Wir haben uns bereits an den Umstand gewöhnt, dass Haustiere infolge des Krieges heimatlos werden können. Jetzt müssen wir uns aber zusätzlich mit dem Gedanken abfinden, dass Zehntausende Bienenvölker ihre Heimat im Donbass und in der Südukraine verloren haben.
Wenn ein Bienenstock durch Geschützfeuer beschädigt wird, verwildern die Bienen in der Regel und kehren in die Natur zurück. Sie schwärmen dann von einem Ort zum anderen, lassen sich an Wänden zerfallener Gebäude oder in Baumkronen nieder, bis sie eine dauerhaftere Bleibe gefunden haben, in einer Baumhöhle oder auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause versuchen die Bienen auch, dem Lärm und der Zerstörung des Krieges zu entkommen. Sie fliehen nicht nur, weil Pollen, der nach Schießpulver riecht, nicht besonders gut schmeckt, sondern vor allem auch deswegen, weil Bienen Stille brauchen. Stille, um einander summen hören zu können.
An der Front bei Bachmut ließ sich zu Beginn des Sommers ein Bienenvolk in der Nähe der ukrainischen Militärstützpunkte nieder, weil es seinen vom Krieg beschädigten Bienenstock aufgeben musste. Unter den Soldaten gab es auch einen Imker, Oleksandr Afanassjew, der seine eigenen Bienenstöcke zu Hause in der Oblast Tscherkassy in die Obhut einiger freiwilliger Bienenzüchter gegeben hatte.
Als er den Schwarm fand, nahm Oleksandr eine leere Munitionskiste aus Holz, bohrte ein paar Löcher hinein und ließ das Bienenvolk darin unterkommen. Die Bienen gaben sich mit den beengten Bedingungen ihres neuen Heims zufrieden und, nachdem sie sich eingerichtet hatten, machten sie sich in ihrer neuen Umgebung auf zu einem Erkundungsflug auf der Suche nach Blüten.
Als der Sommer vorüber war, wurde Oleksandr einer neuen Einsatztruppe in einem anderen Frontsektor zugeteilt. Seine Waffenbrüder baten Oleksandr, den Bienenschwarm doch bitte mitzunehmen: Sie verstanden nichts von der Bienenzucht und hatten Angst davor, die Verantwortung für das Volk zu übernehmen. Zudem dürfen Soldaten keine Haustiere halten, schon gar keine Bienenschwärme. Wie es der Zufall aber so wollte, kam Ihor Ryaposchenko, ein freiwilliger Helfer aus der Oblast Tscherkassy, der alte Kleintransporter und Jeeps an die Front bringt, gerade zur rechten Zeit bei Oleksandrs Einheit vorbei und bot an, die Bienen mit zu sich nach Hause zu nehmen, obwohl auch er keinerlei Erfahrung mit der Bienenzucht hatte.
So reisten die Bienen über 700 Kilometer in der Munitionskiste, die zu ihrem neuen Bienenstock geworden war. Sie haben die Reise überlebt und machen es sich nun in Ihors Garten bequem. Um sie nicht weiter zu stören, beschloss Ihor, sie nicht in einen richtigen Bienenstock umzusiedeln, sondern sie in ihrem provisorischen Heim zu lassen.
Glücklicherweise gibt es in seinem Dorf mehrere Imker, die Ihor bei der Pflege der Bienen mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Bald wird er sich eine Honigschleuder von seinen Nachbarn leihen müssen, um den Honig zu gewinnen und einen Teil davon an die Front zu schicken, wo die Bienen ihr erstes Zuhause beim Militär gefunden hatten.
Die Stellung der ukrainischen Militärposten hat sich in letzter Zeit nicht geändert, obwohl sich russische Truppen von Osten her Bachmut nähern und die Stadt jede Nacht mit Artilleriefeuer und mehreren Raketenwerfern beschießen. Vor dem Krieg hatte Bachmut mehr als 70.000 Einwohner; jetzt sind es noch etwa 15.000. Das ukrainische Militär hat wenig Vertrauen in die Bewohner, die trotz des Angebots der Evakuierung in der Stadt oder in den umliegenden Dörfern bleiben wollten.
Viele dieser „Zurückgebliebenen“ beharren darauf: „Wir warten erst einmal ab. Mal sehen, was als Nächstes passiert!“ Ukrainische Soldaten nennen solche Menschen „Abwartende“, weil sie scheinbar darauf warten, dass Russland das Gebiet erobert. Einige dieser „Abwartenden“ scheinen den ukrainischen Soldaten gegenüber positiv eingestellt zu sein und schenken ihnen manchmal Gemüse oder Obst. Dennoch besteht Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Schließlich kann es sein, dass sie die Soldaten nur deshalb aufsuchen, um ausfindig zu machen, wo ihre militärische Ausrüstung untergebracht ist; Informationen also, die sie an die russische Artillerie weitergeben können. Einige derjenigen, die in den besetzten Städten Melitopol und Mariupol geblieben waren, kollaborierten schlussendlich mit den russischen Besatzungsbehörden, darunter auch ehemalige Polizeibeamte.
Das Thema Verrat ist in der Ukraine kein beliebtes und wird definitiv nur ungern angesprochen. Doch in letzter Zeit hört man zunehmend Meldungen über Ukrainer in den verschiedenen Oblasten des Landes, sogar in Kyjiw, die der russischen Armee und den Geheimdiensten in die Hände spielen. Beamte des Ministerkabinetts und der Nationalen Wirtschaftskammer sowie Parteichefs des pro-russischen Oppositionsblocks, Staatsanwälte und Richter sind bereits verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt worden. Aber diese Kreml-Spitzel sind gegenüber den Kollaborateuren in den besetzten Gebieten deutlich in der Unterzahl.
Die Ukrainer bekamen einen anfänglichen Schock, als bekannt wurde, wie viele Richter, Staatsanwälte, SBU und Polizeibeamte nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 in den Dienst der Russischen Föderation übergelaufen waren. Es handelte sich um einen Massenverrat, aber wie sich herausstellen sollte, war es auch das Ergebnis der langwierigen und akribischen Arbeit der russischen Geheimdienste auf der Krim.
Zudem war dieser Verrat auch dem Scheitern der ukrainischen Geheimdienste geschuldet, denn selbst jetzt ist Verrat im Donbass nicht so landläufig wie auf der Krim. Die meisten der verbliebenen Bewohner wollen zwar nicht mit den Besatzern kooperieren, doch Russland hat viele Waffen in seinem Arsenal, um Ukrainer zu zwingen, die Besatzer zumindest passiv hinzunehmen: Um humanitäre Hilfe zu bekommen, die Wasserversorgung wieder anschließen zu lassen oder jegliche Art von Zugriff auf die eigene Rente zu erhalten, muss man sich bei der Besatzungsverwaltung melden.
Wie eine Narbe prägt das Thema des Verrats die Dörfer und Städte rund um Kyjiw, die zu Kriegsbeginn unter russische Besatzung gefallen waren. In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es Moskau-Treue, die für die Invasoren Listen pro-ukrainischer Aktivisten, der Anschriften der Teilnehmer an den Majdan-Protesten und der Veteranen der Anti-Terroroperation im Donbass erstellten.
In Andrijiwka, einem Dorf unweit von Borodjanka, nordwestlich von Kyjiw, stellte sich ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats als eben solch ein Verräter heraus. Er bot nicht nur mehreren Invasoren in seinem Haus Unterschlupf, sondern zeigte ihnen auch prompt, in welchen Häusern im Dorf sich ein Einbruch lohnte und welche Bewohner entführt und gegen Lösegeldforderungen festgehalten werden könnten.
Als das Dorf dann befreit wurde, blieb dem Mönch keine Zeit zur Flucht. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Eine weitere Familie hingegen – Migranten aus Donezk –, die sich nach 2014 in Andrijiwka niedergelassen und auch mit den russischen Besatzern kollaboriert hatte, verließ das Dorf zusammen mit der russischen Armee, als diese nach Belarus abzog. Mehr als dreißig Einwohner Andrijiwkas gelten weiterhin als vermisst. Mindestens siebzehn Menschen wurden von russischen Soldaten erschossen und viele Häuser liegen weiterhin in Trümmern.
Mykola Horobets, ein bekannter Germanist und pensionierter Akademiker, der den Großteil seines Lebens an der Staatlichen Wissenschaftlich-Technischen Bibliothek der Ukraine in Kyjiw angestellt war, kehrte in sein Sommerhaus in Andrijiwka zurück, sobald die russischen Truppen aus dem Dorf vertrieben worden waren. Vor dem Krieg hatte er noch jeden Sommer dort verbracht, aber letzte Woche war er erst das fünfte Mal seit der Befreiung des Dorfes in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
Es ist ihm gelungen, Kartoffeln zu stecken, aber nur in dem Teil des Gartens, der dem Haus am nächsten liegt. Er hat Angst davor, den Boden zu bestellen, der weiter weg liegt: Was, wenn dort Minen vergraben sind? Niemand hat den Garten auf Sprengkörper abgesucht. Trotz der geringeren Fläche seines Kartoffelackers ist Mykola einigermaßen mit der Ernte zufrieden und konnte eine ordentliche Menge Kartoffeln im Vorratskeller einlagern. Jetzt legt er sich Feuerholz für den Winter an. Er denkt oft an den verräterischen Mönch und die Kollaborateure, die aus Donezk umgesiedelt hatten.
Während der Besatzung bewohnten russische Soldaten Mykolas Sommerhaus. Sie waren sehr überrascht, so viele deutschsprachige Bücher in den Regalen vorzufinden und erkundigten sich bei den Nachbarn über den Hausbesitzer: Lebt hier etwa ein Deutscher? Sie ließen ein kaputtes Sofa, mehrere Ausgaben der Zeitung Krasnaja Swesda („Roter Stern“) des russischen Verteidigungsministeriums und viele persönliche Gegenstände zurück, darunter eine Mütze, Pulver zum Anrühren eines Energy Drinks und einen Campingtopf zum Kochen.
Als Mykola nach der Befreiung des Dorfes zum ersten Mal wieder zurückkehrte, betrat die ukrainische Polizei das Haus noch vor ihm. Die Polizisten schauten sich um und fragten Mykola, was die russischen Soldaten zurückgelassen hatten. Im Schuppen fand Mykola einen großen Behälter mit Maschinenöl, wahrscheinlich für den Motor eines Kettenfahrzeugs. Die Polizei war nicht an dem Öl interessiert, aber einem von ihnen gefiel der Campingtopf des russischen Soldaten und so beschlagnahmte er ihn für sich selbst.
Das Motoröl steht noch immer im Schuppen. Vielleicht hat das örtliche Geschichtsmuseum in Makariw, der nächstgelegenen Stadt, ja daran Interesse. Der Museumsleiter arbeitet an einer Ausstellung über die Besetzung des Rajons Makariw und hat sämtliche Bewohner gebeten, dem Museum „Artefakte“ des Angriffs Russlands zu spenden.
„Ich habe Angst und möchte nicht so oft nach Andrijiwka fahren“, gab Mykola mir gegenüber zu. „Abends betrinken sich viele Leute hier und ballern dann im Dunkeln mit Gewehren herum. Die Russen haben wahrscheinlich auch einige Waffen zurückgelassen!“
Die Polizei hat scheinbar keine Eile, die Waffen zu beschlagnahmen, die die Dorfbewohner als Kriegsbeute eingesackt haben. Und niemand will sich über Alkoholiker mokieren, die die Besatzung durchmachen mussten. Manche sind der Ansicht, dass sie wegen des erlittenen psychologischen Traumas zur Flasche greifen, aber das macht die Situation nicht weniger beängstigend.
Tatsächlich sind alle Bewohner Andrijiwkas mittlerweile zutiefst traumatisiert, auch diejenigen, die die Besatzung anderswo ausgestanden haben, so wie Mykola. Er verbrachte sie in Kyjiw mit seiner erwachsenen Tochter, die eine cerebrale Bewegungsstörung hat. Wegen ihr hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, aus Kyjiw fortzugehen.
Auch sein Dorfnachbar Andrij, mit dem er schon seit seiner Kindheit befreundet ist, ist Alkoholiker. Manchmal stiehlt Andrij Gemüse aus Mykolas Garten und verkauft es, um sich dafür eine Flasche zu leisten. Seltsamerweise ist Andrij auch Bienenzüchter, oder vielmehr ehemaliger Imker, der eben noch Bienen hat. Eines seiner Völker „entwischte“ ihm kürzlich und ließ sich auf einem Kirschbaum in Mykolas Garten nieder. Andrij lehnte eine Leiter an den Baum und kletterte hinauf, wobei er mehrere Äste abbrach, es aber schaffte, den Schwarm wieder einzufangen.
Ich habe das schleichende Gefühl, dass die Bienen beim nächsten Mal viel weiter weg fliegen werden – an einen Ort, wo ihr betrunkener Besitzer sie nicht finden kann. Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen, tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.