Autor: Marina Höfler

Die Welt ruft! Kateryna Babkinas Romandebüt entführt uns auf eine Reise voller Überraschungen quer durch Europa

„Heute fahre ich nach Morgen“: Hunger nach Leben und Antworten ist der Motor, der die bezaubernde Protagonistin des ukrainischen Jungtalents Kateryna Babkina auf ihrer sinnlichen Fahrt ins Unbekannte antreibt. Wir dürfen sie dabei auf dem Rücksitz eines alten Lada begleiten

Die selbstbewusste und abenteuerlustige Künstlerin Sonja genießt ihr Leben in vollen Zügen: Sie ist jung, kreativ und darüber hinaus auch noch wunderhübsch. Sonja saugt alles, was ihr unbeschwertes Leben ihr beschert, in sich auf. Sie tanzt viel, träumt viel, verliebt sich gerne, malt gerne. Ganz ungezwungen, ganz ohne Gedanken an morgen. Warum auch? Schließlich bringt jeder Tag ohnehin etwas Neues, aber doch nichts Aufreibendes, über das man sich große Gedanken machen müsste. Dazu noch eine Liebesgeschichte mit dem aufregenden Luis. Beziehungsstatus? Unbekannt. Aber wieso sich festlegen, wenn es auch so schön und viel unkomplizierter ist.

So könnte es ewig weitergehen, ewig dahinfließen wie die langsam vergehenden und heißen ukrainischen Sommertage … Doch inmitten der leichtfüßigen Idylle nimmt die Sorglosigkeit ein abruptes Ende: Über Nacht wird sie von Luis verlassen. Dann eine Party. Eine Nacht mit einem Unbekannten. Und schließlich die Gewissheit: Sie ist schwanger

Ein Kofferraum voller Fragen, Abenteuerlust und Poesie

Kateryna Babkina, eines der jüngsten, vielseitigsten und vielversprechendsten Talente der Ukraine. Foto: Alina Kondratenko

Das ist der Ausgangspunkt dieser mitreißenden Geschichte, mit der nun erstmals eine deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kateryina Babkina vorliegt. Die Autorin, Dichterin und Drehbuchautorin ist eine der jüngsten, vielseitigsten und vielversprechendsten Talente der Ukraine. Selbst vom Lebensgefühl der Generation Y geprägt, kennt sie die Fragen, die sich einer Generation stellen, der zwar alle Türen offenstehen, die aber nicht weiß, was sich in der Welt und Zukunft dahinter verbirgt, nur zu gut. Feinfühlig gelingt ihr die Schilderung der Sinnsuche ihrer Romanheldin von „Heute fahre ich nach Morgen“, auf die sich diese nach dem ersten Schock der Ereignisse einlässt.

Sonja war von der Schwangerschaft derart geschockt, dass sie lange in den hintersten Ecken ihres Inneren kramte, trockene Erinnerungen und feuchte Gefühle, winzige Splitter kleinster Dinge und das leise Stöhnen fremder Geheimnisse durchforstete und trotzdem nicht wusste, wie sie das bewerten sollte, was da gerade mit ihr passierte.

Von der ungeplanten Schwangerschaft überrumpelt, wird Sonja mit ganz neuen Fragen konfrontiert, die sie dazu bringen, sich mit ihren Wurzeln auseinanderzusetzen: Wo will ich hin? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Wie bringe ich mich selbst in Einklang mit dem, was da gerade in meinem Bauch heranwächst? Woher komme ich selbst? Und wo zum Teufel steckt eigentlich mein Vater? Angeregt durch ihre Schwangerschaft, will sie den ihr bisher unbekannten Vater endlich finden. Vielleicht wird ihr dann klar, was „Blutsbande“ zwischen Eltern und ihren Kinder sind?

Die ungewohnte Situation ist für Sonja ein grober Einschnitt, aber auch eine neue Perspektive: Die Vergangenheit lässt sich erkunden, aber das alte Leben nicht mehr herstellen. Dafür eröffnen sich ihr bisher unbekannte Wege und Horizonte. Mutig beschließt sie, endlich ins Morgen zu starten.

Von fliegenden Elchen und schlafenden Drachen – die fabelhafte Welt der Sonja

Eine traumhafte Reise: Heute fahre ich nach Morgen

Lebendig und beschwingt erzählt Kateryna Babkina von der Gefühlswelt einer jungen, modernen Frau und würzt ihren Text mit fantastischen Elementen. Auf ihrer Reise begegnen Sonja skurrile Gesichter mit noch skurrileren Geschichten. Da ist zum Beispiel der kleine Besnyk, der zusammen mit seiner Familie in einer versteckten Hochhaussiedlung im Wald vor Sonjas Heimatstadt lebt. Oder das homosexuelle Pärchen Po und Pu, das sie noch aus Schultagen kennt. Und dann erst der geheimnisvolle Kai, der mit seiner ungewöhnlichen Geschäftsidee, Wunder zu verkaufen, durch Europa zieht. Sonjas Reise ist abenteuerlich, traumhaft und erfrischend verrückt!

Kateryna Babkina schafft es, in ihrem Roman die ernsten Lebensfragen einer ganzen Generation zu stellen, auf ungezwungene, humorvolle und poetische Art. Und auf eine ziemlich spritzige noch dazu, denn Sonja macht sich hinter dem Steuer ihres alten Lada auf die Reise. Eine Reise als Selbstfindung, zum Sortieren des eigenen Lebens, der eigenen Ängste, Sehnsüchte, Wünsche und Ziele. Aus der Ukraine nach Polen, von Krakau nach Katowice, in die pulsierende Metropole Berlin, von dort aus nach – aber halt, zu viel wollen wir nicht verraten!

Folge Sonja auf ihrer Reise quer durch Europa und genieße diesen engen Tanz von Poesie und Prosa.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Kateryna Babkina haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej KurkowSerhij ZhadanMaria MatiosOleksij TschupaNatalka Sniadanko, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

Schreiben, wo der Puls der Zeit pocht: Das „Logbuch der Gegenwart” von Aleš Šteger

Einmal im Jahr sucht sich Aleš Šteger einen Tag und einen Ort aus, setzt sich dort zwölf Stunden hin und fasst seine Eindrücke in Worte. Stets sind es Orte, an denen der Puls der Zeit besonders spürbar pocht, Orte, an denen er als Schriftsteller den Finger mitten in die Wunden unserer Gesellschaft legen kann. Das ist Literatur in Echtzeit – ungefiltert und einzigartig in ihrer Unmittelbarkeit.

Belgrad, 2. August 2015. Foto: Aleš Šteger

Die Regeln des ‚Spiels’, das ich mir da ausgedacht habe, sind einfach. Den Schreib-Ort vorher auszusuchen. Einen öffentlichen Raum, wenn möglich. Einen Ort, der eine lebhafte, aber unberechenbare Geschichte erzählt. Den Termin für das Schreiben im Voraus festzulegen. Wenn möglich, ein Datum zu wählen, das mit einer bestimmten Menge an Gedenk-Gepäck beladen ist. Die Schreibzeit, in welcher der Text geschrieben werden soll (oder auch nicht), auf nicht mehr als zwölf Stunden zu beschränken. Keine Bücher oder Zeitungen, keine Notizen, die man im Voraus vorbereitet, mitzunehmen, keine grundlegenden Bezugspunkte, keine Interaktion mit der Welt des Internets. Nur ein äußerlicher Inkubationsreiz, um zu schreiben, ein frei Haus geliefertes und fragiles Sicherheitsnetz des Flüchtigen und des Ausgesetzt-Seins. Nur der Glaube an die Zeit, an das Hier und Jetzt. Und an die Worte. Die Worte …“

Fukushima und Minamisōma – 16. Juni 2013. Foto: Aleš Šteger

Es sind seltene Momente der Wachheit, die aus ebendiesen Worten entstehen, eine besondere Art der Wachheit, spürbar auch in den Texten. Für den aktuellsten hat Šteger sich in Belgrad gegenüber der Busstation postiert – jener Busstation, die gleichzeitig die zentrale Stelle ist für syrische Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Ungarn.

Ein weiterer Text entstand nahe des Atomkraftwerks von Fukushima, und zwar in der Bibliothek, wo Familien jetzt ihre Freizeit verbringen, weil der Park kontaminiert ist.

Vor der Bibliothek in Minamisōma steht ein Messgerät, das die Strahlungswerte in der Luft zeigt. Keine Zeit, keine Temperaturanzeige, stattdessen Millisieverts. Diese Uhr ruft eine andere Welt auf als unsere. Selbst wenn die süßeste Musik von Chopin erklingt in dieser Bibliothek, es ist unmöglich, sich vom Gefühl, dass die Zeit hier anders gezählt wird, zu verabschieden, dass mit dem 11. März eine neue Zählung eingesetzt hat, eine Zählung nach der Zeit, als es die Zeit noch gab, das Zählen der Zeit in eine Zeit, die verschoben war, in der wir noch am Leben sind (aber nicht wissen, ob das morgen auch noch der Fall sein wird).

Šteger, „wichtigster slowenischer Schriftsteller seiner Generation“ (DIE WELT, Richard Kämmerlings), leiht uns seine Augen, und er öffnet die unseren für einen exakten und zugleich doch poetischen Blick auf die Welt. So entsteht ein eindringlicher und hochbrisanter literarischer Lokalaugenschein – berührend und aufrüttelnd.

„Es geht um eine doppelte Wachheit. Ein Wachsein in der Sprache. Und wach zu sein als Mensch, der ans Ende von etwas gelangt ist. Ans Ende der Geschichten, ans Ende der Zeit. Eine Idee, die durch Beobachtung und Abstand geboren wird.“

Belgrad, 2. August 2015. Foto: Aleš Šteger

Aus Štegers präzisen Beobachtungen ergibt sich wie aus Mosaiksteinchen ein Bild unserer Zeit, kongenial vervollständigt durch die zahlreichen Fotografien des Autors. Dieses Ausnahmeprojekt ist auf zwölf Jahre angelegt und erscheint bei Haymon in drei Bänden.

In Logbuch der Gegenwart. Taumeln geht Aleš Šteger dorthin, wo die Wunden unserer Zeit klaffen: Nach Ljubljana, zum Platz der Republik, am Tag des prophezeiten Weltuntergangs; nach Minamisōma nahe dem Atomkraftwerk von Fukushima; nach Mexico City während einer Demonstration gegen den Umgang der Regierung mit dem Mord an 43 Studenten; nach Belgrad, Busstation, Zwischenstopp syrischer Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Ungarn – mit einem Blick durch seine Augen führt uns Šteger direkt in das Herz des Phänomens.

Der zweite Band der Reihe – Logbuch der Gegenwart. Aufbrechen führt uns nach Shanghai, wo der slowenische Schriftsteller vom Alltag unter Überwachung durch Künstliche Intelligenz berichtet. Mit den russischen Solowezki-Inseln betritt er heiligen Boden mit traumatischer Gulag-Vergangenheit. Im sächsischen Bautzen besucht er ein ehemaliges Stasi-Gefängnis und wird mit dem Rechtsruck in Politik und Gesellschaft konfrontiert. Ein weiteres Ziel ist das südindische Kochi.