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Zieh Leine, literarisches Patriarchat: Neue Stimmen und Perspektiven in die Bücherregale!

Ein Beitrag von Lisa-Viktoria Niederberger

In meinem Bücherregal, in meiner Social Media Bubble, herrscht eine Utopie der Vielstimmigkeit. Da ist die Welt bunt. Da habe ich mir ein Umfeld geschaffen aus queeren Buchhändler*innen, Feminist*innen, (Post-) Migrant*innen und trans Frauen und trans Männern. Viele von ihnen schreiben Bücher, noch mehr empfehlen sie. So haben im letzten Jahr neue Ideen und Träume, aber auch ein erweitertes Problembewusstsein für mangelnde Intersektionalität und cis-normative Hegemonien Einzug in meine Weltwahrnehmung gefunden.

Wie Lehrpläne denen die Lust am Lesen versauen, die keine cis Männer sind

Das war nicht immer so. Hätte man mich vor ein paar Jahren gefragt, die Antwort wäre klar gewesen: dass ich mehr Bücher von Männern lese, dass ich lieber Bücher von Männern lese. Was wie Antifeminismus klingt, war Unkenntnis, mangelnde Reflexion, war Gewohnheit. Ich gebe dem literarischen Kanon auf der einen Seite, und dem Literaturbetrieb auf der anderen Seite die Schuld. Meine Lieblingskinderbücher sind von Frauen geschrieben worden und die darin vorkommenden Held*innen waren auch nicht immer Buben. „Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden. Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich“, sagt Pippi Langstrumpf in „Pippi geht von Bord“, und zumindest was die schulische Pflichtlektüre betrifft, hat sie Recht. Da sind die besten Tage tatsächlich vorbei, denn: Zehn ist schon fast ein Teenie, und als Teenager in Österreich versucht der Lehrplan besonders denen, die keine cis Männer sind, nicht nur die Lust aufs Lesen, sondern auch aufs Leben zu versauen. Statt Pippi und der feuerroten Friederike werden uns nun „Heldinnen“ wie Goethes Gretchen und Lessings Emilia Galotti als Rollenmodelle angeboten. Am Schluss der reclamgelben Zwangslektüre ist die Frau meist unfreiwillig schwanger, im Irrenhaus, tot oder alles davon. Bürgerliches Trauerspiel indeed, aber leider noch immer das, was von vielen Menschen als Hochkultur bzw. Hochliteratur bezeichnet wird.
Wenn man nicht Germanistik studiert, endet diese Qual mit der Matura. Und selbst da tut sich was. Während ich mich 2006 noch mit einer Interpretation der Bergschluchten-Szene in Faust II abärgern durfte, konnten sich die Schüler*innen bei der Zentralmatura 2020 immerhin schon mit der Kolumne „Dieser Text ist reine Zeitverschwendung“ von Ronja von Rönne auseinandersetzen. Das hat auch zu einem wahnsinnig witzigen Video auf Instagram geführt, in dem die Autorin selbst die Interpretation ihres Textes übernimmt: „Die zentrale Aussage war, dass ich kein Kolumnenthema, aber eine Deadline hatte und mir dachte, es gibt immer Laberthemen, über die man schreiben kann. Zeit ist so eines.“, sagt sie da. Das ist etwas, das ich an Autorinnen, besonders an Autorinnen meiner Generation, unglaublich mag. Viele von ihnen schreiben grandiose Bücher, sind stilistisch, fachlich brillant, gleichzeitig witzig, haben einen trockenen, abgebrühten Humor. Genau den braucht man auch, um in der Literaturwelt zu überleben: Sie ist ein hartes Pflaster, ein sexistisches noch dazu. Und trotzdem gibt es diese grandiosen Frauen und ihre Texte.

Der Begriff „Frauenliteratur“ und was unsere verinnerlichte Misogynie damit zu tun hat

Hätte ich das früher gewusst. Ich hatte lange (da habe ich schon selbst geschrieben und war mit Autorinnen befreundet) eine schlechte Meinung von Büchern aus Frauenhand. Früher, als Thalia noch Landesverlag hieß, gab es dort eine Abteilung für „Frauenliteratur“. Semierotische Liebesromane, fast ausschließlich und bevor ich wusste, was „internalisierte Misogynie“ ist, führte ich gedanklich entweder das als Grund an – oder den Neid, den ich lange auf alle Frauen, die es (vor mir) geschafft hatten, erfolgreich Bücher zu veröffentlichen, warum ich doch immer wieder zu den Autoren griff.
Es ist nie zu spät, um sich zu ändern. Was wie eine Plattitüde oder ein Kalenderspruch klingt: Zumindest in Bezug auf mein Bücherregal stimmt es. Immer mehr Frauen sind da im Laufe der Jahre eingezogen, schnell gefolgt von LGBITQ+-Autor*innen und solchen, die außerhalb eurozentristischer Strukturen leben und schreiben.
Auch meine virtuelle Welt ist ein von mir liebevoll kuratiertes Matriarchat. Zwischen feministischen und gesellschaftskritischen Tweets und Statements auf meiner Timeline erklärt beispielsweise Mai Thi Nguyen-Kim leicht verständlich, was ein Brain Machine Interface ist, und Barbara Blaha, was es denn mit dem Schuldenmachen auf sich hat. Ich sehe massiv engagierte Frauen: für die Aufnahme von Menschen aus den griechischen Flüchtlingslagern, für eine gendergerechte Sprache. Dafür, dass der Bayerische Rundfunk in seinen Beiträgen endlich die Unterscheidung zwischen Vulva und Vagina hinkriegt, gegen die UG-Novelle. Die daran erinnern, dass black lives still matter.

Lisa-Viktoria Niederberger hat Kunstgeschichte und Germanistik studiert. 2014 bis 2020 war sie für editorische und veranstalterische Tätigkeiten bei der Salzburger Literaturzeitschrift erostepost zuständig. 2018 erschien ihr literarisches Debüt „Misteln“ (edition.mosaik). Sie veröffentlicht Kurzprosa, Rezensionen und journalistische Beiträge in diversen Zeitschriften und Anthologien. Foto: privat

Die Bubble dehnt sich aus – aber am Ziel sind wir noch längst nicht

Und obwohl zwar ich weitestgehend bestimme, was da reinkommt in meine schöne Social Media Bubble: Sie bildet ebenso die Außenwelt ab. Vielleicht noch nicht die Mehrheitsgesellschaft, aber ihre Diversifizierungstendenzen. Und wer die noch leugnet, tut das, weil er*sie die Augen verschließen möchte vor dem, was ganz eindeutig kommt: eine Zukunft der Vielfalt, der Vielstimmigkeit. Und je mehr wir bereit sind sie mitzugestalten, desto schneller kommt sie.
Manchmal aber fühlt diese Zukunft sich unerreichbar weit entfernt an: Am Weltfrauentag 2021 hatte ich einen wunderbaren Vormittag. Bei der feministischen Kundgebung am Linzer Hauptplatz tanzten und klatschten Frauen aller Ethnien und Altersgruppen miteinander, schrien, rissen die Fäuste in die Höhe, nickten zustimmend bei Redebeiträgen. Die Sonne schien, und obwohl wir von furchtbaren Dingen hörten, von Gewalt an Frauen und weiblicher Altersarmut, lag neben Frühling auch Liebe und Einigkeit in der Luft. Wir waren in einem Safe Space.

Später am selben Tag: ein Zoom Call, die erste Lehrveranstaltung des Semesters. Die Professorin trägt Referatsthemen vor und ein Kommilitone unterbricht sie mitten im Satz, meldet sich für das noch nicht vollständig vorgestellte Thema. Eine Kollegin äußert ihr Bedauern, denn das Thema hätte sie auch gerne bearbeitet. „Da war ich wohl nicht schnell genug“, fügt sie hinzu. „Nein!“, sage ich. „Deine Schnelligkeit ist nicht das Problem, das Problem ist, dass er sich vordrängt, nicht mal ausreden lässt, was echt nicht die feine englische Art ist meiner Meinung nach, und nicht das, wie ich mir ein akademisches Miteinander vorstelle!“
Und dann geht es los, die anderen Männer im Kurs kommen ihm zu Hilfe: wie „scharf“ meine Kritik gewesen wäre und „vorschnell“, dass das doch keine Absicht war, weil „Zoom oft zeitverzögert“ sei. Mich supportet hingegen keine der anwesenden Frauen, obwohl wir eindeutig in der Überzahl sind. Die Lehrende antwortet auch ausweichend. Die Atmosphäre im Kurs ist seltsam und ich fühle mich, als wäre ich das Problem. Dabei bin doch ich diejenige, die respektloses Verhalten aufgezeigt hat. Da drängelt sich ein Mann vor, da ist einer laut, wenn man eigentlich zuhören sollte, verschafft sich so einen Vorteil, und ich bin die Böse, weil ich das ankreide. Und nein, es geht hier nicht nur um ein Referat. Hier wird im Kleinen reproduziert, worunter Frauen (aber auch queere Menschen und/oder BiPoC) tagtäglich weltweit leiden: ein cis-männlicher Hegemonialanspruch, eine plumpe, rücksichtslose Selbstverständlichkeit Frauen gegenüber. Und die damit verbundene Dekonstruktion eines akademischen Umfelds, in dem alle gleichberechtigt sein sollten. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben bzw. an einer Universität studieren, wo Frauen lernen: Wenn du dich gegen die Männer durchsetzen willst, musst du eben schneller schreien als sie, lauter sein.
Es sind genau diese meine „neuen“ Bücher, die mir aufgezeigt haben, dass es in solchen Situationen wichtig ist, den Mund aufzumachen. Auch wenn’s weh tut, auch wenn es sich manchmal anfühlt wie ein Schuss ins eigene Knie. Trotzdem: niemand – zumindest ich nicht – will die cis Männer jetzt vom Bücherschreiben abhalten oder ihnen dauerhaft den Mund verbieten, aber es wäre an der Zeit, dass Menschen lernen, respektvoll zu sprechen. Es ist nichts schlecht daran, ein cis Mann zu sein, einen zu lieben, einen zu erziehen. Aber: cis-Männlichkeit zur Norm zu machen, das ist schlecht, schlecht gewesen über die letzten Jahrhunderte, Jahrtausende, die wir Kulturgeschichte bzw. kulturelle Entwicklung nennen. Wir „verdanken“ ihr das Patriarchat, Misogynie und den Umstand, dass Frauen immer noch zu oft ihre Körper erklären müssen, ihre Gedanken, ihre Wünsche. Ihre Grundrechte auf ein sicheres Leben, ohne Bedrohungen, Belästigungen, die für viele eben noch nicht Lebensrealität sind.
Bis es so weit ist, ist es an uns selbst, den Mund aufzumachen, Unrecht anzuprangern. Und das ist ungewohnt, oft schwer und eine Überwindung. Die richtigen Bücher bzw. richtigen Vorbilder können da Gold wert sein. Das Private ist politisch. Dein Bücherregal auch.

Die Themen Selbstbestimmung, Empowerment und Feminismus treiben dich um? Dann könnte dich vielleicht auch Beatrice Frasls Beitrag über Frauen in Machtpositionen oder die Interviews mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger zum Thema Schwangerschaftsabbruch interessieren.

„Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann.“ – Interview mit Gerichtsreporter Michael Möseneder

Michael Möseneder kennt Wiens Gerichtssäle in- und auswendig. Nicht, weil er selbst so ein schlimmer Finger ist. Es liegt einfach ganz in der Natur seines Berufs: Michael Möseneder ist Gerichtsreporter. Seit Jahren wohnt der Journalist den spannendsten, kuriosesten und erschütterndsten Verhandlungen bei. Manche Gerichtsprozesse sind so absurd wie das Leben: Da ist zum Beispiel der Fall von der untalentierten Betrüger-Omi, vom Mann, der eine Straßenbahn stahl, oder die trennungsbedingte Meerschweinchen-Vendetta. Ein Best-of versammelt Michael Möseneder in seinem Buch „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“. Wenn man einen guten Einblick in die Wiener Justizwelt bekommen möchte, fragt man also am besten ihn. Nina Gruber hat mit Michael Möseneder über den Alltag im Prozesssaal, Gerichtskibitze und Ermahnungen von der Richterschaft gesprochen.

Einen Gerichtssaal zu betreten, das ist den meisten von uns vermutlich ein wenig unheimlich. Dennoch: Was hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist gleichzeitig doppelt interessant. Kann man als „Zuschauer*in“ einfach so an einer Verhandlung teilnehmen?

Ja, fast alle Gerichtsverhandlungen in Österreich sind öffentlich. Das bedeutet, man kann den Saal theoretisch jederzeit betreten und verlassen. Die so genannten Gerichtskibitze – vorwiegend pensionierte Männer – verbringen so ihre Freizeit. Nur manchmal, beispielsweise wenn Opfer von Sexualdelikten aussagen, kann die Öffentlichkeit zeitweise ausgeschlossen werden

Wie findet man spannende oder besonders kuriose Prozesse?

Die jeweiligen Verhandlungen, die an einem bestimmten Tag stattfinden, kann man bei Gericht erfragen, manchmal liegt auch eine Liste auf. Bei besonders spektakulären, so genannten clamorosen Prozessen gibt es bereits im Vorfeld entsprechende Medienberichte. Als Journalist oder Journalistin hat man natürlich Quellen, die Tipps geben. Und manchmal kann es auch Zufall sein, einen besonders aberwitzigen Prozess zu erleben.

Du warst im Rahmen deiner Funktion als „Blutchroniker“ für die Tageszeitung DER STANDARD schon bei zahlreichen Verhandlungen. Erinnerst du dich noch an deine erste?

Nein, leider, in meinem Alter bin ich froh, wenn ich mich noch an die Prozesse der vergangenen Woche erinnern kann. Wenn man täglich ein bis zwei Verfahren miterlebt, verschwimmt die zeitliche Erinnerung etwas. Die inhaltliche Erinnerung ist aber größtenteils glücklicherweise erhalten geblieben. Manche Geschichten bleiben aber einfach mehr im Gedächtnis, die sind mir bei der Auswahl für das Buch sofort wieder eingefallen.

In Gerichtssälen wird man naturgemäß nicht immer mit den positiven Seiten der Menschen konfrontiert. Hat dein Beruf deine Sicht auf die Menschheit mit den Jahren verändert?

Eigentlich nicht. Dass Menschen aus seltsamen Gründen noch seltsamere Dinge machen, ist mir bereits länger bekannt. Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann. Allerdings lernt man beispielsweise auch, wie unterschiedlich Menschen reagieren, wenn ihnen etwas Schlimmes passiert.

Nicht alle Fälle sind zum Glück bitterernst, manche sogar besonders kurios und die Verhandlung voller absurder Situationen. Gelingt es dir immer, in deiner möglichst neutralen, beobachtenden Rolle zu bleiben?

Ich bemühe mich in den meisten Fällen wirklich. Aber manchmal entkommt mir ein Lacher oder ich reiße ungläubig die Augen auf, da ich fast nicht glauben kann, was ich eben gehört habe. Von der Richterschaft ermahnt wurde ich bisher aber nur in zwei Fällen – völlig zu Recht, da Beifalls- und Missfallskundgebungen in Verhandlungssälen verboten sind.

 

 

Du siehst: Zum Glück musst du nicht erst ein Verbrechen begehen, um einen Einblick in die Gerichtswelt zu bekommen. Die kann unterhaltsam, tragisch, schauerlich, absurd sein. Ob du zum Verurteilen, Fremdschämen oder Mitfühlen tendierst, bestimmte Geschichten einfach überblättern musst oder alles fassungslos in dich aufnimmst, bei Michael Möseneders „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“ wirst du schmunzeln, grübeln, empört den Kopf schütteln und dich verstört fragen: „Ist das wirklich passiert?!“

Bungeejumping kann uns mal! So kannst du dein Leben wirklich bereichern.

Bucket Lists sind derzeit überall. Das Wort kommt vom englischen „kick the bucket“, also von „den Löffel abgeben“. Es ist eine Liste der Dinge, die man erleben möchte, bevor man diesen sprichwörtlichen Löffel eben irgendwann abgibt. Und von denen man instataugliche Selfies machen kann. Im Internet finden sich viele Vorschläge für Punkte, die man auf einer richtig coolen Löffelliste stehen haben sollte – Bungee Jumping, Selfie mit Känguru in Australien, Sex am Strand, Haus im Grünen, du weißt schon.
Die Paliativpflegerin Bronnie Ware begleitet täglich Sterbende und hat ein Buch darüber geschrieben, was Menschen am Ende ihres Lebens bewegt: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Und siehe da: Es sind vielmehr die scheinbar kleinen, auf den ersten Blick vielleicht wenig spektakulären Dinge, mit denen sie ihr Leben gerne erfüllt hätten: weniger über die Erwartungen der anderen nachdenken und einen eigenen Weg gehen, weniger arbeiten und mehr genießen, ehrlicher über Gefühle sprechen, Freundschaften pflegen und sich selbst Glücklichsein erlauben.

Wir haben einige Punkte gesammelt, die du auf deiner Bucket List abhaken solltest – und die dein Leben garantiert bereichern werden, auch wenn du den großen Löffel noch lange behalten willst.

Setz sie endlich um, diese eine verrückte Idee!

Immer diese Grußkarten, die man eigentlich nie mehr lesen wird, aber trotzdem in der Box unterm Bett aufbewahrt, weil sich der Absender richtig viel Mühe gegeben hat. Wie cool wäre es, wenn man wüsste, was man damit anfangen soll? Ja, das hat sich Michael Stausholm auch gedacht. Und dann Stifte, Gruß- und Businesskarten entwickelt, die man einpflanzen und als Dünger nutzen kann. Und schwups, sind aus den lieben Grüßen grüne Kräuter geworden. Wenn du eine Lieblingsidee seit Jahren mit dir herumträgst, dann lass sie jetzt raus. Kleiderkreisel, Fahrräder, Sandwiches: Alles begann irgendwann mit einem hellen Kopf, der sich getraut hat, es anzugehen.

Engagier dich!

Du kennst das bestimmt: Du scrollst durch deine Timelines, ärgerst dich über diesen und jenen gesellschaftlichen Missstand, über Ungerechtigkeit, über Politik. Du denkst dir, dass man da wirklich dringend was tun sollte, und dann verkriechst du dich im Lesesessel oder schaltest Netflix ein. Aber du hast ganz bestimmt auch schon gespürt, wie befriedigend es ist, sich selbst in den Hintern zu treten und es einfach zu tun: Geh demonstrieren, sag deine Meinung öffentlich und laut, melde dich im Tierheim als Gassigeher*in oder tritt endlich diesem Verein bei. Du wirst Leute kennenlernen, die dich inspirieren, du wirst erleben, dass du zwar nicht die Welt, aber viele kleine Welten ganz schön umkrempeln kannst, und du wirst das befriedigende Gefühl haben, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Mach’s dir selbst!

Du hast den schwarzen Daumen, deine Basilikumpflanze lässt die Blätter schon hängen, wenn du sie nur anschaust, und statt Nägel in Wände haust du mit dem Hammer Löcher? Zugegeben, nicht jede*r ist das ganz große Bastel- oder Gartentalent. Aaaaber es kann trotzdem richtig Spaß machen, etwas selbst zu pflanzen, basteln, bauen, stricken oder häkeln. Und dieses Shirt, das du dir mit selbst ausgesuchtem Stoff nach deinem eigenen Muster genäht hast, wirst du völlig anders tragen als ein gekauftes. Und noch dazu wirst du die Arbeit, die auch im gekauften steckt, viel mehr schätzen können.

Halt, Stopp! Es bleibt alles so, wie es ist?

Nein, bitte nicht. Dazulernen ist schließlich etwas Schönes. Nicht jede Entscheidung, die du vor Jahren für dich getroffen hast, muss heute noch zu dir passen. Und dabei geht es nicht nur um die „großen“ Lebensbereiche wie etwa deinen Arbeitsplatz und ob der dich noch glücklich macht, sondern auch um feine Nuancen in deiner Haltung. Denn: Ist es nicht das Allerschönste, mit einem guten Buch eine neue Lebenswelt kennenzulernen – und damit auch die eigene Meinung zu einem Thema zu verändern? Und wie erfreulich ist es, zurückzublicken und zu erkennen, dass dein früheres Ich einfach noch ein bisschen weniger gewusst hat als dein heutiges, und das Ich von morgen zu highfiven, weil es die Dinge noch ein bisschen differenzierter sehen wird …

Sag’s ihnen!

Dass du sie liebhast, dass sie dich beeindrucken, dass du dankbar bist, sie zu haben, oder auch einfach nur, dass das neue (selbstgenähte?!) T-Shirt so richtig gut aussieht. Den Menschen in deinem Leben nämlich. Nichts versüßt den Tag mehr als ein ehrlich gemeintes Kompliment oder ein Lob, und manchmal sind wir damit einfach zu sparsam. Auf die Gefahr hin, ein bisschen kitschig zu klingen: Wir wissen nie, wie lange wir uns noch haben. Also sag den Menschen, die dir wichtig sind, dass das so ist – und freu dich an ihrem Lächeln.

Hör auf Pippi Langstrumpf!

Ganz klar: Pippi hat eigentlich immer recht, auch beim Thema Zeitmanagement: „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen“, hat sie gesagt. Und recht hat sie! In der Hängematte liegen und die Wolken beobachten, barfuß durchs nasse Gras spazieren, den Hund kraulen, an der Schulter eines lieben Menschen liegen und gemeinsam schweigen, bis man eindöst: Nimm sie dir, diese Momente. Du hast sie dir verdient …

 

Ein Roman, der dich intensiv spüren lässt, dass es die kleinen, scheinbar alltäglichen Dinge sind, die wirklich zählen, ist „Immer noch wach“ von Fabian Neidhardt. Wie dich dein*e Freund*in weckt, wenn du schlecht träumst. Wie deine Lieblingsmenschen über deine Witze lachen, auch wenn sie sonst niemand versteht. Und wie sie dich im Arm halten, wenn die Tränen kommen.
In leiser, eindringlicher Sprache erzählt Fabian Neidhardt eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und der Kraft des Zusammenhalts – tieftraurig, herzerwärmend schön und vor allem immer: Mut machend.

Natalka Sniadanko über unabhängige Frauen und Aristokraten – und die Spuren einer ukrainisch-österreichischen Geschichte.

In ihrem frisch aus dem Ukrainischen übersetzten Roman „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ schildert Natalka Sniadanko den Kampf, sich im politischen und gesellschaftlichen Rahmen selbst zu verwirklichen und unabhängig zu werden: als Mensch – aber auch als Staat. Im Interview mit Nina Gruber erzählt sie von den Herausforderungen und patriarchalen Schranken, vor denen ukrainische Frauen stehen, die ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. Von einer ukrainisch-österreichischen Geschichte, die nach vielen Jahren erst langsam wiederentdeckt wird. Und von der wunderbaren Freiheit in der Literatur, ein Gedankenexperiment zum Roman heranwachsen zu lassen.

Erzherzog Wilhelm von Habsburg-Lothringen – bei diesem Namen klingelt bei den meisten von uns vermutlich noch nichts. Dabei fügt sich der aristokratische Outlaw neben Kaiserin Sisi und Kronprinz Rudolf ausgezeichnet in die Reihe seiner erlesen exzentrischen Verwandtschaft. Welche Rolle spielt er für die ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Es gibt nicht viele Habsburger außer Kaiser Franz Joseph, die in der Ukraine bekannt sind. Es ist eine lang vergessene Geschichte. Nicht mal die schöne Sisi wird man heute in der Ukraine kennen. Erzherzog Wilhelm aber ist eine Ausnahme. Er hat sogar einen ukrainischen Namen: Wasyl Wyschywanyj, was so viel wie „der Bestickte“ heißt und sich auf ein traditionell besticktes ukrainisches Hemd bezieht, einer Art von Tracht, die immer noch sehr populär ist.
Natürlich war Wilhelms Geschichte zur sowjetischen Zeit aus den Geschichtsbüchern völlig ausradiert. Erst in den 1990ern, als die Ukraine nach dem Zerfall der UdSSR unabhängig wurde, erfuhr man vom ihn und von den Plänen ukrainischer Politiker nach dem ersten Weltkrieg, ihn zum König der Ukraine zu machen. Die Ukraine hatte damals gute Chancen, einen unabhängigen Staat zu bilden. Und für eine kurze Zeit kam es sogar dazu. Dann aber wurde das Land – wie schon so oft in den Jahrhunderten davor – zwischen Russland und Polen geteilt. Eine romantische Vision der Westukrainischen Republik unter Führung der Habsburger klang auch in den 1990ern für viele recht attraktiv. Es gab sogar Gerüchte, dass Wasyl Wyschywanyj nicht gestorben war, sondern immer noch lebte. Man wollte ihn in Sibirien gesehen haben, unter anderen sowjetischen Dissidenten, und dann wieder zur Zeit der Unabhängigkeit in Lwiw (Lemberg).
Diese Gerüchte habe ich zum ersten Mal in meiner ersten Zeit als Studentin der ukrainischen Philologie gehört, als ich zu den ersten Student*innen gehörte, die ukrainische Geschichte nicht mehr nach dem sowjetischen Lehrplan gelernt hatten, sondern ganz anders. Danach gab es immer wieder Bücher über Wilhelm. Eines der besten Sachbücher über ihn hat ohne Zweifel Timothy Snyder geschrieben: „The Red Prince“ (dt. Übersetzung: „Der König der Ukraine“). Und so kam ich auf die Idee, Erzherzog Wilhelm tatsächlich im sowjetischen Lwiw weiterleben zu lassen

Wilhelm spielt eine besondere Rolle in der Beziehung der Ukraine mit Österreich. Aber auch über ihn hinaus wird diese Verbindung lebendig und zeigt sich in vielen deiner Figuren und Schauplätze. Was sind deine Lieblingsspuren dieser gemeinsamen, dieser europäischen Geschichte?

Nicht weit von meiner Wohnung in Lwiw gibt es einen Wyschywanyj-Platz. Es ist ein winziges Viereck mit einem Kinderspielplatz und einigen Bänken. Meine Kinder gehen täglich über diesen Platz in die Schule, wo sie einen verstärkten Deutschunterricht haben und samt Abitur auch die Prüfung für das deutsche Sprachdiplom ablegen müssen. Es gibt nur zwei solche Schulen in Lwiw, und bald werden sie keine Sprachdiplomprüfung mehr ablegen können, denn das System wird abgeschafft. Der Platz aber bleibt, hoffe ich, wobei es außer diesem Platz kaum Andenken an Wilhelm in der Ukraine gibt. Es gibt noch eine Wyschywanyj-Straße in Tscherniwzi (Czernowitz), und das war es auch schon.
In Wien wurde ich auch nicht fündig. Ich habe einmal vergebens eine Erinnerungstafel auf dem Haus gesucht, in dem er zuletzt in Wien lebte und das letzte Mal ausgegangen ist, bevor er auf der Straße vom sowjetischen Geheimdienst gekidnappt wurde, um für immer zu verschwinden. So viel zur gemeinsamen ukrainisch-österreichischen Geschichte und zu ihren Spuren in Lwiw, die in der sowjetischen Zeit fast völlig ausradiert wurden. Nur die Architektur hat teilweise überlebt. Sonst nicht viel.
Es blieb nur eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach Franz Joseph und der k.u.k-Zeit. Diese Zeit blieb als eine Art goldene Ära in der Erinnerung der Ukrainer*innen. Galizien, die ärmste Provinz der Monarchie, war natürlich kein Vielvölkerparadies, wie es in der nostalgischen Version dargestellt wird. Aber die Zeit steht im Vergleich mit den Jahren des sowjetischen Terrors natürlich viel besser da. Man lernte mehrere Fremdsprachen und durfte überall in Europa studieren, was für junge Ukrainer*innen erst seit Kurzem wieder möglich ist und mit vielen Hindernissen verbunden ist. Man hatte bessere Verbindungen nach Europa als jetzt, Reisefreiheit, schöne Kaffeehäuser, schöne Häuser, man fühlte sich als Teil Europas. Das durfte man später Jahrzehnte lang nicht mehr. Selbst heute fühlt man sich in der Ukraine nicht so.

Den Geschichtsbüchern zufolge geht Erzherzog Wilhelms Leben 1948 zu Ende. Aber du lässt ihn in deinem Roman wiederauferstehen. Mit dem Leben eines reichen Aristokraten hat sein Dasein anschließend aber nichts mehr gemeinsam. Gewinnt Wilhelm damit auch ein Stück Autonomie?

Lwiw:Lemberg im Westen der Ukraine

Lwiw/Lemberg im Westen der Ukraine war knapp 150 Jahre lang bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das multiethnische Zentrum des Habsburger Königreichs Galizien und Lodomerien.

Dieses Buch war für mich ein Versuch mir vorzustellen, wie z. B. das Leben meiner Großeltern aussehen könnte, wenn diese alte Welt immer noch existieren würde, unzerstört vom sowjetischen Totalitarismus. Die Hauptfiguren dieses Buches würden in der sowjetischen Realität zugrunde gehen, selbst wenn sie den Krieg überlebt hätten. Sie würden nicht in dieser Realität überleben können, rein psychisch nicht. Aber dafür ist die Literatur da: Sie erlaubt es, das Unmögliche zu beschreiben und zu genießen. Wilhelms Leben in meinem Roman ist seinem Leben in meiner Fantasie ähnlicher als seinem Leben in der Realität. Ihn in einer sowjetischen Umgebung zu zeigen, würde seine Persönlichkeit um eine Dimension erweitern. Ich habe mir Wilhelm als sehr anpassungsfähig an das neue System vorgestellt. Der Roman ist für mich wie eine virtuelle Realität, eine Erweiterung der Realität.

Natalka Sniadanko kennt in Lwiw jede Ecke und hat ein Herz für exzentrische Figuren. Als Autorin spielt sie gerne Zeitmaschine und mixt historische Fakten und literarische Fiktion kräftig durch, um uns Geschichte mal ganz anders erleben zu lassen. Foto: Kateryna Slipchenko

Als junger Mann treibt sich Wilhelm in Hafenkneipen rum, lässt sich tätowieren, in der Zwischenkriegszeit lässt er sich von seiner reichen Verwandtschaft ein ausschweifendes Leben im verruchten Paris finanzieren, er verbringt Jahre als Spion im Untergrund. Seine Enkelin Halyna erlebt eine im Vergleich mit Wilhelm sicherere Jugend- und Erwachsenenzeit. Als ihr Sohn zur Welt kommt, passiert aber etwas: Anders als beim Lebemann Wilhelm ist Halynas Dasein nun geprägt von dieser einen Erwartung an sie – die perfekte Mutter zu sein. Woher kommt diese Ungleichheit in Freiheit und Unabhängigkeit der beiden?

Die Ukraine von heute ist ein tief patriarchaler Staat und Halyna fühlt sich als Frau dementsprechend diskriminiert. Alle ihre Erwartungen und Pläne muss sie zurückstecken, weil die Gesellschaft von ihr nur eine, ihre „Hauptrolle“ erwartet – die Mutterrolle. Und diese Erwartungen hat sie schon als Kind verinnerlicht, sie versucht nicht mal, dagegen zu kämpfen, sie leidet nur darunter.

Die sowjetische Version einer unabhängigen Frau lautete: Die Frauen dürfen berufstätig sein, denn es macht sie unabhängig. Aber sie dürfen ihre Familie nicht „vernachlässigen“, was im Alltag eine doppelte oder sogar dreifache Belastung bedeutet – nach der Arbeit muss die Frau noch die gesamte Hausarbeit leisten und sich um die Kinder und ihren Mann kümmern.

Halyna ist nicht berufstätig, was ihr teilweise den Alltag entlastet, sie ist aber auch nicht frei und nicht glücklich in ihrer Rolle. Man kann sie natürlich schwer mit Wilhelm vergleichen. Trotz Halynas Zeitvorsprung hat Wilhelm als Mann und Aristokrat viel mehr Freiheiten, aber auch nicht alle. Sein Wunsch, sich die ukrainische Identität anzueignen, wurde nicht akzeptiert. Er wurde deshalb aus der Familie ausgeschlossen. Auch seine Lebensweise wurde nicht geduldet. Das zeigt nur, wie langwierig und schwer der Weg zur individuellen Befreiung ist. Aus Sicht der anderen ukrainischen Frauen ist Halyna privilegiert: Als Hausfrau, die zumindest kein Geld verdienen muss, ist sie von einem wesentlichen Teil der ihr auferlegten Pflichten befreit. Genauso ist Wilhelm privilegiert und wird dafür beneidet. Beide aber leiden unter dem Mangel an persönlichen Freiheiten und ihrem Recht auf Selbstverwirklichung.

 

Bist du jetzt neugierig geworden auf diesen Generationenroman über (persönliche) Unabhängigkeit und über eine aus heutiger Sicht überraschend gemeinsame, europäische Geschichte? Hier findest du mehr Informationen zum Roman, in der Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen, die aus der Reihe tanzen: in einem Reigen aus Lwiw und Wien, aus Habsburger Monarchie, Sowjetunion und 21. Jahrhundert.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?

Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Natalka Sniadanko haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

Die österreichische Demokratie ist nicht demokratisch genug – Beatrice Frasl über Frauen in Machtpositionen

Über 100 Jahre sind vergangen, seit Frauen in Österreich zum ersten Mal wählen durften. Wie schaut es heute aus mit der politischen Repräsentation im Nationalrat und den Gemeindeämtern? Was hat sich wirklich getan? Und welchen Weg haben wir noch vor uns? – Beatrice Frasl setzt sich in ihrem Beitrag mit den Baustellen der österreichischen Demokratie auseinander, stellt inspirierende Frauen vor und zeigt, warum Quoten keine kosmetische Beschönigung, sondern ein wichtiges Instrument zur demokratischen Qualitätssteigerung sind.

Quoten für Qualität

Anna Boschek, Hildegard Burjan, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria Tusch. Das sind die Namen der acht Frauen, die als erste Frauen überhaupt 1919 in den österreichischen Nationalrat einzogen. Mit dem passiven Wahlrecht für Frauen, dessen Jubiläum wir 2019 feierten, kam nämlich auch das aktive – Frauen durften von nun an wählen und gewählt werden. So fanden sich also unter den 170 Abgeordneten zur konstituierenden Nationalversammlung 1919 erstmals auch acht Nationalrätinnen: eine Vertreterin der Christlichsozialen Partei (der Vorgängerpartei der heutigen ÖVP) und sieben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (der Vorgängerpartei der heutigen SPÖ). Mit den Frauen zogen auch neue Perspektiven und Forderungen ins Parlament.

Es ist keineswegs irrelevant, wer die Interessen der Bevölkerung im Nationalrat vertritt, denn: Frauen und Männer finden auch in Österreich und auch im Jahr 2021 oft weitgehend unterschiedliche Lebensrealitäten vor, das zeigt die Corona-Krise eindrücklich. Frauen arbeiten mehr als Männer und werden dafür im Falle von Haushalts- und Kindererziehungsarbeit nicht bezahlt, im Falle von Erwerbsarbeit signifikant schlechter als Männer. Sie haben aufgrund dieser Mehrfachbelastung weniger Freizeit und Erholungszeit, bekommen 40% weniger Pension, sind öfter von Armut im Allgemeinen und Altersarmut im Besonderen betroffen. Sie werden, anders als Männer, nach einengenden und psychisch belastenden Schönheitsnormen bewertet, werden objektifiziert und sind öfter von Gewalt zuhause oder sexueller und sexualisierter Gewalt betroffen als Männer. Sie haben im Berufsleben schlechtere Aufstiegschancen, arbeiten öfter in prekären Beschäftigungsverhältnissen und erkranken, auch als Folge der Summe all jener Umstände, doppelt so häufig an Depressionen.
Der immer noch geringe Anteil an Frauen im Parlament bedeutet also auch: Diese Lebensrealitäten werden nicht ausreichend abgebildet. Interessen und Bedürfnisse, die Frauen aufgrund ihrer spezifischen Lebenssituation mitbringen, werden nicht annähernd ausreichend vertreten. Von den 183 Abgeordneten des Nationalrats sind derzeit lediglich 73 Frauen – das sind 39,89%. Die schlechteste Geschlechterquote hat die FPÖ mit 16,67%, die beste die Grünen mit 57,69%.
Frauen sind also im österreichischen Parlament nicht annähernd ausreichend repräsentiert; das wären sie mit einem Abgeordnetenanteil von 50,8% – das ist der prozentuelle Anteil von Frauen an der österreichischen Bevölkerung.

Auch andere Gruppen sind denkbar schlecht vertreten: So finden sich unter den Abgeordneten nur 9 mit Migrationshintergrund – das sind 5%, während Menschen mit Migrationshintergrund 23% der österreichischen Bevölkerung darstellen. Klassen und Berufsgruppen sind ebenfalls sehr ungleich repräsentiert: Es gibt verhältnismäßig wenige Abgeordnete aus der Arbeiter_innenklasse, aber weit überdurchschnittlich viele Akademiker_innen und Bäuer_innen. Im österreichischen Nationalrat sitzen aktuell mehr Landwirt_innen (nämlich 14) als Menschen mit Migrationshintergrund (nämlich 9).

Beatrice Frasl ist Kulturwissenschafterin mit Fokus auf Geschlechterforschung, Podcasterin (Große Töchter), Universitätslehrende und Kolumnistin. Sie forscht und schreibt und lehrt zu feministischen und Gleichbehandlungsthemen und lebt und arbeitet in Wien. Foto: Michael Würmer

Repräsentation ist keineswegs eine ausschließlich kosmetische Frage

Wissenschaftliche Studien belegen, dass Frauen eher von im Parlament beschlossenen Gesetzen profitieren, wenn Frauen auch maßgeblich an diesen Gesetzen mitarbeiten und mitentscheiden. Wenn Frauen und Marginalisierte nicht gleichberechtigt an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben, gehen wichtige Perspektiven verloren. Perspektiven, die die beschlossenen Gesetze erst zu guten (weil umsichtigen) machen. Wir lassen uns also viele Ideen und Innovationen entgehen, die sich aus marginalisierten Perspektiven ergeben. Ideen, die gesamtgesellschaftlich von großem Nutzen sein könnten.

Das zeigen auch die ersten acht Frauen, die in den Nationalrat einzogen. Sie machten tatsächlich andere Politik als die Männer vor ihnen – und schrieben damit Geschichte. Die Christlichsoziale Hildegard Burjan forderte beispielsweise bereits 1917 gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Adelheid Popp wurde 1895 wegen ihrer Kritik an der traditionellen Ehe zu einer Arreststrafe verurteilt. Auch im Parlament war sie mit ihren Forderungen ihrer Zeit (und ihrer Partei) voraus:

Schon 1896 forderte sie eine Quotenregelung, Karenzzeiten für Mütter und Gleichstellung von Frauen sowohl im Beruf als auch in der Ehe – und stieß dabei auf großen Widerstand der männlichen Parteispitze. Therese Schlesinger machte sich innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ähnlich unbeliebt, denn sie forderte gleichen Lohn für gleiche Arbeit, gleiche politische Rechte für beide Geschlechter, Arbeitszeitverkürzung für Mütter und eine staatliche Mutterschaftsversicherung. Zudem kämpfte sie, gemeinsam mit Maria Tusch, für die Straffreiheit der Abtreibung. Die Sozialdemokratin Anna Boschek setzte sich unter anderem für den Achtstundenarbeitstag und für das Nachtarbeitsverbot für Frauen ein. Auch ihre parlamentarische Mitarbeiterin, Käthe Leichter, war keine Unbekannte. Das Hausgehilfinnengesetz, an dem die beiden federführend beteiligt waren, war das erste von weiblichen Abgeordneten geschriebene und eingebrachte Gesetz und verbesserte die Situation von Hausangestellten maßgeblich. Ohne Frauen im Parlament wäre dieses Gesetz vermutlich nicht geschrieben worden.

Ich würde diese sehr langsame Fortschrittserzählung an der Stelle gerne weiterschreiben. Allerdings: Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch wären vermutlich enttäuscht und schockiert, wenn sie wüssten, dass Österreich 2021 noch nie eine gewählte Bundeskanzlerin gesehen hat, wenngleich Brigitte Bierlein von Juni 2019 bis zum Januar 2020 vom Bundespräsidenten als Übergangskanzlerin bestellt wurde. Frauen, so scheint es, werden in Österreich lieber für provisorische Ämter einberufen als mit bleibender Macht in bleibenden Ämtern ausgestattet. Auch gab es noch nie eine Bundespräsidentin.
Um dieses Missverhältnis zu illustrieren: 50,8% der Bevölkerung Österreichs war im Jahr 2020 laut Statistik Austria weiblich. 100% aller Bundespräsidenten waren bislang Männer. Ebenso 100% aller gewählten Bundeskanzler. Das generische Maskulinum ist an der Stelle ausnahmsweise eine Tatsachenbeschreibung. Übrigens: Es gab auch noch nie einen Bundeskanzler oder einen Bundespräsidenten mit Migrationshintergrund.

Damit Frauen gleichberechtigt an politischen Entscheidungsfindungsprozessen teilnehmen können, müssen sich die Umstände ändern. Aufgrund der ungleichen Verteilung von Arbeit, vor allem unbezahlter Arbeit, zuungunsten von Frauen und der Tatsache, dass sie immer noch die Mehrheit der Reproduktionsarbeit, Haushaltsarbeit, Kindererziehung und Angehörigenpflege übernehmen, bleibt wenig Zeit für alles andere – auch, um sich politisch zu engagieren. Dies zeigt sich vor allem auf lokalpolitischer Ebene: Nur 9,4% der Bürgermeister_innen in Österreich sind Frauen, oder andersrum gerechnet, 90,6% der Bürgermeister_innen sind Männer. Zudem wird Männern nach wie vor eher Führungsqualität und Expertise zugeschrieben als Frauen (weswegen sie für geeigneter für politische Ämter gehalten werden).

Das ist nicht „nur“ ein frauenpolitisches Problem. Das ist vor allem auch ein demokratiepolitisches Problem. Eine Quotenregelung könnte insofern Abhilfe schaffen, als man so das Versprechen der repräsentativen Demokratie auch wirklich ernst nimmt: jenes Versprechen nämlich, die Wahlbevölkerung auch tatsächlich zu repräsentieren. Die Forderung nach Quoten auf allen politischen Ebenen ist also nicht nur eine frauenpolitische, sondern eine demokratiepolitische.
Auch das Frauenvolksbegehren 2.0 forderte eine Quotenregelung, und damit die Hälfte aller Plätze auf Wahllisten, in Vertretungskörpern, auf Gemeinde-, Landes-, und Bundesebene für Frauen, sowie wirksame Sanktionen bei Nichterfüllung der Quote.
Quoten können nicht nur den Zugang zu Entscheidungsmacht demokratisieren und zu einer gerechteren Repräsentation führen – sie sind auch ein Mittel zur Qualitätssteigerung. Der österreichische Nationalrat und die Regierungsämter haben die besten Köpfe verdient – nicht nur jene, die weiß, autochthon österreichisch, männlich und überdurchschnittlich gut vernetzt sind.

Auch drei Jahre nach dem Frauenvolksbegehren bleiben diese Forderungen unerfüllt. Auch 102 Jahre nach dem Einzug von Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch in den Österreichischen Nationalrat ist das Thema der Repräsentanz von Frauen und ihrer gerechten Ausstattung mit Entscheidungsmacht also nicht vom Tisch.
Es hat hundert Jahre gedauert bis Österreich seine erste (nicht gewählte) Bundeskanzlerin bekam. Weitere hundert Jahre bis zur ersten gewählten Bundeskanzlerin werden wir nicht vergehen lassen.

„Das Akzeptieren der Endlichkeit unseres Lebens gibt uns jeden Tag von Neuem die Chance, unser Leben bewusst und hoffnungsvoll zu gestalten.“ – Ein Gespräch mit der Vorsitzenden der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft Marina Baldauf

Nichts im Leben ist so sicher wie der Tod. – Uns mit dieser Tatsache nicht auseinanderzusetzen, uns vom Altern und von Krankheit möglichst fernzuhalten, darin sind wir Menschen sehr geschickt. Aber was, wenn wir uns nicht mehr davor drücken können? Weil eine*r unserer Liebsten betroffen ist oder gar wir selbst? Die Konfrontation mit unserer Endlichkeit schmerzt. Dennoch kann eine offene Auseinandersetzung lohnend sein – bereichernd, sogar beglückend! Klingt auf den ersten Blick seltsam. Aber der Einblick, den uns Marina Baldauf in ihre Erfahrungswelt im Hospiz gibt, zeigt: Dort, wo der Tod allgegenwärtig ist, offenbart das Leben seine intensivsten und menschlichsten Momente. Nina Gruber hat sich mit der Vorsitzenden der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft über den Alltag im Hospiz, über Abschied und das Schöne im Traurigen unterhalten.

Als Außenstehende haben wir oft keine richtige Vorstellung davon, was ein Hospiz oder eine Hospiz-Betreuung eigentlich genau sind. Welche Idee steckt dahinter?

„Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben.“ – Das ist das Motto der Hospizbewegung. Hospize nannte man im Mittelalter jene Herbergen, die den Pilgern auf ihrer Reise Unterkunft, Rast und Pflege boten. Das hat auch heute noch Gültigkeit. Seit fast 30 Jahren ist die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft bemüht, Menschen mit einer fortgeschrittenen Erkrankung sowie deren Angehörige zu begleiten. Auch wenn eine Heilung der Krankheit nicht mehr möglich ist, kann viel getan werden, um die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien zu erhalten und zu verbessern.

Wie läuft eine Betreuung ab? Ist sie immer an einen bestimmen Ort, eine Station oder ein Heim gebunden? Welche Menschen arbeiten mit?

Ein multiprofessionelles Team von diplomierten Pflegekräften, Ärzt*innen, Seelsorger*innen und Sozialarbeiter*innen unterstützt zu Hause, in Heimen, auf unserer Palliativstation und im Tageshospiz schwer kranke Menschen und deren Angehörige. Dazu braucht es viel fachliche Kompetenz und eine menschliche, hospizliche Haltung, um in vielen Gesprächen und im täglichen Ablauf auf die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse eingehen zu können. Um mit Fürsorge und Achtsamkeit Menschen auf ihrer „letzten großen Reise“ beizustehen, sind auch viele ehrenamtliche Hospizteams in ganz Tirol tätig. Sie schenken Zeit und Zuwendung und tragen wesentlich zu einer Hospizkultur bei. In Zeiten der Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen versuchen wir beratend zu helfen. Das erforderliche Fachwissen und viel Information bieten wir über unsere Bildungsakademie an. All unsere Angebote finden sich unter dem Dach unseres Hospiz-Hauses in Hall.

In einem Hospiz kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, sie eint das Bewusstsein des bevorstehenden Todes. Welche Art des Zusammenlebens findet dort statt? Viele Menschen haben, wenn sie an ein Hospiz denken, das Bild eines traurigen, stummen Ortes vor sich. Ist das wirklich so?

Um die Kraft zu haben, sich jeden Tag auf das Leiden, die Hinfälligkeit und die eigene Endlichkeit des Lebens einzulassen, brauchen unsere Mitarbeiter*innen viel tägliche Kommunikation, Informationsaustausch und gelebte Rituale. Und der Humor kommt bei uns nicht zu kurz. In unserem Hospiz-Cafe, und auch mit unseren Gästen finden oft berührende, fröhliche Gespräche statt über Erlebtes und vergangene Zeiten. Unser Haus ist ein Ort der Lebendigkeit und der Begegnung auch in Zeiten des Abschieds.
Eine Sozialarbeiterin hat uns einmal diese schöne Geschichte erzählt: „Als Frau A. zu uns auf die Hospiz- und Palliativstation kam, war sie in großer Not. Schmerzen plagten sie und beeinträchtigten ihre Lebensqualität. Sie war Zeit ihres Lebens eine Kämpferin gewesen. Sie war eine kluge, faszinierende Persönlichkeit. Charakterstark, aber unaufdringlich nahm sie bei uns ihren Platz ein und stellte sich den neuen Herausforderungen. – Dass sie bald sterben würde, hatte sie schon lange erkannt. Als sie uns von ihrem Garten erzählte, reifte in uns der Plan, ihn zusammen mit Frau A. zu besuchen. An einem strahlend schönen Nachmittag fuhr sie im Kreise ihrer Familie in ihren Wohnort, um ein paar Mitarbeiter*innen der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft in ihrem Garten zu empfangen. Wir bestaunten den Magnolienbaum und die knorrigen Apfelbäume – angestrahlt von Frau A. wurde uns bewusst, wie schön das Leben sein kann. Fasziniert erlebten wir mit, wie sie im Garten, umgeben von ihren Lieben, noch einmal so richtig aufblühte. – Vier Wochen später starb Frau A. Was blieb, ist eine kostbare Erinnerung.“

Der Tod bzw. die Auseinandersetzung damit steht in einem Hospiz an der Tagesordnung. Ganz anders als im Alltag, wo wir uns meist vor einem bewussten Umgang mit dem Tod und dem Sterben drücken. Oft sprechen wir nur darüber, wenn wir beruflich oder persönlich davon betroffen sind. Welche Fragen trauen sich die Menschen – die Patient*innen, aber auch die Angehörigen – erst euch zu stellen?

Ich selbst habe meinen Mann in den letzten Lebensjahren betreut. Vor vier Jahren ist er verstorben. Dank der Erfahrungen, die ich in der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft sammeln durfte, hatten wir den Mut, uns auf den letzten gemeinsamen Lebensabschnitt bewusst einzulassen. Trotzdem war es nicht immer einfach. Kein Tag glich dem anderen und beide wussten wir nicht, wann der letzte große Abschied da sein würde. Wir wussten nur, dass er sich unaufhaltsam näherte. In der Auseinandersetzung mit dem Tod müssen wir lernen, uns gegenseitig immer wieder zuzumuten – gesund, alt, krank oder sterbend. Auf Hinfälligkeit und Kontrollverlust versuchen wir in der Hospiz-Gemeinschaft mit einem Angebot an Schutz und Geborgenheit zu antworten. Dass uneingeschränkte Autonomie am Lebensende schwer möglich ist, lässt sich auch an verschiedenen Fragen erkennen, die immer wieder ganz individuell gestellt werden:
Wer hilft mir bei Schmerzen und Angst?
Wer begleitet mich?
Wer hilft meinen Angehörigen in derartig einschneidenden, angstbesetzten Lebenssituationen?
Wie kann ich meine Würde bewahren?

Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben. Inwieweit hat das Engagement deine Sicht auf das Leben verändert? Gibt es vielleicht etwas, dass du uns an Anregung mitgeben möchtest?

Immer wieder braucht es das ganz persönliche Gespräch. Nicht wegzuschauen und eigene Grenzen und Unzulänglichkeiten anzuerkennen, benötigt Selbstreflexion, Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit. Mir ist in den letzten Jahren bewusst geworden, dass diese Haltung nicht nur am Lebensende Gültigkeit hat, sondern uns täglich fordert. Eigene Ängste und Nöte, die uns immer wieder begleiten, lassen sich nicht verhindern. Aber das gemeinsame Ringen im Sinne einer gewissenhaften Hospiz- und Palliativbetreuung schweißt zusammen und ermöglicht oft im Leid unvorhersehbare und auch beglückende Lebenssituationen für alle. Das Akzeptieren der Endlichkeit unseres Lebens gibt uns jeden Tag von Neuem die Chance, unser Leben bewusst und hoffnungsvoll zu gestalten, auch in schwierigen Zeiten. Hilfe und Unterstützung anbieten und annehmen schafft Vertrauen und Nähe, auch wenn nicht immer alles möglich ist.

Im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens kann es nur heißen: Feiere das Leben! Reite diese Welle mit all ihren schönen, traurigen, beglückenden, komplizierten, überraschenden Momenten. Nimm die Menschen um dich herum wahr, die Natur, sei offen für Neues, sei achtsam für deine Gefühle, schreib deine eigene Geschichte und lass dich von anderen inspirieren.

Marina Baldauf war am Aufbau der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft beteiligt, hatte von 2001 bis 2011 den Vorsitz inne. Diese Funktion erfüllt sie seit 2019 wieder ehrenamtlich.

Kitsch, Kommerz, kulturpolitische Waffe: Wem gehört die Tracht?

Man schmückt sich mit ihr auf Volksfesten, Hochzeiten und Empfängen. Patriotische Modelabels haben sie für sich entdeckt. Trachtenvereine pflegen sie in ihren regionalen Ausformungen, die Designer der Haute Couture bringen sie neu interpretiert auf die Laufstege der Welt. Politiker*innen verschiedenster Lager tragen sie, andere verweigern sich ihr. Die einen hassen, die anderen lieben sie: die Tracht. Egal, in welchen Farben und in welchem Kontext sie getragen wird – eines ist sie immer: ein Statement. Aber wofür? Ist sie für dich ein farbenfrohes Zeichen regionaler Tradition und Zugehörigkeit? Oder nationalistische Gesinnungskleidung? Symbol einer „Leitkultur“? Oder doch einfach nur ein schönes Stück Stoff?

Elsbeth Wallnöfer macht sich in „TRACHT MACHT POLITIK” auf die Spur eines heiß umfehdet, wild umstrittenen Kleidungsstücks. Einen Vorgeschmack dazu gibt es in unserer Leseprobe: 

Illustrationen von Marie Vermont geben Einblick in die Geschichte der Tracht

Eben weil Tracht und Dirndl derart diffus ahistorisch überfrachtet sind, weil sie entlang eines kulturellen Wertegesetzes rauf- und runterdekliniert wurden und werden, kommt es neuerdings zu so was wie Urheberrechtsdebatten. Die Exegeten aller Genres bringen sich in Stellung, weil sie die Idee der schöpferischen Urheberschaft des Volkes in diesem Kleidungstück verdichtet sehen. Derlei Absurditäten fanden jüngst Ausdruck in der Auseinandersetzung zwischen einer rumänischen Region und dem Haus Dior in Paris. Gegenstand des Anwurfes war ein besticktes Schaffell-Gilet. Als Dior Anleihe bei einer nordrumänischen Felljacke nahm, war der Aufschrei groß, man sah die kulturelle Identität auf dem Jahrmarkt veräußert. Von Diebstahl an der Kultur anderer war die Rede. Gar eine Initiative wurde gegründet, die sich bemühte, sich als die Hüterin originärer Kultur darzustellen. Die darin gebündelten Kräfte riefen dazu auf, die von Dior angepriesenen Stücke wären bei den Frauen in Rumänien günstiger zu bekommen und darüber hinaus noch in einer besseren Qualität und überhaupt hätte das Haus Dior nicht einen Cent an die Frauen gespendet. Nun, vielleicht mag es stimmen, dass die Qualität der bestickten Schaffelljacke bei den Rumäninnen besser ist. Dennoch könnte sie auch schlechter sein. Zudem muss man wissen, dass sich bis zum Zeitpunkt dieser Erregung kein Mensch auch nur annähernd für derlei Exotismen außerhalb dieser Gebiete interessierte. Die zusätzliche Schwierigkeit, welcher Kultur in welchem Gebiet Dior nun Geld löhnen sollte, ist ohnehin nicht zu klären, denn die Entlehnung berührt die nordrumänische und bukowinische (heute Ukraine) Kultur gleichermaßen.

Eine Urheberrechtsdebatte erübrigt sich aufgrund historischer Bedingungen, denn folgten die Identitätsprediger ihren eigenen Spuren, würden sie entdecken, dass so genannte Volkskunst keinem personal gestalteten Kollektiv entspringt, ein alleiniger kollektiv geformter Urheber unmöglich ausfindig gemacht werden kann. Dem Prinzip der Mode entsprechend versuchte auch hier ein Mensch oder mehrere, aus den zur Verfügung stehenden Rohstoffen (was man halt so hatte) sich zu behübschen. Begehrlichkeiten führten dazu, dass sich die Nachbarinnen untereinander kopierten. Tracht, Dirndl u. ä. fielen, wären sie identitätsstiftender Bestandteil eines Kollektivs, bei Verletzung desselben unter das Völkerrecht. Was dies verhieße, mag man sich gar nicht ausmalen.

Die bisherige Maßregelung der Gesinnungsfolkloristen, Volkskunst, Tracht und Dirndl seien Wesensmerkmale einer in sich verbundenen Gemeinschaft und sollten unverändert an die folgenden Generationen weitergegeben werden, sollte als das deklariert werden, was es ist: eine Erzählung, die von einigen Wenigen in Umlauf gebracht wurde und die ein politisches Ziel verfolgt. Nämlich Kultur und Wesenszüge zum Zwecke eines idealisierten Gestaltungswillens einer Nation ursächlich miteinander zu verbinden.

Nicht selten wird in Zusammenhang mit dem Thema auch die Frage nach dem Geschmack gestellt. Steht ein Dirndl jeder? Darf es sexy sein? Wie viel Dekor verträgt ein Dirndl? Wie kurz darf, wie lang muss es sein? Kann man Nagellack dazu tragen, oder eine Uhr? In welchem Verhältnis und Abstand sollen Schürze und Rock zueinander getragen werden und so weiter und so fort. Darauf gibt es keine abschließend richtige Antwort, denn es ist nur ein Kleidungsstück, das allein der eigenen, individuellen Behübschung dienen sollte. Die Demokratisierung ermöglicht uns, frei zu wählen, wie und was wir tragen möchten. Dass das gute Kleidungsstück als Arme-Leute-Gwand, als bäuerliches Gwand, eine steile Karriere als sommerlich modisches Stück genommen hat, es aber auch bei jenen, die keine Wahl hatten, als antimodisches Stück so schnell wie möglich abgelegt werden wollte, beweist einmal mehr, dass es nichts weniger ist als ein Ergebnis menschlicher Kreativität. Jene, die glauben, Tracht und Dirndl seien der Inbegriff deutschkultureller Tradition und hätten somit normativ unabänderlich gleich zu bleiben, denen sei gesagt, alle Kulturen hatten zu irgendeiner Zeit eine für sie typische Kleidung. Wir wissen inzwischen, dass dies mit den Ressourcen und Rangordnungen zu tun hat, genauso wie mit politischen, modischen Strömungen und dem Begehren einzelner Individuen, die sich zu Experten aufgeschwungen haben. Die Vorstellung dessen, was schön ist, verläuft in etwa im Zyklus der Jahreszeiten, man denke an die Haute-Couture-Schauen und deren Frühjahrskollektionen, Herbstkollektionen usf.

Jenen religiösen Eiferern, die glauben, man sei mit einem von den Verbänden regulierten Dirndl oder einer Tracht stets gut angezogen, sei entgegnet, dass auch nicht jede Figur in eine Leggins passt. Selbst eine Jeans steht nicht allen. Rufen wir uns noch mal den Römer Ovid in Erinnerung, der in der Antike bereits Styling-Tipps gab. Warum sollte das hier behandelte Kleidungsstück eine Ausnahme bilden? Gerade, weil Menschen ihre Kleidung in erster Linie nicht erfunden haben, um patriotische Phantasien zu befriedigen, sondern um erstens gekleidet zu sein, und zweitens um sich zu behübschen, nimmt es nicht wunder, wenn wir Tracht, Dirndl oder Lederhose in allerlei Abbildungsformen begegnen.

Elsbeth Wallnöfer, geboren in Südtirol, ist Volkskundlerin und Philosophin und lebt in Wien. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Tracht. Unermüdlich kritisiert sie den unreflektierten Umgang mit Althergebrachtem. Foto: Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Die barbiehafte Behübschung der Society-Moderatorinnen im deutschen Fernsehen zur Münchner Wiesnzeit, die Fußballerfrauen im Dirndl, der Besuch von berühmten Sternchen wie der Hotelerbin Paris Hilton sind nichts als gespiegelte Realität gängiger Praxis des Schönheitsputzes im Alltag. Gleiches gilt für die lederhosenbewehrten Männer, die, wie ein österreichischer Verhaltensforscher mal meinte, durchaus einer naturgegebenen Konstante von männlichem Imponiergehabe folgen und dies mit dem Imponiergehabe von Primaten verglich. Vielleicht ist der Mensch nichts als ein Aff’ in Trachten-, Dirndl-, und Lederhosenkleidung.
Damit erübrigte sich beinahe, die andere Seite der soziologischen Trachtenwirklichkeit zu erwähnen, den ausgeprägten Distinktionskapitalismus, der in der Tracht steckt und sich bei lokalpatriotischen Bällen geballt zeigt. Im kollektiven Rausch wird ein Lob auf die Tradition ausgerufen, Märsche werden gespielt und selbst bei inoffiziellen Hymnen wird (speziell bei den Tirolern) aufgestanden, mitgesungen, die Hand aufs Herz gelegt und am Ende salutiert.

Frauen in einfachem Ballkleid, die selten genug vorkommen, oder junge Frauen in Dirndln vom Discounter werden auf Trachtenbällen schief angesehen und schmallippig begrüßt. Es kommt schon vor, dass sie von den Ballfotografen, die beim Einlass stehen und sich wie Experten gerieren, erst gar nicht abgelichtet werden. Die Ballsaison birgt die Chance zur rituellen kollektiven Selbstzelebration. Sie dient, auch wenn es einige nicht wahrhaben wollen oder verharmlosen, der Selbstaufrichtung einer ganz bestimmten kollektiven Identität. So gut wie nie findet man im Landhausstil gekleidete Menschen auf solchen Bällen. Werner Kogler, seit 2020 grüner Vizekanzler und Steirer, wurde dafür kritisiert, dass er bei der Angelobung keine Krawatte trug, auch war er nicht dafür bekannt, Trachtenjanker zu tragen. Das hat man ihm schnell abgewöhnt. Der auf die Ballsaison fallende Regierungsbeginn ließ ihn recht schnell in einem grün-grau-steirischen Trachtenfrack auf dem Steirerball erscheinen, zusammen mit Umweltministerin Leonore Gewessler, die sich in einem von einem Salzburger Trachtendesigner moderat zitierten Outfit zeigte und das auf Erzherzog Johann (1782–1859), einen Habsburger, der seiner Liebe zum Landleben bis hin zu einer morganatischen Verbindung mit einem Landmädchen nachging, verwies.
Die politische Vergangenheit des Trachtenjankers hatte die politische Gegenwart eingeholt.

Und du? Hast du jetzt Lust bekommen, Omas Dirndl aus dem Keller zu holen? Oder doch eher, deines in den Altkleidersack zu packen? So oder so: Dieses Buch wird dich fesseln! Elsbeth Wallnöfer erzählt von Menschen, Moden und Mythen und legt frei, was vom Dirndl übrigbleibt, wenn Landromantik, politisches Korsett und die hartnäckigsten Irrtümer abgetragen sind. Ein hervorragend recherchierter, ebenso pointierter wie leidenschaftlicher Text – und ein beherzter Aufruf, sich das Dirndl zurückzuerobern! Mit zahlreichen farbigen Illustrationen und einem kunstvoll gestalteten Plakat. Hier geht es zum Buch!

„Mein Bauch gehört mir!“ – Ist das so? Selbstbestimmung auf dem Prüfstand.

Im Leben eines jeden Menschen werden Kinderwunsch (oder eben keiner) und Schwangerschaft irgendwann einmal Thema. Ob als hypothetische Frage an sich selbst bei einem verspäteten Eintreten der Regelblutung, als Frage zur Familienplanung in einer Partner*innenschaft, als gesellschaftliche Erwartung von außen an uns herangetragen – oder als ganz konkrete Situation: als positiver Schwangerschaftstest. Für einige wird ein positiver Test die Erfüllung eines langgehegten Traumes sein. Für andere hingegen ein großer Schock. Ob als Frau, weiblich gelesene Person oder Partner*in. Jede*r wird für sich abwägen: Wie geht es mir damit? Wie geht es uns damit? Können wir einem (weiteren) Kind ein gutes Leben bieten? Und: Möchten wir das überhaupt, schwanger sein und ein Kind bekommen? Wenn wir uns dagegen entscheiden: Wie lange ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich? Wo kann ich ihn vornehmen lassen und wo finde ich Unterstützung? Nina Gruber hat mit Dr.in Bettina Zehetner von der Beratungsstelle Frauen* beraten Frauen* und mit der Klinischen Psychologin und Gesundheitspsychologin Mag.a Petra Schweiger darüber gesprochen, welchen Zugang Frauen zu Schwangerschaftsabbrüchen haben und vor welchen Herausforderungen sie stehen, haben sie sich einmal für einen Abbruch entschieden.

Dr.in Bettina Zehetner ist Philosophin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien, wo sie u. a. zu feministischen Themen mit Schwerpunkt auf psychosozialer Beratung lehrt, forscht und publiziert. Seit 2003 ist sie außerdem in der Konzeption und Leitung von Seminaren, Workshops und Trainings für den psychosozialen Beratungsbereich tätig. Sie berät Frauen in Krisensituationen, u. a. in der Beratungsstelle der Wiener Frauenhäuser und bei Frauen* beraten Frauen*. Für ihre Arbeit und ihr Engagement wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem C&A-Inspiring-Women-Award (2017/2018) und dem Preis der Dr.-Maria-Schaumayer-Stiftung (2011). (Foto: Stockhammer)

Liebe Bettina, an euren Verein wenden sich immer wieder Ratsuchende zum Thema Schwangerschaftskonflikt. Oft sind Initiativen wie eure die erste Anlaufstelle außerhalb des Familien- und Freundschaftskreises sowie der Partner*innenschaft der Frauen, wenn Unsicherheit darin besteht, wie mit der Schwangerschaft umgegangen werden soll. Mit welchen Fragen und Sorgen wenden sich die Frauen an euch?

Die Fragen und Sorgen der Ratsuchenden, die sich im Zusammenhang mit dem Thema Schwangerschaftskonflikt an uns wenden, sind vor allem folgende: Entscheidungskonflikt – das Kind bekommen oder einen Abbruch durchführen lassen? Potenzielle Schuldgefühle beim Gedanken an einen Abbruch: die Angst, nicht damit leben zu können, immer daran denken zu müssen, ein Leben beendet zu haben. Sehr religiös sozialisierte Frauen dürfen sich oft gar nicht den Gedanken an diese Option zugestehen. Gleichzeitig Sorgen und Ängste, das Leben mit Kind nicht gut zu bewältigen, ihm kein gutes Leben bieten zu können, keine ausreichenden finanziellen Mittel zu haben. Angst, die eigene Freiheit aufgeben zu müssen, den Berufseinstieg oder die eigene berufliche Laufbahn abbrechen zu müssen, die nächsten Jahre keinen Tag frei zu haben, keine Nacht durchschlafen zu können.
Auch die rechtliche Situation mit dem Kindesvater ist oft ein schmerzhaftes Thema: Manche der potenziellen Väter wollen die Frauen zur Abtreibung überreden oder zwingen. Sie drohen entweder mit völligem Kontaktabbruch und damit, keine Alimente zu zahlen oder das Sorgerecht für das Kind zu erstreiten und der Mutter das Leben schwer zu machen.

Wenn schon vor und während der Schwangerschaft das Kontrollverhalten des Kindesvaters ein Problem ist, wird dieses mit einem Kind noch quälender, oft aufgrund der schlechten finanziellen Situation bzw. Abhängigkeit der Frau oder aufgrund von destruktiven Machtdemonstrationen bezüglich Kontaktrecht nach einer Trennung.
Viele Frauen sind auch schwer enttäuscht über die fehlende Bereitschaft der potenziellen Väter zur partnerschaftlichen Teilung der Sorgearbeit, etwa wenn er das Gespräch darüber völlig verweigert („Das wird sich dann schon ergeben.“) oder deutlich macht, dass er „sicher nicht“ in Karenz gehen, Teilzeit arbeiten oder regelmäßig die Betreuung übernehmen wird, um die Mutter zu entlasten.

Die Frage danach, ob man ein Kind austrägt oder die Schwangerschaft abbricht, ist also in einen größeren Zusammenhang gebettet, der auch die Frage einer gleichberechtigten Partner*innenschaft betrifft. Spiegelt sich dieses Gefühl des Alleingelassen-Seins bei der Schwangerschaft und der Kinderbetreuung auch in der Abwicklung eines Schwangerschaftsabbruchs wieder? Gibt es eine Form der psychologischen Nachbetreuung für Frauen, die in einem Konflikt mit sich standen, aber schlussendlich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen haben lassen?

Ja, dieses Gefühl des Unterstützt-Werdens bzw. Alleingelassen-Seins spiegelt sich auch im Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch wider. Frauen, die auf die Unterstützung durch ihre*n Partner*in zählen können, fällt die Verarbeitung meiner Erfahrung nach deutlich leichter. Die Entscheidung und die Trauer – auch die Erleichterung – gemeinsam zu tragen, hilft sehr beim guten Verabschieden-Können dieser Lebensmöglichkeit. Umgekehrt kann fehlende Unterstützung die Verarbeitung und den Trauerprozess erschweren. Fehlende gemeinsame Trauerarbeit führt oft zu Trennungen.
Wir bestärken die Ratsuchenden, sich auch nach einem erfolgten Abbruch wieder zu melden, und stehen gerne für die Nachbetreuung, Reflexion, Trauerarbeit und alles, was damit zusammenhängt, zur Verfügung. Ebenso wie für die partner*innenschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit, wenn die Frau sich für das Kind entschieden hat – Stichwort mental load.

Liebe Petra, wohl jede Frau hat sich in ihrem Leben – rein hypothetisch oder ganz konkret – mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch schon einmal auseinandergesetzt. Große Fragen tun sich da auf, wie etwa ab wann man das, was da im Bauch wächst, „Leben“ nennt.

Es ist nicht möglich, den Augenblick genau festzulegen, von wo an menschliches Leben beginnt, denn Leben ist ein Prozess. Es beginnt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern wird von Generation zu Generation weiter gegeben. Jede reife menschliche Ei- bzw. Samenzelle ist „lebendig“ und enthält je die Hälfte der Erbanlagen eines eventuell daraus entstehenden Embryos. Klar definiert ist, dass ein Fötus bzw. Embryo keinen Rechtsstatus als „Person“ hat. Dieser tritt erst nach der Geburt ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgehalten, dass der Ausdruck „jeder Mensch“ den Fötus nicht einschließt. Im gleichen Sinn haben die Verfassungsgerichte in Österreich, Frankreich und Holland entschieden. Insofern ist der heranwachsende Fötus in der Gebärmutter zwar etwas Eigenständiges, gleichzeitig jedoch auch ein Teil des Körpers der Frau und in seiner Entwicklung vollkommen davon abhängig. Der Embryo in der Gebärmutter hat demnach sein eigenes genetisches Entwicklungspotential – jedoch als Teil des Körpers der Frau bestimmt sie über dessen weitere Entwicklung. Der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist – aus dieser Perspektive betrachtet – das geplante Beenden einer Entwicklungsmöglichkeit.

Ein Teil des Körpers – eigenständig und doch abhängig. Auf einmal ist man nicht mehr allein in seinem Körper. Gehören Körper – allen voran der Bauch – wirklich noch der Frau alleine? Oder hört diese Selbstbestimmung nach der Befruchtung etwa auf – nicht nur im Hinblick auf das, was da wächst, sondern auch vor dem Gesetz, in den Augen der Gesellschaft?

Mag.a Petra Schweiger ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin. Sie ist an der Gynmed Salzburg, einem Ambulatorium für Schwangerschaftsabbruch und Familienplanung tätig. Dort berät sie Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben. (Foto: Thom Eichinger)

Mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir!“ machten politisch engagierte Frauen in den 70er-Jahren öffentlich, dass niemand anderer über die weibliche Fruchtbarkeit bestimmen kann, als die betroffene Frau selbst. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass das Private immer auch politisch ist und insbesondere Entscheidungen zu Beginn und am Ende des Lebens häufig heftige gesellschaftliche und religiöse Debatten auslösen. Trotz der mittlerweile fast selbstverständlich gewordenen Botschaft des Slogans gilt es, wachsam und politisch aktiv zu bleiben, denn immer wieder bringen konservative Parteien und Bürger*inneninitiativen das Thema Schwangerschaftsabbruch aufs Tapet, mit dem Ziel, die geltenden liberalen rechtlichen Bestimmungen durch Zugangsbeschränkungen zu verschlechtern (z. B. „Zwangsberatungen“, „verpflichtende Bedenkzeit“, „Verbot von Spätabbrüchen“ etc.).
Die Selbstbestimmung der Frau endet nicht nach dem Eintreten einer (ungewollten) Schwangerschaft, aber sie kann unter restriktiven gesellschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich eingeschränkt werden.

Deshalb ist es nach wie vor politisch relevant, dass Frauen (und auch Männer!) sich ihrer sexuellen Rechte bewusst sind und diese auch einfordern. Es gilt immer wieder zu verdeutlichen, dass die Selbstbestimmung als ein sexuelles Recht ein Menschenrecht ist – genauso wie das Recht auf sexuelle Gesundheit, sexuelle Freiheit sowie der Schutz vor Diskriminierung, sexueller Gewalt, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) verabschiedete eine Charta der Sexuellen und Reproduktiven Rechte. Artikel 9 der Erklärung beschreibt das Recht auf freie Entscheidung für oder gegen die Ehe und für oder gegen die Planung einer Familie sowie das Recht zu entscheiden, ob, wann und wie viele Kinder geboren werden sollen.

Die Themen Schwangerschaft und Kinderkriegen bewegen uns. Zum Thema Schwangerschaft wird viel berichtet, es gibt zahlreiche Beratungsangebote, Kurse, Austauschmöglichkeiten, (medizinische) Versorgungsmöglichkeiten. Anders sieht es aus, wenn es um die Entscheidung geht, die Schwangerschaft zu beenden. Das Thema bewegt, gleichzeitig wird es verschwiegen, kocht nur manchmal hoch. Was macht dieses Tabu mit Betroffenen: mit Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen haben; mit Frauen, die sich dafür entscheiden?

Wir leben im digitalen Zeitalter und ich denke, Abtreibung bzw. der Schwangerschaftsabbruch sind nicht mehr „tabu“. Google gibt uns auf Knopfdruck zu beiden Begriffen fast 5 Millionen Informationen und der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist weltweit mit jährlich 73 Millionen Eingriffen eine durchaus häufige gynäkologische Behandlung. In Anbetracht dieser Fakten ist jedoch die Qualität der Informationen näher zu betrachten. Nicht ein vermeintliches „Tabu“ macht die Situation für Frauen schwierig, sondern dass es nach wie vor so viele falsche Informationen und Mythen über den Abbruch gibt und viele dieser Informationen von persönlich nicht Betroffenen und beruflich mit dem Thema Unerfahrenen kommen. Deshalb ist es auch in den Beratungsgesprächen vor einem Abbruch wichtig, allfällige Falschinformationen und Mythen richtig zu stellen und betroffene Frauen darin zu stärken mit ihrer Entscheidung gut zu leben. Wichtig sind also: gute Informationen und eine selbstbestimmte Entscheidung.
Der Wertkonflikt, in dem sich Frauen befinden, die zum Abbruch entschieden sind, ist ein interpersonaler Konflikt zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Interessen. Wertschätzung erfahren diejenigen, die sich für die Mutterschaft entscheiden, und Ablehnung diejenigen, die einen Abbruch durchführen lassen. Viele Frauen erleben im Zusammenhang mit ihrer ungewollten Schwangerschaft auch Informationskonflikte (falsche oder ungenügende Informationen zum Abbruch) oder Machtkonflikte (gesetzlich verordnete Pflichtberatungen und Wartefristen), die sie als nicht hilfreich in der Bewältigung der aktuellen Situation erleben.

Vor welchen psychologischen Herausforderungen stehen Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben?

Für viele Frauen bedeutet ein Abbruch, dass sie ihr bisheriges Leben fortsetzen und ihrer Verantwortung sich selbst, ihren Familien und der Gesellschaft gegenüber weiter gerecht werden können. Die Gefühle nach einem Abbruch schwanken zwischen Schuldgefühlen und Traurigkeit über den Verzicht auf eine Lebensmöglichkeit und Erleichterung. Für viele Frauen wird die Zeit bis zum Termin des Abbruchs wesentlich belastender erlebt, als der Eingriff selbst oder die Zeit danach. Sehr wenige Frauen haben nach einem Schwangerschaftsabbruch anhaltende psychische Probleme, sofern sie vorher gut informiert wurden, die Entscheidung selbstbestimmt getroffen haben, eine wohlwollende, soziale Akzeptanz ihrer Entscheidung in ihrem persönlichen Umfeld vorhanden ist und in einer angenehmen Atmosphäre optimal medizinisch und menschlich betreut wurden.
Dennoch ist ein Schwangerschaftsabbruch nichts, worüber betroffene Frauen gerne sprechen, und wenn, dann meist nur mit wenigen vertrauten Personen. Die Mehrheit der Frauen, die mit ihrer Entscheidung gut lebt, äußert dies nicht in der Öffentlichkeit, und das gibt Raum für vereinzelte dramatische Fallgeschichten und Propaganda religiöser Fanatiker*innen. Ein „Post Abortion Syndrom“ wurde von „Anti-Choice“- Anhänger*innen mit der Absicht konstruiert, dass das psychische Gesundheitsargument Frauen noch stärker verunsichert als das moralische Argument. Es existiert in keinem Diagnosemanual und wirkt dennoch in vielen Köpfen, obwohl die internationale Studienlage bestens belegt, dass es kein nachhaltiges Risiko für die psychische Gesundheit von Frauen in Folge eines freiwilligen Abbruchs einer Schwangerschaft im ersten Trimenon gibt.
Im Wesentlichen hat das vorbestehende psychische Befinden den größten Einfluss darauf, wie sich Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch fühlen. Besondere Aufmerksamkeit brauchen Frauen* mit psychischen Vorerkrankungen, Frauen mit starken Ambivalenzen bei der Entscheidung, Frauen*, die eine ursprünglich gewünschte Schwangerschaft abbrechen, und Frauen, die mit niemandem über ihre Entscheidung sprechen konnten. Als Gesellschaft können wir viel dafür tun, dass es Frauen damit gut geht: die Akzeptanz der Selbstbestimmung ist wesentlich, eine kostengünstige, wohnortnahe medizinische Versorgung in einer angenehmen Atmosphäre stärkt und unterstützt.

„Mein Bauch gehört mir!“ – Die Gespräche mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger haben gezeigt, wie wichtig es ist, dieses Thema immer wieder in den Raum zu stellen. Denn die Frage danach, ob das in der Praxis tatsächlich so ist, steht in einem größeren Kontext: Wer entscheidet über den Körper der Frauen? Wer macht die Gesetze, die ihren Handlungsspielraum bestimmen? Welchen kulturellen, wirtschaftlichen und medizinischen Zugang gibt es zu Verhütungsmitteln? Und welchen Zugang zu medizinischer und psychologischer Beratung und Behandlung haben Frauen?* Es geht auch darum, wie Familien- und Erziehungsarbeit aufgeteilt werden, wie gleichberechtigt wir tatsächlich leben. Und welchen Weg wir als Partner*innen, Familie, Gesellschaft und Staat noch vor uns haben, um Menschen ein tatsächlich selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

* Wie lange ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich? Kurz zusammengefasst ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz der Schwangerschaftsabbruch bis zu einer bestimmten Frist straffrei möglich (in der Schweiz bis zur zwölften, in Deutschland bis zur vierzehnten und in Österreich bis zur sechzehnten Schwangerschaftswoche). In Österreich stellt eine vorherige Beratung keine Zwangsmaßnahme dar. Ebenso gibt es keine vorgeschriebene Wartezeit zwischen erster Beratung und Abbruch. Anders als in Deutschland, wo eine Verpflichtung zum Nachweis einer Beratung durch eine zugelassene Stelle herrscht und drei volle Tage zwischen Beratung und Abbruch liegen müssen. Ein strafloser Schwangerschaftsabbruch ist auch in der Schweiz möglich – vorausgesetzt die Frau macht schriftlich geltend, dass sie sich „in einer Notlage“ befindet. Die Betroffenen müssen ein eingehendes Gespräch mit den Ärzt*innen führen, von denen ihnen ein Leitfaden mit einem Verzeichnis von Beratungs- und Hilfsstellen ausgehändigt werden muss. Die geltenden Regeln zu Schwangerschaftsabbrüchen gehen in Österreich auf Kaiserin Maria Theresia zurück, in Deutschland auf Kaiser Wilhelm I. Außerhalb großer Städte ist es für Frauen schwer, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. In Deutschland war es Ärzt*innen, die selbst Abbrüche durchführen, bis vor kurzem verboten, über die Möglichkeit zu informieren – dieses Recht oblag nur Ärzt*innen und Krankenhäusern, die selbst keine Abbrüche durchführen. 2022 wurde die Abschaffung dieses in §219a verankerten Werbeverbot vom Deutschen Bundestag beschlossen. Unter besonderen Umständen besteht für Frauen* auch nach Ablauf der Wochen-Fristen die Möglichkeit eines straffreien Abbruchs.

„Sicher war, dass ich niemals so werden wollte wie die Erwachsenen.“ – Gespräche übers Großwerden

Pubertät ist, wenn die Eltern schwierig werden, diesen Spruch hast du vielleicht auch schon gehört. Doch wenn wir uns zurückerinnern an die Jahre des Erwachsenwerdens, gibt es ganz andere Fragen, die sich in dieser Zeit gestellt haben: Wer will ich eigentlich sein? Welche Spuren will ich auf der Welt hinterlassen? Was ist mein Weg? Drei Leser*innen haben uns erzählt, was für sie besonders große Herausforderungen waren, was geholfen hat – und welche Werte der Eltern sie trotz aller jugendlichen Kämpfe bis heute im Herzen tragen.

Parnia Kavakebi ist zwar in Österreich geboren, verbrachte dann aber ihre ersten vier Lebensjahre dort, wo ihre Familie herstammt: im Iran. Mit vier Jahren floh sie mit ihren Eltern und Geschwistern vor dem Krieg und kehrte zurück nach Österreich. Heute studiert sie Architektur, engagiert sich in feministischen Projekten und genießt nach einem Umzug von Innsbruck nach Wien das Großstadtleben. Foto: privat

Parnia

Würdest du sagen, dass du erwachsen bist? Welche Schritte in deinem Leben waren besonders große in Richtung Selbständigkeit? Und inwiefern haben sie bedeutet, dich von der Familie und ihren Werten zu lösen und dir eigene zu erkämpfen?

Ich würde mich als bedingt erwachsen bezeichnen, denn der jugendliche Idealismus kommt noch ganz schön oft durch. Der größte Teil meiner frühen Selbständigkeit kommt wohl daher, dass ich schon als kleines Schulkind viel alleine zuhause war, da meine Eltern sozusagen rund um die Uhr gearbeitet haben, arbeiten mussten. Außerdem musste ich mich auch schon früh immer wieder gegen rassistische Anfeindungen oder gegen „Andersbehandlung“ von Seiten der Erwachsenen verteidigen. Ich glaube, dass auch das zu einer frühen Selbständigkeit führen kann.

Von manchen Werten in meiner Familie habe ich mich bis heute noch nicht gelöst und trage sie mit mir. Nicht, weil ich mich nicht lösen kann, sondern weil ich mit zwei Kulturen aufgewachsen bin – mein Vater stammt aus dem Iran und meine Mutter aus dem Zillertal. Ich finde es schön, mir aus beiden Kulturen positive „Dinge“ rauszupicken.

Das persische Neujahrsfest findet im März statt, der Frühlingsbeginn ist somit eine spezielle Feierlichkeit für mich – und in meinem Denken ganz verwandt mit dem hiesigen Fasching. Ich liebe die persische Gastfreundschaft ebenso wie die österreichische Satire. Und während ich in Wien das Sudern feiere, mag ich an der persischen Kultur „Taroof“ – eine Form von höflichem Zeremoniell – besonders.

Deine Familie stammt aus dem Iran, denkst du, dass daraus, als du Teenagerin warst, andere Reibungsflächen entstanden sind als mit Eltern, die hier aufgewachsen sind? Wenn ja, welche waren das?

Als Teenagerin war das manchmal schon eine harte Nummer, ich wollte angepasst sein wie nie zuvor oder danach in meinem Leben, auf keinen Fall anders sein. Trotzdem war das „Ausländerinsein“ fast schon ein Alleinstellungsmerkmal, da es in meinem Freundeskreis sonst keine „Migrantenkinder“ gab, und in der gesamten Schule vielleicht vier Kinder mit Migrationshintergrund. Die Reibungsflächen mit meinen Eltern waren nicht mühsamer als die meiner Freund*innen. Das zusätzliche Aufbegehren gegen die Schubladen, in die mich meine Umgebung drücken wollte, war anders. Meine Rebellion fand vor allem dadurch statt, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste mich entscheiden zwischen zwei Kulturen. In dieser Zeit habe ich zum Beispiel aufgehört, Farsi zu sprechen, wollte keine persische Jause mehr in die Schule mitnehmen und ging nicht in die Sonne, um nicht braun zu werden. Ich schämte mich dafür, eine „fremde“ Sprache zu sprechen. Ich dachte, ich müsste alles wissen, um möglichst klug und nicht das „dumme Ausländerkind“ zu sein, für das mich erwachsene Österreicher*innen gerne hielten. Struktureller Rassismus von Lehrer*innen hat mir die Schulzeit erschwert und mir das Gefühl vermittelt, ich müsste dreimal mehr für gute Noten arbeiten. Gegen meine Eltern musste ich nicht viel rebellieren, ich musste mich eher sehr anstrengen, mich in der Gesellschaft zu assimilieren um die Eltern meiner Freund*innen nicht zu verärgern, so hat es sich zumindest für mich angefühlt. Auch wenn meine Eltern Ausgehzeiten streng hielten und das Komasaufen nicht so locker nahmen, bleibt mir eher die Ablehnung der anderen Erwachsenen aufgrund meiner Herkunft in Erinnerung.

Gibt es etwas, das dir deine Eltern vermittelt haben, das für dich als Jugendliche besonders wichtig war – und das du auch Jugendlichen von heute wünschen würdest?

Meine Eltern haben mir immer das Gefühl gegeben, ich wäre sehr schlau, und dass sie mir zutrauen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie haben mir sehr früh verständlich gemacht, was Rassismus ist, und daher konnte ich den Antrieb gewisser Menschen verstehen, ohne an meiner Person zu zweifeln, ohne gebrochen zu werden. So konnte ich stabil wachsen. Solidarität war ein wichtiges Thema für meine Eltern, Mitgefühl, nicht nachtragend zu sein und Geduld. Ich wünsche Jugendlichen mit ähnlichem Herkunftshintergrund, dass sie die Vorzüge mehrerer Kulturen annehmen und genießen können und sich gleichzeitig nicht unterkriegen lassen, ihre Identität bewusst finden und wahren können. Und dass sie trotzdem das Gefühl haben, vollständige, wertvolle Mitglieder der österreichischen Gesellschaft zu sein. Ich glaube immer noch, dass Multikulti funktioniert, und ich wünsche vor allem den jungen Mädchen mit Migrationshintergrund viel Energie und Leidenschaft.

Heinrich

Heinrich Breidenbach war 1971 siebzehn Jahre alt. Seit Beginn seines Berufslebens ist er engagiert und macht den Mund auf: als Sozialarbeiter, Öffentlichkeitsarbeiter, Journalist und Autor, privat ist er liebender Papa und Opa. Besonders wohl fühlt er sich auf dem Wasser – als Skipper auf Segelyachten oder im Kajak. Er ist Mitbegründer von genusspaddeln.at. Foto: privat

Was hat Erwachsenwerden für dich bedeutet? Wann ist es passiert – gibt es rückblickend einschneidende Erlebnisse, etwa Reibungen mit den Eltern, Studienabschluss, erstes eigenes Geld, die du damit verbindest?

Eine sehr unbewusste Sache war dieses „Erwachsenwerden“ bei mir. Mir ist kein Wunsch, keine Absicht oder Plan erinnerlich, erwachsen werden zu wollen. Heute würde ich sagen, Erwachsensein hat mit Stabilität, Souveränität, Großzügigkeit, Denk-, Liebes- und Arbeitsfähigkeit zu tun. Ich kann mich aber nicht erinnern, diesen Begriff als Jugendlicher jemals für mich positiv reflektiert zu haben. Sicher war, dass ich niemals so werden wollte, wie die „Erwachsenen“. Mehr oder weniger bewusst war das ein negativ besetzter Begriff. „Erwachsene“ waren spießig, fad, nervös, reaktionär, von den Schrecken des 20. Jahrhunderts traumatisiert, in konservativen und religiösen Konventionen gefangen und überhaupt nicht sexy. Ich steuerte ein Antiprogramm dazu an.
Reibungen und ernsthafte Konflikte mit den Eltern gab es jede Menge. Kleidung. Haare. Umgang. Freundin. Musik. Politik. Religion. Lebensstil.
Nachträglich finde ich immer noch beglückend, dass dadurch die persönliche Wertschätzung der Eltern und auch meine Liebe zu ihnen nicht grundsätzlich gestört wurden. Die verbindende familiäre Klammer war immer stärker. Das ist schön.

Es kam überhaupt alles anders. Mit 22 eröffnete mir meine damalige Freundin und jetzige Frau, schwanger zu sein. Ich war Student, sie Studentin. Es wird mein familiär geprägtes Über-Ich gewesen sein; jedenfalls war das Gefühl groß, mich der Verantwortung für mein Kind stellen zu müssen, und die Entscheidung daher eindeutig. Trotz aller Ambivalenzen. Das bedeutete auch, einen großen, unerwarteten und ungeplanten Schritt in das „Erwachsenwerden“ tun zu müssen, zumindest in Teile davon.

Was für Regeln waren deinen Eltern besonders wichtig, als du Kind und Jugendlicher warst, die dir beim Erziehen deiner eigenen Kinder vielleicht weniger wichtig waren oder die du und deine Frau für euch neu gestaltet habt? Und wie ist das jetzt als Opa?

Was die äußeren Regeln und Konventionen betrifft, haben wir vieles anders gemacht. Aber die Prägung bleibt. Meine Eltern waren liebevoll, absolut korrekt, immer verlässlich, sorgend und gutmeinend. Sie kannten wenig Neid und wenig Hass. Sie waren freundlich, rücksichtsvoll, hilfsbereit und verantwortlich. Bestimmt war die Substanz meiner Erziehung auch prägend für meine Rolle als Vater. Sicher wollte ich diese Substanz weitergeben, wenn auch in anderen Formen.
Als Opa dominieren andere Gefühle. Die Liebe ist bedingungsloser und weniger fordernd. Man fühlt sich nicht so als Erzieher, der etwas erwartet oder erreichen will. Man fühlt sich mehr als Geber. Den großen Unterschied macht die Wahrnehmung der äußeren Umstände aus. Seit meine Enkelin auf der Welt ist, machen mir diese mehr und auf eine viel persönlichere Art Sorgen. Als junger linker Revolutionär hatte ich eine positive Zukunftssicht. Es wird alles besser. Es kann gar nicht anders. Das ist der Lauf der Geschichte. Ich habe mir um die Zukunft der Welt, in der meine Kinder leben werden, keine wirklichen Sorgen gemacht. Jetzt ist das anders. Jetzt macht mir der Wahnsinn der Welt, die soziale und ökologische Verantwortungslosigkeit der Mehrheiten, persönliche Sorgen. Und zwar direkt mit Blick auf meine bezaubernde Enkelin. Ich bin ängstlicher. Ich bin zorniger. Letzte Woche habe ich einen Porsche, der laut röhrend durch unsere Wohngegend gerast ist, gestoppt und den Fahrer mehrere Minuten lang angeschrien. Nicht gut. Dabei hatte ich meine Enkelin im Kopf. Ansonsten und im direkten Umgang mit Enkelkindern ist man ruhiger, gelassener und einfach glücklich.

Was glaubst du, waren große Herausforderungen für die Heranwachsenden deiner Generation, und was glaubst du, vor welchen stehen Kinder und Jugendliche heute?

Meine Generation in den westlichen Industriestaaten ist mit Wohlstand, Demokratie, Sicherheit und Frieden die privilegierteste Generation, die jemals auf diesem Planeten gelebt hat. Wir hatten nicht mehr die schwierige Aufgabe des „Wiederaufbaus“. Wir leben gut und auch unsere Kinder und Enkelkinder leben meistens gut. Bisher. Wir hätten die Aufgabe gehabt, und haben diese immer noch, unsere Privilegien zu globalisieren, sie sozial und ökologisch nachhaltig für die Zukunft zu sichern. Das wollte und will diese privilegierte Generation mehrheitlich nicht angehen. Die heutigen Kinder und Jugendlichen werden mit diesem Versagen umzugehen haben.

Kerstin

Kerstin verließ als Teenagerin ihre Heimat nahe Berlin, um sich in den Bergen ein eigenes Leben aufzubauen. Heute ist sie in der Kinder- und Jugendhilfe in der Krisenunterbringung tätig und hilft Kindern und angehenden Erwachsenen, ihren Platz in der Welt zu finden. Foto: privat

Du warst sehr jung, als du dich auf eigene Füße gestellt hast. Wie hat sich das damals angefühlt – und bist du froh dich so entschieden zu haben?

Damals war das eine riesengroße Herausforderung und eine große Umstellung, das Schlimmste war anfangs die Sprachbarriere. Die ersten zwei Wochen in Tirol habe ich kein Wort verstanden, in der Mittagspause mit den Kolleg*innen in meinem damaligen Lehrbetrieb in der Gastronomie habe ich einfach mit den anderen mitgelacht, ohne zu wissen, worum es geht. Der viele Schnee hat mich ebenfalls überrascht, und die Umstellung von der Schule auf einen Vollzeit-Lehrberuf war am Anfang für mich ebenfalls nicht einfach.
Rückblickend war es aber die beste Entscheidung meines Lebens. Ich habe dort, in der Nähe von Berlin, keine Zukunftsperspektive für mich gesehen und hatte – auch familiär – nicht das Gefühl, unterstützt zu sein und mich entfalten zu können. Daher war es besser, mich aus diesem Kontext zu lösen und einen Neubeginn zu machen.

Erwachsen werden heißt, eigene Entscheidungen zu treffen – herauszufinden, wer man sein will, wen man liebt, und mit wem man sich umgeben möchte. Hat es in dem Zusammenhang besonders wichtige Momente für dich gegeben?

Ein damaliger Arbeitskollege hat mich in ein Szenelokal mitgenommen, wo mir zum ersten Mal eine Frau begegnet ist, die für mich zum Verlieben war. Ich glaube nicht, dass ich zuhause, in meinem engstirnigen Umfeld, den Mut gefunden hätte, diese Liebe auszuleben. Das Umfeld an meinem neuen Wohnort habe ich mir selbst ausgesucht, entsprechend aufgeschlossen war es auch. Insofern: Ja, das „Abnabeln“ hat bei mir sehr viel dazu beigetragen, dass ich zu mir selbst gefunden habe.

2014 war auch ein wichtiges Jahr für mich: Ich musste aus gesundheitlichen Gründen meinen Beruf in der Gastronomie hinter mir lassen und einen neuen Weg einschlagen: die Schule für Sozialbetreuungsberufe. Sie hat mich in die Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung geführt, in der ich heute tätig bin. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist für mich bereichernd, abwechslungsreich, herausfordernd und ist ein wichtiger Teil meines Lebens.

Die Kinder und Jugendlichen, mit denen du arbeitest, haben schwierige Erfahrungen machen müssen. Wie kannst du sie darin unterstützen, bestmöglich in ein zufriedenes Leben zu starten?

Mir ist besonders wichtig, die Kinder in ihrer Autonomie zu bestärken. Die Unterstützung, die ich zuhause vermisst habe, versuche ich jetzt, den Kindern mit auf den Weg zu geben, und somit aus einer für mich als Kind negativen Situation für die Kinder jetzt etwas Positives zu machen, weil ich mich aus meiner eigenen Erfahrung heraus sehr gut einfühlen kann. Wenn sie zu uns in die Einrichtung kommen, weil sie in ihrer Familie nicht entsprechend betreut werden können, vermissen sie natürlich ihre Eltern und Bezugspersonen. Daher bemühe ich mich, ihr Leben so familiär wie möglich zu gestalten. Und ich bemühe mich, ihnen zu vermitteln, dass sie an ihren Zielen, Wünschen und Träumen festhalten sollen, weil sie sie tatsächlich verwirklichen können. Kinder, die viel Negatives erlebt haben, muss man umso öfter daran erinnern, dass ihnen alle Möglichkeiten offenstehen, der Mensch zu werden, der sie gerne sein möchten. Beispiele, die zeigen, dass das wirklich möglich ist, sehen wir regelmäßig.

Stell dir vor, es ist Krieg – und du warst dort: über Erinnerungen mit zerstörerischer Kraft

In vielen unserer Bücher begibst du dich mit den Protagonist*innen in seelische Ausnahmesituationen – zum Beispiel in einem Kriegsgebiet. Wahrscheinlich hast du – ebenso wie wir – eine Vorstellung davon, wie sich einschneidende Erlebnisse auf die Seele auswirken und dass sie Spuren hinterlassen können, das „Leben danach“ völlig verändern. Doch was genau ist eigentlich ein Trauma? Was macht es mit einem betroffenen Menschen? Stimmt es, dass ein Trauma „erblich“ sein kann?

Oswald Klingler ist Klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut. Er interessiert sich ganz besonders für jene Verwundungen, die durch schlimme Erfahrungen in unserer Seele entstehen können, und dafür, wie man diesen Wunden beim Heilen hilft. Fürs österreichische Bundesheer hat er das Zentrum für Psychotraumatologie und Stressmanagement aufgebaut – und mit uns hat er sich über seine Arbeit unterhalten.

Oswald Klingler hat mit uns über Verwundungen der Seele gesprochen. © privat

Was ist ein Trauma überhaupt? Was passiert bei einer Traumatisierung mit unserer Seele?

Ein Trauma ist eine Verwundung. Manchmal wird auch das Ereignis selbst, das zur Verwundung geführt hat, als Trauma bezeichnet. Anders als bei körperlichen Verwundungen sind solche, die das Seelische betreffen, zumeist nicht so deutlich sichtbar. Doch auch seelische Verwundungen verursachen zunächst einmal Schmerz und oft noch weitere Beeinträchtigungen. Die Erfahrung von Grausamkeit oder drohendem Tod, egal ob bei einem selbst oder bei anderen Menschen, kann ein Trauma sein, aber auch ein Verlust, eine Niederlage oder eine Demütigung. Das Kriterium wäre, dass der Schmerz oder die Beeinträchtigungen länger andauern als das eigentlich auslösende Ereignis. Und wie körperliche Verletzungen können auch seelische rasch und ohne große Folgeschäden verheilen. Gar nicht selten führen sie aber zu anhaltend schmerzhaften Narben oder einer schleichenden Sepsis, welche die Gesundheit des gesamten Organismus bedroht.

Warum ist es so wichtig, dass man sich bei einer Traumatisierung besonders schnell Hilfe sucht? Kann auch eine „seelische Wunde“ besser heilen, wenn man sie entsprechend behandelt?

Im Mittelpunkt steht bei Trauma-Folgeschäden die Schmerzlichkeit der Erinnerung, die man nicht loswerden kann. Es kommt zu einem unerwünschten Wiederauftreten dieser Erinnerungen, zum Beispiel Albträumen oder Flashbacks. Und man möchte die Erinnerungen vermeiden und daher auch nicht darüber sprechen. Und so kann es sein, dass man beginnt, bestimmte Gesprächsinhalte und Kontakte zu vermeiden, vielleicht auch bestimmte Orte oder Situationen. Und man gerät in Angst und Einsamkeit und Flucht oder Abhängigkeiten. Leider nicht so selten führt der Weg dann von der Traumatisierung zur Depression und/oder in eine Sucht, manchmal auch zu Selbstverletzung und Suizidgedanken. Mit einer geeigneten Psychotherapie bestehen aber recht realistische Chancen, eine solche Entwicklung zu verhindern. Vor allem aber ist es schade um jeden Tag, den man dem Leiden unnötig ausgesetzt bleibt.

Worin unterscheidet sich ein Kriegstrauma von einem anderen, was ist besonders daran?

Es gibt kaum objektive Kriterien für die Schwere eines Traumas. Was dem einen eine vernichtende Katastrophe ist, berührt jemand anderen vielleicht viel weniger. Doch ein Krieg stellt eine besonders grausame Realität dar. Viele Soldat*innen und oft auch unschuldige Zivilist*innen werden von einer Hölle zur nächsten getrieben, erleben eigene Entbehrungen, Schmerzen und Verstümmelungen, aber auch das Leiden und den Tod von Kamerad*innen und „Feind*innen“ und anhaltende und wiederkehrende Todesangst. Das nicht nur über Wochen oder Monate, sondern an manchen Kriegsschauplätzen auch über Jahre. Ähnliche anhaltende oder wiederholte Extrembelastungen sind auch von den Überlebenden von Konzentrationslagern, bei anderweitig Inhaftierten, Folteropfern oder Geflüchteten bekannt. Die Folgen werden heute oft als komplexe Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet und fordern naturgemäß eine sehr intensive Behandlung. Sogenannte Monotraumata, als „einzelne“ traumatische Erlebnisse, können ebenfalls sehr schwerwiegend sein, gelten insgesamt aber als leichter behandelbar.

Wie du sagst, sind ja auch Geflüchtete häufig traumatisiert vom Kriegsgeschehen, vor dem sie geflohen sind. Inwiefern ist die Erfahrung, die man als Zivilist*in macht anders als das, was man als Soldat*in erlebt?

Tatsächlich sind leider auch Geflüchtete sehr häufig Mehrfachtraumatisierungen unterworfen. Und sind daran zumeist völlig schuldlos. Sie können allerdings vielleicht Soldat*innen oder deren Auftraggeber*innen zu den Schuldigen machen, die für ihr Elend verantwortlich sind. Ein Soldat oder eine Soldatin aber muss auch damit fertig werden, an dem Elend, das ihm oder ihr nie ganz verborgen bleiben kann, eine Mitschuld zu tragen. Berechtigte oder unberechtigte Schuldgefühle sind fast immer auch ein Bestandteil von belastenden Traumafolgen.

Wie unterscheiden sich Traumatisierungen der Soldat*innen vor hundert Jahren von denen der Soldat*innen heute – falls sie das überhaupt tun?

Ein österreichischer oder deutscher Soldat, der im Ersten Weltkrieg Panikattacken, Weinkrämpfe oder Zitteranfälle bekommen hat, musste damit rechnen, dass er als Feigling, Simulant oder Psychopath angesehen wird. Die Traumafolgen wurden häufig auch als „hysterisch“ bezeichnet, nach dem damaligen Verständnis für einen männlichen Soldaten eine besondere Demütigung. Die Behandlungen sollten die Geschädigten zurück an die Front zwingen, nach dem Prinzip, dass die Behandlung schlimmer als die Front sein müsse. Die häufige Behandlung mit Elektroschocks führte auch zu Todesfällen und natürlich gab es zahlreiche Suizide. Heute erfahren alle österreichischen Soldat*innen im Rahmen ihrer Ausbildung – zur Selbst- und Kamerad*innenhilfe – dass Traumatisierungen normale Reaktionen auf abnorme Situation und als solche gut behandelbar sind. Dass die im Ersten Weltkrieg so häufigen Symptome der Bewegungsstörungen bei den sogenannten Kriegszitterern heute kaum mehr beobachtbar sind, kann kaum zweifelsfrei erklärt werden. Es hat vielleicht mit den im Ersten Weltkrieg so verbreiteten Stellungskriegen zu tun, in denen jede Bewegung gefährlich war, vielleicht aber auch damit, dass andere Störungen weniger zugegeben oder dokumentiert wurden.

Man hört ja gelegentlich von „erblichen“ Traumata. Tragen wir Spuren von dem in uns, was unsere Großeltern im Zweiten Weltkrieg erlebt haben?

Traumata können sich auf zwei Wegen auf die nachfolgenden Generationen auswirken: zum einen über das Verhalten und zum anderen auf dem Weg der Epigenetik. Eine Vermittlung über das Verhalten des Traumatisierten und dessen Wahrnehmung durch seine Nachkommen könnte man sich zum Beispiel so vorstellen: Ein Vater ist zu keinem Interesse gegenüber seinen Kindern in der Lage und neigt zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Oder er berichtet immer wieder in höchst ungeordneter und damit vielleicht unverständlicher Form über seine Erlebnisse. Und Epigene, also Anhängsel an der Ribonukleinsäure, durch welche spezifische Genaktivitäten ein- oder ausgeschaltet werden, können durch Traumata verändert werden und dann eine erhöhte Stressempfindlichkeit an nachfolgende Generationen übertragen. Wichtig zu beachten ist, dass das vermutlich – nach ersten vorliegenden Ergebnissen – durch eine geeignete Psychotherapie auch wieder rückgängig gemacht werden kann.

Und am Ende: Gibt es einen Fall aus deiner Arbeit, der dich besonders betroffen gemacht hat? Wie schützt du dich selbst?

Jeder Fall macht betroffen. Und ein wenig wütend hat mich das Folgende gemacht: Ein nicht mehr ganz junger Unteroffizier der Miliz (als solcher kein Berufssoldat, sondern in einem Zivilberuf und nur für Übungen oder Einsätze beim Bundesheer tätig) hat sich für einen UNO-Einsatz in Syrien gemeldet. Natürlich auch wegen der gebotenen Verdienstmöglichkeiten. Und wie alle Auslandssoldat*innen beim österreichischen Bundesheer wurde er vor dem Einsatz einer umfassenden Eignungsüberprüfung unterzogen, mit einer fast 24-stündigen psychologischen Untersuchung, welche eine uneingeschränkte Einsatzeignung ergeben hat.
Im Einsatzraum fand er sich dann, vorbereitet und ausgerüstet für Beobachtungsaufgaben und verantwortlich für eine Gruppe junger Kameraden, mitten in einem umkämpften Bürgerkriegsgebiet. Er ist mehrmals unter Beschuss geraten und sehr mutig und unter Lebensgefahr für die Erfüllung seines Auftrages und für seine Kameraden eingetreten. Wieder daheim: nächtliches Aufschrecken, quälende Erinnerungen und Albträume über den Einsatz, zunehmende soziale Ängste, Kontaktvermeidung und Depression. Damit war die Arbeitsfähigkeit sehr stark eingeschränkt. Eine Anerkennung seiner Probleme als Einsatzschädigung ist auch vor dem Verwaltungsgerichtshof abgelehnt worden, mit der Begründung, er habe schon vor dem Einsatz Probleme gehabt: Verluste von Angehörigen, eine Pleite, eine Scheidung. Hätte keine Vorschädigung bestanden, dann hätte er auch die Belastungen des Einsatzes besser verkraftet.

Naturgemäß ist es belastend, die in der Behandlung unverzichtbare Auseinandersetzung mit den Traumainhalten zu leisten, mit den Klient*innen in die traumatisierende Situation zurückzukehren. Zu versuchen, seine Gefühle zu dämpfen und zu kontrollieren, scheint nur begrenzt sinnvoll und aussichtsreich. Sehr viel hilfreicher für Betroffene wie für Therapeut*innen ist es, konsequent den Blick immer wieder weg vom Leiden und auf die Möglichkeiten seiner Bewältigung zu lenken.

Danke für das spannende Gespräch, lieber Oswald!

 

Dem Kampf, der im Inneren des Menschen toben kann, spürt auch Tanja Paar in ihrem Roman „Die zitternde Welt” nach. Die Kinder des österreichischen Paares Maria und Wilhelm wachsen an der Wende zum 20. Jahrhundert als Bürger des Osmanischen Reiches auf. Anatolien ist ihr Zuhause, Türkisch ihre Muttersprache – nicht Deutsch. Die alte Heimat der Eltern haben sie nie kennengelernt, sie existiert nur als fahle Erinnerung aus deren Erzählungen. – Bis der Erste Weltkrieg ausbricht. Geburtsort, politische Grenzen und Allianzen gewinnen plötzlich an entscheidender Relevanz: Was bedeutet der Krieg für die beiden Söhne im wehrpflichtigen Alter? Was bedeutet er für Maria, für die ein Leben außerhalb von Anatolien fernab jeglicher Vorstellungskraft liegt?