch bestimmte Dinge, die ich von meinen Eltern gelernt habe und von denen ich mich nun langsam distanziere. Eines davon wäre die Vorstellung, dass Kreativität oder der Wunsch, kreativ zu arbeiten und eine Karriere daraus zu machen, definitiv in einer Sackgasse enden wird. Mir wurde tausendmal gesagt: „Ja, du kannst schreiben, du kannst auftreten, du kannst singen, du kannst all das tun. Aber du brauchst einen richtigen Job. Du brauchst einen richtigen Abschluss.“ Ehrlich gesagt sehe ich die Wahrheit in dieser Angst. Aber ich weiß trotzdem, dass es so viel Potenzial gibt, wenn man die Disziplin und die Arbeit und den Aufwand investiert, um eine Karriere im kreativen Bereich zu starten und aufrechtzuerhalten. Etwas, das ich immer noch anstrebe.

Welcher Sache – das kann ein Lied, eine Fernsehsendung, eine Süßigkeit etc. sein –, die es nicht mehr gibt, träumst du heute noch hinterher?

Nada Chekh: Ui, da gibt es mehrere Sachen. Es gab in Wien ein supertolles Café namens Berfin, das ich als junge Studentin mit meiner Mutter und meinen Geschwistern gerne besucht habe. Es hatte ein wunderbares orientalisches Flair, ohne kitschig zu sein. Wir waren früher manchmal sogar mehrmals die Woche dort, haben Shisha geraucht und miteinander getratscht, da habe ich sehr schöne Erinnerungen daran. Und das erste (und letzte) Mal, als ich in Ägypten war, war mit sechs Jahren. Ich kann mich gut an den Strand in Alexandria erinnern, wo es Verkäufer gab, die Freska – so eine Art Honigwaffel – verkauften. Als Kind habe ich diese Süßigkeit geliebt, aber eben nur bei diesem einen Besuch gegessen. Bis heute denke ich an diese großen, runden Waffeln und frage mich öfter, ob ich sie jemals wieder essen werde.

Herbert Dutzler: Die großen Samstagabendshows, die es heute kaum mehr gibt, waren absolute Straßenfeger, und die ganze Familie saß gebannt vor dem Fernseher. Die beliebteste von allen war „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff. Und den habe ich sogar einmal auf dem Balkon seines Pensionszimmers in Bad Aussee gesehen (von unserer Terrasse aus). Das war eine echte Sensation. Allerdings gibt es die meisten dieser Shows auch heute noch zu sehen – Youtube vergisst nichts!

Precious Chiebonam Nnebedum: Definitiv die Fernsehsendung: „The Grim Adventures of Billy and Mandy“ aus meiner Kindheit!

Warum wir 2023 noch über die Protagonistinnen der 1848er-Revolution diskutieren müssen und wie sich Geschichtsvernebelung aus dem 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit fortschreibt. Ein Interview mit Andreas Kloner

Der Zauberer vom Cobenzl“ von Bettina Balàka ist eine mitreißende und kuriose Geschichte von einem schillernden Wissenschaftler und Entdecker, der dem Altersstarrsinn anheim fällt und sein Denkmal beschädigt. Der Roman ist auch ein lebendiges Epochenbild, das uns Leser*innen aus einer weiblichen Perspektive heraus eintauchen lässt in eine Zeit der Umbrüche, in eine Zeit des erwachenden Widerstands und die Geburtsstunde der ersten politisch organisierten Gruppe, die sich im Kaiserreich der Gleichstellung von Frauen und Männern verschrieb.

Während so manche Begegnung und Bekanntschaft in Bettina Balàkas fiktivem Roman geschichtlich nicht belegbar ist, fußen viele Begebenheiten auf breitem historischen Konsens: Etwa die Rolle der ersten Wiener Frauendemonstration 1848 kurz vor der sogenannten Praterschlacht, oder der solidarische Einsatz des „Ersten Wiener Demokratischen Frauenvereins“

Der Journalist und Autor Andreas Kloner arbeitet seit 2003 als Sendungsgestalter für den Österreichischen Rundfunk, Deutschlandradio Kultur, Radio France und andere europäische Kultursender.
Fotocredit: privat

Obwohl die Ereignisse des Revolutionsjahrs gut dokumentierter Gegenstand geschichtlicher Forschung sind und sich auch im Stadtbild verschiedentlich manifestieren (so gibt es etwa einen Platz der Erdarbeiterinnen im 2. Bezirk), kamen schon während der Recherche am Roman und nach der Veröffentlichung Widersprüchlichkeiten und weit verbreitete Fehlannahmen ans Tageslicht.

Immer wieder wurden wir zum Beispiel mit dem Wikipedia-Eintrag des Protagonisten Karl von Reichenbach konfrontiert, der eine der Hauptfiguren, Ottone, fälschlicherweise nicht anführt. Wo liegt die Ursache für faktische Fehlinformationen, fehlende Quellen und offensichtliche Geschichtsklitterung, die anscheinend unwidersprochen kursieren?

Wir haben Andreas Kloner interviewt, um das herauszufinden, der Journalist und Schriftsteller forscht aktuell selbst für ein Buch über Karoline Perin. Über die 1848-er Revolution, Stolpersteine bei der Recherche und patriarchale Traditionen der Geschichtsschreibung haben wir uns mit ihm unterhalten.

Lieber Herr Kloner, Bettina Balàkas Roman versetzt seine Leser*innen in eine bewegte Epoche. 1848 wurde das Kaiserreich von Aufständen erschüttert, neben Autonomiebestrebungen einzelner Kronländer hatte die Revolution auch eine Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung zum Ziel. Lassen Sie uns kurz in den historischen Kontext eintauchen:

Um die Zusammenhänge während der europäischen Revolutionszeit 1848/49 einordnen zu können, empfehle ich das neue Buch von Christopher Clark „Frühling der Revolution“, in dem der Autor den Leser*innen auf mehr als tausend Seiten eine Gesamtschau der Ereignisse und Beweggründe bietet. In Österreich brach sich die Revolution Bahn von etwa Mitte März 1848, mit der Forderung nach einer Verfassung und nach Pressefreiheit, im Mai 1848 folgte der Studentenaufstand und der damit verbundene Bau zahlreicher Barrikaden innerhalb der Wiener Stadtmauern. Die Geschehnisse gipfelten in der Demonstration der Erdarbeiter*innen und dem Pratermassaker vom 23. August. Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Latour, am 6. Oktober 1848, bildete Argument und Auftakt zur Konterrevolution, die den Aufstand Ende Oktober 1848 blutig niederschlagen ließ. Zart gesprossene liberale und demokratische Pflänzchen wurden zertreten. Das nachhaltigste Ergebnis der Wiener Revolution 1848 war die Bauernbefreiung unter der Ägide von Hans Kudlich.

In dieser turbulenten Zeit kommen zwei Protagonistinnen des Romans – Hermine und Ottone – mit revolutionären Kreisen in Berührung und wir erfahren viel über das Engagement von Teilen der Aristokratie und des Bürgertums. Wir lernen im Roman auch Protagonistinnen der entstehenden Frauenbewegung kennen. Welche Rolle spielte etwa der „Erste Wiener Demokratische Frauenverein“ in dieser Zeit?

Ob Hermine und Ottone Reichenbach definitiv mit den revolutionären Kreisen in Berührung gekommen sind, dazu sind die Quellen zurzeit nicht ausreichend. Die literarische Freiheit Bettina Balàkas, die Schwestern Reichenbach als Mitglied des „Ersten Demokratischen Frauenvereins“ aufscheinen zu lassen, könnte allerdings von der Realität durchaus overruled werden, falls in einer Petition des Frauenvereins an den am 17. Oktober 1848 tagenden Reichstag auch die Unterschriften von Hermine und Ottone auftauchen sollten. Da bin ich noch auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. An einer kleinen, inneren Revolution haben Hermine und Ottone ohne Zweifel teilgenommen, nämlich die Entscheidung, ihren despotisch-psychopathischen Vater in einer regelrechten Nacht- und Nebelaktion zu verlassen.

Was den „Ersten Wiener demokratischen Frauenverein“ betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob sich dieser die politisch heißen Themen, wie Gleichberechtigung oder gleiche Bildung für Frauen, von Anfang an auf die Fahnen geheftet hat. Gegründet wurde der Verein, nachdem ein Protest von Erdarbeitern, aber vor allem auch Erdarbeiterinnen, die wegen einer einschneidenden Lohnkürzung protestiert hatten, von der Exekutive brutal niedergeschlagen wurde. Es gab eine große Anzahl an Toten und Verletzten. Für diese Arbeiterinnen und deren Kinder wollte sich der Frauenverein – so ist es in einem ersten handgeschriebenen Entwurf der Statuten noch zu lesen! – ausschließlich karitativen Angelegenheiten widmen. Wenige Tage später erschienen die Statuten gedruckt. Der karitative Inhalt war jedoch in den Hintergrund gerückt. Plötzlich dominierten die brisanten politischen Forderungen, um offenbar dem Demokratiegedanken dieser Tage Rechnung zu tragen.

Was wurde aus den Forderungen des Frauenvereins und was geschah nach der Niederschlagung der Revolution?

Die Forderungen des 1848er-Frauenvereins, wie Gleichberechtigung und Schulbildung für alle, wurden, wie es bei uns so schön heißt, nicht einmal ignoriert. Allein bei dem Begriff „Gleichberechtigung“ dürften die Männer (aber auch ein Großteil der Frauen) tief nach Luft gerungen haben. – Transferieren wir eine derartig unmögliche Möglichkeit in die heutige Zeit: Vor wenigen Jahren wäre es völlig unvorstellbar gewesen, von rauchfreien Lokalen zu träumen! Heute ist es – zumindest aus meiner persönlichen Erfahrung heraus – eine Selbstverständlichkeit. – Gehen wir einen Schritt weiter, in unsere Tage: Hier wird das Anliegen, neben der männlichen stets auch die weibliche Form zu schreiben und auszusprechen, mehrheitlich noch immer als „Genderwahn“ wahrgenommen. So manchem graut vor einem Gender-Doppelpunkt, -Sternchen, -Binnen-I, -Unterstrich noch immer derartig, als wären sie der in diakritische Zeichen gegossene Gott-sei-bei-uns höchstpersönlich. Die Rede vom alten, weißen Mann ist jetzt zwar auch nur ein Klischee und Narrativ (auch ich bin alt und weiß), aber es gibt ihn immer noch. – Ob die damaligen Forderungen des Frauenvereins nach Gleichberechtigung im Heute des 21. Jahrhunderts bereits zur Gänze angekommen sind, darf sich jede*r selbst ausrechnen.

Bei den Nachforschungen zu ihrem Roman stieß Bettina Balàka auf Ungereimtheiten und Hindernisse. Zur Existenz Ottones von Reichenbach gibt es wohl widersprüchliche Darstellungen, zum demokratischen Frauenverein gibt es noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag (Anm.: Stand 18.10.2023). Sie recherchieren aktuell an einem Buch über Karoline von Perin, die unter anderem die Vorsitzende des ersten politischen Frauenvereins in Österreich war.  Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Errungenschaften dieser mutigen Frauen im öffentlichen Diskurs so wenig präsent sind. (Ganz zu schweigen vom hohen Preis, den sie für ihren Einsatz bezahlen mussten.)

Eine sehr komplexe Frage, die einer komplexen Antwort bedarf. Was die Existenz Ottones betrifft, wäre diese gar nicht so widersprüchlich, wenn nicht der Name „Wurzbach“, der Verfasser des „Biographischen Lexikons des Kaiserthums Österreich“, nicht derartig wuchtig nachwirkte. Im konkreten Fall geht es um seinen 150 Jahre alten Eintrag, es habe einen „Otto Eugen“ (Reichenbach) gegeben, während Bettina Balàka in ihrem Roman „behauptete“, es handle sich um eine „Ottone Eugenie“. So.

Wenn nun die in der Gegenwart lebende (weibliche!) Bettina Balàka, die einen historischen Roman geschrieben hat, dem historisch-biographisch arbeitenden (männlichen) Konstantin von Wurzbach – eine beinahe sakrosankt wahrgenommene Institution in der Wiener Geschichtsforschung – gegenübergestellt wird, wem wird letztlich das bessere Wissen zugeschrieben werden? – Richtig! Dann sehen wir, wie tiefgreifend das patriarchiale System in uns allen weiterhin funktioniert. Und wir sehen auch gerade in diesem Fall, wie schwerfällig moderne Enzyklopädien, wie in diesem Fall Wikipedia, darauf reagieren. Offenbar gilt noch immer das Zitat aus dem Western-Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“

Fundstück: Auszug aus dem Blansker Geburtenregister. „Otto Eugen“ war demnach tatsächlich „Ottone Eugenie von Reichenbach”.
Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, gilt als einzigartige und wirkmächtige historische Referenz und scheint auch hier ursächlich für die nachhaltige Löschung Ottones aus den Enzyklopädien zu sein.
Das Register liegt öffentlich zugänglich im Mährischen Archiv zu Brünn auf. (Moravian Provincial Archives – Book #51, Blansko region, Births 1805-1839). Dig. Archivlink.

Kurios: Ausgerechnet Karoline von Perin erlitt ebenfalls ein „Wurzbach-Schicksal“. Bei den Einträgen unter „Pasqualati“ findet sich auch Andreas Joseph Pasqualati, der Vater von Karoline. Allerdings werden lediglich seine Söhne Joseph und Moritz erwähnt. Die Tochter wird totgeschwiegen.
Gedenkstein im Volksgarten
Credit: Geolina163, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Was den noch nicht vorhandenen Wikipedia-Eintrag zum ersten politischen Frauenverein in Österreich betrifft, bin ich schon froh über den Wikipedia-Eintrag, der Karoline von Perin vor wenigen Jahren gewidmet worden ist. Was die historische Faktizität betrifft, möchte ich den gut versteckten, nicht einmal kniehohen Gedenkstein im Wiener Volksgarten als Beispiel nehmen, auf dem sich eine Minimalstbiographie von Karoline von Perin befindet, der sage und schreibe in einem einzigen Satz gleich drei grobe Fehler beinhaltet: Nein, Karoline von Perin wurde nicht 1808 geboren; nein, sie ist nicht die Gründerin des Vereins gewesen; nein, die Vereinsversammlungen fanden nicht regelmäßig im Volksgarten-Café statt.

Die Errungenschaften des Vereins lagen vor allem darin, etwa zwei Wochen nach seiner Gründung ein Statut herausgegeben zu haben, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Die Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Um es auf den Punkt zu bringen: Es waren die Menschen, sowohl Männer als auch Frauen, die noch nicht reif dafür waren. Den im Raum stehenden psychoanalytischen Ansatz möchte ich nur andeuten: Wie schützen sich Männer vor starken Frauen? Indem sie etwas per Gesetz verbieten oder gesetzliche Vorgaben ohnehin an der Praxis scheitern lassen! Mit letzterem könnten wir gar in der Jetztzeit gelandet sein.

Sind Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch ebenfalls auf Lücken oder gar tätige Geschichtsklitterungen und Hindernisse gestoßen?

Häufig ergeben sich historiographische Fehler aus unabsichtlichen Schlampereien, Missverständnissen, Abschreibfehlern und und und. Klassische Geschichtsklitterungen, im Sinne von absichtlichen Irreführungen, sind mir während meiner Recherche immer wieder untergekommen.

Zwei Beispiele möchte ich nennen, die unterschiedlich motiviert waren: Zum einen hat Karoline von Perin vermutlich selbst geschichtsgeklittert, als sie in ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit dem revolutionären Gedanken abschwor, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Der Treppenwitz daran: Die Rückkehr in die Gesellschaft wurde ihr zeitlebens nicht mehr gewährt. Man hat an ihr – vermutlich zur Abschreckung – ein Exempel statuiert.

Zum anderen gibt es einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen war. Das Bemerkenswerte daran: Einmal erschien der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. Die Einleitung in der ersten Zeitung wurde auf die Zukunft hin formuliert, in etwa: „Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen …“, während in der zweiten Zeitung geschrieben stand: „Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil …“. Hier wird das ursprünglich noch nicht stattgefundene Ereignis in ein historisches Faktum umgeschrieben. Das ist zutiefst infam und beschämend.

Haben Sie zum Abschluss vielleicht einen Tipp für unsere Leser*innen, die mehr über die Zeit und das Schicksal der ersten politisch organisierten Frauenbewegung erfahren möchten?

Über den ersten demokratischen Frauenverein während der Revolutionszeit sind die Bücher und Artikel von der Historikerin Gabriella Hauch zu empfehlen. Das Schicksal des ersten politisch organisierten Frauenvereins war mit der Niederschlagung der Revolution derartig rasch besiegelt, dass der Verein nach nur zwei Monaten Geschichte war. Spannend wäre es – neben Karoline von Perin – weitere Mitstreiterinnen ausfindig zu machen und deren Lebensläufe nach der Revolution weiterzuerzählen. Etwa jene von der Nichte eines Vereinsmitglieds, die einen Vater hatte, der sich zeit seines Lebens für die Frauenrechte einsetzte, und die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität promovieren konnte: Dr. Isabella Eckardt: „Der Romzug Kaiser Sigmunds (1431-33)“ aus dem Jahr 1902.

 

Möchtest auch du mehr erfahren über eine Zeit im Umbruch, einen Roman, der einen Wissenschaftskrimi beinhaltet und der erlebbar macht, wie Frauen in Wien zum ersten Mal organisiert für bessere Lebensbedingungen auf die Barrikaden gehen? „Der Zauberer vom Cobenzl“ ist in deiner Lieblingsbuchhandlung erhältlich. Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Beruflich kenne ich keine Tabus und keine Scheu: Wo immer man eine Leiche findet, da findet man auch mich.“ – Siggi Seifferheld im Interview

Siggi Seifferheld, der charmante Ex-Polizist und Frühpensionist, kommt einfach nicht zur Ruhe. Und das ist auch gut so: Tatjana Kruse, Königin der Krimödie, schenkt ihm mit „Strippen statt sticken!” ein neues Abenteuer, welches Siggi direkt in einen Swingerclub führt – und uns Lachtränen in die Augen treibt. Für uns konnte sich der vielbeschäftigte Ermittler ein paar Minuten freischaufeln, um über seinen bisher schlüpfrigsten Fall zu sprechen. 

 

Hallo Siggi! Wir freuen uns, dass du Zeit für ein Interview mit uns findest. Du bist ja eigentlich im Ruhestand, aber kann es sein, dass du als Frührentner noch weniger zur Ruhe kommst als im aktiven Polizeidienst?

Wenn man so aktiv war wie ich, kann man nicht so einfach von hundert auf null zurückfahren, nur weil man jetzt eine inoperable Kugel in der Hüfte hat. Wann immer in Hall ein Verbrechen passiert, juckt es mich in den Knochen und ich muss los – so schnell es mir meine Gehhilfe erlaubt.

Foto: © Jürgen Weller

Du bist nicht nur ein leidenschaftlicher Sticker, sondern hast sogar eine Männersticker-Radio-Kolumne. Wie bist du zu diesem besonderen Hobby gekommen und was macht dir daran so viel Spaß?

Jetzt muss ich beichten: Anfangs fand ich meine Leidenschaft fürs Sticken, zu der ich nach der Frühverpensionierung durch einen alten Stickrahmen meiner verstorbenen ersten Frau fand, ein bisschen peinlich. Gestandene Männer sticken doch nicht. Das dachte ich zumindest als Kleinstadtbewohner meiner Generation. Aber irgendwann fragte ich mich: Warum nicht? Auch echte Kerle dürfen sticken – sie tun es nur ohne Fingerhut! Je offensiver ich mit meinem Hobby umging, desto mehr Erfolg hatte ich. Der Rest ist Geschichte.

In „Strippen statt sticken!“ heißt es für dich: „Weg mit der Sticknadel und ab in den Swingerclub“. Wie war es für dich, an diesem doch recht ungewöhnlichen Ort zu ermitteln – und das ausgerechnet in einer Kleinstadt wie Schwäbisch Hall?

Ich muss zugeben, in einem Swingerclub war ich als Privatmensch noch nie. Aber beruflich kenne ich keine Tabus und keine Scheu: Wo immer man eine Leiche findet, da findet man auch mich.

Aufgrund deiner Ermittlungen wurdest du von der Lokalpresse vor dem Swingerclub fotografiert. Hättest du je gedacht, mal solche Schlagzeilen zu verursachen?

Klar, dass ich von den Jungs meiner VHS-Männerkochkurs-Truppe aufgezogen wurde. Und klar auch, dass meine ältere Schwester Irmi das nicht lustig fand, von wegen Renommee der Familie und so. Aber kleine Skandälchen zwischendurch sind ja die Würze des Lebens. Und je älter ich werde, desto mehr prallt an mir ab, was andere von mir denken.

Jetzt mal ehrlich, Siggi: Glaubst du, du kannst das Schnüffeln jemals lassen und deine Zeit vollkommen dem Sticken und deiner Familie (inklusive Hund Onis) widmen? Oder würde dir da in Wahrheit ein kleines bisschen langweilig werden? 

Man muss sich nützlich machen, sonst setzt man Moos an. Ich ermittle, solange mich meine Gehhilfe noch trägt. Versprochen!

Rabenschwarz, rasant und unglaublich wortwitzig: „Strippen statt sticken!” von Tatjana Kruse.

 

Seifferhelds Freund und Ex-Polizeikollege Dombrowski (der von der Sitte!) hat Sorgen. Sein Neffe ist nämlich in einen alles andere als sittlichen Fall verwickelt: Der Schriftsteller weilt gerade dank des Comburg-Stipendium im schönen Schwäbisch Hall. Weil man aber nicht immer nur arbeiten kann, sondern auch etwas Abwechslung und Inspiration braucht, hat Dominik Dombrowski einen privaten Swingerclub aufgesucht – rein aus Recherchegründen, versteht sich. Hüstel. Dort verbringt er einen sehr vergnüglichen Abend mit einer jungen Frau. Doch als er mitten in der Nacht in einem der Nebenzimmer aufwacht, liegt die Frau erdrosselt neben ihm.

 

Mehr Infos zu dem Buch gibt es hier.

Wenn die Realität der Fiktion in nichts nachsteht. True Crime von Mark Benecke und Romy Hausmann

Mark Benecke und Romy Hausmann denken sich nicht nur ihre eigenen Kriminalgeschichten aus, sondern bereiten in ihren Büchern auch tatsächliche Mordfälle auf. Sie nehmen uns mit zu forensischen Untersuchungen, lassen uns an den Ermittlungen teilhaben, bringen die Hintergründe ans Licht und geben Einblicke ins Denken von Täter*innen und die Empfindungen von Opfern und Hinterbliebenen.

Massenphänomen mit Tradition

Wenn wir ehrlich miteinander sind, dann ist sie schon etwas makaber, unsere Lust an Kriminalfällen abseits der Fiktion. War es in unseren Breiten lange ein Nischeninteresse für eingeschworene Kenner*innen – Medical Detectives um 02:00 auf Vox –, für das man zuweilen verstörte Blicke erntete, hat True Crime in den letzten Jahren einen absoluten Boom erlebt. Podcasts schossen wie Pilze aus dem Moos. Zahlreiche TV-Produktionen über die unglaublichsten Morde und abscheulichsten Serientäter*innen wurden aus dem Boden gestampft.

Das Interesse für wahre Kriminalfälle war allerdings immer schon da.

Im 19. Jahrhundert etwa hielt die Boulevardpresse ein Millionenpublikum in Atem, das gespannt die Gräueltaten von Jack the Ripper mitverfolgte. Doch was macht sie nun aus, unsere Faszination für die schonungslose Realität, die oft grausamer ist als die Fiktion selbst?

Nervenkitzel oder Verteidigungsstrategie?

Ist es etwa das Adrenalin, das unser Hirn überschwemmt und uns süchtig macht, daheim unter der sicheren Decke? Ist es die Neugier, einen Blick in den Kopf von Gewalttäter*innen zu wagen, in menschliche Abgründe zu blicken, immer in der Hoffnung, dass niemand zurückblickt? Ist es eine fast schon spielerische Freude am Rätsel oder gar der Wunsch nach Gerechtigkeit, der uns über ungelöste Kriminalfälle brüten lässt? Oder geht es um einen Lerneffekt, um Wissen, das hilft, nicht selbst zum Opfer zu werden?

Die Grenzen zum Voyeurismus sind fließend und schnell vergessen wir, dass es sich nicht nur um echte Fälle, sondern auch um echte Personen handelt, die diesen spektakulären Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind. Individuen mit Gefühlen, mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, die ihnen gewaltsam geraubt wurde. Um sich mit True Crime jenseits von Sensationsgier und Effekthascherei zu befassen, braucht es vor allem eines: Empathie; die Bereitschaft, sich nicht nur in die Opfer sondern auch in deren Angehörige hineinzuversetzen, die nicht nur mit dem Verlust, sondern auch damit leben müssen, dass ihre ganz persönliche Tragödie öffentlich diskutiert und in gewisser Weise auch vermarktet wird.

Romy Hausmann, fotografiert von Christian Faustus.

Romy Hausmann: viel mehr als Fakten

Eine Autorin, die Unterhaltung und Feingefühl souverän verbindet, ist Romy Hausmann. Die Spiegel-Bestseller-Autorin ist nicht nur für ihre Thriller bekannt, sondern zeigt in ihrem Buch „True Crime. Der Abgrund in dir“ (2022, dtv), dass das echte Leben mit jedem Thriller mithalten kann.

Einfühlsam sammelt sie nicht nur Fallbeispiele, sondern verdichtet die Erkenntnisse, die sie im Gespräch mit Opfern, Hinterbliebenen und Expert*innen gewonnen hat in Tagebucherzählungen, die abseits von reinen Fakten auch die Gefühle der Betroffenen in den Blick nehmen und auch danach fragen, wie diese mit dem Unfassbaren abschließen können.

Dipl.-Biol. Dr. rer. medic., M.Sc., Ph.D. Mark Benecke

Mark Benecke fotografiert von Thomas van de Scheck.

Mark Benecke: von Insekten und Kannibalen

Tiefe Einblicke in die Welt der Kriminalbiologie und forensischen Entomologie – also die Wissenschaft von Krabbeltierchen und wie man sie für Ermittlungen nutzen kann – gibt Dr. Mark Benecke, Tausendsassa und einer der prominentesten Sterne am heimischen True Crime-Himmel. Obwohl Stern vielleicht der falsche Begriff ist, denn Mark Benecke findet man eher auf der dunklen Seite des Mondes, gilt seine Leidenschaft nicht nur der Forensik, sondern auch düsterer Musik, Vampiren, Tattoos und der Gothic-Szene. In seiner Rolle als True Crime Experte, sei es in TV-Serien oder seinen eigenen Büchern, zeigt der Kriminalbiologe immer wieder, dass es sich lohnt, auf das vermeintlich Unscheinbare zu achten und das scheinbar Unmögliche in Betracht zu ziehen. Mark Beneckes Expertise und besondere Perspektive fließt auch in seine Kriminalromane ein. Zuletzt erschienen ist „Kannibal. Jagdrausch“, in dem bei den Ermittler*innen der grausige Verdacht aufkommt, dass sie es vielleicht mit einem Fall von Kannibalismus zu tun haben.

„Es sind die Tiefen und die Wahrhaftigkeit der Personen, die mich interessieren.“ – Theresa Prammer im Interview

Auf der Bühne verkörpert Theresa Prammer die Charaktere anderer und inszeniert Geschichten. In ihren Büchern erweckt sie ihre eigenen Figuren zum Leben. Buch oder Bühne? Für Theresa Prammer ist klar, es muss kein Entweder-Oder sein. Nach wie vor ist die Autorin auch als Schauspielerin und Regisseurin tätig. Für ihre Leser*innen öffnet sie, vor allem durch die Schauspielschülerin Toni in „Schattenriss“, weit den Theatervorhang und lässt hinter die Kulissen blicken.

Du erzählst nicht nur in deinen Büchern, sondern auch auf der Theaterbühne Geschichten. Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei den verschiedenen Erzählarten und welche Unterschiede? Welche Herausforderungen begegnen dir dabei und wie gehst du damit um?

Ich liebe beides, beim Roman entstehen die Bilder im Kopf, im Theater auf der Bühne. Beim Schreiben sehe ich die Szene immer vor mir – beim Buch eher wie im Film, die fünf Sinne der Protagonisten, ihr Innenleben und die Umgebung/Atmosphäre spielen eine große Rolle. Beim Schreiben eines Stücks ist das zwar auch wichtig, aber da fokussiere ich mich mehr auf die Interaktionen und den Dialog.

Die Herausforderungen sind immer die gleichen – die Seele und das Hirn beim Schreiben auf einen Nenner zu bringen.

Wie bereitest du dich für die Verkörperung von Rollen vor und wie gehst du bei der Erschaffung von Figuren vor?

Theresa Prammer, fotografiert von Janine Guldener.

Das Wichtigste in beiden Fällen, egal ob Rolle oder Figur, ich muss sie verstehen. Und zwar richtig verstehen, ihre Geschichte, ihre Vergangenheit, ihre Beweggründe. Im Theater kann ich den Subtext nur zeigen – das, was die Rolle vielleicht überspielt, nicht zugeben will, während sie mit dem Text etwas anderes sagt. Im Roman habe ich mehr Freiheit, ich kann die Leser ganz nah an die Person heranführen, sie in die Seele hineinführen und diese Ambivalenz direkt miterleben lassen. Ob Theater oder Buch, in beiden Fällen sind die Tiefen und die Wahrhaftigkeit der Personen das, was mich interessiert. Und ich bin sowohl beim Schreiben als auch auf der Bühne immer ein bisschen verliebt in meine Figuren.

Inspirieren dich Theater und Film für deine eigenen Geschichten als Autorin?

Unbedingt. Und auch Musik und Bücher (ich könnte ohne Buch nicht einschlafen).

Helfen dir deine Erfahrungen als Schauspielerin und Regisseurin als Autorin oder greifen diese Tätigkeiten sogar ineinander?

Auf jeden Fall. Ich glaube generell, die eigene Kreativität ist wie eine große üppige Torte. Und alles, was man kreativ tut, dekoriert diese Torte. Da kommen brennende Kerzen dazu, eine weitere Cremeschicht, Zuckerguss, Marzipan, etc. Diese Torte gehört gepflegt und beschützt, sonst schmilzt sie dahin.

Einen Einblick in ein Leben auf der Bühne erlaubst du deinen Leser*innen mit der Schauspielschülerin Toni, welche Edgar Brehm bei seinen Ermittlungen unterstützt. Wie entscheidest du, wie weit du den Vorhang für deine Leser*innen lüftest?

Ich schreibe immer mit ganz weit geöffnetem Vorhang 🙂 .

Zum Mitfiebern: „Schattenriss” von Theresa Prammer.

Decken sich Tonis Erfahrungen als Schauspielschülerin mit deinen eigenen?

Was die Schauspiel-Übungen betrifft – alles was Toni macht, habe ich auch gemacht. Und da mein Mann und ich seit sieben Jahren eine Schauspielakademie für Jugendliche leiten, bin ich da auch recht nah dran. Tonis direkte Erfahrungen decken sich vielleicht manchmal mit meinen eigenen, aber in ganz anderer Form.

Welche Tipps würdest du Toni und anderen angehenden Schauspieler*innen für ihren Traumberuf geben?

Glaub an dich. Hör nie auf zu lernen und dich weiterzuentwickeln.
Sei mutig und radikal ehrlich zu dir selbst. Finde etwas an jeder Rolle, das du liebst.
Geh mit ganzem Herzen rein, riskiere es, Fehler zu machen und zu scheitern.
Wenn du mit Rückschlägen kämpfst, frage dich: Warum geschieht das FÜR mich?
Hör dir Kritik von den für dich richtigen Leuten an. Wenn sie dich trifft, schlaf drüber, schreib deine Gedanken dazu am nächsten Morgen auf und entscheide dann, ob sie (oder welcher Teil davon) berechtigt ist. Und vergiss nie, alle „kochen nur mit Wasser“.

Edgar Brehm, ehemaliger Kommissar und jetzt Privatdetektiv, verschlossen und mürrisch, aber mit einem riesigen Herz, und Toni Lorenz, Schauspielschülerin am Konservatorium in Wien, offen, mutig und mit ihrem persönlichen Rucksack voller negativer Erfahrungen beladen: ein Ermittlerteam, das ungleicher nicht sein könnte. Und dabei doch so gut zusammenpasst.
Wenn Toni und Edgar an einem Fall arbeiten, gönnt uns Theresa Prammer keine Atempause: auf Theaterbühnen und Filmsets, auf den Straßen Wiens, von der Donau bis in den Prater lösen die beiden Fälle, die unter die Haut gehen. Emotional, aufwühlend und mitreißend bis zum letzten Wort.

Mehr Infos zum Buch gibt es hier!