Autor: Marina Höfler

Fabelhaft, verrückt und ungeschminkt: „Fütter mich” von Cornelia Travnicek – Leseprobe

Literatur geht durch den Magen. Im Erzählband „Fütter mich” von Cornelia Travnicek ist der Titel Programm, es geht ums Fressen und Gefressenwerden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Travnicek serviert dem Leser elf berührend-skurrile Erzählungen, die der Realität gefährlich nahe kommen. Sie erzählt von Menschen, die getrieben sind vom Hunger nach den essentiellen Dingen des Lebens: Liebe, Anerkennung und Zuneigung.

Das folgende Appetithäppchen stammt aus der Erzählung „Ouroboros“.

Foto: Volkskultur NOE Lackinger

Was der Mensch alles von sich frisst, murmelte er und man konnte ihn dabei nicht richtig verstehen, der Lärm der Straßenbahn, die Leute. Was der Mensch alles von sich frisst, sagte er wieder, wenn er in der Nase bohrt, in seinen Ohren, wenn er sich am Kopf kratzt und dann an den Nägeln kaut, sagte der Mann etwas lauter, und alle taten, als würden sie nicht so genau hinhören, sie saßen ganz still. Wenn der Mensch sich die Hände nicht wäscht nach dem Urinieren, nach dem er sein Geschlecht anfasst, was er da alles von sich frisst, ging es weiter, was an den Fingern hängenbleibt, was für ein Grind sich unter seinen Fingernägeln ansammelt, wie er mit der Nahrung in den Mund geschoben wird, der Grind, was er alles von sich frisst der Mensch, Hautfetzen von seinen Fingern kaut, und so weiter. Autokannibalismus, sagte der Mann, Autokannibalismus, sagte er noch einmal etwas lauter, und niemand brauchte mehr so zu tun, als würde er nicht zuhören, sich selbst auffressen und wieder nachwachsen, fügte er hinzu, wie die Gesellschaft, schrie er hinaus und alle konnten es hören.

Ein Mädchen sah den Mann etwas seltsam an, nicht aus den Augenwinkeln, ganz unverhohlen sah es ihn an, vom wirren Haar bis zu den alten Schuhen, einmal von oben nach unten und wieder zurück sah es ihn an, dann stieg es aus.

Der Mann zog den Schleim in seiner Nase hoch, lauter als der Straßenlärm, Autokannibalismus sagte er ein letztes Mal, diesmal ganz leise, sodass niemand es hörte, sondern nur von seinen trockenen Lippen las und auf einmal sah man alles an ihm, die spröde Lippenhaut, die er mit den Zähnen in den Mund zog, das Fett in seinem glänzenden Gesicht, den Talg, der aus den Poren quoll, die Haare in seiner Nase, den Rand unter den Nägeln, den Grind, den Menschen, den Mensch in seiner ganzen Hässlichkeit. Jedes Jahr dasselbe, sagte der Mensch, der Mann, alle Jahre wieder, schnäuzte er sich, im Herbst fängt es an und hört bis Ostern nicht mehr auf, die Nase läuft, und jedem war, als hätte er ihn dabei angesehen, als er das sagte, und jeder tat wieder so, als hätte er nie zugehört, wendete sich ab.

 

Draußen war noch Nachmittag, außerhalb der Straßenbahn, trotzdem war der Mann bereits am Weg in sein Lieblingslokal, er hatte nicht viel zu tun, er würde einen Tee trinken, wegen der Nase, einen Tee mit Rum, wegen der inneren Wärme. Wenn ihn jemand fragte, wie es ihm ging, dann sagte er immer, dass seine Nase so schnell liefe, dass er sie bald nicht mehr einholen würde, aber keiner lachte, dann bestellte er noch einen Tee und diesmal mit mehr Rum, wegen der inneren Wärme.

Er saß in seinem Lokal, denn wenn es nach dem Recht gegangen wäre, wäre es sein Lokal, er hätte es ersessen, in jahrelanger Sitzarbeit, in vielen Nachmittagen und Abenden. Er saß also in seinem Lokal und sah in den Tee, die Nase lief ihm und er zog den Schleim hoch, er war der einzige Gast um diese Uhrzeit zwischen Mittag und Abend, eine Zeit, in der andere Kaffee trinken, aber das hier, das war kein Kaffeehaus, er war alleine. Der Wirt war in die Küche verschwunden, schon länger, das geschah öfters und störte nicht, weil ja keine Gäste da waren, außer ihm, und er konnte sich auch selbst bedienen, wenn er wollte, wenn der Wirt gerade nicht da war. Da schwang die Türe auf und ein weiterer Mann kam herein, etwas jünger als er, etwas größer als er, und er setzte sich an den Tisch neben ihm. Der Mann senkte seine Nase Richtung Teetasse, der andere klopfte auf den Tisch, er rief nach Bedienung und der Wirt kam, der Wirt kam sogar erstaunlich schnell, was den Mann mit der Nase knapp über seiner Teetasse ärgerte, denn zu ihm kam der Wirt nie sofort und schon gar nicht so schnell, und so bestellte er gleich mit, aber diesmal keinen Tee, sondern auch ein Bier bitte, ein kaltes, ja. Scheiß auf die Nase, dachte er bei sich, wie er da so saß, hinüberäugend auf das Glas und den vollen Teller des Jüngeren am Nebentisch, der dort schweigend eine Zeitung ausbreitete, deren Format eher an eine Tischdecke erinnerte. Das Bier war wirklich kalt und die Nase begann wieder zu laufen, also holte er sein altes Taschentuch heraus, eines aus Stoff, blau-weiß kariert, ein richtiges Stofftaschentuch, leicht verkrustet, und da schnäuzte er sich hinein und das Geräusch war lauter als alles im Lokal, sodass der Jüngere aufsah und ihm einen Seitenblick zuwarf, anders als das Mädchen vorher, nur kurz und abschätzend, doch der Mann griff nach diesem Seitenblick wie nach einem Anker und wollte ein Gespräch daran vertäuen.

Im Herbst fängt es an, stellte er laut fest, damit der andere nicht so tun könnte, als hätte er nicht zugehört, und es hört bis Ostern nicht mehr auf, erzählte er weiter. Der Jüngere schien nicht zu reagieren, aber ein angedeutetes Nicken konnte leicht übersehen werden, er fuhr also fort mit seinem Gespräch, seinem Monolog, der ein Dialog werden sollte. Meine Nase läuft so schnell, die läuft mir bald davon, stieß er hervor und tatsächlich kam hinter der Zeitung ein Lachen hervor, die Zeitung senkte sich und der Jüngere kam dahinter hervor, das Unmögliche fand in diesem Moment statt, das Wunder seines Lebens, ein weiteres, so wie damals die eine Frau, die das Bett mit ihm teilen wollte, den Frühstückstisch, sie war schön gewesen, blond und kühl, eine Eisprinzessin, aber alle Wunder finden ihr Ende, also beeilte er sich, dieses am Leben zu halten, suchte verzweifelt nach einem weiteren Satz, aber über den hatte er noch nie nachgedacht, ein weiterer Satz war noch nie erforderlich gewesen, darum hob er nur sein Bierglas zu einer verbrüdernden Geste und der andere tat es ihm gleich.

Sind Sie auf den Geschmack gekommen? Hier geht’s  zum Buch!

Psychologische Krimi-Perfektion: Carla Bukowski ermittelt wieder

Autorin Lena Avazini. Foto: Thomas Schrott

Wenn auf einem Buchcover Lena Avanzini steht, verbirgt sich dahinter in der Regel kein Gesundheitsratgeber: Eine Protagonistin, die sich im Wesentlichen von Zigaretten und dreifachen Espressi ernährt, und durchschnittlich drei bis sieben Leichen pro Fall – das hört sich schon reichlich ungesund an. Auch in ihrem neuen Krimi wird das Ermittlerteam nicht gerade geschont. Aber Carla Bukowski ist zäh. Und Carla Bukowski ist unberechenbar.

Im Gespräch mit Christina Kindl-Eisank (erstmals erschienen im Wagner’sche Magazin N°2) spürt Lena Avanzini dieser Unberechenbarkeit, überhaupt: dieser eigenwilligen Ermittlerpersönlichkeit mit Hang zur Selbstzerstörung nach.

Was wäre schließlich ein Mensch ohne seine Widersprüche? 

***

Sie lieben gemütliche Cafés, selbst gebackenen Marillenkuchen – und Krimis mit drei bis sieben Leichen. Wie passt das zusammen?

Gar nicht. Was wäre ein Mensch ohne Widersprüche?

Hilft das Morden am Papier, um Ärgernisse des Alltags abzubauen?

Unbedingt!

In Ihren Krimis ermittelt Carla Bukowski, eine Inspektorin der etwas anderen Art. Sie mag Störche und Musik von Schönberg, kann Operetten nicht ausstehen und hat eine beste Freundin, die Channeling betreibt. Gab es für Carla Bukowski eine Vorlage, oder anders gefragt: Sollte es mehr Carla Bukowskis auf dieser Welt geben?

Eine Bukowski reicht völlig. Vorlage gab es keine. Nur ein Bild, einen Namen, einige Waldspaziergänge und Badewannenaufenthalte. Ergebnis: geschrumpelte Haut und eine spröde, seelisch angeschlagene Ermittlerin. Sie ist aber durchaus liebenswert, wenn man sie näher kennenlernt.

Sie ist ein echtes Original und sie hat es nicht gerade leicht. Sie muss schon einiges mitmachen, das richtig unter die Haut geht. Wissen Sie das schon, bevor Sie mit dem Schreiben eines neuen Buchs beginnen, oder lassen Sie das auf sich und Ihre Figur zukommen?

Vor dem Schreiben kommt das Planen. Ich skizziere einerseits die Figuren der Geschichte, andererseits den Plot und damit all das Furchtbare, das den Armen zustoßen wird. Aber so arm und machtlos sind sie gar nicht.  Manche schlagen zurück, indem sie ein Eigenleben entwickeln und die Pläne der Autorin boykottieren.  Sie gehen ganz einfach in die entgegengesetzte Richtung, was einerseits schön, andererseits arbeitsaufwendig ist. Bukowski ist so eine widerspenstige Figur. Sie ärgert mich in jedem Band. Sie ärgert mich auf ungesunde Art und Weise. Aber wir werden ja sehen, wer am längeren Ast sitzt …

Schicksalsschläge, Anti-Depressiva, ein Hang zu Kurzschlusshandlungen: Das klingt nach einem guten Cocktail für eine tragische Verbrecherkarriere. Ist es purer Zufall, dass Carla auf der Seite der Guten steht?

Menschen aus Fleisch und Blut haben die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden – zumindest mehr oder weniger.  Fiktive Figuren nicht, ihr Weg wird vom Autor, von der Autorin vorgegeben.  Bukowski hat also keine Wahl, sie muss  auf der Seite der Guten …  Oder? Wie war das mit dem Eigenleben und dem Hang zum Boykott? Na bravo. Jetzt haben Sie die Gute auf eine Idee gebracht – herzlichen Dank auch!

Wann überkam Sie der Drang, selbst einen Krimi zu schreiben?

Gar nicht. Ich will immer nur spannende Geschichten schreiben. Aber dann holt mich das Verbrechen ein. Und weil Verlage und Buchhandlungen von ordentlichen Menschen geführt werden und ordentliche Menschen eine Vorliebe für Schubladen haben, steht vorne meistens „Kriminalroman“ drauf.

Gibt es ein Autorenklischee, das Sie erfüllen?

Meinen Sie sowas wie: Autoren saufen, schlagen sich die Nächte um die Ohren, sind asoziale Nerds, warten ihr Leben lang auf die Idee und werden dann reicher als die Queen? Liebe Frau Kindl-Eisank, ich schweige vielsagend.

Haben Sie einen Büchertipp für uns? Es muss kein Krimi sein.

Wie wär’s mit einem Klassiker? Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz. Eine wunderbare Geschichte für junge und alte Kinder, in der es um den Raub und die abenteuerliche Wiederbeschaffung einer besonderen Kaffeemühle geht, und die man also auch in die Krimischublade stecken könnte. Man muss aber nicht!

Zu guter Letzt: Welche Bücher hätte Carla Bukowski auf Ihrem Nachtkästchen liegen, wenn sie Zeit zum Lesen hätte?

Da läge natürlich an oberster Stelle das Buch ihres verstorbenen Mannes Gregor Bukowski: Schönberg und seine geistigen Väter. Außerdem die Duineser Elegien von Rilke. Das hätten Sie ihr nicht zugetraut, was? Leider hat sie viel zu wenig Zeit zum Lesen.

Ach ja, und dann noch E. L. James: Fifty Shades of Grey. Was, echt jetzt? Bukowski auch? Tja, wieder so ein Fall von Ungehorsam gegenüber der eigenen Autorin. Zum Glück hat Bukowski wirklich keine Zeit zum Lesen!

Lena Avanzini liefert einmal mehr einen elektrisierenden Kriminalroman und entlarvt Seite für Seite, wozu eine gekränkte Seele fähig ist. Lernt die spröde Ermittlerin mit der düsteren Vergangenheit kennen und lest jetzt rein:

Nie wieder sollst du lügen
Auf sanften Schwingen kommt der Tod
Am Ende nur ein kalter Hauch

Das andere Geschlecht gibt Anlass zum Staunen

Auf herrlich vergnügliche Weise lotet Natalka Sniadanko Geschlechterverhältnisse aus und zwinkert uns schelmisch zu

Männer als Objekte weiblicher Studien

Olessja ist intelligent, selbstbewusst – und neugierig. Im Zentrum ihrer Beobachtungen steht von Beginn an die Leidenschaft, nein, stehen vielmehr die Leidenschaften. Im Laufe ihres Lebens hat sie eine beträchtliche Sammlung von ihnen angelegt, und an ihren Erkenntnissen zu den einzelnen Leidenschaften lässt sie uns nur allzu gerne teilhaben.

Die erste Leidenschaft ist – wie sollte es anders sein – die kindliche, wobei Olessja sogleich darüber aufklärt, „wann man damit anfangen sollte und worauf es nicht ankommt“. Die junge Ukrainerin verliebt sich ausgerechnet in einen langweiligen Bücherwurm namens Tolja, der sie zu ihrem großen Entsetzen zurückweist. Er kann nichts anfangen mit den poetischen Zettelchen, die Olessja ihm zusteckt. Nie wieder will sie sich von da an unglücklich verlieben, den Männern widmet sich die unabhängige Frau ab sofort ausschließlich mit Forschungsinteresse.

Olessja findet ihre Leidenschaften auf eigene Faust

Natalka Sniadanko, Foto: Kateryna Slipchenko

Die nächste Leidenschaft gilt einem Jungen, der in einer Trash-Metal-Band spielt. In der postsowjetischen Ukraine der späten 80er Jahre sind westliche Einflüsse spürbar, nicht nur musikalisch, sondern auch gesellschaftlich. So stellt sich zum Beispiel die Frage nach der Crux des vorehelichen Geschlechtsverkehrs – Sünde oder notwendiger Versuch? Während die ältere Generation leidenschaftlich am Gebot der Keuschheit festhält, ist die neue von der eigenen Leidenschaft überrascht. Überrascht ist auch Olessja, als sie feststellt, dass das andere Geschlecht von ihrer Suche nach körperlicher Liebe manchmal durchaus überfordert ist.

Überrascht sind außerdem Olessjas Eltern, als Olessja nicht wie von ihnen geplant ein Informatik-Studium antritt, sondern sich lieber den Sprachen widmet. Denn eine ihrer großen Leidenschaften ist die Literatur, der sie viel Zeit und Muße widmet. Schließlich bietet sich – nach einem kurzen Zwischenspiel mit einem mausgrauen Mathematiker – die Möglichkeit eines Au-pair-Aufenthalts im fernen Freiburg im Breisgau.

Olessja setzt sich durch gegen die Bedenken ihrer Eltern: Obwohl kaum der deutschen Sprache mächtig, tritt sie, angezogen vom „magischen Klang des Namens Baden-Baden“, die Reise an. Bald schon kann sie Exemplare der männlichen Spezies beobachten, die aus anderen Kulturkreisen stammen, und so ihre Sammlung deutlich erweitern.

Gender-Gap und Culture-Clash – wozu im Manne Intellekt suchen?

Und spätestens hier beginnt ebenso munteres wie rasantes Jonglieren mit Kulturen, Geschlechtern und Nationalitäten, ein spielerisches Aufgreifen von Klischees und ein schmunzelndes Demontieren derselben.

Die deutsche Au-pair-Familie ist so, wie man sich eine deutsche Au-pair-Familie vorstellt. Freundlich, hilfsbereit, pünktlich, pedantisch mülltrennend und ein wenig starr in den eigenen Strukturen verhaftet. Doch Olessja fühlt sich höchst wohl in diesem Land, ergattert ein Studenten-Visum und bleibt in Freiburg, um fortan hier zu studieren.

Auf Wohnungssuche verschlägt es sie schließlich zu Berto, einem leidenschaftlichen Italiener, der an die eine wahre Liebe glaubt und sie gegen das Führen seines Haushaltes bei sich wohnen lässt. So kann Olessja ihrer Forschung alsbald ein mediterranes Forschungsobjekt hinzufügen.

Das Leben in Deutschland hält immer wieder spannende Erkenntnisse für Olessja bereit, etwa:

Leidenschaften gesammelt von Natalka Sniadanko

Andererseits – wozu im Manne Intellekt suchen?

Wenn Probleme mit dem Temperament oder der Potenz auftreten, muss man versuchen, die Situation irgendwie zu retten. Shakespeare zitieren, Mario Vargas Llosa oder, in besonders schweren Fällen, sogar Schewtschenko. Wenn aber alle primären und sekundären Geschlechtsmerkmale normal funktionieren, besteht im Prinzip keine Notwendigkeit, sich zu unterhalten.

Hermann und die Emanzipation

Und dann trifft sie Hermann, einen verschrobenen jungen Mann aus aristokratischem Hause, mit dem sie sich sogar besonders viel unterhält und den sie sogar mit zu ihren Eltern in die ukrainische Heimat nimmt. Hier, wo der Gender-Gap noch tiefer klafft als im fernen Deutschland, erlebt nun Hermann seinerseits einen Culture-Clash, als er versucht, den jungen Ukrainerinnen seine emanzipatorischen Vorstellungen nahezubringen und Olessjas Mutter kränkt, als er sich am Abwasch beteiligen möchte – „Hermann und die ukrainische Emanzipation. Zweiter – praktischer – Versuch“.

Doch man darf unbesorgt sein, denn Natalka Sniadanko liefert eine durchaus selbstironische „Gebrauchsanweisung für eine echte Galizierin“ gleich mit.

Pointiert, subtil, komisch: Ein furioser und höchst leidenschaftlicher Roman von Natalka Sniadanko.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Natalka Sniadanko haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

„Eine befreiend weite Welt“ – Auf dem Steyr-Puch-Waffenrad durchs Weinviertler Grenzland

Er braucht keinen Laptop, keine Täterprofile. Er blickt seinem Gegenüber genau in die Augen und weiß, was Sache ist. Simon Polts Ermittlungsmethoden haben nicht viel gemein mit den Segnungen der Forensik, des Profiling oder ballistischen Gutachten. Dass man im malerischen Pulkautal allerdings mit C.S.I.-Chic und Hightech- Kriminalistik nicht unbedingt weiterkommt, das musste bisher noch jeder Hauptstadt-Polizist einsehen, der in die Weinviertler Kellergassen beordert wurde. 

Hier kommt es auf andere Eigenschaften an, denn die Menschen, die Landschaft, die Luft, die Zeit – hier im Weinviertler Grenzland ist einfach alles ein wenig anders. Und so liegt es immer wieder am längst pensionierten Simon Polt, Verbrechen aufzuklären, von denen natürlich auch das idyllische Wiesbachtal nicht verschont bleibt.

Foto: © Michael Himmel, mit freundlicher Genehmigung der Initiative Pulkautal

Die Landschaft, in der sie leben ist den Menschen hier eingeschrieben – sie bevölkern „eine merkwürdig zeitlose Gegend, eine, die Gedanken das Fliegen lehrt, kein armseliger Hinterhof, sondern eine befreiend weite Welt, in der man nicht den Kopf heben muss, um in den Himmel zu schauen”. Im Gespräch mit Georg Hasibeder gibt Autor Alfred Komarek einen Einblick in die zeitlose Welt des Weinviertels. Wo man sich in der Stille der Weinkeller in einer anderen Dimension wähnt als übertags, und die Hauptstadt Wien so unendlich weit weg zu sein scheint.

Auf dem Waffenrad durchs Grenzgebiet – kommt mit auf eine Erkundungsreise durchs Wiesbachtal.

Das vollständige Gespräch ist in der neuen Taschenbuchausgabe von „Alt, aber Polt” enthalten.

Das nördliche Weinviertel war immer schon eine Grenzregion – wenn Simon Polt über die Feldwege oder durch die Kellergassen geht oder auf seinem alten Steyr-Puch-Waffenrad fährt, dann hat er die Grenze zu Tschechien meist in Sichtweite. Inwieweit hat diese Grenzlage die Menschen und das Leben geprägt?

Das Hügelland des Weinviertels ist von seinem Wesen her weit und offen, nicht dafür geeignet, zu umfangen, zu schützen und zu bergen. Was immer ins Land kommt, hat Wirkung, nur Veränderung hat Bestand – und das gilt auch für die Grenze. Lange Zeit war sie nicht viel mehr als ein Gartenzaun zwischen zwei Ländern der Habsburgermonarchie, blieb auch nach deren Zerfall weitgehend durchlässig. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg begann ihre zunehmend radikale Aufrüstung. Für Polt war das Leben am „Eisernen Vorhang“ viele Jahre lang Alltag. Als dann innerhalb weniger Tage die Welt neu geordnet wurde, bedeutete das für das Weinviertel nicht nur Gutes. Als Gendarm musste Polt erleben, wie die neue Freiheit auch als willkommenes Spielfeld für die Kriminalität wahrgenommen wurde – nachzulesen in Polterabend, dem vierten Band. Das alles nährt die Überzeugung, dass angesichts der bewegten Vergangenheit und vieldeutigen Gegenwart die Zukunft mit wachsamer Skepsis zu erwarten sei. Argwohn, Vorsicht und Misstrauen gehören im Grenzland nun einmal zum Leben, aber auch die bedingungslose Bereitschaft zu helfen – weil man hier ja letztlich aufeinander angewiesen ist.

Was hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs geändert? Ist der Nachbar Tschechien ein Stück näher gerückt?

Vieles hat sich verändert – oder auch nicht. Das Weinviertel ist aus seiner Randlage in die Mitte Europas gerückt. Der Weinexport nach Tschechien läuft gut. Es gibt Zusammenarbeit über die Grenze hinweg, Tourismus in beiden Richtungen. Auf dem Polt-Weg, der – auch entlang der Grenze – Wanderern und Radfahrern die Schauplätze der Romane und die Drehorte der Filme näher bringt, sind deutlich mehr tschechische Gäste unterwegs.

Aus der aufgeregten, neugierigen, auch berechnenden Begegnung ist selbstverständliches Nebeneinander geworden, auch Miteinander, von Fall zu Fall. Aber die Grenze in den Köpfen gibt es noch immer. Kränkungen, Unrecht und Gewalt im Krieg, aber auch noch in den Jahren danach, sind nicht vergessen. Die Menschen hier lernen rasch, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, sie sind aber auch geübt im Wechselspiel von vernünftiger Nähe und sorgsamer Distanz.

„Die Leute hier mögen ihre Nachbarn von drüben nicht. Es hat auf beiden Seiten viel Unrecht gegeben, im Krieg und nachher“, sagt Simon Polt in Polt muß weinen. Gibt es dieses Misstrauen, diese Vorbehalte gegenüber dem tschechischen Nachbarn auch heute noch?

 Die älteren Menschen im Grenzland haben diese Vorbehalte noch immer, und halten sie mit zornigem Eifer am Leben. Die Jüngeren wollen eigentlich nichts mehr von all dem wissen. Immerhin gibt es jetzt ein paar Discos und Events mehr, die Leben in eine ereignisarme Gegend bringen.

Ein „Gefängnis, in dem es nicht mehr auszuhalten war“, „Eine Grenze mit Stacheldraht, Bodenminen, Scharfschützen. Eine Gegenwart ohne Zukunft. Menschen ohne Stolz und ohne Zuversicht.“ – so äußert sich Ingenieur Seidl über das Leben im Wiesbachtal. Hat er mit dieser Diagnose recht?

Er hat völlig recht, wenn man jene Zeit in den 1970er Jahren betrachtet, die Peter Seidl dazu trieb, anderswo sein Glück zu versuchen. Ich bin vor gut vier Jahrzehnten ins Pulkautal gekommen, weil es mir nicht gelingen wollte, in Wien heimisch zu werden. Für mich, der ich im Weinviertel zu Gast war, nicht um meine Existenz kämpfen musste, war diese schwere Melancholie faszinierend, eine Gegenwart, die in sich gefangen stillhielt, weil zu allem anderen die Kraft fehlte. Erst viel später habe ich erkannt, dass diese Lähmung dem Weinviertel jene Schätze unversehrt erhielt, die sich heute als großes Zukunftskapital dieses Lebensraumes erweisen: die ruhige, kraftvolle Kontinuität bäuerlichen Lebens und dessen althergebrachten, in dieser Form einzigartigen Schauplätze: Straßendörfer und Kellergassen im Einklang mit der Landschaft, in die sie klar und behutsam eingezeichnet sind.

Grenzland ist das nördliche Weinviertel nicht nur durch seine Nähe zur österreichisch-tschechischen Grenze. Grenzland ist es auch durch seine Lage an der Peripherie, knapp 75 Autokilometer von Wien entfernt und dennoch in der tiefen Provinz. Mit welchem Blick schaut man im Wiesbachtal auf die österreichische Hauptstadt?

 Seit jeher berührt es mich im Pulkautal, dem Wiesbachtal im Roman, eigenartig intensiv, wie weit entfernt, ja kaum existent hier eine Großstadt wie Wien sein kann. Hingegen empfinde ich beim Begriff „Provinz“ Unbehagen, weil er auch rückständig, kleingeistig und eng meint. Das Weinviertel ist aber keine gestrige, sondern eine merkwürdig zeitlose Gegend, eine, die Gedanken das Fliegen lehrt, kein armseliger Hinterhof, sondern eine befreiend weite Welt, in der man nicht den Kopf heben muss, um in den Himmel zu schauen.

„Ich habe Menschen kennengelernt, die vor der betäubenden Wucht der Stille im Weinkeller panisch geflohen sind, zurückgeworfen auf ihr unverstelltes Selbst.”

Gerade das städtische Publikum hat die Weinviertler Provinz in den letzten Jahren neu für sich entdeckt: Als charmanten Gegenentwurf zur modernen, hektischen Stadt, als Projektion einer ersehnten und erhofften Authentizität. Was bedeutet diese Entwicklung für das Weinviertel, welche Chancen und welche Risiken birgt sie in sich?

Wenn schon Provinz, dann unter anderen Vorzeichen, und charmant lasse ich schon gar nicht gelten. Ich habe Menschen kennengelernt, die vor der betäubenden Wucht der Stille im Weinkeller panisch geflohen sind, zurückgeworfen auf ihr unverstelltes Selbst. Vermutlich üben sie inzwischen wieder hektisch urbanes Chillen. Der Direktor einer internationalen Kette von Luxushotels gestand nach ein paar Ewigkeiten vor dem Presshaus und unter dem Nussbaum, dass dieser Luxus in seinen Fünf-Sterne-Häusern leider, leider um kein Geld zu haben ist.

Als Gegenentwurf zur großen Stadt lasse ich das Weinviertel aber sehr wohl gelten, als Anderswelt: verstörend, bereichernd, ein ebenso forderndes wie hilfreiches Umfeld für die Reise zu sich selbst.

Zu den Risken: Ich sehe schon die Entdecker nahen: kluge Leute, die im Weinviertel verborgenes Potential mit unwiderstehlichen Alleinstellungsmerkmalen erkennen. Diese wortreichen Propheten werden dann unendlich einfühlsam und wissend das Weinviertel zu Tode lieben: als Marke abseits gängiger Marken, die es nun zu profilieren gilt: noch spröder der Reiz, noch stiller die Stille, noch rustikaler das Bauernland, insgesamt alles noch echter als echt. Und durch die Dörfer radeln Polizisten, verkleidet als Gendarmerie-Inspektor Polt.

Alfred Komarek: Alt, aber Polt

Auf eine andere Form von Grenze als jene zwischen Österreich und Tschechien, zwischen Großstadt und Land, auf eine unsichtbare Grenze nämlich ist Polt während seiner Zeit in Uniform immer wieder gestoßen – eine Grenze, die die Dorfgemeinschaft zwischen sich und dem Gendarmen gezogen hat: Er war respektiert, anerkannt, durfte manchmal auch hineinschauen in den inneren Kreis dieser Gemeinschaft, Teil von ihr war er aber nie. Nun, in Alt, aber Polt, hat man das Gefühl, Simon Polt gehört nun doch ganz dazu: als Gemischtwarenhändler, Wirt und Weinbauer im Kleinen. Wann hat Polt endgültig Zutritt erhalten?

Natürlich gehört Polt dazu. Es muss sich niemand mehr vor seinem Beruf fürchten, und eine anständige Familie hat er ja auch zuwege gebracht. Aber die Grenzen um ihn sind neu gezogen: Rund um Polt, den Gemischtwarenhändler, dem seine liebenswerte Enklave noch für eine Weile gegönnt ist, um Polt, den Wirt, den man als sehr nützliches Kuriosum gerne leben lässt, und um den privaten Polt, der alt geworden ist und somit sachte an den Rand rückt, dorthin, wo er unter seinesgleichen ist, und sich hoffentlich nicht in Dinge einmischt, von denen er nichts mehr versteht.

Das vollständige Gespräch findet ihr in Alfred Komareks neuestem Polt Krimi „Alt, aber Polt”. 

Simon Polt ermittelt übrigens bald wieder auf euren Fernsehschirmen: „Alt, aber Polt” wird verfilmt, unter anderem mit Erwin Steinhauer und Iris Berben in den Hauptrollen.

Wenn nur noch Satire hilft: mit Andrej Kurkow Russland verstehen

Zwischen Stalin und „Tauwetter“, zwischen Terror und erstickten Hoffnungen auf Reformen: In der Nachkriegs-Sowjetunion wandert der junge Matrose Wassili Charitonow quer durch die Taiga Richtung Westen. Sein Ziel: Leningrad. In seiner Tasche führt er das Ende einer Bickford-Zündschnur, die an einen gestrandeten Kahn voller Dynamit im Japanischen Meer geknüpft ist. Mit einem Handgriff könnte er eine riesige Explosion auslösen und alles auf null setzen …

Von „geschlossenen Städten“ und „Musilags“

Foto: © Fotowerk Aichner

Auf seinem Weg Richtung Westen trifft Charitonow auf die Bewohner eines Landes im Ausnahmezustand: Da wären zum Beispiel die beiden Soldaten in der endlos weiten Menschenleere, die sich in einem ewigen Krieg und vom Feind umzingelt glauben und jedem Ankömmling mit größtem Misstrauen begegnen. Oder auch die Orchestermusiker, die wegen angeblich schief gespielter Töne in einem „Musilag“ gefangen gehalten werden; eine namenlose und auf Karten nicht auffindbare Stadt, in der ausschließlich Zwangsjacken hergestellt werden; ein Kriegsinvalide und ein ausgerissener Altgläubiger, die in den entlegensten Gebieten Sibiriens Radios verteilen, um den nicht vorhandenen Bewohnern von den Errungenschaften des Sozialismus zu künden; ein Gärtner, der sich um einen Zwangsarbeiterfriedhof kümmert, der sich so weit erstreckt, dass er nur durch tagelange Fußmärsche erfassbar ist …

Kurkows sympathischer und gutgläubiger Held Charitonow hat auf seiner Reise viel Zeit zum Nachdenken: Zwischen seinen Begegnungen liegen Tage und Wochen ohne Kontakt mit anderen Menschen und ohne von der Propagandamaschinerie beeinflusst zu werden. Die Tiefen und Abgründe der „sowjetischen Mentalität“ tun sich vor ihm auf, und er beginnt, zu zweifeln und das System zu durchschauen. Langsam keimt in ihm der Gedanke, ob er nicht einfach alles in die Luft sprengen sollte.

Herzlich willkommen in der Welt des Herrn Bickford!

Fantastisch mutet sie an, diese Welt: Surreal wirken ihre Bewohner, surreal wirken auch ihr Verhalten und ihr Leben. Doch Andrej Kurkow zeichnet ein weitaus realistischeres Bild des einstigen Riesenreiches, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn die unzählbaren Opfer der Stalinschen „Säuberungen“, die politische Propaganda und die „geschlossenen Städte“ sind Fakten – und keine Fiktion. Unter den Eindrücken der verlorenen Perestrojka und der gescheiterten politischen und gesellschaftlichen Wende der 1990er, erhellt der ukrainische Bestsellerautor mit einem Blick durch die satirische Brille die „sowjetische Mentalität“, die noch heute die Geschicke Russlands lenkt.

Andrej Kurkow verortet seinen Roman im Dunstkreis der letzten Züge des Zweiten Weltkriegs und der „Tauwetterzeit“ unter Nikita Chruschtschow. Zwar entspricht das Russland von heute nicht der UdSSR von damals, dennoch zeigen sich bei näherem Hinsehen frappierende Parallelen zwischen Kurkows Roman und dem Russland des 21. Jahrhunderts: nur scheinbar hinter sich gelassene totalitäre Systeme, eine zur Stagnation gekommene Aufbruchsstimmung, nicht vollzogene Reformen, Unbeweglichkeit aufgrund starrer bürokratischer Apparate, das Gefühl von Gegnern und Feinden umzingelt zu sein, immer noch vorhandene ideologische Schranken und der Glaube an einen politischen „starken Mann“. – Ein ewiger Kreislauf, aus dem die Menschen sich selbst nicht befreien können? Kein Platz für Bewegung und Zweifel?

Der „sowjetischen Mentalität“ auf der Spur

Wer sind diese Menschen, die die Maschine am Laufen halten? Andrej Kurkows Figuren sind keine ideologische Schergen, gnadenlose Diktatoren oder böse Menschen. Sie sind vielmehr geprägt von Jahren der ideologischen Erziehung und Indoktrinierung. Seine Figuren sind „Sowjetmenschen“ – nicht besser oder schlechter als andere. Der Autor der Erfolgsromane „Picknick auf dem Eis“ und „Der Milchmann in der Nacht“ bildet eine Welt nach, die fantastischer wirken mag, als die Wirklichkeit, und dennoch erscheint uns die tatsächliche Lebensrealität durch die satirische Brille viel klarer, als es vermeintlich leicht verständliche Fakten tun. Ein brandaktuelles, erhellendes, und trotz seiner Ernsthaftigkeit unterhaltsames Buch, das hilft, das heutige Russland zu begreifen.

Begleiten Sie den jungen Matrosen auf seiner märchenhaft-melancholischen Reise und erkunden Sie mit ihm die „sowjetische Mentalität“. Wird Charitonow es bis nach Leningrad schaffen? Und wird der große Knall am Ende folgen?

Andrej Kurkow: Die Welt des Herrn Bickford

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Andrej Kurkow haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Oleksij TschupaSerhij ZhadanMaria MatiosNatalka Sniadanko, Kateryna BabkinaJurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

Tanzen auf dem Drahtseil, weil sie den Abgrund liebt:  Doris Gercke hat mit Milena Proháska eine außergewöhnliche Krimifigur geschaffen.

Mit der Gefahr spielen – das ist bei Milena Proháska mehr als wörtlich zu nehmen. Die Protagonistin von Doris Gerckes neuesten Krimis mag es nicht gern kuschelig. Und nimmt dafür in Kauf, dass ihr Leben ein ständiger Drahtseilakt ist.

Kiew – hier ist Milena in ihrem neuesten Fall unterwegs.

Milena Proháska ist eine kluge Frau, die keine Konfrontation scheut. Für ihre Ziele und Werte geht sie aufs Ganze und setzt dabei nicht nur ihren Intellekt, sondern auch ihre weiblichen Vorzüge ein. Sie weiß mit Menschen umzugehen und kann sie mit den richtigen Worten und Handlungen dazu bringen, ihr buchstäblich aus der Hand zu fressen. Aber woher kommt diese Frau, die nicht unbedingt immer Sympathieträgerin ist, doch zugleich auf ihr Umfeld eine faszinierende Anziehungskraft ausübt? Und wer ist sie eigentlich?

Die selbstbewusste Juristin und das Spiel mit dem Feuer

Autorin Doris Gercke, Foto: © Deff Westerkamp

Milena Proháskas Eltern stammen ursprünglich aus Prag, sie sind 1968 aus Tschechien emigriert. Ihre Tochter, eine junge Frau voller Elan, mit wilden, roten Haaren, intelligent und schön wird Rechtsanwältin, besessen davon, die Welt ein wenig besser zu machen. Sie steigt schnell auf in die Riege der Star-Juristen Hamburgs und vertritt selbstbewusst die Interessen ihrer Klienten. Dafür sind ihr viele Mittel recht. In „Milenas Verlangen“, dem ersten Kriminalroman um die schöne Juristin, reist sie dafür sogar an die französische Côte d’Azur. Die Reise entpuppt sich schnell als gefährliche Sackgasse, aus der sich Milena jedoch aufgrund ihrer Gewitztheit gerade noch retten kann. In Hamburg wartet schon der nächste aufsehenerregende Fall, der Milena nicht den Kragen, aber den Kopf kostet. Milena  fordert nämlich nicht nur die Rechte ihrer Mandanten, sondern auch die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche – auch erotischer Natur – mit Nachdruck ein. Dabei fällt es ihr immer schwer, Berufliches von Privatem zu trennen, was sie letztlich in „Beringers Auftrag“ um ihre Karriere als Anwältin bringt.

Wo es wehtut. Der neue Kriminalroman rund im Milena Prohaska.

Milena in Kiew – zwischen Nobelbordell und Bundesnachrichtendienst

Milena wäre aber nicht Milena, wenn sie nicht einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage fände. Ihr Weg führt sie schließlich nach Kiew, dem Schauplatz des neuesten Krimis „Wo es wehtut“. Dort arbeitet sie für den deutschen Bundesnachrichtendienst. Offiziell betreibt sie ein Nobelbordell, und das aus gutem Grund. Die ranghohen Männer vertrauen ihre Geheimnisse nämlich gern in rührseligen und betrunkenen Momenten ihren Mätressen an. Leichtes Spiel für Milena? Mitnichten. Denn sie wird verdächtigt, auch für Russland zu arbeiten. Als sich im Ukraine-Konflikt die Fronten verhärten, gerät auch Milena immer mehr zwischen die Mühlen …

Doris Gercke wird nicht umsonst als Grande Dame des politischen Krimis bezeichnet. Mit Milena Proháska hat sie eine Figur geschaffen, die psychologischen Tiefgang besitzt und sich geschmeidig wie eine Katze zwischen den politischen Hotspots der Welt bewegt.

Gut gebrüllt, Panther! André Pilz hat einen schonungslosen Kriminalroman geschrieben

André Pilz ist einer, der Randfiguren eine Stimme gibt. Sein neuer Kriminalroman spielt „ganz unten“, nämlich in der Drogendealerszene einer deutschen Großstadt. Tarik, ein sympathischer Underdog und Kleinkrimineller, gerät in Schwierigkeiten, als er sich von der Polizei überreden lässt, in eine vermeintliche Terrorzelle eingeschleust zu werden.

„Heftig, ehrlich und ohne Tabus.”
WDR, Lina Kokaly

„hoch engagiert, voller Kraft und Leidenschaft”
WDR, Ulrich Noller

„Bei aller Härte und Spannung gelingt André Pilz in ‚Der anatolische Panther‘ das sensible Porträt eines türkischstämmigen Outsiders. (…) Zudem erzählt André Pilz respektloser, ja mutiger vom Treiben salafistischer Seelenfänger hierzulande als man es in den üblichen Konvertitengeschichten hausbackener Krimikonfektion bislang gelesen oder gesehen hat.”
Deutschlandfunk, Ralph Gerstenberg

„Der anatolische Panther ist nicht einfach nur ein spannender, authentischer Kriminalroman, dem das seltene Kunststück gelingt, den Finger auf die Stelle zu legen, an der man den Puls der Zeit tatsächlich fühlen kann.”
culturmag.de, Alexander Roth

„In diesem Krimi geht es um mehr, um mögliche Mittel zur Verhinderung von Gewalt.”
Der Freitag, Eva Erdmann

„Andre Pilz versteht es, Figuren zu erschaffen, die leben.”
ORF, Anette Raschner

„ein mit Sympathie für seine Figuren erzählter Kriminalroman, verknüpft mit einer wunderbar altmodischen Liebesgeschichte.”
Die Presse am Sonntag, Peter Huber

Kein Supermann, kein sauberer Held

Tarik ist einer, den man spontan mag, ein kleiner Gangster mit großem Herz. Sein Schöpfer André Pilz beschreibt ihn so: „Tarik kifft gern, trinkt gern, feiert gern, liebt Fußball, Frauen, das ist ein junger Mann wie 1000 andere auch. Tarik hat ein gutes Herz, baut aber verdammt viel Scheiße. Auch das unterscheidet ihn nicht von vielen anderen jungen Männern. Tarik gibt sich tough, hat aber ganz romantische Träume von der großen Liebe, auch sein Mut ist nicht immer gar so übergroß, aber wenn es um die Fixpunkte in seinem Leben geht – die Liebe zu seinem Großvater, seinen Freunden, seiner Freundin und auch Gott, dann wächst er über sich hinaus, dann ist er bereit, alles zu riskieren und zu geben.“

Auf die Frage, warum er seinen Protagonisten im Umfeld von Migration und Zuwanderung angesiedelt hat, berichtet Pilz, es habe ihn gereizt, seine Erfahrungen mit türkischstämmigen Freunden in einen Roman zu packen und auf diese Weise einen Helden zu schaffen, der „ein wenig anders“ ist als die meisten anderen.

Die Idee zu Tarik kam Pilz, weil Schüler sich in Gesprächen immer wieder so begeistert von der Figur Shane in dem Roman „Man Down“ zeigten, der einen ähnlichen Hintergrund hat wie Tarik. So entstand „ein Held oder Antiheld, der auf gewisse Art cool, liebenswert ist, aber auch schlimme Dinge tut.“

Mehr oder weniger unverschuldet ist Tarik nämlich in eine Abwärtsspirale geraten, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt. Bei seinem Vorstrafenregister ist es für die Polizei ein Leichtes, ihn zu erpressen, für sie als Spitzel zu arbeiten. Doch damit gerät Tarik in größte Gefahr, denn der „Derwisch“, ein radikaler Prediger, der in Verdacht steht, Kopf einer Terrorzelle zu sein, ist niemand, mit dem man sich anlegen sollte.

Harte Worte für eine harte Realität – erschütternd wie ein Vorschlaghammer

„Die Protagonisten sind nicht im gutbürgerlichen Milieu verortet“, so Pilz, „das sind auch keine Studenten oder Bankangestellten, das würde nicht passen, wenn sie anders sprechen würden, als sie das tun. Ich würde nie behaupten, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, aber ich versuche, eine gewisse Problematik auf den Punkt zu bringen mit den Geschichten, die ich erzähle. Mich interessieren ja grundsätzlich fast ausschließlich Kriminalromane mit lebendigen Figuren, deren Geschichten auch ein gewisses Milieu gut darstellen. Alles andere fesselt mich nur selten.“ Und lebendig sind sie, die Figuren im „Anatolischen Panther“, greifbar fast, authentisch, echt.

Und da sie eben keine Bankangestellten sind, sondern Kleinkriminelle, Dealer und Arbeitslose, da sie aus jenen Schichten stammen, die oft nicht gehört werden, leiht André Pilz ihnen seine Stimme.

„Es gibt im deutschsprachigen Raum – so finde ich – viel zu wenig Geschichten, die sich da ‚unten‘ abspielen. Deshalb habe ich ja auch überhaupt angefangen, ernsthaft zu schreiben. Ich hatte das Gefühl, dass diese gefeierten Popliteraten im deutschsprachigen Raum damals – Christian Kracht oder Stuckrad-Barre etwa – nichts mit meinem Leben und vor allem dem Leben meiner Bekannten und Kumpels zu tun hatte. Ich war damals regelmäßig im Stadion, hing mit Leuten ab, die arbeitslos waren oder schon damals zwei bis drei Jobs hatten und doch am Monatsende pleite waren. Die von etwas träumten, von einer Wende im Leben, von der jeder wusste, dass sie nicht kommen würde.

Was hatten die mit Cabriofahren auf Sylt oder Bussi-Bussi hinter der Bühne bei Harald Schmidt zu tun? Nicht falsch verstehen – diese Bücher können auch großartig sein, aber zu jener Zeit wollte ich nur eins: Mit dem Vorschlaghammer diese Popliteratur zerschmettern und was Neues aufbauen.“

Rausch und Wahrheit – Wahn und Sinn

Der Rausch ist ein zentrales Element des „Anatolischen Panthers“. Der Rausch, mit dem Tarik immer wieder seiner Realität entflieht. Der Rausch, der den Leser packt, wenn er atemlos über die Seiten fliegt. Für André Pilz ist auch das Schreiben eine rauschhafte Erfahrung: „Wenn es richtig gut läuft, kann das Schreiben ein Rausch sein, ja. Und es gibt für mich auch nur wenig, das schöner ist, als zu schreiben, bei guter Musik, bei einem guten Kaffee oder Bier, wenn man merkt, die Figuren werden lebendiger, klarer, die Dialoge passen, die Geschichte ist auf einem guten Weg.“

Und rauschhaft ist auch der Wahn, in deren Fahrwasser sich die Anhänger des Derwischs befinden. Deutlich hallen hier aktuelle Nachrichten wieder, Nachrichten von Gewalt, Hass und Terror. Und von ideologischer Verblendung. „Wir leben in einer irren Zeit. Viele Menschen pfeifen auf Fakten, glauben nur das, was sie glauben wollen, was in ihr Weltbild passt, das leider allzu oft schwarz-weiß ist. Ist eine Unwahrheit bewiesen, brüllt man sie noch lauter, irgendwer wird sie schon fressen, und ja, jeder Mist wird heutzutage gefressen, garantiert. Man darf sich deshalb auch nicht wundern, dass auf Basis von Verschwörungstheorien und Schwurbeleien, von Schwarz-Weiß-Bildern und simplen Gut-Böse-Mustern es Hassprediger so leicht haben, und ich meine damit nicht nur die islamistischen.“

 

 

Ein brisanter Kriminalroman ist es, den André Pilz vorlegt, emotional, fesselnd und direkt am Puls der Zeit. Das literarische Ausnahmetalent nimmt dich mit auf eine atemlose Verfolgungsjagd und in den Kampf eines Kleinkriminellen um seine eigene Zukunft.

Alle Infos zum Buch gibt es hier.

Leseprobe: „Der König der Schweine” von Manfred Rebhandl

Kitty Muhr wiegt ein bisschen mehr als ein durchschnittliches Magermodel, und sie ist auch sonst aus gröberem Holz geschnitzt. Sie raucht und trinkt und flucht, und sie mag Kerle. Richtige Kerle. Solche mit Haaren und keine Sackrasierer.
Mit ihrer Polizeikarriere geht anfangs ebenso wenig weiter wie mit der lange ersehnten großen Liebe. Barkeeper Johnny aus der Bingobongobar, wo sie nahezu ihre gesamte Freizeit verbringt, ist es jedenfalls nicht. Dabei ist er groß, stark behaart und extrem männlich.

Manfred Rebhandl, Foto: Kurt Michael Westermann

Ja, Kitty hat es nicht leicht als einzige Frau in ihrer Abteilung und mit einem zerknitterten Boss („sein Gesicht? Jemand musste einer alten Elefantenkuh den Arsch abgezogen und ihm dort hingeklebt haben”) mit dem Wesen eines grummeligen, schlecht gelaunten, stark behaarten Arschlochs.

Doch die unerschütterliche Ermittlerin weiß sich zu helfen, mit ungebrochenem Selbstvertrauen sagt sie Rauchverboten, Dresscodes und verschlossenen Türen den Kampf an – auch in ihrem aktuellen Fall:

„Der König der Schweine”

Ich war Bulle bei der Wiener Kriminalpolizei, Abteilung Gewaltverbrechen inklusive Mord. Wir waren zuständig für den Westen, und unsere Abteilung war im fünften und letzten Stock eines desolaten Gebäudes in der Tannengasse hinter dem Westbahnhof untergebracht, zusammen mit dem Meldeamt, dem Passamt und dem Amt zur Ausstellung von Führungszeugnissen. Ein Gemischtwarenladen der Verwaltung also, und mittendrin wir.

Die meiste Zeit saß ich hier einfach nur meine Dienste ab: dreimal Nacht, zweimal frei, dreimal Tag, zweimal frei. Und so weiter. Aber besonders die Nachtdienste setzten mir immer mehr zu, weil ich dabei völlig außer Tritt kam. Es ruinierte meine Verdauung, wenn ich so unregelmäßig arbeitete und wenig schlief. Und wenn ich nicht arbeitete, dann schlief ich eben auch nicht, sondern lag wach herum und machte mir so ein paar Gedanken darüber, warum ich so oft alleine schlief. Oder ich saß bei Johnny in der Bingobongobar auf einem Hocker, hielt mich an einem Glas fest und starrte ins Leere, bis ich pinkeln musste. Hinten raus aber ging bei mir am Klo oft tagelang gar nichts mehr, obwohl ich wirklich nicht zu wenig aß. Vielleicht sollte ich auch einfach etwas anderes essen, und nicht immer nur dieses fettige und süße Zeug zwischendurch, das ich, je länger ich hier arbeitete, desto dringender benötigte. Es war nämlich das Einzige, was mich hier irgendwie glücklich machte.
Klar, hin und wieder hatte ich auch was zu tun. Dann kriegte ich einen Fall auf den Tisch, so wie die Aushilfskraft in der Küche, die Kartoffeln zum Schälen kriegt, oder die Zahnarzthelferin, die den Schlauch fürs Absaugen halten darf. Bei mir war es meistens ein betrunkener Pole oder so was in der Art, der von seinen saufenden Kumpanen im Park abgestochen worden war, und ich sollte dann herausfinden, wer es getan hatte und warum. Als wollte man mir damit sagen: Wenn du es schaffst, diesen Fall zu lösen, dann hast du schon sehr viel geschafft, Kitty!

Die Typen hier hatten irgendwie ein Problem mit mir, und ich mit ihnen.

Ich musste zur Lösung solcher Fälle nur die Überwachungskameras öffentlicher Plätze auswerten, ein paar Zeugenaussagen einholen und in Notquartieren nachfragen, ob dort einer fehlte. Und dann organisierte ich meistens noch die Beerdigung am Friedhof der Namenlosen, ich ertrug es nämlich irgendwie nicht, wenn sich niemand um die Toten kümmerte. Ich war ja nahe am Wasser gebaut, obwohl ich Judo konnte. Judo, nicht Yoga. Ich fragte mich oft: Was ist denn das für eine Welt? Du lebst, du stirbst, und dann vermisst dich niemand? Kein Papa, keine Mama, keine gesamte Verwandtschaft? Wo sind denn all die Freunde hin, die doch nach einem fragen müssten? Überall liegen sie herum, die keiner mehr haben will, mit denen niemand mehr etwas zu tun haben möchte, um die sich keiner mehr kümmert. Kommt ja immer häufiger vor! Einer weniger von denen? Ist doch scheißegal. Hundert weniger? Noch besser!

So dachten und redeten jedenfalls meine Kollegen, die allesamt Männer waren und mit denen ich die ganze Zeit zu tun hatte. Und wenn ich so einen Fall dann zu den Akten legte, hörte ich sie auf den Gängen über mich reden: „Das hat sie gut gemacht, die Muhr! Wirklich sehr gut!“ Als hätte ich mir das erste Mal die Schuhe richtig zugebunden. Und als würde ich dafür Lob verdienen!

Daran war ich natürlich selbst schuld. Ich wollte ja unbedingt einen Job haben, in dem ich mit Kerlen arbeiten konnte, denn ich mochte Kerle. Ich mochte richtige Kerle wie Johnny aus der Bingobongobar, oder welche, die tagsüber Straßen asphaltierten und nachts schwere Autos fuhren. Solche mit Haaren auf der Brust und keine Sackrasierer. Aber am Bau wollte man mich nicht haben, und zum Asphaltieren hatte ich keine rechte Lust. Also blieb mir am Ende nur die Polizei, Abteilung Gewaltverbrechen inklusive Mord. Wie aber hatte ich jemals glauben können, dass mir das Spaß machen würde

Schnell wurde mir nämlich klar, dass es bei den Bullen keine richtigen Kerle gab, sondern nur Typen mit echten Problemen. Oder mit schweren Defiziten, wie man heute auch sagt, wenn einer mit sich und der Welt überhaupt nicht mehr zurechtkommt. Die meisten Bullen fingen irgendwann an zu trinken, nahmen Tabletten oder irgendwelche anderen Drogen und starben mit neunundfünfzig, knapp bevor sie in Pension gehen konnten. Sie flüchteten sich vor ihren Problemen in eine Bar, setzten sich auf ihren Hocker und bestellten ein Glas, an dem sie sich festhielten, und dann starrten sie ins Leere, bis sie pinkeln mussten. Dabei dachten sie, sie wären so was Ähnliches wie Superman, hatten aber in Wahrheit Angst vor allem, was auf zwei Beinen herumlief, und am meisten natürlich vor Frauen. Männliche Bullen hielten einfach nichts von Frauen in ihren Reihen, aber noch weniger hielten sie von Ausländern, die sie verallgemeinernd Kameltreiber oder Kümmeltürken nannten. Oder eben Bimbos, wenn sie halt ganz schwarz waren.

So wie der, wegen dem mein Boss vorhin rausgegangen war: „Hier hängt einer im Wald!“, hieß es. „Ein junger Schwarzer! Er ist tot!“ Das war der Inhalt eines aufgeregten Anrufs, der mich vor einer Stunde erreichte. Es waren Wanderer, die den Toten entdeckt hatten, eine so genannte Jungfamilie in einem Naherholungsgebiet westlich der Stadt. Die Überraschung war groß bei den süßen Kleinen, denn einen Schwarzen hatten sie zuvor vielleicht noch nicht so oft gesehen in ihrem Leben, und ein Schwarzer hing in dieser Gegend schon gar nicht so oft im Wald herum. Wobei die Frage war, was sie mit „hängen“ meinten.

Die vielleicht wichtigere Frage aber war: Ein toter Schwarzer? In einem Wald westlich der Stadt? Das hatten wir letzte Woche schon mal, und ich musste den Bericht tippen: Arbeiter hatten die Leiche da draußen im Auffangbecken eines kleinen Wasserkraftwerks mit einer vielleicht zehn Meter hohen Mauer gefunden. Jemand hatte das Opfer mit Klebeband an einem Mountainbike festgebunden, an Armen und Beinen, und dann über die Böschung hinunter ins Wasser gestoßen. So ungefähr
musste es sich zugetragen haben. Der toxikologische Befund hatte ergeben, dass der Tote voll mit Amphetaminen war. Seine Leiche war grotesk aufgeschwemmt nach den vielen Tagen, die er da unten im Wasser getrieben war, und seine schwarze Haut war beinahe vollkommen bleich. An seinen Fingerkuppen befand sich praktisch keine Haut mehr, weil sie ihm die Fische abgefressen hatten. Und als man seine Hände vom Bike löste, fand man in der rechten ein kleines Schweinchen, so eines, wie man es zu Silvester verschenkt. Jemand hatte es ihm da reingetan, bevor er ihm die Hand am Lenker festgebunden hatte. Es war klar, dass man es finden sollte, weil es wohl eine Art Botschaft war. Aber welche?

Ich war nicht der Typ, der gerne in den Wald ging, also informierte ich meinen Boss, der schon den ersten Fall übernommen hatte. Sagte ihm, dass ich ein kleines Mädchen sei und er ein großer, starker Mann, und der Wald etwas für ihn und nicht für mich. Ich wollte nämlich lieber hier bleiben und weiter im Internet surfen (Kategorie „Autsch!“), mir die Nägel feilen und mit Susi telefonieren. Ein bisschen Nägel feilen, ein bisschen surfen, dazu rauchen und Kaffee trinken und, wenn es sich ergab, mit meiner Freundin Susi telefonieren – das stand bei mir auf dem Programm, wenn hier gar nichts los war. Das Feilen der Nägel beruhigte meinen Geist, während das Surfen mich in Stimmung brachte und Susi mich auf dem Laufenden hielt. So wie heute Morgen, als sie mir sagte, dass der eine Sternekoch immer in das Essen der zwei schwulen Schauspieler spuckte, bevor er es ihnen servieren ließ, weil er Schwule angeblich nicht leiden konnte. Angeblich! Das war das Wichtigste überhaupt gewesen, wegen dem sie mich angerufen hatte.

Nun rief Bonner aus dem Wald heraus an, von dort, wo man die Leiche gefunden hatte. Der Empfang war schlecht, aber noch schlechter war seine Laune. Mein Boss war nämlich irgendwie auch nicht der Wald-Typ, wie sich herausstellte, dort kannte er sich nicht aus, und es gab dort keine Bar, wo er sich hinsetzen und ins Leere starren konnte, bis er pinkeln musste. Und immer, wenn er sich irgendwo nicht auskannte, rief er mich an, das war so eine Angewohnheit von ihm. Außerdem war er einsam, das kam erschwerend hinzu, und er hatte wohl so ein Gefühl, dass ich es auch war. So falsch lag er damit gar nicht. Aber wie immer, wenn zwei miteinander reden wollten, die einsam waren, musste erst einer das Gespräch in Gang bringen, sonst klappte das nicht. Ich fragte: „Was ist, Boss? Geht’s Ihnen grad nicht gut?“

„Sei froh, dass du nicht sehen musst, was ich gerade sehe!“

Dass er alle mit Du anredete, die ihn umgekehrt mit Sie anreden mussten, das hatte er sich angewöhnt, als die Zeiten für ihn noch besser waren und seine Glocken noch etwas höher hingen.

„Der hängt da verkehrt herum an einer Leine“, sagte er, und ich fragte: „Wie? An einer Leine?“

„Die Leine ist zwischen zwei Bäumen im Abstand von vielleicht zehn Metern gespannt. Über einer Senke, die vielleicht drei Meter tief ist. Hast du das ungefähr vor Augen?“

„Ja, ich denke schon.“

„Dann sag mir, wie man das nennt, was diese jungen Leute heute in den Parks oft machen, wenn sie auf so einer Leine herumbalancieren?“

Ich schloss mein „Autsch!“-Fenster, zog den Stick heraus und sagte: „Slackline?“

Er sagte: „Sicher? Na okay, dann halt Slackline.“

Ich hatte so etwas schon mal im Fernsehen gesehen, denn nachts, wenn ich nicht schlafen konnte – und ich konnte selten schlafen –, schaute ich mir solche Filme an: über Segelboote, die um die Erde segelten; oder über Fallschirmspringer, die von oben herabsprangen; oder eben über solche Typen, die ihre Leine zwischen zwei Hochhäuser oder zwei hohe Felsen spannten und dann da drauf herumbalancierten, über Abgründen, die hunderte Meter tief waren, und so locker, als gingen sie darauf spazieren. Das waren schon die irrsten Typen! Manche machten es mit einem Sicherungsseil um den Knöchel, manche gingen aber auch ohne. Sie brauchten irgendwie diesen Kick, vielleicht, um dann besser schlafen zu können. Mit gutem Sex alleine schoss man sich heute nirgendwo mehr hin. Ich sagte: „Aber hören Sie, Boss: Diese Leinen sind im Park immer nur einen Meter oder so über dem Boden gespannt. Sie aber sagten, da geht es in eine Senke hinunter?“

„Ja.“

„Und darüber ist die Leine gespannt?“

„Ja. Er baumelt hier ziemlich genau in der Mitte der Senke an dieser Leine, bis dahin muss er balanciert sein. Um seinen rechten Fuß ist eine Sicherungsleine befestigt, die mit einem Karabiner an dieser Slackline geführt wird. Seine Arme hängen einen halben Meter über Grund. Jemand muss ihm gegen den Kopf geschlagen haben. Kennst du diese Geburtstagsfeiern, wo Kinder gegen Säcke schlagen, aus denen dann Süßigkeiten herausfallen?“

„Ja. Wo ist es?“

Er seufzte tief und resigniert, bevor er antwortete: „In der Nähe des Kraftwerks.“

Ich fragte: „Dann ist es eine Serie?“

Er sagte: „Ich bitte dich!“

„Wie lange hängt er dort schon, was meinen Sie?“

„Sicher ein paar Tage. Ich wünschte, es war ein Unfall.“

Ich lachte: „Im Ernst, Boss? Lassen Sie mich überlegen. Ein Schwarzer im österreichischen Bundesforst alleine mit einer Slackline? Ist es irgendjemandem aufgefallen, dass das schwarze Jugendliche in jüngster Zeit öfter machen? Sich ein einsames Plätzchen suchen und dort herumbalancieren? Und sich dann selbst den Schädel blutig schlagen, sobald sie das Gleichgewicht verloren haben? Oder sich an Mountainbikes festbinden und dann in einen See hineinfahren?“

„Warum nicht?“, sagte Bonner gereizt, bevor er wieder auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam: „Sie sind doch mittlerweile überall!“

Schwarze. Bimbos. Neger. Es gab wenig, was Bullen mehr aufregte als diese Gruppe von Menschen, von denen sie sich einbildeten, dass sie immer mehr wurden. Dass sie uns überschwemmen würden. Dass wir wegen ihnen bald nicht mehr Herr  im eigenen Land sein würden. Wahrscheinlich schauten sich Bullen im Internet diese einschlägigen Seiten an, die auch ich mir gespeichert hatte: monstercocks.com oder bigblackcocks.com. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum sie solche Angst vor ihnen hatten und sich ihnen so dermaßen unterlegen fühlten.

„Moment“, sagte Bonner. „Da klebt ein Fünfzig-Euro-Schein an dieser Leine.“ Er atmete schwer, und ich konnte hören, wie er im Gras herumging. Wie er sich dabei eine Zigarette anzündete. Und wie er einen Schluck aus seinem Flachmann nahm. Dann sagte er: „Und hier klebt wieder so ein Schweinchen! Was soll der Scheiß überhaupt?“

Er legte auf.

Manfred Rebhandl: Der König der Schweine

 

Wir können uns Krimi-Star Thomas Raab nur anschließen, wenn er sagt:

»Manfred Rebhandl rockt. Im Grunde kenn ich keinen, der so unverblümt schreibt, ehrlich, mutig, grad raus – und irrsinnig komisch! Rebhandl war für mich schon Kult, da hab ich noch gar nicht selber ans Schreiben gedacht, und ich kann nur sagen: LESEN!«

⇒ Und zwar am besten gleich hier.

 

Anständig unanständig, enorm komisch und alles andere als politisch korrekt – wenn Kitty Muhr ermittelt, geht es nicht zimperlich zu! Wenn die unerschütterliche Amy Shumer der Kripo Wien die Bühne betritt, heißt es Köpfe einziehen und unauffällig abtreten. Denn diese Frau kann Judo! Judo, nicht Yoga!

Die Welt ruft! Kateryna Babkinas Romandebüt entführt uns auf eine Reise voller Überraschungen quer durch Europa

„Heute fahre ich nach Morgen“: Hunger nach Leben und Antworten ist der Motor, der die bezaubernde Protagonistin des ukrainischen Jungtalents Kateryna Babkina auf ihrer sinnlichen Fahrt ins Unbekannte antreibt. Wir dürfen sie dabei auf dem Rücksitz eines alten Lada begleiten

Die selbstbewusste und abenteuerlustige Künstlerin Sonja genießt ihr Leben in vollen Zügen: Sie ist jung, kreativ und darüber hinaus auch noch wunderhübsch. Sonja saugt alles, was ihr unbeschwertes Leben ihr beschert, in sich auf. Sie tanzt viel, träumt viel, verliebt sich gerne, malt gerne. Ganz ungezwungen, ganz ohne Gedanken an morgen. Warum auch? Schließlich bringt jeder Tag ohnehin etwas Neues, aber doch nichts Aufreibendes, über das man sich große Gedanken machen müsste. Dazu noch eine Liebesgeschichte mit dem aufregenden Luis. Beziehungsstatus? Unbekannt. Aber wieso sich festlegen, wenn es auch so schön und viel unkomplizierter ist.

So könnte es ewig weitergehen, ewig dahinfließen wie die langsam vergehenden und heißen ukrainischen Sommertage … Doch inmitten der leichtfüßigen Idylle nimmt die Sorglosigkeit ein abruptes Ende: Über Nacht wird sie von Luis verlassen. Dann eine Party. Eine Nacht mit einem Unbekannten. Und schließlich die Gewissheit: Sie ist schwanger

Ein Kofferraum voller Fragen, Abenteuerlust und Poesie

Kateryna Babkina, eines der jüngsten, vielseitigsten und vielversprechendsten Talente der Ukraine. Foto: Alina Kondratenko

Das ist der Ausgangspunkt dieser mitreißenden Geschichte, mit der nun erstmals eine deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kateryina Babkina vorliegt. Die Autorin, Dichterin und Drehbuchautorin ist eine der jüngsten, vielseitigsten und vielversprechendsten Talente der Ukraine. Selbst vom Lebensgefühl der Generation Y geprägt, kennt sie die Fragen, die sich einer Generation stellen, der zwar alle Türen offenstehen, die aber nicht weiß, was sich in der Welt und Zukunft dahinter verbirgt, nur zu gut. Feinfühlig gelingt ihr die Schilderung der Sinnsuche ihrer Romanheldin von „Heute fahre ich nach Morgen“, auf die sich diese nach dem ersten Schock der Ereignisse einlässt.

Sonja war von der Schwangerschaft derart geschockt, dass sie lange in den hintersten Ecken ihres Inneren kramte, trockene Erinnerungen und feuchte Gefühle, winzige Splitter kleinster Dinge und das leise Stöhnen fremder Geheimnisse durchforstete und trotzdem nicht wusste, wie sie das bewerten sollte, was da gerade mit ihr passierte.

Von der ungeplanten Schwangerschaft überrumpelt, wird Sonja mit ganz neuen Fragen konfrontiert, die sie dazu bringen, sich mit ihren Wurzeln auseinanderzusetzen: Wo will ich hin? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Wie bringe ich mich selbst in Einklang mit dem, was da gerade in meinem Bauch heranwächst? Woher komme ich selbst? Und wo zum Teufel steckt eigentlich mein Vater? Angeregt durch ihre Schwangerschaft, will sie den ihr bisher unbekannten Vater endlich finden. Vielleicht wird ihr dann klar, was „Blutsbande“ zwischen Eltern und ihren Kinder sind?

Die ungewohnte Situation ist für Sonja ein grober Einschnitt, aber auch eine neue Perspektive: Die Vergangenheit lässt sich erkunden, aber das alte Leben nicht mehr herstellen. Dafür eröffnen sich ihr bisher unbekannte Wege und Horizonte. Mutig beschließt sie, endlich ins Morgen zu starten.

Von fliegenden Elchen und schlafenden Drachen – die fabelhafte Welt der Sonja

Eine traumhafte Reise: Heute fahre ich nach Morgen

Lebendig und beschwingt erzählt Kateryna Babkina von der Gefühlswelt einer jungen, modernen Frau und würzt ihren Text mit fantastischen Elementen. Auf ihrer Reise begegnen Sonja skurrile Gesichter mit noch skurrileren Geschichten. Da ist zum Beispiel der kleine Besnyk, der zusammen mit seiner Familie in einer versteckten Hochhaussiedlung im Wald vor Sonjas Heimatstadt lebt. Oder das homosexuelle Pärchen Po und Pu, das sie noch aus Schultagen kennt. Und dann erst der geheimnisvolle Kai, der mit seiner ungewöhnlichen Geschäftsidee, Wunder zu verkaufen, durch Europa zieht. Sonjas Reise ist abenteuerlich, traumhaft und erfrischend verrückt!

Kateryna Babkina schafft es, in ihrem Roman die ernsten Lebensfragen einer ganzen Generation zu stellen, auf ungezwungene, humorvolle und poetische Art. Und auf eine ziemlich spritzige noch dazu, denn Sonja macht sich hinter dem Steuer ihres alten Lada auf die Reise. Eine Reise als Selbstfindung, zum Sortieren des eigenen Lebens, der eigenen Ängste, Sehnsüchte, Wünsche und Ziele. Aus der Ukraine nach Polen, von Krakau nach Katowice, in die pulsierende Metropole Berlin, von dort aus nach – aber halt, zu viel wollen wir nicht verraten!

Folge Sonja auf ihrer Reise quer durch Europa und genieße diesen engen Tanz von Poesie und Prosa.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Kateryna Babkina haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej KurkowSerhij ZhadanMaria MatiosOleksij TschupaNatalka Sniadanko, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

Schreiben, wo der Puls der Zeit pocht: Das „Logbuch der Gegenwart” von Aleš Šteger

Einmal im Jahr sucht sich Aleš Šteger einen Tag und einen Ort aus, setzt sich dort zwölf Stunden hin und fasst seine Eindrücke in Worte. Stets sind es Orte, an denen der Puls der Zeit besonders spürbar pocht, Orte, an denen er als Schriftsteller den Finger mitten in die Wunden unserer Gesellschaft legen kann. Das ist Literatur in Echtzeit – ungefiltert und einzigartig in ihrer Unmittelbarkeit.

Belgrad, 2. August 2015. Foto: Aleš Šteger

Die Regeln des ‚Spiels’, das ich mir da ausgedacht habe, sind einfach. Den Schreib-Ort vorher auszusuchen. Einen öffentlichen Raum, wenn möglich. Einen Ort, der eine lebhafte, aber unberechenbare Geschichte erzählt. Den Termin für das Schreiben im Voraus festzulegen. Wenn möglich, ein Datum zu wählen, das mit einer bestimmten Menge an Gedenk-Gepäck beladen ist. Die Schreibzeit, in welcher der Text geschrieben werden soll (oder auch nicht), auf nicht mehr als zwölf Stunden zu beschränken. Keine Bücher oder Zeitungen, keine Notizen, die man im Voraus vorbereitet, mitzunehmen, keine grundlegenden Bezugspunkte, keine Interaktion mit der Welt des Internets. Nur ein äußerlicher Inkubationsreiz, um zu schreiben, ein frei Haus geliefertes und fragiles Sicherheitsnetz des Flüchtigen und des Ausgesetzt-Seins. Nur der Glaube an die Zeit, an das Hier und Jetzt. Und an die Worte. Die Worte …“

Fukushima und Minamisōma – 16. Juni 2013. Foto: Aleš Šteger

Es sind seltene Momente der Wachheit, die aus ebendiesen Worten entstehen, eine besondere Art der Wachheit, spürbar auch in den Texten. Für den aktuellsten hat Šteger sich in Belgrad gegenüber der Busstation postiert – jener Busstation, die gleichzeitig die zentrale Stelle ist für syrische Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Ungarn.

Ein weiterer Text entstand nahe des Atomkraftwerks von Fukushima, und zwar in der Bibliothek, wo Familien jetzt ihre Freizeit verbringen, weil der Park kontaminiert ist.

Vor der Bibliothek in Minamisōma steht ein Messgerät, das die Strahlungswerte in der Luft zeigt. Keine Zeit, keine Temperaturanzeige, stattdessen Millisieverts. Diese Uhr ruft eine andere Welt auf als unsere. Selbst wenn die süßeste Musik von Chopin erklingt in dieser Bibliothek, es ist unmöglich, sich vom Gefühl, dass die Zeit hier anders gezählt wird, zu verabschieden, dass mit dem 11. März eine neue Zählung eingesetzt hat, eine Zählung nach der Zeit, als es die Zeit noch gab, das Zählen der Zeit in eine Zeit, die verschoben war, in der wir noch am Leben sind (aber nicht wissen, ob das morgen auch noch der Fall sein wird).

Šteger, „wichtigster slowenischer Schriftsteller seiner Generation“ (DIE WELT, Richard Kämmerlings), leiht uns seine Augen, und er öffnet die unseren für einen exakten und zugleich doch poetischen Blick auf die Welt. So entsteht ein eindringlicher und hochbrisanter literarischer Lokalaugenschein – berührend und aufrüttelnd.

„Es geht um eine doppelte Wachheit. Ein Wachsein in der Sprache. Und wach zu sein als Mensch, der ans Ende von etwas gelangt ist. Ans Ende der Geschichten, ans Ende der Zeit. Eine Idee, die durch Beobachtung und Abstand geboren wird.“

Belgrad, 2. August 2015. Foto: Aleš Šteger

Aus Štegers präzisen Beobachtungen ergibt sich wie aus Mosaiksteinchen ein Bild unserer Zeit, kongenial vervollständigt durch die zahlreichen Fotografien des Autors. Dieses Ausnahmeprojekt ist auf zwölf Jahre angelegt und erscheint bei Haymon in drei Bänden.

In Logbuch der Gegenwart. Taumeln geht Aleš Šteger dorthin, wo die Wunden unserer Zeit klaffen: Nach Ljubljana, zum Platz der Republik, am Tag des prophezeiten Weltuntergangs; nach Minamisōma nahe dem Atomkraftwerk von Fukushima; nach Mexico City während einer Demonstration gegen den Umgang der Regierung mit dem Mord an 43 Studenten; nach Belgrad, Busstation, Zwischenstopp syrischer Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Ungarn – mit einem Blick durch seine Augen führt uns Šteger direkt in das Herz des Phänomens.

Der zweite Band der Reihe – Logbuch der Gegenwart. Aufbrechen führt uns nach Shanghai, wo der slowenische Schriftsteller vom Alltag unter Überwachung durch Künstliche Intelligenz berichtet. Mit den russischen Solowezki-Inseln betritt er heiligen Boden mit traumatischer Gulag-Vergangenheit. Im sächsischen Bautzen besucht er ein ehemaliges Stasi-Gefängnis und wird mit dem Rechtsruck in Politik und Gesellschaft konfrontiert. Ein weiteres Ziel ist das südindische Kochi.