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Historische Erbschaften – Interview mit Hannes Leidinger und Lenz Mosbacher

Wie ging die Geschichte des k.u.k.-Doppelstaates und der Entwicklungen nach 1918, die im Grunde bis heute andauern, weiter? Wie betrachten wir das habsburgische Erbe? Wie steht es um seine Relevanz, nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa? Hannes Leidinger, Historiker und Autor, und Lenz Mosbacher, Illustrator von „Habsburgs langes Sterben“ erzählen vom Ausverkauf der österreichischen Identität, von der Romantisierung und den hartnäckigen Mythen der Geschichte und von den Schlüsselmomenten der Habsburgerzeit.

Offiziell endete die Zeit der Habsburger 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Trotzdem sind die Habsburger noch tief im nationalen Gedächtnis der Österreicher*innen verwurzelt, sie leben weiter „in den Köpfen und Herzen, in den Empfindungen und Vorlieben, in den Sitten und Normen seiner ehemaligen Bewohner“, wie Sie in Ihrem neuen Buch erklären. Hat sich das nationale Selbst- und Fremdbild in den letzten Jahren gewandelt und wenn ja, wie?

Hannes Leidinger: Entscheidend ist nach 1918 das Lagerdenken, das sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Grob gesagt geht es vor allem um die Stellung der Kirche, um den Kampf zwischen antiklerikalen und klerikalen Kräften. Letztere tendieren – vereinfacht gesagt – schon aus weltanschaulichen bzw. konfessionellen Gründen zum katholischen „Erzhaus“. Hinzu kommt eine eigene Mentalität, die dem Herrscher verpflichtet war, auch ohne religiöse Gefühle. Beamte, städtisches Bürgertum oder „mittelständische Gruppen“ gehören hier dazu. Ein klar republikanisches Bekenntnis legt die organisierte Arbeiterbewegung. Der Nationalsozialismus wird darüber hinaus zu einer eigenen antihabsburgischen Kraft, vor allem im Laufe der 1930er Jahre. Politisch haben Monarchisten bzw. Legitimisten keine Massenbasis. Sympathien beschränken sich vor allem auf eine prohabsburgische Geschichtspolitik und entsprechende (erinnerungs-)kulturelle Initiativen, insbesondere während des „Austrofaschismus“ bzw. des sogenannten „Ständestaates“.
Diese durchaus einflussreiche Strömung hat aber keine Chance, zur Restaurationsbewegung zu werden. Die Wiedererrichtung einer Monarchie ist auch aufgrund internationaler Kräfteverhältnisse kein Thema, trotz gelegentlicher Tendenzen innerhalb konservativer österreichischer Eliten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösen sich dann nach und nach die älteren Gesellschaftsstrukturen auf. Ideologische Lager, traditionelle Berufsgruppen und soziale Milieus erodieren, in den 1980ern ändert sich auch die Geschichtsbetrachtung. Die dunklen Kapitel der Vergangenheit rücken in den Mittelpunkt der Betrachtung, tendenziell auch eine kritische Betrachtung der k.u.k.-Monarchie. Österreich rückt mehrheitlich, wenn auch nicht vollständig, von seinem bisherigen Selbstbild ab, von älteren Stereotypen und Geschichtsklitterungen. Eine über Dekaden anhaltende Liberalisierungstendenz drängt hierarchische Denkweisen teilweise zurück, der fortgesetzte Säkularisierungsprozess trennt die Gegenwart von der Religiosität früherer Epochen. Das alles kann sich mit autoritären Trends und neuen Glaubensvorstellungen auch wieder ändern. Im Augenblick aber ist das Thema Habsburg vor allem ein klischeebesetztes Stück Kultur und vor allem Tourismus – und in diesem Sinne mehr nach außen als nach innen, also auf das Fremdbild und nicht auf das Selbstbild, gerichtet.

Weshalb ist ein besseres Verständnis der Habsburger wichtig für ein besseres Verständnis der Gegenwart?

Hannes Leidinger: Wer Geschichte als Erklärung zum besseren Verständnis der Gegenwart begreift, wird die heutige Alpenrepublik nicht zuletzt auch aus der Perspektive der jahrhundertelangen Habsburgerherrschaft betrachten. Die Prägung durch Gegenreformation, Administration, Kultur, Gesellschaftsstrukturen, Feindbilder, Geschlechter- und Eigentumsverhältnisse, beginnende Demokratisierung bei gleichzeitiger Autoritätsgläubigkeit und hierarchischem Denken erfolgt in hohem Maße unter dem „Doppeladler“, ist in gewisser Weise also eine „lange Zeitgeschichte“.

Die Habsburgerfamilie und monarchische Strukturen allgemein sind häufig Gegenstand von Romantisierung und Kommerzialisierung. Welche Probleme können durch diese Verklärung oder Idealisierung entstehen?

Hannes Leidinger: Die Auseinandersetzung mit einer Romantisierung der Geschichte könnte man als eher „akademisches Geschäft“ der HistorikerInnen verstehen. Eine Verklärung monarchischer Strukturen steht aber oft der kritischen Beurteilung von Verantwortlichkeiten und Machtfragen generell im Weg.
Mit Gegenwartsbezug geht es dabei etwa um den Umgang mit Schwächeren und Minderheiten, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Entscheidung über Krieg und Frieden. Die Imagebildung der Monarchie geht auch gerne über das Thema Privilegien und Geburtsrechte hinweg. Sie widersprechen demokratischen Prinzipien, die sich letztlich nur in einer Republik zur Gänze verwirklichen können.

Und wie sehen Sie den Ausverkauf der Identität, der durch Tourismus und Souvenirs nicht nur in Österreich gang und gäbe ist?

Hannes Leidinger: Gewiss hat der Tourismus gerade die österreichische Republik sowohl mit Blick auf Fremd- als auch auf Selbstbilder sehr stark geprägt. Der „Doppeladler“ hat da oft für Ausblendungen herhalten müssen, Kriege der Habsburger waren eher kein Thema. Eine Art Eskapismus, die Flucht in idyllische Phantasiewelten der Könige, Kaiser, Prinzessinnen, Reichen und Schönen, ist gerade nach dem Zweiten Weltkrieg ein Instrument der Geschichtsvergessenheit und der Verdrängung von Schuld und Traumata gewesen. Das war ein internationales Phänomen, ebenso wie die spätere kritische Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und den NS-Verbrechen.
Seit der Waldheim-Affäre hat sich die Wahrnehmung Österreichs im Ausland stark geändert, parallel zu den internen Transformationen. Ebenso grenzüberschreitend bleibt aber auch das Bedürfnis nach harmonischen Scheinwelten bestehen. Wenngleich mit Augenzwinkern, konsumieren doch viele die Produkte einer Art Sisi-Industrie weiterhin gerne. Persönliche Nöte und Beschwerden der HerrscherInnen werden dabei gelegentlich als Hinweise auf die Schattenseiten der „guten alten Zeit“ präsentiert und empfunden.

Kann eine nationale und kulturelle Identität der Österreicher*innen getrennt von den Habsburgern existieren?

Hannes Leidinger: Habsburg war das „(Erz)Haus Österreich“. Für viele MitteleuropäerInnen gab es lange keinen anderen Österreich-Begriff. Ansonsten definierte man sich über Nation und Sprachgemeinschaft, Religion, Berufe, Gesellschaftsschicht, Regionen und Kronländer. Habsburg, der Kaiser, war die gemeinsame Klammer. Das Übrige waren „Trümmer“, würde die verklärende Literatur sagen. Es dauerte lange, bis sich gerade die Menschen in der Alpenrepublik vom großen Reich verabschiedeten. Über den tragischen und schuldbeladenen Umweg des Nationalsozialismus, des „völkischen Ungeistes“ und der gewaltsamen Expansion gelangte man zur Kleinstaatsidentität und damit zu einem neuen, weithin anerkannten Österreich-Begriff. Dieser verliert allerdings im Rahmen der Europäischen Union, der Globalisierung, internationaler Militärbündnisse und einer schwelenden Neutralitätsdebatte bereits wieder an Strahlkraft und wirkt gelegentlich außerdem chauvinistisch und realitätsfremd.

Hannes Leidinger erzählt in seinem neuen Buch „Habsburgs langes Sterben – Eine kurze Geschichte vom schleichenden Untergang der Donaumonarchie“ vom habsburgischen Erbe und dessen Relevanz für Österreich und Europa. Die Publikation dient als Portal, als Eintritt in die Welt der Habsburger lange nach dem Einläuten der Republik. Mit Illustrationen von Lenz Mosbacher.

Sie sind ein langjähriger Experte auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie. Haben Sie bei Ihren Recherchen für dieses Buch vielleicht doch etwas Überraschendes entdeckt?

Hannes Leidinger: Wenn man sich schwerpunktmäßig mit dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang Österreich-Ungarns befasst, stößt man erwartungsgemäß auf Zeichen des Zerfalls, auf Zentrifugalkräfte, Erklärungen für das Auseinanderbrechen der Doppelmonarchie – sowohl international als auch innerhalb der Grenzen des Habsburgerreiches. Bekannt war seit Langem, dass sich die Großmächte eine „Desintegration“ des Donauraumes nur bedingt oder gar nicht wünschten. Daher gab es selbst bei den feindlichen Mächten noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Befürworter des k.u.k.-Doppelstaates. Überraschend war die Haltung der Menschen in der Monarchie, der habsburgischen „Untertanen“, das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der Zustimmung und der Loyalität gegenüber dem Herrscherhaus. Der Einfluss mehr oder minder nationaler und nationalistischer Geschichtsinterpretationen hat dieses Phänomen oft wirkmächtig marginalisiert oder verschwiegen. Da habe auch ich gängige Darstellungen hinterfragen und revidieren müssen.

Es gibt viele weitverbreitete Fehlannahmen über die Habsburger. Welche hartnäckigen Mythen sind falsch, lassen sich aber einfach nicht abschütteln?

Hannes Leidinger: Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II. werden gerne als fortschrittliche Maßnahmen gesehen, gerade wenn es sich um Maßnahmen im Justiz- und Bildungswesen oder um Lockerungen von feudalen Bindungen handelte. Das ist zumindest nur die halbe Wahrheit. Erstens wirkten sich viele Regelungen nicht auf sämtliche Reichsteile aus und zweitens ging es vielfach um die Schaffung eines Machtstaates, der effizientere Verwaltungsstrukturen und eine schlagkräftige Armee mit besser ausgebildeten „Untertanen“ brauchte. Die starke, homogene „Monarchia Austriaca“ blieb jedoch eher ein Wunschgebilde. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Meinungen darüber in der Forschung auseinandergehen.

Dass das „Haus Österreich“ eher eine friedliebende Heiratspolitik betrieben hat und Kriege eher vermeiden wollte, ist sicher ein weitverbreitetes Klischee. Vor allem wird außer Acht gelassen, dass dynastische Ehen und militärische Auseinandersetzungen einander vielfach bedingten und miteinander verbunden waren. Überdies suchte gerade Kaiser Franz Joseph die Entscheidung im Konfliktfall mehrmals auf dem Schlachtfeld. Das passt freilich nicht so ganz zu den Verniedlichungsversuchen einer prohabsburgischen Historiographie. Franz Joseph muss eher als Wiederholungstäter unter widrigen politischen und militärischen Rahmenbedingungen angesehen werden, mit einem gerade selbstmörderischen Prestigedenken. In „Ehren unterzugehen“ hieß dann auch, die Welt oder wenigstens Europa mit in den Abgrund zu reißen. Auch unter HistorikerInnen wird immer wieder betont, dass er keinen „Flächenbrand“ auslösen wollte und nur auf eine Abrechnung mit Serbien abzielte. Durch die Bündnissysteme bis 1914 wurde eine Eingrenzung des Konflikts aber unmöglich. Franz Joseph und seine engsten Berater wussten nachweislich von den Gefahren, die mit ihren Entscheidungen verbunden waren.

Die Illustrationen öffnen einen weiteren Gedankenraum zu Hannes Leidingers Einordnungen. Wie drücken Sie, als Illustrator, die Gefühle einer Zeit, die Sie nicht persönlich erlebt haben, in Ihren Bildern aus?

Lenz Mosbacher: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es eine anwachsende Fülle an Zeitungen und Zeitschriften, die vielzählig in Archiven erhalten sind. Um ein Gefühl für eine Zeit zu bekommen, lassen sich Tageszeitungen – mit Vorsicht genossen – als gesellschaftliches Barometer verwenden. Für mich als Zeichner war zusätzlich noch interessant, dass bis in den Ersten Weltkrieg hinein der Großteil an Nachrichten illustriert war. Hierbei handelt es sich teils um idealisierte oder verzerrte Illustrationen von Tagesthemen oder um politische Cartoons und Karikaturen. Im Buch bemühte ich mich daher um einen Stil, der über das Dargestellte hinausweist, aber im Gegensatz zu den historischen Zeitungsillustrationen keine idealisierten Szenen darstellt.
Mir war deshalb wichtig, einen sinnlichen Zugang zur Zeit und den jeweiligen Situationen zu bekommen. Wie fühlt es sich an? Wie riecht die Luft? Welche Geräusche hört man auf der Straße? Auch wenn ich um die Jahrhundertwende nicht am Leben war, suchte ich nach Parallelen zu meinem eigenen Erfahrungsschatz. Erst dann konnte ich Zeichnungen machen, die sich (für mich) anfühlen, als wäre ich vor Ort gewesen.

War hierfür eine besondere Recherche notwendig oder ist die Ikonografie der Zeit ohnehin sehr präsent in unserem kollektiven Gedächtnis? Ist das vielleicht sogar eine besondere Herausforderung an der Arbeit mit einer Epoche, deren Bildsprache in unseren Köpfen so allgegenwärtig scheint?

Lenz Mosbacher: Eine ausgedehnte Recherche und Beschäftigung mit der Zeit war notwendig, um mich vom Kitsch des Heimatfilms zu befreien, der das kollektive Bild der Habsburgermonarchie seit den 1950ern stark verfärbt. Meine Recherche beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Bildsprache. In einer Zeit, in der visuelle Medien noch nicht so allgegenwärtig verbreitet waren wie heute, kam der Sprache mehr Bedeutung zu. Einige Monate las ich intensiv Literatur um die Jahrhundertwende herum. In ihr konnte ich die Aufbruchs- und Umbruchstendenzen, die sich durch die Gesellschaft zogen, weit besser nachvollziehen und auch emotional in meinen Zeichnungen verbildlichen.

Im Laufe Ihrer Zusammenarbeit musste eine Auswahl der Motive getroffen werden, die Sie ausdrucksvoll illustriert haben. Wie haben Sie diese Wahl getroffen? Wie haben sich diese Schlüsselmomente herauskristallisiert?

Lenz Mosbacher: Der Niedergang der Habsburgermonarchie lässt sich kaum in einen dramatischen Handlungsbogen pressen – diese Vereinfachung wird dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht und steht auch quer zum Inhalt des Buchs. Trotzdem sollten die Zeichnungen einen Strang durch das Buch bilden, entlang dessen man sich hanteln kann. Unterstützend sind die Bildtexte, die ich gemeinsam mit Hannes geschrieben habe und die sozusagen das Bindeglied zwischen Buchtext und Zeichnungen sind. Idealerweise soll das Lesevergnügen so sein, dass die Zeichnungen den Text mit Emotion und der Text die Zeichnungen mit Information auflädt. Zusammen ergibt sich dann ein Bild.

Noch eine kleine Frage zum Schluss an Sie beide: Haben Sie einen Lieblingshabsburger?

Hannes Leidinger: Hagiographien sind grundsätzlich meine Sache nicht. Es darf als Gemeinplatz gelten, dass Menschen nicht selten zu widersprüchlichen Handlungen neigen und sehr verschiedene Charaktereigenschaften entwickeln. Lassen wir einmal unbeantwortet, was darunter wiederum genau zu verstehen ist und wie die Beurteilungskategorien für diverse Wesenszüge festgelegt werden. Es gibt immerhin Momente, in denen mir überlieferte Verhaltensweisen, wenn sie denn so stimmen, sympathisch erscheinen. Im Augenblick des Reichszerfalls und drohender gewaltsamer Konfrontationen will Karl, der letzte Kaiser und König, kein Blut mehr vergießen. Das darf nicht unerwähnt bleiben. Auch die eher moderate Denkweise Leopolds II. nach dem Reformeifer seines stürmischen Bruders Joseph ist von tieferen Einsichten geprägt. Kronprinz Rudolf hätte vielleicht das Potenzial zu zeitgemäßen Liberalisierungen und einer offeneren Politik gegenüber maßgeblichen europäischen Mächten gehabt, wäre er nicht Opfer seiner psychischen Leiden geworden.
In Summe geht es wohl um System- und Gesellschaftsanalysen, weniger um persönliche Vorlieben. Lediglich bei besonderen Machtpositionen und größeren Handlungsspielräumen stellt sich in einem gewissen Maße die Frage der individuellen Verantwortung mehr als sonst.
„Habsburg-Kannibalismus“ ist jedenfalls ebenso wenig am Platz wie die Idealisierung oder die kollektive Be- und Aburteilung einer Familie, die unter den Herrschaftsverhältnissen gelegentlich selbst gelitten hat und manchmal auch daran zerbrochen ist. Nicht nur die Tragödie von Mayerling und der Thronfolger Rudolf erinnern uns daran.

Lenz Mosbacher: Der Hof der Habsburgermonarchie war schrecklich repressiv und starr. ZeitzeugenInnen berichten etwa immer wieder, wie stinklangweilig es im engeren Familienkreis um Franz Joseph gewesen sei: Betretenes Schweigen, niemand traut sich, offen miteinander zu reden. Da halte ich zu den AußenseiterInnen des Hofs, wie etwa Kaiserin Sisi oder Kronprinz Rudolf, die wenigstens versuchten, auszubrechen – und daran leider schlussendlich zerbrachen.

„Darauf zu schauen, was vor unseren Augen liegt, bringt uns eventuell auch auf die rückwärtige Seite der Dinge“ – Interview mit Angelika Rainer

Im Herbst wird Angelika Rainer der Otto Grünmandl-Literaturpreis verliehen, eine Auszeichnung, die das Land Tirol alle zwei Jahre als Würdigung für ein Gesamtwerk oder herausragende schriftstellerische Leistungen vergibt. Wir haben uns mit der Autorin und Instrumentalvirtuosin über die jüngste Auszeichnung, die Musikalität ihrer Werke und die Literatur als Erkenntnisweg und Mittel gegen Urängste unterhalten.

„Eine Behausung lässt sich auch mit Worten errichten“ schreibst du in deinem neuesten Buch „Zweckbau für Ziegen“. Schreiben wir alle in gewissem Sinn gegen die angsteinflößende, unbegrenzte Weite des Kosmos an?

Das Schreiben als eine Form die Welt wahrzunehmen und sich in ihr zurechtzufinden erfordert Aufmerksamkeit, ein gewisses Maß an Stille, Genauigkeit im Schauen und in der Sprache, in der Wahl der Worte. Je mehr man die Augen aufmacht umso mehr sieht man und umso vielfältiger und unbegreiflicher wird die Welt, das ist ein altes Lied.
Man hantelt sich an den Dingen, den Tatsachen, den Ereignissen entlang.
Ich staune, ich nehme zur Kenntnis, ich verbinde die Dinge, ich begreife die Welt also auf meine Weise, und es entsteht etwas Neues. Sich auf Details zu konzentrieren, Worte zu finden für etwas, was ohne Worte geschieht, das schafft Realität und Konkretheit.
Was einem begegnet und zufällt, wird intensiviert und was intensiv betrachtet ist, ist konkret und bindet an die Wirklichkeit. Und das wiederum ist sehr hilfreich, um sich nicht in Gedanken, in der Weite, in der Angst zu verlieren.

Schreiben ist also eine Form, sich in der Welt zurechtzufinden. Und darauf zu schauen, was vor den Augen uns liegt, bringt uns eventuell auch auf die rückwärtige Seite der Dinge.

Glaubst du, auch Leser*innen und Hörer*innen bauen sich Satz für Satz, Buch für Buch, Lied für Lied einen Schutzbau, um den Horror der furchteinflößenden Unendlichkeit zu bannen?

Lesen und Zuhören bedeutet, die Welt mit anderen Augen wahrzunehmen, zu erfahren, andere denken und fühlen ähnlich, sogar dasselbe wie ich, sie sorgen sich nachts ungefähr um das Gleiche. Also ist man in seiner Einzigartigkeit nicht ganz so einzigartig und deshalb mit den anderen verbunden, auch über die Angst hinaus.

Portrait: © Haymon Verlag / Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Zäune, Dächer, Schirme und Hecken – die Behaglichkeit und Schutz bietende Funktion von Begrenzungen ist offensichtlich nur ein Aspekt. Man könnte sagen, besonders kennzeichnend für deine Kunst ist auch, dass viele Zäune übertreten und Grenzen passiert werden. Ob als Teil der legendären Musicbanda Franui, einem musikalischen Umspannwerk und Gesamtkunstwerk zwischen den Genres, oder als Schriftstellerin, deren Inspirationen aus einer schier unglaublichen Vielfalt zu kommen scheinen. Gibt es besonders wichtige Bezugspunkte, die für deine schriftstellerische Laufbahn prägend waren?

Vieles verdanke ich Begegnungen, ich würde wahrscheinlich nicht mehr Musik machen, wenn wir uns nicht bei Franui getroffen hätten.

Auch für das Schreiben sind es wohl Begegnungen, die den Ausschlag gegeben haben, Begegnungen, in einem anderen Sinn, nämlich von mir als Leserin mit den Schriftsteller*innen.

Seit einigen Tagen ist bekannt, dass du mit dem Otto Grünmandl-Literaturpreis ausgezeichnet wirst. Mit dem Schriftsteller und Kabarettisten, zu dessen Ehren der Preis verliehen wird, gab es in der Vergangenheit ja immer wieder Berührungspunkte. Ist der Preis vielleicht auch deswegen eine besondere Auszeichnung für dich?

Ich habe den Otto Grünmandl durch die Arbeit am Tiroler Landestheater in den letzten Monaten besser kennen gelernt. Seine Art und Weise, die Welt zu betrachten, aufzunehmen, was er hört und sieht – vor allem was er hört –, das erschließt sich nicht sofort, aber wenn man länger damit zu tun hat, also durch die Wiederholung, entdeckt man die Feinheiten, Nuancen, man hört anderen und sich selber anders zu. Lyrik – und ich hoffe, auch meine Weise des Schreibens – ist ähnlich. Vieles erschließt sich nicht sofort, es arbeitet langsam, so wie Salz oder Wasser den Stein, eine Landschaft bearbeiten, irgendwann wird etwas durchlässig und dann begreift man und ist aufnahmefähiger als vorher. Je öfter man etwas macht, desto vertrauter wird es einem. Je öfter man Gedichte liest, desto mehr sagen sie einem etwas.

Es geht darum, diese Zeit, in der man etwas nicht versteht, auszuhalten, sich mit dem Bruchteil, den man einstweilen versteht, zufriedenzugeben, sich als Anfänger*in zu begreifen und zu verhalten, das Nichtwissen auszuhalten, einen Satz schön zu finden, ohne ihn gleich erfassen zu müssen. Irgendwann fügen sich die Dinge zu einem kleinen Ganzen und man hat sich mit der Welt vertrauter gemacht.

Liest man deine Texte laut, gewinnt man einen Eindruck von Rhythmus, Musikalität, Beziehungsreichtum, die ihnen innewohnen. Hast du beim Schreiben gewissermaßen eine Vertonung im Kopf? Läuft ein Stück im Hintergrund?

Wenn ich schreibe, ist es still. Ich brauche keine Musik während des Schreibens. Und sollte ein Stück im Hintergrund laufen, höre ich es nicht. Was beim Musikmachen  – und in einem Ensemble auf eine spezielle Art und Weise –  von Bedeutung ist, das ist das Zusammenspiel, der Zusammenklang, ein Gefühl für Pausen, für die Dauer von Nachklängen, der Mut, eine Stille zu unterbrechen, Pausen aufzuheben, etc.

Das alles ist auch in einem Text, in einem Gedicht relevant: Wann kommt was, wie ordnet man an, wie großzügig ist man im Weglassen, für welches Tempo, welche Dynamik entscheidet man sich, etc.

Otto Grünmandl-Literaturpreis – aus der Jurybegründung:

„In ihren vier Bänden, die zwischen Lyrik und Kurzprosa changieren, entwirft Angelika Rainer eine einzigartige und stilistisch unverkennbar souveräne Art des Schreibens und der Beobachtung. Sie schafft mit ihrer Lyrik dichte Poesie, aber auch Augenzwinkerndes, das ihren feinen Humor zeigt“

⇒ Zum Otto Grünmandl-Literaturpreis

Gibt es vielleicht Komponist*innen, die deinem einzigartigen literarischen Universum besonders nahestehen?

Hier eine Auswahl zu treffen ist wie eine Auswahl beim Streamen zu treffen; wenn ich etwas hören will, fällt mir nicht ein, was es jetzt sein soll, so als gäbe es nicht Milliarden Minuten von Musik zu hören sondern keinen einzigen Ton. Was ich aber sagen kann: Musik im Zusammenspiel mit Sprache wirkt immer sehr besonders auf mich. Ein Beispiel aus der Matthäuspassion, die ich vor kurzem wieder gehört habe:  Mit den Worten Erbarme dich, mit der damit verbundenen Erzählung, wird die Musik eine andere.

Woran arbeitest du aktuell?

Ich habe mehrere Vorhaben, für die ich zusammentrage und die mit der Zeit immer konkreter werden, wie man es von Polaroidbildern kennt. Es braucht Geduld und ein bisschen Dunkelheit, bis sich zeigt, was man gesehen hat.

Weiter fortgeschritten ist eine Arbeit, die mit der Überprüfung von Sätzen zu tun hat, eine Suche nach dem Second Sense of Sentences. Ich schaue, ob ein Satz standhalten kann, ob er Sinn macht, ob er alleine für sich und damit für den Kontext zu gebrauchen ist. Es ist auch eine handwerkliche Arbeit, ich verwende dafür eine Schreibmaschine, das ist eine vergnügliche Sache, und hält davon ab, sich zu verbeißen, weil man immer etwas zu tun hat.

„There have been so many versions of us over the years“ – Interview mit Raoul Eisele über sein Prosadebüt

Wir haben uns mit Raoul Eisele über sein Prosadebüt „Als Versprechen dieser Zeit“ unterhalten. Über das Verhältnis von Vergessen und Schreiben, über die vielen Versionen unseres Selbst, die wir alle in uns tragen. Darüber, wie man sich mit Worten an sein eigenes Ich heranschreiben kann, wie dieser Versuch zwangsläufig zugleich flüchtig und beständig ausfällt und uns unserem Selbst dennoch näherbringt:

Ist das Vergessen eine unumgängliche Bedingung, um lieben und leben zu können?

Ich glaube, nicht zwingenderweise das Vergessen, aber das Vergeben. Vergessen trägt etwas in sich, das der Mensch braucht, um einen Umgang mit gewissen familiären, gesellschaftlichen, aber auch weltweiten Problemen (oder auch generationalen Traumata) finden zu können. Wenn wir selbst aber ständig nach Perfektion streben und uns keine Fehler erlauben, ebenso keine Toleranz verspüren, wenn wir mal Fehler machen, dann werden wir vermutlich zu keiner tiefergehenden Beziehung fähig sein und jegliches Vertrauen in unser Gegenüber wird geschwächt.

Wir brauchen daher eine deutlich größere Akzeptanz (was das Vergessen bitte nicht inkludieren soll, aber ein Verständnis für vieles bringen könnte). Vergessen wäre dann nur noch von peripherer Bedeutung, weil wir als Individuen auch einen Umgang mit dem eigenen Fehler finden werden, wenn wir uns nicht ständig vorhalten müssen, etwas falsch gemacht zu haben. Oder dafür angeprangert werden und damit nicht mehr dem scheinbaren „Ideal“ entsprechen, das wir zwangsweise aufbauen bzw. durch gesellschaftliche Normen aufbauen müssen (Stichwort: „Selbstoptimierung“ und „Social Media“). Wenn wir aber gegenseitig auf Anerkennung treffen, selbst wenn wir mal in ein „Fettnäpfchen“ treten, denke ich, stärkt es unser Vertrauen, das uns dann wiederum zum Lieben und Leben verhilft.

Ist das Niederschreiben für dich Befreiung oder das Schaffen von unauslöschlichen Tatsachen?

Schreiben und Vergessen sind für mich persönlich nicht vereinbar und stehen im völligen Gegensatz zueinander; vielmehr hat das Schreiben für mich mit einem Weggehen und Wiederkehren zu tun, mit einem ständigen Prozess, der nie aufhört, ob man nun aktiv vor dem weißen Blatt Papier sitzt und schreibt oder nicht. Das Schreiben an sich hat, meiner Einsicht nach, je nach Person aber immer einen anderen Charakter, ob dieser nun befreiend ist, ein erstes oder wiederholtes Ordnen von Gedanken, ein Ausbruch an Emotion oder eben auch ein unauflösliches Festhalten von Tatsachen sein muss, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen.

Bei meinem eigenen Schreiben hat es in erster Linie einen befreienden Charakter, der wiederum nichts mit Vergessen zu tun hat. Es ist eher die Suche nach den richtigen Worten, um zu einer Klarheit zu gelangen, zu einer Unabhängigkeit, die hilft, alles in sich Tragende aus dem Körper zu bekommen und für sich und andere sichtbar zu machen. Es ist dann wie ein Versuch, sein eigenes Leben und seine Verhältnisse und Verhaltensweisen wiederholt zu hinterfragen, zu rekonstruieren und neue Sichtweisen bei sich und anderen kennenzulernen, wenn einem das Schreiben einmal entgleitet oder die Führung übernimmt; dabei ist es dann besonders überraschend, wo man hingelangt, wenn man einfach mal (wie im Fieber oder im Fluss) zu schreiben ansetzt und dann langsam wieder heraustritt. Es ist, wie wenn man einem Vogel die Hand entgegenhält und hofft, dass er landet; oder wie Hilde Domin schrieb: „Man muß den Atem anhalten, bis der Wind nachlässt, und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt.“

Es ist also manchmal unergründlich und dann wieder wie eine Notwendigkeit, der man nachkommen muss.

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„Als Versprechen dieser Zeit“ | Songbook 1

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„Als Versprechen dieser Zeit“ | Songbook 2
© Verena Gotthardt

Raoul Eisele ist Schriftsteller und veröffentlichte bisher Gedichtbände und Theaterstücke. 1991 in Eisenstadt geboren, lebt und arbeitet Eisele heute in Wien, wo er u. a. das Magazin process*in und die Veranstaltungsreihe Mondmeer und Marguérite gegründet hat. In seinem Schreiben fängt er die Einzigartigkeit und Komplexität des Menschseins ein. Jedes Gefühl wird zum Wort, bis sich die Grenzen von Anfang und Ende zu vermischen beginnen. „Als Versprechen dieser Zeit“ ist sein Prosadebüt und: eine Erkundung des eigenen Ichs.

Welche Funktion erfüllt das Schreiben für dich auf dieser Suche nach dem, was man ist oder zu sein glaubt?

Schreiben ermöglicht es einem, zu denken, sich vor sich selbst auszubreiten und auszusprechen, wofür man lange nicht die richtigen Worte fand. Schreiben ermöglicht es mir, zu einer Klarheit zu gelangen, Erkenntnisse zu gewinnen, eine Verlässlichkeit, die einem wiederholt die Frage vor Augen führt: Wer und wie möchte ich sein? In diesem Spannungsfeld drängen sich dann auch die Fragen auf: Wie sehen mich andere und wie möchte ich von anderen wahrgenommen werden (das „Ich“ im Schreiben ist für mich, und wie man heutzutage sieht, für viele nicht mehr auszuklammern). Schreiben lässt mich wachsen und wie Tove Ditlevsen sagte, hieße es „sich selbst auszuliefern“, dem Text gegenüber, sich selbst und seiner Vergangenheit und im Weiteren dann auch den Leser*innen. Es ist ein ständiges Wechselspiel und ein Dialog, den wir eingehen im Schreiben oder wie Frieda Paris in ihrem Buch „Nachwasser“ schreibt: „Ohne Gegenüber atmet das Gedicht nicht“ und was könnte schlimmer sein, als wenn einem die Luft wegbliebe.

 

Die Makellosigkeit ist ein wiederkehrendes Motiv in deinem Buch: „Nicht ein Fleck, nicht eine Schramme“. Können wir erst beginnen, unser Ich zu konstruieren, wenn wir nicht mehr damit beschäftigt sind, unsere Unbeflecktheit zu bewahren?

Wir konstruieren ständig neue „Ichs” bzw. Selbstverständnisse, die uns betreffen oder wie es im Buch heißt: „there have been so many versions of us over the years“. Heute bin ich anders, als ich es gestern war und morgen oder in ferner Zukunft sein werde. Was nicht bedeutet, dass das jetzige Ich keinen Wert hat, weil es ohnehin der ständigen Veränderung ausgesetzt ist. Es hat Bestand und sollte in seiner aktuellen „Schönheit“ gesehen werden dürfen; ebenso wie jeder Text auch in seiner Momenthaftigkeit seine Berechtigung und Wahrheit innehat; und sicher auch noch zukünftig haben wird und sei es nur für unser eigenes Schreiben. Denn alles entwickelt sich weiter und so muss das Schreiben auch im ständigen Prozess bleiben (oder wie Octavio Paz sagte: „Jedes Gedicht ist der Entwurf eines anderen, das wir niemals schreiben werden.“).

Und so ist die Makellosigkeit auch ein unmöglich zu erreichender Zustand, den wir zwar, da katholisch-christlich geprägt, erhoffen und erschaffen wollen, gleichzeitig aber unerreichbar bleiben muss. Und so sollten wir auch uns gegenüber mehr Akzeptanz zulassen und uns für die Eigenschaften liebgewinnen, die uns ausmachen und nicht versuchen, eine „Unbeflecktheit“ zu erreichen oder zu bewahren, die es so nicht gibt.

Raoul Eisele erzählt in seinem Prosadebüt „Als Versprechen dieser Zeit“ von den Kämpfen, die wir in uns austragen, von der Ruhe, die wir fürchten, könnte sie doch Einsamkeit bedeuteten. Und: Er erzählt von Geborgenheit, die der schützende Arm sein kann, der sich um uns legt. Geborgenheit: die das Dasein erträglich macht.

 

„Als Versprechen dieser Zeit“ kann man auch als tastende Suchbewegung, Ausloten von Widersprüchlichkeiten lesen. Gibt es im Leben trotz allem unverrückbare Gewissheiten für dich?

Am unverrückbarsten sind mit Sicherheit Freundschaften, die seit Jahren/Jahrzehnten bestehen, bei denen man weiß, dass man sie selbst bei 1-2 Jahren Abstand nicht verliert. Natürlich auch die Familie, der engste Kreis an mir nahen Menschen, auf die man sich in jeder Lebenslage verlassen kann. Und natürlich das Vertrauen in die Liebe und in den bestehenden Respekt, den man vor Menschen und allen Lebewesen haben sollte (aber hierbei bin ich auch einfach unverbesserlich optimistisch).

Neben dem nuancierten Ausloten von Ambivalenzen kommt eine Kritik in deinem Buch sehr klar heraus: sie gilt übergestülpten Erwartungen, einengenden Rollenbildern, aufgezwungenen Gesellschaftsnormen. Sind sie für dich das größte Hindernis für ein selbstbestimmtes, freies Leben?

Ich glaube, dass man immer schon versucht hat, gegen herrschende Normen zu rebellieren. Oftmals hat man sich aber dann doch in die Gesellschaft eingegliedert und ist einen ähnlichen Weg gegangen, wie man ihn vorgelebt bekommen hat. Denn es ist schwierig, sich von den gesellschaftlichen Prägungen und familiären Verhältnissen völlig loszusagen oder sich aus ihnen herauszulösen. Denken wir nur, wie schwer es uns fällt, Angelerntes wieder zu verlernen. Trotzdem denke ich, dass es nötig ist, die herrschenden Verhältnisse in der Welt (im Kleinen, ebenso wie im Großen) ständig zu hinterfragen und bei Veränderungen mitzugehen, die ein Allgemeinwohl für alle zu schaffen versuchen.

Ist „Als Versprechen dieser Zeit“ ein Versuch, unseren Glauben an essenzielle, ungebrochene Wahrheiten, behauptete Tatsachen und Zuschreibungen zu erschüttern?

Mein Schreiben bleibt ausschließlich ein Herantasten an das eigene Erlebte, ein Versuch, mich im Verhältnis zu anderen zu hinterfragen. Wenn es mir damit gelingen sollte, etwas gesellschaftlich Relevantes oder Allgemeines zu schaffen, ist es vermutlich ein glücklicher Zufall und wenn es in diesem auch noch zu einer Erschütterung kommt, umso schöner, aber auch unrealistischer – aber ich denke, dass es in erster Linie unbedingt diesen Versuch braucht, der bei sich und seinem nahen Umfeld anfängt und dann mit viel Bedacht auch an weitreichende und allgemeinere Probleme herantreten kann.

Die Uneindeutigkeit spiegelt sich auch in der lustvoll genresprengenden Form deiner Erzählung wider. Englischsprachige Einschübe, Songbooks, literarische, popkulturelle und wissenschaftliche Bezüge, Whatsappnachrichten – in „Als Versprechen dieser Zeit“ findet man eine erstaunliche Fülle des Ausdrucks. – Oder vielleicht auch: Die neuronale Überreizung unserer Zeit, die Kakophonie der Notifications, das gleichzeitige Gewimmel unterschiedlichster Kommunikationsformen. Ist diese aufregende, beziehungsreiche, nichtlineare Form ein Ausdruck unserer Zeit?

Wir suchen verstärkt im eigenen Umfeld, um aus den eigenen Erfahrungen heraus zu schreiben, da es immer wichtig wird, zu hinterfragen, wer spricht und welche Probleme von welcher Position/Sichtweise/Ausgangslage aufgegriffen und verhandelt werden.

Gleichzeitig fügt es sich in die Suche nach einer neuen Erzählweise ein; und in den Versuch, einen Umgang mit unserer Zeit zu finden, mit der ständigen Veränderung und der Frage nach Wertigkeiten und (Schreib-)Prozessen, die den eigenen Erfahrungsschatz offenbaren und zeigen. Die Suche wirft Fragen auf, wie: Woraus schöpfe ich? Mit welchem Wissensstand nähere ich mich einem Thema an? Welches Archiv steckt hinter meinem Schreiben & Denken oder dem des „Lyrischen Ich“, das spricht? Und was bewegt die Autor:innen, die das Erzählen wagen?

Wichtig ist es mir, festzuhalten, dass es einen Neubeginn braucht und ich denke, dass das immer schon die Aufgabe von Kunst war, Wege aufzuzeigen und nach Möglichkeiten zu suchen, die dann von anderen ebenfalls gegangen werden können.

Ob das gelingt, ist aber wie so oft in der Historie, sicherlich vermehrt dem Zufall geschuldet, als irgendetwas anderem.

Eine literarische Auflehnung gegen die vorherrschende Klassenpolitik: Leseprobe aus „Von der namenlosen Menge“ von Olivier David

Geschichten von der unteren Klasse, Literatur über soziale Herkunft – meist sind das Erzählungen von Aufbruch und Aufstieg. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die unten geblieben sind. Die mit den schmerzenden Körpern, die Nachtarbeitenden, die Vergessenen – und um ihn selbst. Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit den Wohlstand höherer Klassen zu bezahlen? Wie selbstbestimmt kann die Entscheidung, allein zu bleiben, sein, wenn soziale Beziehungen durch Vereinzelung, Geldmangel und eingeschränkte Teilhabe unter Druck stehen? Wie soll Geschichte weitergegeben werden, wenn es kein kollektives Gedächtnis armer Menschen gibt? Mit dieser Leseprobe bekommst du einen Einblick in Olivier Davids „Von der namenlosen Menge“,  das unsere Gesellschaft in ein anderes, oft ausgeblendetes Licht rückt.

Innere Migration

In ihrer sozialen Identität, in ihrem Selbstbild zutiefst infrage gestellt durch ein Schulsystem und eine Gesellschaft, von diesen mit leeren Worten abgespeist, bleibt ihnen zur Wiederherstellung ihrer persönlichen und sozialen Integrität kein anderer Ausweg, als jenen Verdikten ihre globale Verweigerung entgegenzusetzen.
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede

Ein später Nachmittag am letzten Tag des alten Jahrtausends. Um dem Gefühl des Alleinseins zu entfliehen, schnüre ich meine Schuhe, ich rufe meiner Mutter ein paar Worte zu und verlasse die Wohnung. Raus aus dem Haus, vorbei an dem Fenster meines ghanaischen Nachbarn, aus dem Gelächter und Musik dringen, durch das Tor, das verschlossen aussieht, aber nur angelehnt ist und das eines Tages eingebaut wurde, um zu verhindern, dass Drogensüchtige ihre Spritzen in unserer Sandkiste liegen lassen. Meine Stimmung passt zu diesem nasskalten Dezembertag, sie passt zum taubengrauen Himmel, sie passt nicht zum Tag der Tage, für den ich zu wenig enge Freunde habe, zu pleite und zu hobbylos bin. Ich bin elf Jahre alt, ich bin draußen auf der Straße unterwegs, streife durch die Stadt, mit einer Handvoll Böller. Auch, wenn wir für richtige Partys eigentlich zu jung sind, meine Mitschüler und ich, weiß ich, dass manche von ihnen mit ihren Familien ins neue Jahrtausend hineinfeiern und andere die Jahrtausendwende bei ihren Freunden verbringen.
Die Dämmerung bricht langsam herein, als ich beschließe, mich auf den Rückweg zu machen. Vorbei an den sechs oder acht Stufen, die an die Außenmauer des Karstadtgebäudes angrenzen, vorbei an der Post nahe der großen Bergstraße. Am Schaufenster des Klamottenladens Hundertmark bleibt mein Blick an der dunkelbraunen Lederjacke für 699 Mark kleben. Kurz hellt sich meine Stimmung auf, als ich mir vorstelle, diese schwere, edle Lederjacke eines Tages zu besitzen. Nach ein paar Sekunden reiße ich mich los. Es gibt die Welt hinter der Auslage, und es gibt meine Welt, und dazwischen gibt es die Sicherheitsscheibe, die unüberwindbar zwischen meinen Tagträumen und der Realität steht. Das hinter der Scheibe, das bin nicht ich, das werde ich nie sein.
Die Kälte zieht mich wie an einer Schnur zurück nach Hause. Allein Böller auf die Straße zu werfen, so wie ich es bis vor wenigen Minuten gemacht habe, erzeugt keine Freude in mir, es ist eher etwas, das ich pflichtbewusst erledige, weil alle Jungs in meinem Umfeld vernarrt darin sind, etwas in die Luft zu jagen. Die letzten zwei D-Böller stecke ich zurück in die Tasche. Am Ende der großen Bergstraße explodiert plötzlich etwas unmittelbar vor meinen Füßen. Die Detonation ist heftig, sie reißt mich aus meiner Lethargie. Ich sehe ein paar übermütige Jugendliche, die sich mit Böllern beschmeißen, und hoffe, dass sie nicht auf mich zielen. Der Schock, den die Explosion in mir auslöst, wird verstärkt durch die empfundene Isolation von der Welt, die mich schon umgeben hat, lange bevor ich das Haus verlassen habe. Eine Isolation, die genau genommen ein Teil von mir ist. Eine Isolation, die gleichzeitig auch ein Trugschluss ist, denn ich bin nicht allein, meine Mutter wartet zu Hause, auch ihr geht es nicht gut, auch sie ist allein. Genau genommen ist es kein isoliertes Alleinsein, wir sind jeder für sich nebeneinander allein. Es ist das Alleinsein des versprengten Rests einer Familie aus der unteren Klasse.

Vor einiger Zeit habe ich online einer Podiumsdiskussion über soziale Herkunft und Klassenwechsel zugesehen, und in den Wochen und Monaten danach ploppte der Titel der Veranstaltung immer wieder in meinem Inneren auf: Die Klasse, die es nicht gibt. Die Formulierung zeigte mir eine Realität auf, die sich meinem Bewusstsein bisher entzogen hatte, obgleich ich ihre Wahrheit körperlich spürte. Schon seit meiner Kindheit existieren für mich parallel zwei Realitäten, die sich zu widersprechen scheinen.

Die eine besagt, dass es nur mich gibt, nur ich allein kann mir meiner selbst sicher sein. Klar, da sind noch meine Mutter, meine Schwester, mein Vater, aber es ist wichtig, dass ich mich auf niemanden verlasse. Keine Freunde werden bleiben, keine Frau. Es ist eine Art innerer Kern, der nicht durch das Vertrauen in andere Menschen kontaminiert werden darf, denn im Außen wartet der Verrat. Hoffnung nur dann, wenn ich bereit bin, die der Hoffnung auf dem Fuß folgende Enttäuschung zu akzeptieren, die zum Gefühl, verlassen zu werden, dazugehört. Gefühle dieser Art haben mit dem Pathos nichts gemein, das der unteren
Klasse zugeschrieben wird. Teile der Gesellschaft haben es sich angewöhnt, mit unversöhnlichem Blick auf die Empfindungen der Menschen aus der Unterklasse zu schauen. Den Problemanalysen und Schlüssen der Menschen von unten wird misstraut. Der Entzug der Deutungshoheit über die eigene Situation funktioniert als nachgelagertes Herrschaftsinstrument, als Enteignung nach der Enteignung. Erst nimmt die herrschende Klasse einem die Mittel zu einem würdevollen Leben, dann diskreditiert die kulturelle Fraktion derselben Klasse die Intensität der Gefühle, die ob des Verlustes aufsteigen.

Diese Gefühle, über die ich hier zu sprechen versuche, sind Teil eines verkörperten Wissens. In ihnen liegt keine Trauer und auch keine Überhöhung, dafür ist ihnen eine Desillusionierung eigen. Mir kommt kein Gefühl in den Sinn, das gleichzeitig ehrlicher und ernüchternder zugleich ist als jenes, das beim Vorgang spürbar wird, sich der Realität zu stellen, in der es für die meisten so wenig zu gewinnen gibt. Dieselbe Wahrheit besagt, dass ich alleine von dieser Erde gehen werde. Eine Wahrheit, in der geschrieben steht, dass ich in Einsamkeit und Armut sterben muss, zu früh sterben muss, weil diese Phänomene einer Gesetzmäßigkeit folgen.

Die zweite Realität meiner Kindheit ist die eines Miteinanders, das sich durch Mitgefühl zeigte. Zu Hause waren die Herzen so offen, wie sie nur sein konnten, wenn einem die Ungerechtigkeiten (und manchmal auch das erlernte Wissen, es nicht besser verdient zu haben) in den Lebenslauf eingeschrieben worden sind. Neben dem Mitgefühl war da Platz für Diskussionen am Küchentisch, da gab es die Freude meiner Mutter, wenn anderen kleinen Leuten ein bisschen Gerechtigkeit widerfuhr. Da wurde der Glaube verteidigt, dass ihre Kinder den eigenen Weg finden würden. Trotz allem – oder gerade deswegen.
Wie gehen diese beiden Wissensstände zusammen? Wie kann die eine Wahrheit stimmen – die Wahrheit um das Wissen einer kollektiven Betroffenheit und eine damit verbundene Empathie für viele, deren Leben den Gesetzen dieser selektierenden Welt unterworfen sind – , während das Wissen darüber, dass das Leben in der Unterklasse vereinzelt, sich jeden Tag mit kalter Präzision in mein Bewusstsein eingeschrieben hat?

Für mich beschreibt der Begriff der inneren Migration am treffendsten den Mechanismus der Vereinzelung, der nicht nur, aber insbesondere ein Phänomen der unteren Klasse ist. In Deutschland wird vor allem im Kontext des Nationalsozialismus von innerer Migration gesprochen. Der Begriff beschreibt in diesem Zusammenhang eine innere Haltung, die einige Schriftsteller und Künstler nach der Machtergreifung der Nazis 1933 bis zum Kriegsende 1945 für sich beanspruchten. Aus Furcht vor Berufsverboten und Konzentrationslager produzierten viele Künstler gefällige oder seichte Kunst, Kritik an der NS-Diktatur wurde zurückgehalten oder auf ein Minimum reduziert. Der Widerstand der Künstler fand nur vereinzelt und im Geheimen statt, in den allermeisten Fällen bestand er aus einem bloßen Rückzug ins Innere.
Im Sammelband Zwischen innerer Emigration und Exil zeigt die Autorin und Herausgeberin Leonore Krenzlin auf, dass der Begriff nicht, wie oft fälschlich behauptet, von Frank Thiess begründet wurde, der ihn auf die Zeit des Nationalsozialismus angewendet hat. Schon in den 1920er-Jahren fand die innere Migration in Leo Trotzkis Literatur und Revolution Erwähnung. Für Krenzlin behauptet die Formulierung innere (E-)Migration, dass es „eine Abwesenheit ohne eine reale körperliche Auswanderung gebe, eine Absetzbewegung in irgendeiner indirekten Bedeutung: als Nichtübereinstimmung mit den Zuständen des
Landes, als ein Sichausgliedern aus den Anforderungen des Staates, als Weigerung, ihn zu unterstützen – oder sogar auf einer ganz unkörperlichen Ebene als ein Rückzug in das Innere des Geistes oder der Seele.“

Wichtiger erscheint es mir, den Begriff von historischen Kontexten losgelöst auf soziale Fragen im Hier und Jetzt zu übertragen. Denn wenn wir uns die Lage der unteren Klasse ansehen, ist Krenzlins Definition die Zustandsbeschreibung der Gegenwart vieler armer Menschen. Fast jeder vierte Wahlberechtigte gab 2021 bei der Bundestagswahl keine Stimme ab. Politikverdrossenheit, Populismus und der Glaube an Verschwörungserzählungen sind in der unteren Klasse überproportional vertreten.

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Ich muss an mein Aufwachsen in Altona denken, einem Viertel von Hamburg, in dem Arbeiterinnen neben Künstlern und arme Menschen neben Bildungsbürgern wohnten. Ein Viertel, in dem Gewalt in manchen Wohnblöcken, Straßen und Häusern Teil des Alltags war. Wie viele Jugendliche und Erwachsene sind hier dem Alkohol, Gras oder harten Drogen verfallen? Wie viele sind eingefahren, ins Gefängnis?
Ein alter Freund, mit dem ich gemeinsam Musik gemacht und bei dem ich Songs aufgenommen habe, wurde vor ein paar Monaten zu zwei Jahren auf Bewährung und einer hohen Geldstrafe verurteilt.
Vor einem Jahr traf ich in Hamburg durch Zufall einen Bekannten wieder. Er erzählte mir, dass sein Prozess wegen des Handelns mit Kokain anstand. Erst vor ein paar Tagen erfuhr ich, dass er nun im Gefängnis sitzt.

Es gibt bis heute alte Bekannte, die mich, wenn ich sie treffe, mit dem Pseudonym ansprechen, unter dem ich früher gerappt habe. Einer von ihnen ist B. „Soma, digga, ich habe gehört, du hast ein Buch geschrieben!“, ruft er, als ich einem Kamerateam mein altes Viertel zeige. „Ich wusste gar nicht, dass es früher bei dir auch so schlimm war. Bei uns ist ja auch richtig heftig gewesen, aber uff, wenn du Buch schreibst darüber, dann …“ Er hört auf zu reden, sein Blick erstarrt auf eine Weise, die ich kenne, weil mein eigener Blick zuvor oft genauso erstarrt ist. Man kann sehen, wie es in ihm rattert: Wie schlimm musste eine Form der Armut sein, die es nötig machte, ein Buch über sie zu schreiben?

Eine weitere Erinnerung. Ich bin mit ein paar alten Freunden in Altona an dem Platz unserer Jugend auf ein Bier verabredet. Wir alle wurden schon über diesen Platz gejagt, mal von anderen Jugendlichen oder Erwachsenen, mal von der Polizei. Ich wurde auf dem Platz geschlagen, habe mich erbrochen, habe ein paarmal Gras verkauft, öfter aber Gras gekauft. Ich habe an Wände gepinkelt, Mauern und Mülleimer angemalt und mit Stickern beklebt. Ein Bekannter von früher stößt dazu, er will ebenfalls über mein Buch sprechen und nimmt mich zur Seite. Er wolle es mir persönlich sagen und nicht hinter meinem Rücken
reden. Er habe Respekt davor, dass ich ein Buch geschrieben habe, aber ganz ehrlich und ohne mir zu nahe treten zu wollen, so wie ich seien doch viele aufgewachsen, das sei doch gar nicht so krass. Er erzählt mir die Geschichte seiner Familie.

Zu erkennen, dass der eigene Lebenslauf, die Hautfarbe, der Nachname oder die Straße, in der man lebt, Türen verschließt, ist für die meisten Menschen nicht leicht zu ertragen. Ich weiß von einigen Beispielen, in denen junge Erwachsene, Männer öfter als Frauen, auf diese Zuschreibungen affirmativ reagieren. Meine Mutter putzt Toiletten, mein Vater ist abgehauen, die Gesellschaft traut mir nichts zu, die Initiative, die ich zeige, um vom Fleck zu kommen, wird zurückgewiesen – dann soll es so sein. Dann mache ich euch den Gangster, den Dealer, den Alkoholiker, den Taugenichts, die Depressive, bitte schön. Das sind Zeichen innerer Migration. Ein Verstummen; sich den Zuständen und Spielregeln ergeben, die Rolle annehmen. Seinen Platz kennen. Nicht aufsteigen können und also auch nicht wollen, den Mächtigen die Zustimmung verwehren. Merkmale innerer Migration weisen auch die oben beschriebenen Situationen auf, in denen es nur dann möglich erscheint, ein Buch über die sozialen Bedingungen des Aufwachsens zu schreiben, wenn die Zustände wüster sind als Hartz 4, als die Intervention des Jugendamtes in der Familie, als Drogenprobleme, Vorstrafen, Ärger um den Duldungsstatus und das Über-die-Runden-Kommen durch Kleinkriminalität. Umgekehrt gesprochen: Was sagt es aus, wenn das alles als eine Form der Normalität empfunden wird, über die man nicht zu sprechen braucht? Was sagt es über eine Gesellschaft aus, in der ein Teil glaubt, dass ihm kein würdevolles Leben zusteht?

„Gerade für queere Lebensrealitäten braucht es auch Fantasie, sich ein Leben über die bestehenden Normen hinaus vorzustellen“ – Luca Mael Milsch im Interview

Wie werde ich zum Menschen, der ich sein möchte? Wie kann ich überhaupt herausfinden, wie diese Person sein soll, welche Dinge ihr wichtig sind? Wie kann ich mich befreien, von Erwartungen, Einschränkungen, Denkmustern, die mich über mein ganzes bisheriges Leben hinweg so stark geprägt haben?
Im Gespräch mit Autor*in Luca Mael Milsch über Lucas Debütroman „Sieben Sekunden Luft“ wird klar, dass es nicht einfach ist, sich diesen zentralen Lebensfragen zu stellen. Aber auch, dass das Ergründen dieser Fragen ein Überlebensmittel sein kann. Wie viel Mut, Klarheit und auch Vorstellungskraft es benötigt, an so vielen vermeintlichen Gewissheiten zu rütteln, das geht aus diesem Interview hervor. Nicht zuletzt aber auch, welchen Schmerz rigide gesellschaftliche Vorstellungen verursachen – bei jenen, die sich verbiegen, um diesen Normen entsprechen zu können und bei jenen, die sich ihrer entledigen und vor den Puzzleteilen ihrer Identitätskonstruktion stehen. Wir haben uns mit Luca Mael Milsch ausführlich unterhalten – über den Roman, Glaubenssätze, Verantwortung und Sichtbarkeit.

Hallo Luca, wie geht es dir?

Ich bin aufgeregt und neugierig! Es ist kurz vor Erscheinen des Romans. Ich frage mich, wie die Menschen ihn lesen werden. Bisher habe ich schon sehr berührende Nachrichten bekommen und ich bin gespannt auf die persönlichen Begegnungen bei den Veranstaltungen.

Dein Roman thematisiert – unter anderem – die Komplexität des Menschseins und die Unmöglichkeit eines freien Selbst. Würdest du sagen, dass wir alle in irgendeiner Form nicht ehrlich „wir selbst“ sein können? Und woran liegt das?

Mit dem Roman wollte ich über die Frage nachdenken, inwieweit wir uns von Erfahrungen und Überzeugungen lösen können. Wie ist es möglich, sich wieder etwas anzunähern, das man im Laufe der Entwicklung fast verloren hätte? Und wie können wir eine Sprache für die eigene Verortung in dieser Welt finden? Anpassung funktioniert für die Hauptfigur Selah nicht, aber „sie selbst“ zu sein hat die Figur nicht gelernt. In „Sieben Sekunden Luft“ habe ich mich der Darstellung dieses innerlichen Spannungszustands gewidmet.

© Ana Maria Sales Prado

Luca Mael Milsch ist freie*r Übersetzer*in, Lektor*in, Kurator*in, Moderator*in und Autor*in. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften war Milsch in der Programmleitung des Literarischen Salons Hannover tätig. Neben zahlreichen Übersetzungen, zuletzt „Happy End“ (S. Fischer Verlag) von Andrew Sean Greer, Publikationen in Anthologien, Literaturzeitschriften und Magazinen, schrieb Milsch an dem Romandebüt „Sieben Sekunden Luft“. Für einen Auszug davon war Milsch Stipendiat*in der Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Ein vielstimmiger, eindringlicher Text, der nach Klängen in einem scheinbar unabänderlichen Raum der Stille sucht.

Der Roman erzählt auch von einer Mutter-Kind-Beziehung. Du zeigst, wie unausgesprochene Selbstverständlichkeiten und Erwartungen schon früh zu wirken beginnen. Warum hast du darüber geschrieben?

Mich hat der Gedanke beschäftigt, inwieweit Erzählungen die Entwicklung von Kindern begleiten. Wie Persönlichkeitsaspekte auch auf dem basieren, was Familien über Kinder erzählen, und wie sie in eine patriarchale und kapitalistische Gesellschaftsordnung einkategorisiert werden. Was der Mutter auffällt, was sie lobt oder rügt, hängt ja von ihrem Wertesystem und internalisierten Ordnungsmustern ab. Aber auch von Unsicherheiten, Ängsten, Sorgen und Wünschen, die erst einmal nichts mit Selahs Persönlichkeit zu tun haben müssen. Das Kind soll es leicht haben, also entspricht es in dieser Gesellschaft am besten der Norm. Jedes Abweichen muss sanktioniert werden, sei es durch Kommentare oder – und ich denke, das ist für die Beziehung der beiden zentral – durch Schweigen.

Du lässt Selah im Roman aus verschiedenen Perspektiven erzählen (ich, du, sie). Gewinnt Selah im Laufe der Handlung zusehends Distanz zu sich selbst? Sind die Perspektiven auch Ausdruck eines Abstreifens dieser gewaltvollen Zwänge?

Selah entfernt sich immer weiter von sich selbst, im Sinne einer Entfremdung, die sich auch im jeweiligen Ton widerspiegelt. „Ich“ zu sagen ist im Kontext dieses Romans die ehrlichste Erzählform. Und später verfällt Selah in eine Art schweigenden Dialog mit der sterbenden Mutter. Die beiden haben keine gemeinsame Sprache für ihre Verletzungen. Aber Selah kämpft dafür, sich irgendwann als wirkmächtiges Subjekt in dieser Gesellschaft zu begreifen. Das ist immer auch mit Loslassen verknüpft. Im Roman heißt es an einer Stelle, es sei wie einen Rucksack abzusetzen und ein anderer setzt sich auf. Ich mag dieses Bild, weil in dieser Gesellschaft freier von Zwängen und Normen zu leben immer auch mit Restriktionen verbunden ist.

In „Sieben Sekunden Luft“ schreibt Luca Mael Milsch von Fragilität, die zur Stärke wird, von einer Welt voller Ambivalenzen, von der Sehnsucht nach einer selbstbestimmten Verortung in einer starren Struktur. Und darüber, was von uns übrigbleibt, wenn alles andere verschwindet. Der Roman ist seit 14.03.2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.

 

Muss man sich deiner Meinung nach ein Stück weit von sich entfernen, um sich kennenzulernen, oder herauszufinden, wer man überhaupt sein möchte?

Ich glaube, dass ein Heraustreten aus den bestehenden Strukturen hilfreich sein kann, allerdings ist das auch ein Aufbruch in Unbekanntes, was oft mit Ängsten verbunden ist. Was erwartet mich, wenn ich mich aus Bestehendem löse? Vielleicht komme ich in die Situation, kreativ werden zu müssen, um nach den eigenen Regeln zu leben. Das kostet Kraft, und dafür braucht es auch Handwerkszeug.

Selah reagiert auf die wachsende Unvereinbarkeit zwischen dem Innen und Außen schlussendlich mit einem Untertauchen und Ausreißen aus der Umgebung: „Jetzt sitzt Selah, wie jeden Morgen, auf der Veranda, schaut auf das Meer und trinkt in die Stille hinein. Fertig.“ Ist Einsamkeit ein Ausweg, um aus gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen?

Wir sehen, dass für Selah Ruhe eher zu Anspannung anstatt zu Entspannung führt. Da wabert etwas unter der Oberfläche, zu dem Selah keinen Zugang hat, woraus Wut, Frust, Verzweiflung entstehen. Mich interessierte beim Schreiben die Frage: Warum flieht diese Figur eigentlich aus einem von außen betrachtet geordneten und sicheren Leben? Um dem nachzugehen, lasse ich Selah Distanz zum Alltag aufbauen.
In unserer Gesellschaft braucht es dafür auf struktureller Ebene die finanziellen Mittel, eine gewisse Mobilität, Zugang zu medizinischer Versorgung; und auf persönlicher Ebene die Bereitschaft, überhaupt anzuerkennen, dass man ein Problem hat und sich daraufhin Hilfe zu suchen.
Zur Frage, ob Einsamkeit für die Figur ein Weg sein kann: Das müssen die Leser*innen selbst herausfinden. Mir kommt dabei Selahs Name in den Sinn. Das Wort „Sela“ kommt aus dem Hebräischen und kann unterschiedlich gedeutet werden: als Zeichen eines Wechsels, als Pausierung, aber auch als Erhebung der Stimme.

Die Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft funktionieren sollte und wie Menschen in dieser Gesellschaft zu sein haben, basiert auf – mehr oder weniger stabilen – Konstrukten, Rollenbildern, ästhetischen Vorstellungen, Verhaltensnormen … Das alles wird uns in die sprichwörtliche Wiege gelegt, bevor wir überhaupt die Möglichkeit bekommen, uns dagegen zu wehren. Was bräuchte es, um unter weniger einengenden Bedingungen aufwachsen und leben zu können?

Im Roman habe ich mit religiösen Glaubenssätzen gearbeitet, um dies zu unterstreichen: Der Gottesglaube, der sich in Sprache und Denken und auch im Namen Selahs eingeschrieben hat, scheint der Figur gar nicht so bewusst. Ich glaube, vehement verteidigte „das haben wir schon immer so gemacht“ oder „so ist es eben“ sind Entscheidungen, aber als solche unkenntlich gemacht. Um dagegen angehen zu können, muss auf unterschiedlichen Ebenen etwas passieren. Es braucht Identifikationsmöglichkeiten, sicherere Räume, solidarische Kämpfe und eine Bereitschaft, sich von den bestehenden Normen zu lösen.

Selah befindet sich ja in jedem Kapitel auf der Schwelle zu etwas Neuem. Da sind auch Vorbilder und Hilfen notwendig, die eben nicht unbedingt durch das gewohnte Umfeld geleistet werden können. Und gerade für queere Lebensrealitäten braucht es auch Fantasie, sich ein Leben über die bestehenden Normen hinaus vorzustellen. Fantasie, die Selah ja durchaus hat.

Du bist selbst Lektor*in, Kurator*in, Moderator*in und natürlich Autor*in. Wie siehst du in deiner Arbeit die Möglichkeit, vorherrschende zwanghafte Strukturen in unserer Gesellschaft zu sprengen?

Ich halte es für zentral, sich nicht nur als vereinzeltes Individuum mit persönlichen Problemen zu sehen, sondern sich im Kontext zu betrachten, auch die eigene Verantwortung in der Unterdrückung oder Ausgrenzung anderer zu erkennen. Und diese Verantwortung auf die Straßen, in den eigenen Bezugskreis zu tragen, anstatt in altbekannte und vermeintliche Sicherheit zurückzufallen. Denn es gibt etliche Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen, die uns vordergründig dafür belohnen, uns anzupassen und still zu sein. Aber um welchen Preis?

Ich denke zum Beispiel viel darüber nach: Wer ist alles anwesend im Kulturbetrieb und wer nicht? Auch darum geht es ja in meinem Roman. Warum sind manche Stimmen sehr laut und präsent, andere werden nicht einmal bedacht? Dorthin zu schauen, unbequeme Gespräche zu führen, und gleichzeitig immer lernbereit zu sein, halte ich für immens wichtig. Ich würde mir auch wünschen, dass in der Kultur mehr Energie in unsichtbare Arbeit fließen würde: Eine solidarische Praxis sollte nichts sein, womit sich profiliert wird und wofür es Applaus oder Profit gibt.

Bücher in den Schützengräben – Andrej Kurkow über die Literatur in der Ukraine

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow schreibt über seine Landsleute und deren Schicksale, über die Ereignisse, die seine Heimat erschüttern – und das seit Jahren. Festgehalten sind seine Eindrücke unter anderem im „Tagebuch einer Invasion“ (Haymon, 2022), für das er im selben Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Im folgenden Beitrag geht der Autor auf die Literatur der Ukraine ein, weist auf aktuelle Phänomene während des Krieges hin und blickt, trotz allem, hoffnungsvoll in die Zukunft.

Es gibt wohl keine dramatischere Literaturgeschichte als die der ukrainischen Literatur.

Diese Aussage mag Sie überraschen, aber fragen Sie sich selbst: „Was weiß ich über klassische ukrainische Autor*innen?“
Sicherlich sind klassische russische Schriftsteller*innen wie Dostojewski, Tschechow und Tolstoi international bekannt. Aber nur sehr wenige Menschen in Europa oder einem anderen Teil der Welt können eine*n einzige*n ukrainische*n Schriftsteller*in des 18. oder 19. Jahrhunderts außer Mykola Gogol nennen. Diesem wird alles zugeschrieben, was die klassische russische Literatur ausmacht.
Viele russische Autor*innen, die sich einen Platz in den Reihen der Klassiker erarbeitet hatten, hatten ukrainische Wurzeln. Das ist nicht weiter wichtig, außer dass es auf einen Kontext hinweist, in dem Erfolg für jede*n Autor*in im russischen Reich bedeutete, nach St. Petersburg oder Moskau zu ziehen und auf Russisch zu schreiben. Zu der Zeit, als sie ihre Romane und Erzählungen schrieben, schrieben auch Dutzende von ukrainischen Autor*innen ihre Romane und Erzählungen in der Ukraine – auf Ukrainisch. Die Welt weiß so gut wie nichts über sie oder ihr Werk, obwohl sie in der Ukraine in Schulen und Universitäten besprochen werden, Romane und (Dokumentar-)Filme über sie geschrieben und gedreht werden.
Warum haben europäische Verlage die klassische ukrainische Literatur fast nie übersetzt oder veröffentlicht? Die Antwort ist einfach: Sie wussten nicht von ihrer Existenz. Sie glaubten, dass es auf dem Gebiet des Russischen Reiches und später auf dem Gebiet der UdSSR nichts Interessantes außer russischer Literatur gab.

Russland hat seine Kultur und seine Literatur stets gekonnt und beharrlich gefördert. Niemand bestreitet den Wert der Romane von Dostojewski und der Erzählungen von Tschechow – aber darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Literatur einer großen europäischen Nation in Europa nicht aus kulturellen, sondern aus geopolitischen Gründen unbekannt geblieben ist. Die Hauptbotschaft der russischen Politiker*innen in Bezug auf die Kultur war die Behauptung, dass in den riesigen Weiten des ehemaligen und heutigen Russischen Reiches den Leser*innen in aller Welt nichts Größeres als die russische Literatur geboten werden könne.
Die neue russische Aggression hat dazu geführt, dass die Welt die Ukraine mit Verspätung entdeckt hat. Erst jetzt erscheinen die Werke der ukrainischen Klassiker*innen – unter ihnen Lesya Ukrainka, Ivan Franko, Ivan Kotlyarevsky, Olga Kobylyanska, Mykola Khvylovy – in Übersetzungen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Sie erscheinen hauptsächlich in kleinen Auflagen, dank kleiner, unabhängiger Verlage. Es ist ein guter Anfang, besser als nichts, besser spät als nie … Trotzdem wäre es besser gewesen, dies wäre früher und vor allem ohne Krieg passiert.
Während Leser*innen weltweit versuchen, die Vergangenheit und Gegenwart der ukrainischen Literatur zu verstehen, verändert sich die Literatur erneut und versucht, sich an das Leben in Kriegszeiten anzupassen. Dieser Veränderungsprozess ist sehr schwierig, und ich muss zugeben, dass der Erfolg noch lückenhaft ist.
Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, begann sich die ukrainische Literatur sofort von der russischen durch ihre Romantik, ihren unpolitischen Charakter und ihre Liebe zur postmodernen Literatur zu unterscheiden. Der prominenteste ukrainische Postmodernist der frühen Nach-Unabhängigkeitszeit war der Romancier Juri Andruchowytsch, der mit seinem witzigen und bitteren Roman „Moscoviada“ in der ganzen Ukraine Wellen schlug. Er ist nach wie vor einer unserer bekanntesten Schriftsteller*innen – ein Vorreiter der neuen ukrainischen Literatur.
In den späten 90er Jahren erschienen in der Ukraine viele Romane über „Sex, Drugs und Rock’n‘Roll”. Die Autor*innen dieser Romane, unter ihnen die Schriftstellerin und Sängerin Irena Karpa, versammelten Hunderte von jungen Leser*innen bei ihren Lesungen. Es schien, als sei eine wunderbare neue Ära der Freiheit angebrochen.
Nachdem sie die Nische für diese Art von Literatur gefüllt hatten, zogen die ukrainischen Schriftsteller*innen weiter und begannen Anfang der 2000er Jahre, Liebesromane, historische Romane und Abenteuerromane zu schreiben.
Die Orange Revolution von 2004-2005 war das erste Ereignis, das die ukrainische Literatur zu politischen und sozialen Themen hinführte. Die Euromaidan Proteste von 2014 gaben den Anstoß zu einer fast vollständigen Politisierung der ukrainischen Literatur, die sie militant machte und endgültig von ihrer traditionellen Poetik und Romantik löste. Die Poesie, für die die ukrainische Literatur berühmt war – für diejenigen, die überhaupt etwas von ihr wussten –, blieb ein wichtiges Merkmal, obwohl sie bürgerlicher und weniger lyrisch wurde.
Seit der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbass hat sich sehr viel verändert, und die russische Aggression von 2022 hat die ukrainische Literatur schließlich völlig neu reformiert. Nicht nur das geschriebene Wort wurde verändert. Die ukrainischen Schriftsteller*innen und Dichter*innen formierten sich selbst neu, mehr als 30 von ihnen wurden getötet. Dies zwang die ukrainischen Leser*innen sofort dazu, die toten Autor*innen „wiederzubeleben”, indem sie sich bemühten, herauszufinden, wer sie waren, was sie schrieben und wofür sie standen. Dies führte zur Entdeckung einer ganzen Generation ukrainischer Schriftsteller*innen – Hunderte von Namen –, die in der Sowjetzeit unter Stalin unterdrückt und getötet worden waren. In den 1930er Jahren beschloss das kommunistische Regime, die ukrainische Kultur ausbluten zu lassen – sie war zu intelligent und zu unabhängig, auch wenn die meisten Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Dramatiker*innen jener Zeit der „richtigen” kommunistischen Ideologie anhingen.

© Concreative

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. Zuletzt erschien bei Haymon 2022 Andrej Kurkows Werk mit seinen Aufzeichnungen aus der Ukraine: „Tagebuch einer Invasion“ (aus dem Englischen von Rebecca DeWald), in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. In „Im täglichen Krieg“ (voraussichtlich 2024) schreibt Kurkow weiterhin gegen die Zerstörung an – und für die Zukunft der Ukraine.

Heute bitten Soldat*innen ihre Freund*innen, ihnen Bücher von Schriftsteller*innen dieser „hingerichteten Wiedergeburt“ zu schicken – ebendiese zerstörte Generation ukrainischer Autor*innen, deren Erwähnung zu Sowjetzeiten verboten war.
Neben Büchern hingerichteter Autor*innen fragen die Soldat*innen oft auch nach Büchern über die Geschichte der Ukraine und nach Büchern klassischer ukrainischer Schriftsteller*innen. Viele an der Front wollen die ukrainische Literatur früherer Epochen wiederentdecken, angefangen im 17. Jahrhundert mit Meletiy Smotrytsky, der auf Polnisch schrieb, und dem Philosophen, Schriftsteller und Dichter Grigory Skovoroda, der seine Werke auf Altukrainisch, Polnisch und Latein verfasste.
In überraschender Symmetrie entdecken Leser*innen weltweit die ukrainischen Klassiker gleichzeitig mit den ukrainischen Soldat*innen in den Schützengräben – Soldat*innen, die sich vor dem Krieg kaum für Literatur interessiert haben.
In der ukrainischen Literatur selbst tut sich unter dem Bombardement nicht viel. Es werden nur wenige Romane geschrieben. Die meisten Autor*innen sind zu Essays und Sachbüchern übergegangen oder haben ganz aufgehört zu schreiben und sind zu zivilen Aktivist*innen geworden.
Andriy Lyubka, ein Romanautor und Übersetzer von Balkanliteratur, begann gleich zu Beginn des Krieges, die ukrainischen Soldat*innen zu unterstützen. Er sammelt im Internet über Fundraising Spenden für den Kauf alter Jeeps und Pickups für die ukrainische Armee. Mit Gleichgesinnten reist er nach Europa, um die Fahrzeuge zu kaufen, sie durch den Zoll in die Ukraine zu transportieren und sie dann zusammen mit Freund*innen direkt an die Front zu fahren. Über seine Geschichte könnte ein Buch geschrieben werden. Vielleicht schreibt er es eines Tages selbst, aber jetzt hat er dafür keine Zeit. Seit dem 24. Februar 2022 hat er Millionen Griwna gesammelt und die Armee mit mehr als 200 Fahrzeugen versorgt.
„Während des Krieges ist es unmöglich, sich voll und ganz der Literatur zu widmen“, sagt Andriy Lyubka. „Aber gerade in diesen Monaten habe ich das Gefühl, dass die Menschen die Literatur mehr denn je brauchen. In der Ukraine besuchen heute so viele Menschen wie noch nie literarische Veranstaltungen und Vorträge. Sie brauchen diese Gelegenheiten, um sich im Raum umzusehen und Menschen zu sehen, um zu spüren, dass sie hier lebendig sind, dass sie nicht weglaufen oder aufgeben dürfen. Es ist eine Art Appell. Kürzlich traf ich mich mit Schriftstellerkolleg*innen auf dem Poesiefestival Meridian Czernowitz, das zum zweiten Mal seit der Invasion stattfand. Das Hauptthema unserer Gespräche war: Wie ist es möglich, dass die Auflage unserer Bücher im zweiten Jahr in Folge gestiegen ist, obwohl so viele Millionen Menschen das Land verlassen haben und so viele Druckereien und Buchläden bombardiert worden sind? Die Antwort ist einfach: Die Menschen brauchen Literatur in ukrainischer Sprache. Dies ist eine symbolische Art und Weise, ihre Zugehörigkeit zur ukrainischen Identität zu bekunden. Darüber hinaus kaufen viele Ukrainer*innen Bücher, um den Übergang vom Russischen zum Ukrainischen als Kommunikationssprache zu erleichtern. Dies ist ein Massenphänomen, und ein der Tat ist es ein großer Schock für uns alle“.
Vor dem Krieg hatten einige Leser*innen den Eindruck, dass Andriy Lyubka mit einem anderen ukrainischen Kultautor und Dichter, Serhiy Zhadan, um Popularität konkurrierte. Jetzt zeigt sich, dass die beiden auch in Sachen Fundraising im Wettbewerb zu stehen scheinen. Serhiy Zhadan unterstützt ebenfalls aktiv die ukrainische Armee und kauft Jeeps und Pickups für die Soldaten an der Front. Im Gegensatz zu Lyubka schreibt er weiterhin neue Gedichte und Prosa. Kürzlich sammelte der deutsche Verlag Suhrkamp Zhadans Facebook-Beiträge und veröffentlichte sie in Form eines Tagebuchs. Zhadan und seine Rockband „Zhadan and The Dogs“ reisen regelmäßig nach Europa und in die USA, wo sie Geld für die ukrainische Armee und ukrainische Flüchtlinge sammeln. Mit anderen Worten, er tut alles für den Sieg der Ukraine in diesem Krieg – genau wie Dutzende andere ukrainische Autor*innen, von denen nur sehr wenige gleichzeitig viel schreiben können. In der Geschichte der ukrainischen Literatur werden die Jahre 2022-2023 daher „mager“ sein.

Wird das literarische Leben in der Ukraine nach dem Krieg wieder an Fahrt aufnehmen? Ich denke ja. Aber es besteht die Gefahr, dass sich ein Großteil der neuen Literatur auf die russische Aggression konzentriert. Das bedeutet, dass wir das sowjetische Muster des „Siegeskults“ wiederholen würden, das in der UdSSR nach 1945 bestand. Damals ersetzten Bücher über den Krieg fast alle anderen Genres und dienten der patriotischen Erziehung der sowjetischen Jugend. Der Siegeskult des Zweiten Weltkriegs lebt in der russischen Kultur weiter und ist auch einer der Gründe für die aggressive Politik der Russischen Föderation. Heute lautet einer der beliebtesten russischen Slogans „Wir können es wieder schaffen“.
Dennoch bleibe ich optimistisch. Ich hoffe, dass die Liebesromane die Bücher über den Krieg am Ende besiegen oder zumindest dazu beitragen werden, ein Gleichgewicht und eine Harmonie in der ukrainischen Literatur zu schaffen, ohne die ein Vorankommen unmöglich ist.

Andrej Kurkow, im Herbst 2023

Interview mit Anja Frers über vererbte Gewalt und transgenerationale Traumata

Transgenerationales Trauma – das klingt in erster Linie nach komplizierten psychologischen Vorgängen, die eine entsprechend fachliche Auseinandersetzung verlangen. Anja Frers beweist das Gegenteil: Sie geht dem Thema auf künstlerische Weise nach und ermöglicht damit einen zugänglichen Diskurs. Denn: Das Thema ist sehr viel enger mit uns verbunden, als wir vielleicht meinen. Im Gespräch mit der Künstlerin und Therapeutin erfahren wir aus psychologischer und psychotherapeutischer, künstlerischer und menschlicher Sicht, wie tief diese Dynamiken in uns und der Welt verankert sind und wie damit umgegangen werden kann.
Wer sich vor, während oder nach dem Lesen ein Bild von Anja Frers Kunst machen möchte, findet sie hier.

In Ihrer aktuellen Ausstellung „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, die am 21. Februar 2024 in der Pasinger Fabrik eröffnet wurde, gehen Sie gemeinsam mit Nana Dix und Uschi Siebauer der Frage auf den Grund, wie sehr euch drei Künstlerinnen der Zweite Weltkrieg, die NS-Ideologie und die autoritären Erziehungsideale der Eltern und Großeltern geprägt haben. Dabei habt ihr euch natürlich intensiv mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt und euch vielleicht auch das eine oder andere Mal gefragt: Ist das noch normal oder zählt das schon als Trauma? Dabei ist das ja eine ganz grundlegende Frage, mit der wir vielleicht direkt starten: Was ist eigentlich ein Trauma und was fällt alles darunter?

Der Begriff Trauma (altgriechisch: Wunde) bedeutet psychische Ausnahmesituation (Psychotrauma). Es kann ausgelöst werden durch überwältigende Erlebnisse (z.B. Gewalt, Krieg oder andere Katastrophen), die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellt. Oder auch durch frühkindliche Erfahrungen, wenn z.B. die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen wurden, durch Erziehungsmaßnahmen wie schreien lassen oder „kalt“ stellen etc. Diese negativen Erfahrungen zerstören das Vertrauen in Bindungspersonen nachhaltig und haben enorme Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Es fällt den Betroffenen schwer, Nähe zu zulassen, weil sie als gefährlich empfunden wird und zugleich ist ein starkes Bedürfnis nach Nähe gegeben. Diese Art der Traumatisierung wird auch komplexe Posttraumatische Belastungsstörung genannt und wurde aktuell auch in das ICD11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) aufgenommen. Es existiert somit ein breites Traumaspektrum mit unterschiedlichen Auswirkungen.

 

©Anja Frers

Anja Frers arbeitet als Künstlerin und Fotografin. Zusätzlich ist sie ganzheitliche Traumatherapeutin und hat eine eigene Praxis. Das Gemeinschaftsprojekt mit Nana Dix und Uschi Siebauer, „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, kann, neben der Ausstellung in der Pasinger Fabrik, auch in Buchform entdeckt werden.

Wenn wir uns an den Biologie-Unterricht zurückerinnern, war in Sachen Vererbung immer nur die Rede von Genen. Dass auch Erfahrungen und traumatische Begebenheit von Generation zu Generation weitergegeben werden können, ist aber eine Tatsache, die neu scheint. Jetzt also die Frage, die sich viele wohl als allererstes stellen: Wie geht das überhaupt mit den vererbten Traumata?

Die epigenetische Forschung hat gezeigt, dass es bestimmte Faktoren gibt, die die Aktivierung und Expression der DNA beeinflussen können. Dazu gehören z.B. Umwelteinflüsse, Krieg, Hunger, Gewalterfahrungen etc. Diese Einflüsse können zu epigenetischen Veränderungen in den Zellen führen, so dass die nächste Generation besser auf bestimmte Situationen reagieren kann, auch wenn sie diese nicht selbst erlebt hat. Dies kann sich z.B. in einem dauerhaft übererregten Nervensystem äußern. Wenn die Elterngeneration vor Bombenangriffen fliehen musste, konnte sie sich nur schwer entspannen. Diese Unfähigkeit, sich zu entspannen, und das Gefühl, ständig etwas tun zu müssen, obwohl in der eigenen Gegenwart keine Lebensbedrohung besteht, kann ein Hinweis auf die Weitergabe von Traumata sein. Ein weiterer Punkt, der für die Vererbung von Traumata spricht, ist die Tatsache, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen einen Einfluss auf das Epigenom und damit auf das spätere Leben und die Gesundheit haben können. Ein Säugling, der nicht genügend Zuwendung, Liebe und Geborgenheit erfährt, wird im späteren Leben Bindungsprobleme entwickeln. Aber nicht nur das, auch Störungen im Stresshormonsystem lassen sich biologisch nachweisen, so dass die Epigenetik ein großes und interessantes Forschungsfeld ist, das einen wichtigen Baustein zum Verständnis von Traumata liefert.

Kriegserlebnisse oder sexuelle Übergriffe sind oft die Schlagwörter, die in Verbindung mit dem Wort „Trauma“ fallen. Dabei geht dieses Thema viel weiter. Emotionaler Missbrauch oder Diskriminierungserfahrungen können ebenso Traumata auslösen, ist das richtig?

Das ist richtig. Diese Art von Traumata werden Komplexe Traumatisierung genannt. Dazu gehören z.B. emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung, die über einen längeren Zeitraum stattgefunden hat oder stattfindet.

Angehängt an die vorherige Frage und dem Aspekt, wie mit dem Begriff umgegangen wird: Immer wieder hört man die Aussage: „Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen“. Ist das eine weitere Floskel der Küchenpsychologie oder ist an dem Statement etwas Wahres dran?

Ich würde sagen, da ist auf jeden Fall etwas Wahres dran. Natürlich traumatisiert nicht jede*r einen anderen Menschen im gleichen Ausmaß und auf die gleiche Art und Weise, wie sie*er selbst traumatisiert wurde. Aber ich glaube, dass fast jede*r von uns einen Rucksack emotionaler Altlasten mit sich herumträgt. Einen Rucksack, der sich zusammensetzt aus Glaubenssätzen (z.B. „Ohne Fleiß kein Preis”), aus Persönlichkeitsstrukturen, die zum Überleben ausgebildet wurden (z.B. ein Leistungsanteil, um bei dem Beispiel „Ohne Fleiß kein Preis” zu bleiben). Viele unserer Persönlichkeitsanteile sind auf das Überleben ausgerichtet und nicht z.B. darauf, das Leben zu genießen. Bei all dem besteht die Gefahr der Übertragung auf andere Menschen, vor allem auf die eigenen Kinder. Deshalb ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, an sich selbst zu arbeiten und die eigenen Traumata zu transformieren und zu integrieren. Ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir viele Glaubenssätze und Überlebensstrategien an die nächsten Generationen weitergeben.

„Ja, das mag es alles geben, aber mich betrifft das nicht.“ Das sehen nicht wenige Menschen so. Doch Symptome wie Angstzustände, depressive Episoden, Anpassungsstörungen oder ungesunde Coping-Mechanismen scheinen immer mehr Menschen zu betreffen. Ganz oft scheint es Betroffenen unerklärlich, worauf das zurückgeht. Wenn man seine mentale Gesundheit also nicht auf akute Belastungssituationen zurückführen kann, sollte man sich dann die Frage nach transgenerationalem Trauma stellen?

Ich würde sagen, dass sehr viel in der Kindheit und in der Erziehung begraben liegt. Die Erziehungsmethoden im Nationalsozialismus waren darauf ausgerichtet, zur Bindungslosigkeit zu erziehen, um Menschen zu züchten, die dem Staat dienen und, böswillig ausgedrückt, als Kanonenfutter für den Zweiten Weltkrieg missbraucht werden konnten. Besonders einflussreich war damals das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Harrer. Schreien lassen, kalt stellen, zur Sauberkeit erziehen und das Kind mehr oder weniger als Feind betrachten, den man sich gefügig zu machen hat, wirkte sich in dieser Generation zerstörerisch auf die Entwicklung und Bindungsfähigkeit der Kinder aus. Die Kinder wurden nicht gesehen, nicht gehört, wenig berührt und oft sich selbst überlassen. Sie mussten zu früh erwachsen werden und wurden auch so behandelt. Diese sogenannte Kriegskindergeneration hat wiederum Kinder bekommen, die Kriegsenkel, zu deren Generation ich gehöre. Die Mütter waren damals oft schwer traumatisiert durch die Kriegserlebnisse und zusätzlich durch die nationalsozialistischen Erziehungsmethoden. Sie hatten auf Grund ihrer Traumatisierungen eine geringe Stresstoleranzgrenze und waren durch ihre Kinder schnell triggerbar. Allein das Schreien ihres Kindes konnte sie völlig überfordern. Viele wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten und griffen auf die ihnen bekannten Erziehungsmethoden zurück, die wiederum für unsere Generation traumatisierend waren. Es ist also wieder ein transgenerationales Thema. Wenn Menschen glauben, dass es sie nichts angeht, kann es auch eine Überlebensstrategie sein. Manche haben einen Persönlichkeitsanteil ausgebildet, der gelernt hat, alles schönzureden und die Augen zu verschließen. Das kann auch aus der Großelterngeneration kommen, die nach Kriegsende versucht hat, so zu tun, als wäre nichts passiert und alles halb so schlimm.

Problem erkannt, Gefahr gebannt – in diesem Fall gilt das ja leider nicht. Natürlich ist es der erste wichtige Schritt, aber sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und vererbter Gewalt auf die Schliche zu kommen, bedeutet harte Arbeit. Wenn man sich also dazu entschlossen hat, ganz nach dem Motto „break the cycle“, gibt es bestimmt einiges, das unterstützen kann. Wann hole ich mir am besten Hilfe und wie kann die aussehen?

Problem erkannt, Gefahr gebannt funktioniert bei Trauma leider nicht so einfach. Viele haben sehr viel kognitiv verstanden, sich mit der Kindheit analytisch auseinandergesetzt und wissen ganz genau, wie sie sich verhalten sollten. Nur leider reicht das nicht. Ein Trauma ist im Körper abgespeichert, in unserem autonomen Nervensystem. Ich würde empfehlen, eine Traumatherapie anzufangen. Da hier mit Körper, Geist und Seele gearbeitet wird, um abgespaltene Emotionen wieder zu transformieren und zu integrieren. Es wird auch mit den Überlebensstrategien gearbeitet, um das Nervensystem zu regulieren, um Sicherheit zu empfinden und Verbundenheit. Zum Glück können wir neue Nervenbahnen erschaffen, um alte Muster und Reaktionsketten zu verlassen. Das dauert natürlich seine Zeit, aber es lohnt sich. Oft kann man erst im Prozess erkennen, wie viel Anstrengungen es einen gekostet hat, sein Leben im Überlebensmodus zu leben.

Transgenerationales Trauma ist ja geprägt davon, dass es einen nicht nur als Individuum, sondern auch als Teil eines familiären beziehungsweise verwandtschaftlichen Systems betrifft. Wie kann man damit umgehen, wenn man auf seinem Weg der Auseinandersetzung auf Widerstand vonseiten der Familie oder Verwandtschaft, auf defensives Verhalten oder fehlende Unterstützung stößt?

Das ist ein großes Problem. Viele Menschen suchen Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Traumata in ihrer Familie. Verständnis und Hilfe für die Ursache des Problems zu bekommen, ist oft schwer möglich und diese Erkenntnis kann sehr schmerzhaft sein. Wichtig ist aber immer, dass es nicht um Schuld geht. Die Elterngeneration hat das Beste gegeben, was sie geben konnte. Deshalb ist es an uns, uns selbst das zu geben, was wir gebraucht hätten, um zu heilen. Der Weg in der Traumatherapie ist ein Weg nach innen. Die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, die eigenen Grenzen zu setzen, sich mit sich selbst zu verbinden und sich in sich selbst sicher und zu Hause zu fühlen, das ist das Ziel. Das geht oftmals am besten ohne die Familie, die ihre eigene, oft völlig andere Wahrnehmung und Geschichte hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine innere Entwicklung auch im Außen viel verändert. Natürlich ist das auch für die Familie manchmal eine Herausforderung, aber es bringt Veränderung und Entwicklung mit sich.

Viele dieser Fragen haben Sie nun hauptsächlich mit therapeutischem Know-How beantwortet. Doch wie auch schon ganz am Anfang erwähnt, befassen Sie sich auch künstlerisch auf ganz spannende Weise mit diesem Thema. Wie gehen Sie also als Künstlerin mit dieser Thematik um? Was hat Sie dazu bewogen, dieses Thema überhaupt erst künstlerisch aufzugreifen? Und was möchten Sie mit Ihren Werken bei den Menschen auslösen?

Eigentlich begann meine ganze Geschichte zu diesem Thema vor etwa 14 Jahren. Mit dem Tod meiner Mutter. Da sie mich mit vielen Fragezeichen zurückgelassen hatte, versuchte ich meine Geschichte anhand der Fotos, die sie mir hinterlassen hatte, zu rekonstruieren. Es waren über 1500 Dias, die meine gesamte Kindheit dokumentierten. Erst, als ich die Schwarz-Weiß-Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus einfügte, spiegelten die Fotos das wider, was ich damals fühlte. Da meine Großeltern im selben Haus wohnten, habe ich den Generationenkonflikt hautnah miterlebt. Es war immer eine gewisse Schwere in unserem Haus, etwas Unausgesprochenes, das nicht da sein durfte, aber immer da war. Um mich herum wurde mit aller Gewalt versucht, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Was es aber nicht war. Meine Mutter und meine Großmutter waren beide Alkoholikerinnen, mein Großvater noch traumatisiert von der Kriegsgefangenschaft in Russland und mein Vater war nie da, weil er arbeiten musste. Nach und nach verstand ich, dass das transgenerationale Trauma in unserer Familie einen festen Platz hatte. Das hat mich erleichtert, weil ich mir endlich erklären konnte, was die Ursache für all das war, was ich erlebt habe. Dieses Wissen möchte ich weitergeben. Denn es erklärt vieles und es sind keine Einzelschicksale. Durch das Reden darüber und die Auseinandersetzung entsteht eine Verbundenheit, die auch mir lange gefehlt hat. Das tut gut und ist heilsam, für mich und für die Menschen, die wir als Künstlergruppe damit erreichen.

Zum Abschluss würde uns noch interessieren, wie Sie ganz persönlich mit dem Thema umgehen. Als Künstlerin, Frau und Mutter. Denn wenn man sich so intensiv damit beschäftigt, stellt man sich bestimmt auch die Frage, wie viel Verantwortung man für sich und seine Familiengeschichte übernehmen kann und muss. Wo zieht man die Grenze, und wie schafft man es, zwischen den belastenden und schwierigen Themen noch genügend Zeit für Selbstfürsorge zu schaffen?

Seitdem ich mich mit dem Thema Trauma beschäftige, vor allem als Traumatherapeutin, geht es mir besser als vorher. Da ich selbst viel durchgearbeitet habe, ist mein Rucksack wesentlich leichter geworden, meine Glaubenssätze haben sich zum Positiven verändert, meine Anteile, die meine Überlebensstrategien verkörpern, haben sich entspannt und mein Stresstoleranzfenster ist viel größer geworden. Mein Minenfeld an Auslösern hat sich stark dezimiert und deshalb brauche ich nicht mehr so viel Selbstfürsorge wie vielleicht früher. Das spüren auch meine beiden Kinder und deshalb glaube ich, dass sie, was mich betrifft, nicht mehr so viel tragen und ertragen müssen. Es reicht jeder Schritt in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte, um der nächsten Generation zu helfen, freier zu leben. Da sie auch den Ursprung nicht mehr so direkt verorten können wie ich, ist es für meine Generation besonders wichtig, diese Verantwortung ernst zu nehmen, sonst leiden unsere Kinder unter diffusen Ängsten, ADHS, Depressionen usw. und können in ihrem Leben nicht mehr herleiten, warum sie diese Symptome entwickelt haben. Denn die transgenerationale Weitergabe kann nur abgeschwächt oder unterbrochen werden, wenn jede Generation Verantwortung übernimmt und aktiv etwas dagegen tut.

Klaus Merz wird mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2024 ausgezeichnet.

Mit dem Grand Prix Literatur 2024 würdigt das Schweizer Bundesamt für Kultur Klaus Merz für sein Lebenswerk und verleiht ihm damit die höchste literarische Auszeichnung des Landes.

„Innenschau und sprachliche Verdichtung prägen das Werk von Klaus Merz. Mit dem Aargauer Autor wird eine eher leise, jedoch umso eindringlichere und gewichtige Stimme ausgezeichnet, die einen Echoraum weit über die Schweizer Grenzen hinaus findet.“

 

Mit den 2012 eingeführten Schweizer Literaturpreisen ehrt das Bundesamt für Kultur jährlich Kulturschaffende und würdigt ihre Werke. Die Preise und Auszeichnungen berücksichtigen alle vier Sprachregionen der Schweiz und die verschiedenen literarischen Gattungen.

Die Preisverleihung findet am Freitag, 10. Mai 2024 um 18 Uhr im Stadttheater Solothurn, im Rahmen der Solothurner Literaturtage statt.

© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des Kamels. Geschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze Durchsage. Gedichte & Prosa (1995), Jakob schläft. Eigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein. Roman (1998), Garn. Prosa & Gedichte (2000), Adams Kostüm. Drei Erzählungen (2001), Das Turnier der Bleistiftritter. Achtzehn Begegnungen (2003), Löwen Löwen. Venezianische Spiegelungen (2004), LOS. Erzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas Miniaturen. Erzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte Blick. Sehstücke (2007), Der Argentinier. Novelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem Staub. Gedichte (2010), Unerwarteter Verlauf. Gedichte (2013), Helios Transport. Gedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweitert er seine Publikationen um Noch Licht im Haus.

„Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot.“ – Aleš Šteger im Interview über sein Logbuch-Projekt und die schriftstellerische Arbeit

Je zwölf Stunden an zwölf Orten im Laufe von zwölf Jahren. So lange schrieb der slowenische Autor Aleš Šteger an seinem Projekt, das unter dem Titel „Logbuch der Gegenwart“ in drei Bänden im Haymon Verlag erschienen ist. Der letzte Band, „Aufgehen“, ist mit 7. März 2024 im Buchhandel erhältlich. Von Slowenien über China bis nach Chile und Somaliland reiste er, traf auf Kulturen, Schicksale, Geschichten, die er mit Stift und Papier sowie mit seiner Kamera für die Ewigkeit festhielt. Wir haben uns mit Aleš Šteger über die poetische Wahrnehmung der Welt, die Arroganz der Europäer*innen dem Fremden gegenüber und seine Logbücher unterhalten.

Ein im Voraus festgelegter, möglichst öffentlicher Ort, der eine lebendige, unvorhersehbare Geschichte erzählt. Ein ebenso festgelegtes Datum, das mit einer gewissen Menge an Erinnerungsgepäck beladen ist. Eine auf zwölf Stunden begrenzte Schreibzeit, innerhalb derer ein Text entstehen soll, der anschließend schnellstmöglich veröffentlicht wird. Das sind die Grundregeln, die alle drei Logbücher eint. Gehen wir kurz mal zurück ins Jahr 2012, als das alles anfing: Wie kam dir die Idee zum Logbuch-Projekt? Gab es einen konkreten Auslöser oder schlummerte diese Idee schon länger in dir?

Die Idee dazu entstand aus einer Lebens- und Schreibkrise. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot. Ich brauchte eine neue Herausforderung, eine Aufgabe, die mich in meiner Arbeit als Schriftsteller forderte.
Dann kam dieser Einfall, sich selbst ein paar sehr elementare, fast unmögliche Regeln aufzuerlegen, sich an einem Ort niederzulassen, wo jederzeit alles schiefgehen kann. Diese fehlende Planbarkeit und die Offenheit, die viel Vertrauen in sich selbst und in den Prozess erfordern, waren mein Weg zurück. Zurück zur Literatur, zur elementaren poetischen Wahrnehmung der Welt und der Menschen – und zum Logbuch.

Du bist ein unbestechlicher Beobachter, beschreibst deine Wahrnehmungen der Umwelt und die Stimmungen, die dich umgeben, so, dass ein klares Bild entsteht und gleichzeitig Raum bleibt für die literarische Wirkmacht deiner Texte. Siehst du die Welt und die Menschen darin nun nach deinen Reisen mit anderen Augen?

Ich muss mich selbst immer wieder dazu ermahnen, nicht zu genau zu sein und meiner Fantasie und Kreativität genug Raum zu lassen. Denn es geht ja nicht nur um das Gesehene, sondern vor allem um das Erahnte, Erträumte, um Assoziationen und die schwierige Frage dahinter: Warum? Das Reisen hat mich aber zum Menschen gemacht, der ich bin, mit oder ohne Logbuchprojekt im Rucksack. Es hat mich der Welt gegenüber geöffnet und mir gelehrt, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht verstehe. Immer aufs Neue die Welt zu hinterfragen – aber sanft, nie besserwisserisch. Arroganz ist uns Europäer*innen ja von klein auf mitgegeben und man muss sehr viel Selbstreflexion durchlaufen, um sie wieder loszuwerden. Arroganz dem Fremden gegenüber ist ja nichts anderes als die Rückseite der Angst, die Ungewissheit, der wir uns nicht stellen wollen, uns dem Neuen nicht öffnen können.

 

© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Aleš Šteger, geboren 1973 in Ptuj, ist ein slowenischer Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor. Er veröffentlichte bislang mehrere Lyrik- und Prosabände, zuletzt seine Erzählungen „Das Lachen der Götter” (2016). Für seine Gedichte und Essays erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1998 den Veronika-Preis, 2008 den Rožanc-Preis, 2011 den Best Translated Book Award für seinen Gedichtband „Buch der Dinge”, 2016 den Horst-Bienek-Preis. Zudem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.

Du berichtest von politischen Stimmungen, gesellschaftlichen Minderheiten, sozialen Ungerechtigkeiten, von Armut und Lebensfreude, Schicksalsschlägen und Hoffnungsschimmern – ganz gleich, wo du dich befindest. Was macht uns Menschen aus? Konntest du durch deine Reisen Verbindendes entdecken, das in uns allen ist, unabhängig von kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten?

Wir Menschen sind einander viel ähnlicher, als wir es uns eingestehen wollen. Gleichzeitig verbirgt sich in uns vieles, das verschüttet oder verstummt zu sein scheint, in gewissen Konstellationen aber sofort wieder zum Vorschein kommt. Zum Beispiel die Erfahrung der frappanten Möglichkeit, sehr lange Erzählungen nach dem Zuhören wortwörtlich wiederzugeben, was in Somaliland auch heute noch gang und gäbe zu sein scheint. Eine Erinnerungskunst, die bei uns fast gänzlich durch Technik ersetzt wurde. Wir können so vieles sein und sind auch so vieles, ohne es zu wissen.

Welche Begegnung auf deinen Reisen für das Logbuch ist dir besonders in Erinnerung geblieben, welches Bild hat sich in dein Gedächtnis eingebrannt?

Das ist vielleicht das Besondere an diesem Projekt. Da es mit einer im Vorhinein festgelegten Zeitstruktur, einem Zwölf-Stunden-Fenster operiert, in dem alles passiert (oder eben nichts), entsteht ein sehr großer Aufmerksamkeitsdruck. Alles, was ich erlebe, jede*r, dem*der ich begegne, brennt sich mit einer immensen Prägnanz in meine Erinnerung ein. Ich kann alle zwölf Orte, alle zwölf Schreibreisen in mir sofort wieder abrufen. Das gelingt mir sonst im Alltag nicht. Aber die Sprache macht das möglich, wie so vieles …

Du bist Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor und bezeichnest dich selbst als „literarische Amphibie“ und „Grenzgänger zwischen verschiedenen Literaturwelten“. Ist Sprache für dich die beste Ausdrucksform, oder gibt es neben der Literatur auch noch andere für dich?

Sprache ist bestimmt das Medium, in dem ich mich am sichersten bewege. In den letzten Jahren hat sich meine Art des Ausdrückens erweitert, vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem Akkordeonisten Jure Tori auf eine Vortragsart, die wir „poetisch-musikalisches Ritual“ nennen.
Für das Logbuch habe ich mir etwas anderes einfallen lassen: eine Reiseperformance in Worten, Klängen und Bildern. Eine Reise um das Jetzt in zwölf Welten.
In all diesen Vortragsformen geht es aber um dasselbe, nämlich darum, eine Brücke zum Text zu bauen, damit dieser sich im Kontakt mit dem Unbekannten entfalten kann, so wie er sich in mir entfaltet. Das ist eine bereichernde Tätigkeit: die Leute in mein Geheimnis mit einzubeziehen und die Erfahrung der Wachheit des Textes zu teilen.

Wie geht es weiter für dich? Arbeitest du bereits an einem neuen Projekt?

Ich sitze gerade an einem Roman und einem Gedichtband. Es sind diesmal vor allem Reisen ins Innere, in Archive und in den Alltag. Es muss ja nicht immer eine Weltreise sein, um die Welt zu ertasten. Etwas Vergleichbares wie das Logbuch-Projekt nochmal zu machen, scheint für mich nicht realisierbar. Es erfordert schlicht und ergreifend sehr viel Lebenskraft – so etwas machen auch die größten literarischen Draufgänger*innen nur einmal.

Macht canceln Kultur? – Interview mit Kulturjournalist Johannes Franzen

Cancel Culture – ein Begriff, der Schlagzeilen macht und nicht allzu oft missverständlich Verwendung findet. Während ihn viele als moralische Überlegenheit begreifen, stellen andere ihn als linke Diktatur an den Pranger oder läuten gar das Ende der Demokratie ein. Doch was genau verbirgt sich hinter der stark emotional aufgeladenen Debatte zu moralisch korrektem oder inkorrektem Verhalten? Wie spiegeln sich unterschiedliche Wahrnehmungen in unserer Gesellschaft wider? Und wie sinnvoll ist es überhaupt, von Cancel Culture zu sprechen? Wir wollen es genauer wissen und haben Literaturwissenschaftler und Kulturjournalisten Johannes Franzen befragt.

Johannes Franzen, Cancel Culture oder Political Correctness – der Mythos hat viele Namen, deshalb fällt es auch so schwer, eine konkrete Definition dafür zu finden. In einem Ihrer X-Einträge (ehemaliges Twitter) beschreiben Sie Cancel Culture als „Selbsterzählung von Menschen mit Macht, die die Funktion hat, sich selbst als machtlos zu begreifen“. Wie genau kann man das verstehen? Und inwiefern hängt Cancel Culture mit Macht zusammen?

Zunächst muss man in aller Deutlichkeit sagen, dass es Cancel Culture gar nicht gibt. Man hat es, wie Osita Nwanevu schon 2019 in einem brillanten Artikel beschrieben hat, mit einem Schwindel („Con“) zu tun. Bei Cancel Culture handelt sich um eine kulturkritische Erzählung, die davon ausgeht, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen des öffentlichen Lebens von einem progressiven Mob vernichtet werden, weil sie gegen ein angeblich herrschendes Regelwerk (Rassismus, Sexismus) verstoßen haben. Diese „Kultur“ tritt in der paranoiden Fantasie ihrer Kritiker:innen oft als äußerst vager digitaler Mob auf. Diese Erzählung hat den Vorteil, dass sich Menschen, die nach allen soziologischen Kriterien zur Elite des Landes gehören (Professoren, Chefredakteure, Politiker) als Opfer und Außenseiter begreifen können – ein Symptom für die peinliche Machtvergessenheit liberaler Gesellschaften.

Können Cancel Culture und Political Correctness gleichgesetzt werden? Wer bedient sich dieser Begriffe?

Es gibt, wie man in Adrian Daubs Buch Cancel Culture Transfer nachlesen kann, eine Tradition solcher Begriffe, die im Wesentlichen die Funktion haben, progressive Anliegen abzuwehren. Es ist natürlich wirkungsvoller zu sagen: Der Kampf gegen Rassismus oder die Gleichberechtigung der Geschlechter geht zu weit, als offen zuzugeben, dass man ein Problem mit diesen Prozessen hat. So kann man in eine Viktimisierungskonkurrenz zu Menschen eintreten, die tatsächlich diskriminiert werden. Die Begriffe lösen sich dabei gegenseitig ab, immer dann, wenn die Gesellschaft dem Schwindel auf die Schliche kommt. Zuletzt wurde Cancel Culture durch den Kampfbegriff „woke“ ersetzt, der aus der Schwarzen Aktivistenkultur kommt und von rechten Aktivisten zu einem Schimpfwort umgedeutet wird. Es ist eigentlich ziemlich transparent, worum es hier geht.

 

© Katharina Stahlofen

Johannes Franzen ist Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Er arbeitet für Medien wie die F.A.Z.tazZeit Online oder den Deutschlandfunk. Er ist Mitgründer, Herausgeber und Redakteur des Online-Feuilletons 54books und betreut die Seite POP Online. Seit April 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Siegen.

Das Phänomen wird auch in der Literaturbranche immer wieder heftig diskutiert. Vor einiger Zeit löste Salman Rushdie eine Debatte über die Bearbeitung von Roald Dahls Kinderbüchern aus. Der britische Verlag Puffin Books ließ dabei diskriminierende Wörter, wie „fett“ oder „hässlich“ streichen und ersetzte sie durch angemessenere Adjektive. Rushdie empörte sich darüber und bezeichnete das Vorgehen als „absurde Zensur“. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie darüber gelesen haben?

Mein erster Gedanke bei solchen Nachrichten ist inzwischen eigentlich immer ein gewisses Grauen vor der Debatte, die das jetzt erzeugen wird. Diese Debatten laufen ja immer nach dem gleichen Muster ab und haben so gut wie keinen intellektuellen Mehrwert. Die neue Zensurdebatte ist dermaßen politisiert, dass ein Denken außerhalb der unmittelbaren Aufregung nicht mehr möglich ist. Dabei lassen sich eigentlich ein paar interessante Fragen stellen. Die Retromanie der Gegenwart – jeder Stoff muss zu einem Remake oder Reboot verwurstet werden – führt natürlich dazu, dass Menschen erst recht mit den Problemen ihrer geliebten ästhetischen Jugenderfahrungen konfrontiert werden. Wenn man Roald Dahl oder James Bond einfach in Ruhe lassen und sich einmal etwas Neues überlegen würde, dann hätte man diese Probleme nicht. Im Endeffekt ist es aber vor allem eine ökonomische Frage. Es ist eine lächerliche Vorstellung, ein Großverlag oder Netflix würden tatsächlich aus politischer Rücksicht irgendwelche Bücher zensieren. Diese Unternehmen haben aber einen gesunden rezeptionstheoretischen Realismus, der davon ausgeht, dass Menschen Bücher einfach nicht kaufen, wenn sie ständig mit der Nase auf politisch ekelerregende Dinge gestoßen werden.

Eine andere Richtung schlägt dagegen eine Debatte aus Amerika ein: In einem Ihrer Artikel von Kultur & Kontroverse berichten Sie von einer Situation an amerikanischen Schulen, an denen Eltern dazu aufrufen, Geschichtslehrende zu verklagen, wenn diese Themen wie Rassismus und Sexismus im Unterricht behandeln. Kann das Canceln eine politische Richtung für sich beanspruchen oder trägt es, abhängig vom Kontext, einfach nur andere Namen?

Ich würde den Begriff wirklich gar nicht verwenden. Canceln hat auch in diesem Fall die Funktion, eine ganze Reihe hochgradig unterschiedlicher politischer Praktiken zusammenzuwürfeln, vor allem um machttheoretische Unterschiede zu nivellieren. So kann dann eine Gruppe von Studierenden, die – wie im Fall der „Avenidas“-Debatte – ein bestimmtes Gedicht nicht mehr an der Fassade ihrer Universität lesen wollte, als genauso schlimm gewertet werden, wie wenn der Gesetzgeber offen die Meinungs- und Redefreiheit einschränkt, wie es in den USA ja schon länger geschieht und sich in Deutschland (Stichwort „Genderverbot“) auch abzeichnet. Das läuft dann alles unter dem vagen semantischen Schirm des Canceln. So können sich dann eben auch die Mitglieder der Elite, mächtige Millionäre wie Dave Chappelle oder Louis C.K. etwa als Opfer von Cancel Culture inszenieren, weil der Begriff einfach nicht mitbedenkt, wer hier mit wem spricht. Klar, es gibt Zensur und ständige Versuche, die Meinung und Kunst anderer Menschen zu verdrängen. Aber das muss mit anderen Begriffen analysiert werden. Ein Ausdruck wie Cancel Culture macht uns in Bezug auf diese Phänomene nicht klüger, sondern dümmer.

Kommen wir nochmals zurück zum oben erwähnten Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Dieser sieht in der Diskussion eine „aufmerksamkeitsökonomische Funktion“, die in der weltweit massiven Nutzung der Sozialen Medien ein Ventil findet. Stimmen Sie dem zu? Und könnte man davon ableiten, dass die Debatte darüber (stellenweise) gezielt von den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft abzulenken versucht?

Ja, das finde ich plausibel. Im Wesentlichen geht es um eine ungeheuer erfolgreiche Form der konservativen Kulturpolitik, die die großen politischen Kämpfe der Gegenwart (ökonomische Ungleichheit, Klimawandel) ständig auf Nebenkriegsschauplätze verschiebt, die für die Lebensrealität der meisten Menschen unerheblich sind, allerdings sehr schnell heftige politische Ressentiments freisetzen. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westerheuser haben in ihrem Buch Triggerpunkte gerade gezeigt, dass die Gesellschaft in vielen Bereichen gar nicht so gespalten ist, dass es aber Bereiche gibt, die unmittelbar zu affektpolitischen Explosionen führen können. Und der ganze Bereich der Cancel Culture gehört dazu. Ob der Ravensburger Verlag zwei Begleitbücher zum neuen Winnetou-Film zurückzieht oder nicht, dürfte für die meisten Menschen komplett egal sein, aber es trifft eben einen Triggerpunkt, der dann von politischen Akteuren ausgenutzt werden kann. Mau, Lux und Westerheuser nennen solche Menschen „Polarisierungsunternehmer“.

Nicht selten hört oder liest man im Zuge dieser Debatten, frei nach Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ Haben wir Menschen verlernt, sachliche und emotionsfreie Diskussionen zu führen?

Die Vorstellung, dass der Diskurs heute besonders verroht oder gespalten sein soll, beruht auf einer seltsamen diskursgeschichtlichen Nostalgie. Man denkt, dass es früher zivilisierter zuging im öffentlichen Leben. Da wurden Debatten noch mit echten Argumenten ausgetragen von intellektuellen Gentlemen! Da gab es noch nicht das Geschrei der digitalen Massen! Das entspricht natürlich keiner historischen Wirklichkeit. Öffentlichkeit war schon immer eine Hölle der kommunikativen Aggression, weil es auch hier um Macht geht und den Kampf um Macht. Wenn die Geschichte eines zeigt, dann, dass die Wahrheit dem Menschen überhaupt nicht zumutbar ist – mir bitte auch nicht. Der ganze Cancel Culture-Komplex beruht auch auf einer naiven liberalen Fantasie, dass die Gesellschaft sich schon wieder beruhigen wird, wenn wir nur alle etwas netter zueinander sind, etwas weniger polarisiert etc. Ich würde mir in dieser Hinsicht mehr politischen Realismus wünschen. Das bedeutet nicht, dass man netter streitet, sondern besser. Statt z.B. der immergleichen händeringenden Artikel über die Gefährdung der Kunstfreiheit, könnte man ja wirklich mal zu den interessanten und schweren Fragen vordringen, die durch diese Debatten aufgeworfen werden.