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Dichte Poesie und feiner Humor: Angelika Rainer erhält den Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck

Vor 30 Jahren stellte die große Friederike Mayröcker – in wenigen Tagen werden ja Mayröcker-Festspiele einsetzen, anlässlich der einhundertsten Wiederkehr des Geburtstages dieser Poetin, die übrigens ihren mutmaßlich letzten langen Lese-Auftritt, wenn auch digital, bei einem Tiroler Literaturfestival hatte – vor 30 Jahren also stellte Friederike Mayröcker in einem Gedicht, das den Titel „was brauchst du“ trägt, die Frage: „was brauchst du?

Die Antwort folgte stante pede:

„was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch“.

Und einige Zeilen später hieß es da:
„du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus“.

Und vom Baume abbrechend, natürlich unter gesittet försterlicher Aufsicht, braucht man den „Kunst – Zweig Literatur“. Und dazu, wie Frau Mayröcker meinte, ein Haus. Denn, wie es in Frau Rainers „See’len“ an einer Stelle heißt:

„In den pelagischen Regionen des Auges tritt die Welt auf –
ein Baum, ein Haus, ein Vogel, ein Mensch.“

Statt eines Hauses kann es aber auch ein Zweckbau sein.

Portrait: © A. Darmann

Angelika Rainer, die Trägerin des Preises für künstlerisches Schaffen 2024 in der Sparte Literatur, mit (v.l.) Vizebürgermeister Georg Willi, Kulturamtsleiterin Isabelle Brandauer und Alexander Kluy (Jury).
 

Angelika Rainer gebührt der heute verliehene Preis aber nicht nur für ihren Band „Zweckbau für Ziegen“. Sondern mit gleichermaßen egalitärer Berechtigung und ob schriftstellerischer Verve und für poetischen Furor gebührt er ihr für ihr Gesamt-Werk. Davon ist „Zweckbau für Ziegen“ der letzte, der neueste Band.

Der Titel schon irritiert. Und er irisiert.

Zweckbau, wird da gleich im Auftakt erläutert, geht zurück auf Gion Caminada, einen Schweizer Architekten – oder wäre nicht: Baumeister treffender? –, der aus dem Dorfe Vrin stammt, das zur Gemeinde Lumnezia gehört und das im Kanton Graubünden liegt.

„Vrin“„Lumnezia“ – Worte und Namen, die die Poesie kaum besser und kaum schöner erfinden kann.

Das Werk Caminadas, des inzwischen Mittend-Sechzigers, weist neben Erwartbarem, einem Hotelumbau, einer Gemeindehalle und einigen Wohnhäusern, auch einen Käserei-Neubau auf, eine Telefonkabine und mit der Stiva da morts tatsächlich eine: Totenstube – sowie in Puzzatsch, einem Weiler nahe Vrin, das zur namenstraum-verlorenen Gemeinde Lumnezia gehört, – einen Geissenstall. Der in zwei Baukörper aufgeteilte Entwurf schmiegt sich riegelig an den Hang. Aus Holz und Stein errichtet, mutet er einerseits traditionell an. Und ist es andererseits auf der Stelle, auf seiner Stelle nicht. Ein Weg führt daran vorbei. Auf jüngeren Fotografien mutet das Ganze an, als stünde das ställerne Gebäude schon seit Generationen dort, wo es steht und vor dem knollig jäh ansteigenden Berghang schützt.

Gleich-Ähnliches gilt für „Zweckbau für Ziegen“.

Der Band, von dem man inzwischen meint, es habe ihn schon immer gegeben, schmiegt sich riegelig in die knollig ansteigende Handinnenseite einer und eines jeden, der das schön gestaltete Buch in die Hand nimmt und aufschlägt. Und sich festliest.

Über den so fein wie feinsinnig alliterierend tänzerischen Titel „Zweckbau für Ziegen“ meditierten nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker.

Ist dieser Zweckbau nun – eine Heimstatt?

Steht es für – Zuflucht? Signalisiert es – Gemeinschaft? (Und sei es auch nur die mengenmäßig überschaubare Gemeinschaft von Lyrik-Lesenden …)

Oder ist es nicht einfacher – weil man schon auf der ersten Seite nur lesen muss. Da steht es:
ein Nutzbau, ein Gebäude für eine begrenzte Zeit, er schützt wie die Hecke, der Baum, der Schirm“ – jedoch wovor?

Vor, Überraschung: „dem fremden, dem neugierigen, dem beschämenden Blick.“

Zu „Ziegen“ übrigens bietet dieses Haus, die Stadtbibliothek, 54 Medien-Einträge, von der Ziegen-Haltung bis zum – und das ist etwas irritierend – „Schaf-Thriller“, in dem die Ziegen kaum mehr als Nebendarsteller sind. Bei Angelika Rainer sind solcherart Überraschungen wortreich treffend beseelt.

„Wer ist zuständig für die Beseelung der Dinge?“ hieß es in Angelika Rainers Zweitling „Odradek“, der schon im Titel eine Verbeugung Richtung Prag vollzog. Es war ein Verweis auf Anker. Auf Verankerndes und auf ihren Ort, ihren eigenen Ort, findende Bilder und Sprach-Bilder. Und auf stets und stetig Banges.

Es werden Ereignisse in verschiedenen Größen, Farben, Formen gesammelt.
Liest man da. Und: Nichts ist zu gering, alles ist gleich gültig, um ein schützendes Dach über dem Kopf zu schaffen.

Formal ist das außerordentlich ausgepicht. Und mit leichter Hand konstruiert. Wobei der Verlag gerne mitspielt. Entfernen Sie beispielsweise den Schutzumschlag des Bandes, den eine weißlineare Konstruktionszeichnung auf himmelblauem Grunde schmückt, dann entdecken Sie darunter – Sterne auf Nachtdunkelblau.

Daher, daher?, steht geschrieben in Numero 12:

Dass das Weltall wächst
habe ich staunend vernommen
bestand es doch bisher vornehmlich
aus erloschenen, nachglühenden Sternen
wie die Erinnerung.

Tief in die eigene Erinnerung, ins Lesegedächtnis prägen sich die Gedichte Angelika Rainers ein. Sie glühen zwischen Emotionen und der Evidenz von Vergänglichkeit.

Es geht bei ihr um: Sammeln, Ordnen und Aufbewahren – die drei Urformen der Literatur seit Anbeginn – und um stille Existenz, um die Stille der Existenz und um in der Tiefe, auch der eigenen Tiefe, lauernde Ängste und Unsicherheiten.

Portrait: © Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Kunstvoll kommt das daher, manchmal balladesk, dann wieder austariert lakonisch. Hier erscheint es erzählerisch additiv – der Auftakt von „Luciferin“ etwa mit den vielen, vielen Anaphern –:

Sie kommt zur Welt
Sie wirft einen großen Schatten
Sie rächt sich für alles.
Sie hat nichts zu geben.

Dort ist es aphoristisch: Schlafgedanken halten sich nicht im Licht.

Vor allem ist es alles andere als so einfach, wie es klingt und so unverstellt frisch klingen mag – denn, so zwei Zeilen in „Odradek“:
Warum soll nicht auch ich Umgang haben dürfen mit großen Gedanken?
Ich will die Hilfe von Vordenkern annehmen.

Angelika Rainer nimmt solche Hilfe an, von Poeten, von Ovid über Trakl zu John Berger und – welch Zufall! Friederike Mayröcker –, sie nimmt aber auch die Hilfe und Klang-Unterstützung von speziellem Wissen an, sei es botanischer Art oder physikalischer Natur.

Es ist das Geflüsterte, in Klammern Gedachte“, was sie an- und umtreibt und wortmalerisch bewegt.

Es sind die verwilderten Hecken und die Apokalypse, der Nasenzwicker und die Aniskekse, es sind Torf und Vierkant-Ruine, es sind Nod, ein Land in der Bibel, und der Jennesey-Strom in Sibirien, es sind Betrachtungen, psychogrammatische Rekonstruktionen und diaphanes Dunkel, durch das hier und da etwas Helles mit zitternd zithernder Stimme aufzirpt, während eine Selbstgedrehte zur „Musik der kleinen Planeten“ aufgeraucht wird.

Harfe, Zither, Stimme. Das ist, was Angelika Rainer musikalisch zu Franui beisteuert. Joseph Roth und Thomas Bernhard, Mahler-Lieder, Schubert-Lieder und Georg Kreisler-Lieder. Schnitzler als Prosa-Puppenspieler und Nikolaus Habjan als echter Puppenspieler, das waren und sind Programme dieser Musicbanda. Auch eines, das – sehr beruhigend in heutigen Zeiten – „Alles wieder gut“ hieß. Und ein anderes war das „Ständchen der Dinge“.

Bei Angelika Rainer ist ein solches Ständchen fragil, erträumt, hochartistisch, all und das All memorierend:

„Die genaue Seele vergisst
[…] Nichts wird verloren gegangen sein
Nur ich mir selber ein wenig im Schlaf“

liest man in „Luciferin“.

Portrait: © Filippo Cirri

Alexander Kluy, geboren 1966, Studium der Germanistik und Amerikanistik. Autor, Journalist und Herausgeber erfolgreicher Anthologien und der Reihe „Wiener Literaturen“. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen, österreichischen und schweizer Zeitungen und Zeitschriften.

Angelika Rainer macht uns zu Staunenden in Sachen Welt-Wunder. Und zu Staunenden in Sachen Welt-Verwunderung. Auch darüber, was Zeit ist. Und besser als in ihre Bücher lässt sich die eigene Lese-Zeit kaum investieren.
Auch Angelika Rainer lässt sich Zeit. Zwischen dem Debüt „Luciferin“ und dem Zweitling „Odradek“ lagen vier, zwischen „Odradek“ und „See’len“ sechs, zwischen „See’len“ und „Zweckbau für Ziegen“ fünf Jahre. Dies virtuose Warten kommentierte Lucy einst im Erstling schon treffend, mit diesen ihr von Angelika Rainer in den Mund gelegten Worten:

„Meine Geschichte zu erzählen braucht die Zeit, die ich bei den Lebenden war.“

Für ihre große, für ihre bezwingende, für ihre durchsichtige und verspielte Lyrik, für ihre verständlichen und verstehenswerten Gedichte, die sich ganz konkret, dabei gebildet durch Segmente des Sinns hindurch schlängeln und durch alle 26 Buchstaben des Alphabets sich hindurchmusizieren, gebührt Angelika Rainer der Preis.

Ganz am Ende von „Zweckbau für Ziegen“, in der finalen, der Nummer 60 der 60 Nummern heißt es: „Alle Bilder habe ich umsonst gemacht.“

Dies zu Ihrem Glück und für unsere Lese-Fortüne stimmt denn doch nicht am heutigen Abend und für das künstlerische Schaffen von Angelika Rainer.


Weitere Infos zum Preis und die vollständige Begründung der Jury bestehend aus Elisabeth R. Hager (Schriftstellerin und Klangkünstlerin), Roland Sila (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum) und Alexander Kluy (Schriftsteller, Kritiker) findet ihr hier.

„Solange … bin ich Feminist:in“ – Künstlerin Katharina Cibulka im Gespräch

Ein feministisch besticktes Netz auf einer Baustelle – das ist die markante Bildsprache des Projekts „SOLANGE“ von Katharina Cibulka. Seit 2018 macht die Tiroler Künstlerin damit weltweit auf Genderungleichheit aufmerksam. Im Interview spricht sie über die Entstehung ihrer Arbeiten, deren internationale Entwicklung und was sie antreibt.

© in the headroom

Frau Cibulka, wie ist die Idee zu „SOLANGE“ entstanden?

Katharina Cibulka: Ich bin in Innsbruck in einer Familie mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Für mich war Gleichberechtigung selbstverständlich: Ich konnte studieren, in meinem Kunststudium waren Männer und Frauen gleichermaßen vertreten. Ich war lange der Meinung, Feminismus sei nicht mehr notwendig.

Das änderte sich, als ich Mutter wurde. Die Geburt meines ersten Kindes war ein Aha-Moment – plötzlich sah ich, wie stark Rollenbilder unser Leben bestimmen. Mein Alltag als Mutter und Künstlerin war von Erwartungen und gesellschaftlichen Zuschreibungen geprägt, die Männer in dieser Form nicht erleben. Das war irritierend und hat mich motiviert, feministische Kunst zu machen.

Mit der Zeit entstand die Frage: Wie lange werden wir noch für Gleichberechtigung kämpfen müssen? Daraus entwickelte sich das Konzept von „SOLANGE“. Ich sammelte Antworten aus meinem Umfeld, wie etwa „Solange es keine Päpstin gibt“ oder „Solange ich mein Geschlecht nicht frei leben darf“. Diese Sätze wollte ich aus der feministischen Bubble herausholen und im öffentlichen Raum sichtbar machen – an Orten, die jeder Mensch sieht. Baustellen sind da ideal: Sie sind einerseits eine Männerdomäne und andererseits ein Symbol für Veränderung und Vergänglichkeit.

Warum haben Sie sich für den Kreuzstich entschieden?

Katharina Cibulka: Ich wollte mit einer Technik arbeiten, die – zumindest in unserem Kulturkreis – weiblich konnotiert ist. Der Kreuzstich ist ein traditionelles Handwerk, mit dem Frauen über Jahrhunderte am Stickrahmen im privaten Raum kreativ ruhig gehalten wurden. Indem wir diese Technik riesengroß auf Netze bringen, führen wir sie in die Öffentlichkeit – das ist fast schon ein Befreiungsakt. Das Sticken selbst wird von unserer Stickerin Vivian Simbürger in Murau umgesetzt, während wir die Texte in meinem Team gemeinsam erarbeiten.

 

Installation in der Bienerstraße in Innsburck: „SOLANGE ICH VON KARRIERE REDE UND DU FAMILINEMANAGMENT MEINST, BIN ICH FEMINISTIN“
SOLANGE ICH VON KARRIERE REDE UND DU FAMILIENMANAGEMENT MEINST, BIN ICH FEMINISTIN.
Innsbruck, Februar – Mai 2018

Wie lief die Umsetzung des ersten Netzes?

Katharina Cibulka: Ich habe das Konzept bei „Kunst im öffentlichen Raum Tirol“ eingereicht und eine Förderung für fünf Netze bekommen. Die erste Baustelle fand ich in der Bienerstraße in Innsbruck. Die Zusammenarbeit mit den Gerüstbauern war ein Abenteuer, besonders, weil es in 30 Metern Höhe ganz schön unheimlich ist. Schon am ersten Tag ging das Netz durch die sozialen Medien, und ich habe gemerkt, wie groß das Interesse ist.

 

Ihr Projekt hat inzwischen internationale Aufmerksamkeit erhalten. Wie kam es dazu?

Katharina Cibulka: Die sozialen Medien haben eine entscheidende Rolle gespielt. Anfänglich hatte ich gar keinen eigenen Account – das wurde schnell notwendig, um das Projekt sichtbar zu machen. Heute haben wir über 15.000 Follower:innen auf Instagram und erhalten täglich neue Satzvorschläge aus aller Welt. Diese Vielfalt zeigt, dass Gleichberechtigung ein globales Thema ist.

Wir wurden in verschiedene Städte eingeladen, etwa nach Rabat, Washington und Trondheim in Norwegen. In diesen Städten entwickeln wir die Sätze gemeinsam mit den Menschen vor Ort. Dadurch entstehen sehr lokale und aktuelle Botschaften, etwa zu den Themen Tradition, Gewalt oder kulturelle Normen. Diese partizipative Arbeit ist inzwischen ein zentraler Bestandteil des Projekts.

SOLANGE GOTT EINEN BART HAT, BIN ICH FEMINIST.
Dom zu St. Jakob, Innsbruck, Juli – November 2018

Was waren Ihre größten Erfolge?

Katharina Cibulka: Ein Höhepunkt war das Netz am Innsbrucker Dom. Mit dem ehemaligen Domprobst Florian Huber und der Kunsthistorikerin Elisabeth Larcher konnten wir die Botschaft „Solange Gott einen Bart hat, bin ich Feminist“ umsetzen. Der Satz hat viele Diskussionen aufgeworfen, generationenübergreifend, und genau das ist unser Anliegen: sensibilisieren und zum Dialog anregen. Besonders spannend war dabei die Entscheidung, die männliche Form „Feminist“ zu verwenden. Florian Huber hatte diesen Wunsch geäußert, um als Mann bewusst ein Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass auch Männer hinter der feministischen Idee stehen können.

 

AS LONG AS FOLLOWING OUR RULES IS MORE IMPORTANT THAN FOLLOWING OUR HEARTS, I WILL BE A FEMINIST.
Rabat, Marokko, September 2019 – Januar 2020

 

Ein weiteres Highlight war Rabat, Marokko. Vor dem Königspalast haben wir 600 Quadratmeter bestickt – mit einem Satz in arabischer Schrift: „As long as following our rules is more important than following our hearts, I will be a feminist.“ Es war eine riesige Herausforderung, in einem patriarchalisch geprägten Umfeld solch eine Botschaft zu platzieren, aber es war ein großer Erfolg.

Welche Herausforderungen gibt es bei Kunst im öffentlichen Raum?

Katharina Cibulka: Die größte Hürde ist, Baustellen zu finden. Bauträger sind sehr skeptisch gegenüber feministischen Botschaften. Mit der Zeit haben wir aber Vertrauen aufgebaut, und viele Unternehmen sehen inzwischen auch den positiven Wert des Projekts. Der öffentliche Raum ist perfekt, weil wir damit Menschen erreichen, die sonst nichts mit Kunst oder Feminismus zu tun haben.

Welche Bedeutung hat Sprache für Ihre Arbeit?

Katharina Cibulka: Sprache ist das Herzstück von „SOLANGE“. Jedes Wort hat Gewicht, und wir, die Kommunikationswissenschaftlerin Tina Themel und ich, legen großen Wert darauf, ohne Vorwürfe und Provokationen zu texten. Das Wort „Feminist:in“ ist oft ein Reizwort, und genau deshalb nutze ich es. Es muss positiv aufgeladen werden, denn Feminismus hat unsere Gesellschaft enorm bereichert.

Mit den Texten versuchen wir, Diskussionen anzustoßen, ohne Gräben zwischen den Geschlechtern zu vertiefen. Humor und Wortspiele sind dabei hilfreich, um Menschen zum Nachdenken zu bringen, ohne sie abzuschrecken.

Gibt es künstlerische Vorbilder, die Sie inspirieren?

Katharina Cibulka: Natürlich. Vor allem viele großartige Frauen, die schon vor Jahrzehnten große Kunst machten, wie zum Beispiel Louise Bourgeois, sind für mich eine große Inspiration – sie hat als Frau und Künstlerin in einer schwierigen Zeit viel bewirkt. Maria Lassnig mit ihren großen Gemälden hat Jahrzehnte lang brillante Kunst produziert und wurde erst im hohen Alter dafür gefeiert. Und dann gibt es auch zeitgenössische Künstlerinnen wie die Brasilianerin Juliana Notari, die mit ihrer Arbeit auf beeindruckende Weise gesellschaftliche Normen hinterfragt. Ihre monumentale Installation einer 33 Meter großen Vulva in einem stillgelegten Park, ausgehoben aus Beton und mit rotem Epoxidharz überzogen, ist ein mutiges, provokantes Statement. Solche Arbeiten fordern uns dazu auf, über die kulturelle Sichtbarkeit von Körpern und Geschlechtern nachzudenken, gerade im Kontrast zu den unzähligen Phallussymbolen, die kaum hinterfragt werden. Das finde ich originell und wichtig.

Auch literarisch lasse ich mich inspirieren: Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Franziska Schutzbachs Die Erschöpfung der Frauen haben mich tief berührt.

 

Was steht bei Ihnen aktuell an?

Katharina Cibulka: Neben neuen Netzen arbeite ich neuerdings als Bühnenbildnerin am Landestheater. Es ist spannend, gesellschaftskritische und queere Themen in die darstellende Kunst einzubringen. Theater kann das Publikum auf einzigartige Weise herausfordern, weil es direkt im Moment wirkt.

 

Die Künstlerin Katharina Cibulka steht vor einem ihrer "SOLANGE"-Projekte.
© in the headroom

Über Katharina Cibulka
Katharina Cibulka (* 1975, Innsbruck) studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien und an der New York Film Academy. Mit ihrem Projekt „SOLANGE“ setzt sie sich weltweit für feministische Anliegen ein. Diese waren bislang auf 30 Baustellen in sieben Ländern und sechs verschiedenen Sprachen zu sehen, zuletzt in Österreich im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Salzkammergut in Bad Ischl. Ihre Arbeiten wurden unter anderem mit dem Hauptpreis für zeitgenössische Kunst des Landes Tirol ausgezeichnet.


„Die ukrainische Kultur soll zu einem vereinigenden Faktor für alle Ukrainer werden“ – Ein Essay von Andrej Kurkow

In seinem Essay „Die Rolle der Kultur nach dem Krieg“ spricht Andrej Kurkow über den Wiederaufbau der Ukraine, wenn die Invasion durch Russland endet. Ein Wiederaufbau, der längst nicht nur die physische Zerstörung des Landes betrifft, sondern auch die Seelen der Menschen, die darin wohnen. Um Wunden zu heilen, Traumata zu bewältigen – schlicht: weiterzuleben – spielt die ukrainische Kultur eine wichtige Rolle. Die kulturelle Identität, die Geschichte, die Sprache sind es, die den Weg in eine Zukunft nach dem Krieg sichern und die Gesellschaft vereinen.

In den ersten Monaten der neuen russischen Invasion gab es in der ukrainischen Gesellschaft neben den Diskussionen über Kampfhandlungen aktive Debatten über den zukünftigen Wiederaufbau der Ukraine. Aktivisten kündigten die Gründung von Fonds zur Mittelbeschaffung an, die dem Wiederaufbau des Landes zugutekommen sollen, ausländische Architekten präsentierten ihre Visionen und Projekte, westeuropäische Städte und ganze Länder erklärten, welche Städte oder Regionen der Ukraine sie “unter ihre Fittiche” nehmen und bei der Wiederherstellung der Infrastruktur, Straßen und Gebäude unterstützen würden.

Aber der Krieg zog sich hin, die Zerstörungen wurden immer größer, und die Diskussionen über den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg verstummten und rückten in den Hintergrund. Obwohl lokale Wiederaufbauarbeiten in der Region Kyjiw fortgesetzt werden, wo die Städte Borodjanka, Butscha, Irpin, Hostomel, Worsel und andere von russischen Raketen und Granaten zerstört wurden. Auch in Kyjiw wurden mehrere durch russische Raketen beschädigte Hochhäuser wiederhergestellt. Was aber die Ukraine nach dem Krieg erwartet, scheint nun eine riesige, kaum zu bewältigende Aufgabe zu sein. Es geht um den physischen Wiederaufbau eines von Russland zerstörten Landes, von dem immer noch 20 Prozent des Territoriums besetzt sind.

Der physische Wiederaufbau des Landes bedeutet die Wiederbelebung eines zerstörten und in Ruinen verwandelten Territoriums, wohin die Einheimischen nur dann zurückkehren werden, wenn dort wieder Bedingungen für ein normales Leben entstehen. Es ist klar, dass viele Ukrainer in Dörfern ihre eigenen Häuser und Höfe selbst wiederaufbauen wollen. Man darf jedoch nicht vergessen, in welchem moralischen und psychologischen Zustand die Bewohner in die neu aufgebauten Städte und Dörfer zurückkehren werden.

„Die Ukraine heute ist ein Land mit traumatisierten Menschen. Das Ausmaß der Traumatisierung kann sehr unterschiedlich sein, denn viele haben nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Geliebten und Angehörigen verloren. Viele haben den Tod gesehen und sind nur knapp dem eigenen Tod entkommen.“

Andrej Kurkow auf der Geschwister-Scholl-Preisverleihung 2022

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er studierte Fremdsprachen (spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Romane wie „Picknick auf dem Eis“ (1999) und „Der Milchmann in der Nacht“ (2009) machten ihn einem breiten Publikum bekannt. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet.

Bewohner von Städten und Dörfern fernab der Frontlinie hörten die Explosionen von Raketen und Drohnen und sahen die Folgen der Luftangriffe. All dies lässt sich mit einem Wort beschreiben: “Schmerz”. Dieser Schmerz sammelt sich in der Seele eines jeden Ukrainers an und darf nicht ignoriert werden. Denn er wird einen Ausweg suchen, er wird sich lange Zeit nach dem Krieg zeigen.

Wenn für den Wiederaufbau von Städten und Dörfern Baumaterialien, Baumaschinen, Werkzeuge und Arbeitskräfte benötigt werden, braucht es für die Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Seele eines traumatisierten Menschen ganz andere Werkzeuge. Und eines der wichtigsten “Werkzeuge” für die Rückkehr einer Person zu einem normalen Leben ist die Kultur. Dieses Wort umfasst viele Konzepte. Es geht nicht nur um Künste, sondern auch um die Rückkehr in die Gesellschaft einer gewohnten Kultur der Kommunikation, der Kultur der guten Nachbarschaft, der traditionellen ukrainischen Toleranz, insbesondere in den Grenzgebieten, wo viele Vertreter verschiedener nationaler Minderheiten leben.

In den letzten Monaten erinnere ich mich oft an meine Kindheit in den 1960er-1970er Jahren. Obwohl bereits 15-20 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen waren, war der Krieg überall präsent. Kyjiw war bereits wiederaufgebaut und restauriert worden, und wenn es irgendwo noch Ruinen in der Stadt gab, handelte es sich um konservierte Gedenkruinen, die an den kürzlichen Krieg erinnerten. Ein Beispiel dafür ist die Uspenski-Kathedrale des Höhlenklosters, des wichtigsten Klosters in Kyjiw.

Aber trotz des friedlichen Lebens in den 1960er-1970er Jahren war der Krieg täglich präsent, er erinnerte uns ständig an sich, erzählte von sich. Und das lag daran, dass der Krieg zum Hauptthema der sowjetischen Nachkriegskultur wurde. Täglich liefen im Fernsehen Kriegsfilme, Kriegsveteranen kamen in die Schule und erzählten von ihren Heldentaten, in den Buchläden wurden zahlreiche Romane über heldenhafte sowjetische Soldaten verkauft. Deshalb spielten wir Kinder ständig Krieg im Hof vor unserem Haus. Und als wir in die Schule kamen, wurden die Kriegsspiele von unseren Lehrern organisiert. Für diese Spiele, die mir jetzt eher wie Militärübungen für Kinder erscheinen, wurden wir an verschiedene Orte auf dem Land oder im Wald gebracht. Dieses “Spiel” wurde “Sarniza” genannt und fand regelmäßig in der gesamten Sowjetunion statt. Und natürlich spielten Exkursionen in Kriegsmuseen und zu den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle in der Erziehung.

„Diese Erinnerungen führen mich zu dem Gedanken, dass die ukrainische Nachkriegskindheit nicht die sowjetische Nachkriegskindheit wiederholen sollte, die sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Die Aufgaben der Kultur, der Musik, des Films und der Literatur sind ganz andere. Die ukrainische Kultur soll die Ukrainer aus dem Kriegszustand herausholen und ihnen helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Die ukrainische Kultur soll zu einem vereinigenden Faktor für alle Ukrainer werden – sie soll sie auf ihrem Weg in eine Nachkriegszukunft vereinen.“

Die Stimmen des Krieges werden bleiben, sie werden hörbar sein und eine wichtige patriotische Rolle spielen. Die Bücher der Schriftsteller, die die Ukraine mit Waffen in der Hand verteidigten, werden zu neuen Klassikern. Anatolij Dnistrowskyj, Artem Tschech, Artem Tschapaj, Markijan Kamysch und viele andere werden eine neue Generation von Frontschriftstellern sein, sie sollten jedoch nicht das Schicksal der sowjetischen Frontschriftsteller wiederholen, die nach Anweisung der kommunistischen Partei ihr ganzes weiteres Leben ausschließlich Bücher über den Krieg schreiben mussten.

Die Geschichte legt Matrizen auf, aber wir leben in einer dynamischeren und vor allem demokratischen Zeit! Das bedeutet, dass der Staat den Kulturschaffenden, Schriftstellern und Musikern nicht vorschreibt, worüber sie singen und schreiben sollen. Der Staat sagt den Architekten nicht, welcher Stil gerade angemessen ist. In den über dreißig Jahren der Unabhängigkeit hat sich in der Ukraine eine von der politischen Konjunktur unabhängige Kultur herausgebildet. Die ukrainische Kultur konnte eigenständig und selbstgenügsam werden. Sie reagiert auf die kulturellen Bedürfnisse der Ukrainer selbst. Als die Ukrainer mehr über die Geschichte ihres Landes und ihres Volkes wissen wollten, erschienen neue fachliche und belletristische Bücher zu diesem Thema. Als die Ukrainer mehr über ihre historischen Persönlichkeiten erfahren wollten, entstanden biografische Romane und Forschungen über Hetman Mazepa, Skoropadsky und Nestor Machno. Es erschienen neue fachliche und belletristische Bücher über wichtige historische Ereignisse und markante Figuren der ukrainischen Geschichte.

Aktuell sind Bücher über die Geschichte der Ukraine sehr beliebt an der Front. Ukrainische Soldaten bitten darum, ihnen Bücher über die Geschichte der Ukraine zu schicken, während russische Soldaten Bücher über die Geschichte der Ukraine in den Bibliotheken auf besetzten Gebieten zerstören.

„Geschichte und Kultur eines Volkes sind Teile seiner nationalen Identität. Und eines der Hauptziele der russischen Aggression gegen die Ukraine ist die Zerstörung der ukrainischen Identität, die Assimilation der Ukrainer.“

Gerade aus diesem Grund zerstörten russische Raketen das Museum des bekannten ukrainischen Philosophen Hryhorij Skoworoda in der Nähe von Charkiw oder das Museum der Künstlerin Marija Prymatschenko in der Nähe von Kyjiw.

Das auffälligste Beispiel für ein Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Kultur ist die Ermordung des ukrainischen Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko durch russische Soldaten. Als er zusammen mit seinen Eltern und seinem kranken halbwüchsigen Sohn auf dem besetzten Gebiet der Region Charkiw zurückblieb, führten die Besatzer ihn zu Verhören ab. Nach dem zweiten Verhör kehrte er nie nach Hause zurück. Acht Monate später wurde seine Leiche gefunden und identifiziert. Zwei Kugeln aus einer Makarow-Pistole wurden aus seinem Körper entfernt, was nur beweist, dass der ukrainische Schriftsteller gezielt hingerichtet wurde.

Das tragische Schicksal von Wolodymyr Wakulenko ist bereits Teil der modernsten Geschichte der Ukraine geworden. Genauso wie das Schicksal des in Butscha bei Kyjiw ermordeten Professors und Übersetzers aus dem Altgriechischen Oleksandr Kysljuk, genauso wie die Schicksale dutzender anderer von Händen der Russen ermordeter Dichter, Schriftsteller, Musiker, Verleger und Journalisten.

„Die ukrainische Kultur hat sowie die gesamte ukrainische Gesellschaft in diesem Krieg schwere Verluste erlitten. Dennoch zeigt eben dieser Krieg, wie groß die Rolle der Kultur in einem Land ist, das seine Unabhängigkeit verteidigt.“

Heute ist die ukrainische Kultur in Europa stärker vertreten als in der Ukraine selbst. Dies geschieht hauptsächlich durch eine neue Generation ukrainischer Kulturmanager, Ausstellungskuratoren, Dramatiker und Schriftsteller. Dank ihrer aufklärenden und diplomatischen Arbeit im Ausland versteht die Welt die Ukraine und die Ukrainer besser und unterstützt sie dadurch stärker. Nach dem Krieg wird die Hauptlast der Wiederherstellung des kulturellen Lebens auch auf den Schultern dieser neuen Generation liegen. Dennoch hoffe ich sehr, dass auch die Kulturinstitutionen Europas und anderer Kontinente nicht abseitsstehen werden. Die besonderen kulturellen Beziehungen, die sich zwischen der Ukraine und den europäischen Staaten vor dem Krieg und während des Krieges entwickelt haben, sollten nach dem Krieg noch intensiver werden, damit wir sehr bald von einer vollständigen kulturellen Integration der Ukraine in Europa sprechen können.

Für mich wären die Ausstellungen von Gustav Klimt in Charkiw und Egon Schiele in Kyjiw bedeutungsvolle und symbolische Episoden der Wiederbelebung eines normalen kulturellen Lebens in der Ukraine. Dies würde mir und allen Ukrainern sofort Optimismus und Glauben an die Zukunft, an die europäische Zukunft der Ukraine verleihen.


Der Text Die Rolle der Kultur nach dem Kriegwurde für das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten Sektion V – Internationale Kulturangelegenheiten Ukraine Office Austria verfasst und ist zuerst im Jahrbuch 2022/2023 des Außenministeriums (Titel: Imagine Dignity) erschienen; online hier abrufbar.


Es gibt eine Zukunft nach dem Krieg, es gibt Hoffnung für die Ukraine – dafür plädiert Andrej Kurkow unentwegt. In seinem neusten Buch Im täglichen Krieg berichtet er über den ukrainischen Alltag im Ausnahmezustand, zwischen Sirenengeheule und dem Versuch, eine Form von Normalität zu erfahren. Über Momente, die an ein Danach, eine Zeit in Freiheit glauben und hoffen lassen.

„Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen.“ – Interview mit Maë Schwinghammer

Zunächst sind die Worte ganz, ergeben Sinn, doch sobald sie Michaels Mund verlassen, fallen sie zu Boden und zerbrechen, noch bevor sie fremde Ohren erreichen, wie kleine Porzellantassen vor den Augen. Seine Mama übersetzt zwischen ihm und der Welt. Sie versteht ihn als Einzige. „Brabbeln“ sagt die Pädagogin in der Spielgruppe dazu. „Wahrnehmungsstörung“ nennen es die Ärzt*innen. Einige Jahre später hat die Welt andere Worte für Michael: Computerköpfchen, Pussy, Schwinghomo, Bärli. Namen, doch kein einziger, der diesem Ich gehört.
Eindrucksvoll und poetisch schreibt Maë Schwinghammer von einer Suche nach Verständnis, an deren Ende ein gefundenes Ich steht. Wir haben uns mit Maë über deren Debütroman „Alles dazwischen, darüber hinaus“ unterhalten.

Maë, wie würdest du selbst deinen Roman beschreiben?
„Alles dazwischen, darüber hinaus“ begleitet die Suche eines Kindes ohne Sprache bis ins Erwachsenenalter, die Suche nach der richtigen Sprache, den richtigen Wörtern für den eigenen Körper, die eigene Identität, das Geschlecht. Der Roman erzählt vom Wunsch, von anderen verstanden zu werden, und davon, sich in dieser Welt, die oft nicht zuhört, verstanden zu wissen.

Hast du selbst beim Schreiben nach etwas gesucht?
Ja, nach einem Weg und einer Sprache, die es ermöglichen, meine Lebensgeschichte mit poetischen Tönen zu erzählen und dabei auch noch zugänglich zu bleiben. Weil ich ein Buch schreiben wollte, das ich jeder Person aus meiner Familie ohne schlechtes Gewissen in die Hände drücken kann.

Apropos Familie: „Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt auch von einem Weg zurück zur eigenen Familie, von einer Versöhnung mit der eigenen Herkunft. Wie würdest du selbst diese Entwicklung in deinem Roman beschreiben?
Ich glaube, das Grundthema hier ist: Angst. Die Angst der Eltern, das eigene Kind zu verlieren, weil es einen Klassenaufstieg erfährt, weil es den Namen ablegt, weil es kein Junge mehr ist und nie einer war. Gleichzeitig ist da auch die Angst der Hauptfigur, für die eigene Herkunft verurteilt und gehänselt zu werden, dieselben Wege zu beschreiten, die schon die Eltern beschritten haben. Das führt in beide Richtungen zu Abgrenzungen, schafft eine Distanz, die sich vergrößert, bis mit genügend Abstand der Sprung gewagt wird, sich wieder anzunähern. Das Gemeinsame zu suchen, anstatt das Trennende hervorzuheben.

In deinem Buch schreibst du an einer Stelle: „Vielleicht sind Probleme der Sprache immer ein Problem der anderen, der Nichtbetroffenen. Denn die Nichtbetroffenen sprechen über Betroffene und wählen dafür Worte, die Betroffene selbst nie wählen würden.“ Die Unzulänglichkeit von Sprache, ihre Grenzen, die wir Menschen immer wieder – oft schmerzhaft – spüren, nimmt in deinem Buch viel Raum ein. Welche Bedeutung hat Sprache, hat das Übertreten ihrer Grenzen für dich?
Sprache hat die größte Bedeutung in meinem Leben, meinem Schreiben und damit auch im Roman. Es geht mir weniger darum, Grenzen zu übertreten, mein Anliegen würde ich eher so beschreiben, dass ich die gedachten Grenzen verschwimmen lassen möchte. Sie sollen so undeutlich sein, dass neue Sprachen und Wörter für alle zukünftigen Identitäten und Körper möglich werden, ohne dass es Grenzübertritte benötigt, weil die Grenzen nicht länger existieren.

Teile deines Romans – wie beispielsweise der sehr eindrucksvolle Beginn – erzählen aus der Perspektive eines Kindes. Wie war es für dich, in diese Figur hineinzuschlüpfen, und welche Herausforderungen oder auch Glücksmomente hast du beim Schreiben dieser Passagen erfahren?
Es war tatsächlich sehr leicht, in diesen Ton zu wechseln, da ich lange nur Lyrik geschrieben habe und ich die Perspektive eines Kindes für überaus poetisch halte. Wörter werden vor allem als Kleinkind noch sehr frei aneinandergereiht, ohne jedes Bewusstsein für Logik oder Konsistenz. Das ermöglicht sprachliche Bilder, die sich erwachsene Menschen oder Autor*innen nicht erlauben würden, was allerdings meiner Meinung nach sehr schade ist. Die Herausforderung bei diesen Szenen war, in der Sprache konsistent zu bleiben und die kindliche nicht mit erwachsen-nüchternen Stimmen zu überlagern.

 

Maë Schwinghammer, geboren 1993, aufgewachsen in Wien-Simmering, studiert Sprachkunst, schreibt außerdem Lyrik, Theaterstücke und Essays. „Alles dazwischen, darüber hinaus“ ist Maë Schwinghammers Debütroman.

Körperlichkeit spielt in „Alles dazwischen, darüber hinaus“ eine wichtige Rolle. Die Hauptfigur durchlebt im Kindesalter eine (kurzfristige) Fazialisparese, also eine Gesichtslähmung, später werden exzessiver Sport und Muskelaufbau als Ausdrucksmittel und Identitätsmarker genutzt. Auch Sexualität und der offene Umgang mit ihr spielen im Verlauf eine immer wichtigere Rolle. Parallel dazu besteht und wächst das Gefühl der Sprachlosigkeit, des Nicht-Verstandenseins, der Fremdheit. An einer Stelle heißt es: „Du hast immer durch deine Augen gesprochen.“ Inwiefern gehören die beiden Aspekte – Körperlichkeit und Sprache – für dich in Hinblick auf deinen Roman zusammen?
Sie gehören untrennbar zusammen. Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen. Der Roman beginnt mit einem Zitat der Mutter: „Er kann nicht sprechen lernen, wenn er seinen Körper nicht kennt.“ Das war zwar sicher nicht so gemeint, aber ich glaube, die Aussage stimmt: Das Finden zu einer Sprache ist mit dem Kennenlernen des eigenen Körpers verbunden. Ich erfahre meinen Körper, betrachte ihn, befühle ihn und versuche, ihn mit den Wörtern zu beschreiben, die mir die Sprache zur Verfügung stellt, reichen die Wörter nicht aus, versuche ich, zu neuen Wörtern zu gelangen, die dies fassen können.

„Als Kind habe ich mich bereits als Mädchen geträumt“ – diese Stelle beschreibt sehr eindrücklich und berührend wie die Hauptfigur im Erwachsenenalter (noch immer) empfindet. Der Wunsch nach einer Hormonersatztherapie wird von einer Therapeutin begleitet. Einer völlig fremden Person. Doch: „Meiner Therapeutin muss ich nichts beweisen, sie zweifelt niemals an meiner Identität. Beweisen muss ich es dem Gesundheitssystem, und dieses besteht darauf, dass abgesehen von meiner Therapeutin auch noch ein*e klinische*r Psycholog*in und ein*e Psychiater*in bezeugen, dass ›ich‹ ›ich‹ bin. Die Beweisführung meiner Existenz.“ Das Negieren eines Selbst und der damit oftmals verbundene Hass auf marginalisierte Menschen ist traurigerweise fest in unserer Gesellschaft verankert. Was wären in deinen Augen Stellschrauben, an denen wir gemeinsam drehen müssten, um die Lebensrealität von Betroffenen zu verbessern?
Die Abschaffung der Notwendigkeit von Diagnosen für medizinische Behandlungen wäre ein immens großer Fortschritt, aber eigentlich lässt sich an allen Stellschrauben etwas drehen. Der gesellschaftlich-politische Zugang sollte nicht sein, marginalisierten Gruppen den Zugang zu Ressourcen, Behandlungen, Dokumenten etc. von oben zu erschweren, sondern umgekehrt, aus der Perspektive dieser Gruppen gedacht, die Voraussetzungen zu schaffen, dass der Zugang möglichst einfach ist.

Von der Vorstellungsrunde in der Schule, bis zum Vergleich von Statussymbolen: Die Hauptfigur erfährt sehr früh „die feinen Unterschiede“ in unserer klassistischen Gesellschaft. Der kindliche Stolz auf die Herkunftsfamilie, auf die Arbeitsuniformen der Eltern weicht im Verlauf des Heranwachsens immer mehr einem Gefühl der Scham. Ein weiteres sehr einprägsames Beispiel für Klassenkritik im Roman ist die aufgebürdete Solidarität und die Stigmatisierung durch „Hilfsangebote“. So kümmert sich die Hauptfigur beispielsweise in der Schulzeit heimlich selbst um Förderansuchen für Klassenreisen, um die Mutter vor Schuldgefühlen zu bewahren und um der Stigmatisierung in der Klasse bestmöglich zu entgehen. Wie würde sich deiner Einschätzung nach der Roman unterscheiden, würde er nicht in der Arbeiter*innenklasse spielen?
Es würden einige Aspekte fehlen und die Hauptfigur hätte abgesehen vom Riesenprivileg, weiß zu sein, noch ein paar mehr Privilegien, die möglicherweise, aber nicht zwingend, die Entwicklungsprozesse der Hauptfigur beschleunigen könnten. Auch die Sprache und die Sicht der Hauptfigur auf die Welt wären andere, am Ende wäre es wohl ein ganz anderer Roman.

 


Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt vom Aufwachsen in der Arbeiter*innenklasse, von Wurzeln in Österreich und Serbien, von der Fluidität der Geschlechter, von Sexualität, Liebe und Freund*innenschaft, von Autismus und der Annäherung an gewählte und ungewählte Familien. Ein schmerzhafter und zugleich heilsamer Roman. Ein Debüt, das beides ist: das Einfangen von Stille. Oder auch: das Weglassen von ebendieser. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!

„In unserer Gesellschaft gibt es offensichtlich keinen akzeptablen Grund, als Frau ein Kind zurückzulassen.“ – Fabian Neidhardt im Interview über „Nur ein paar Nächte“

Wie kann Familie aussehen? Was kann Familie sein? – Diese Fragen stehen im Zentrum von Fabian Neidhardts neuem Roman „Nur ein paar Nächte“: Ben ist Mitte 30 und hat sich sein Leben mit der 12-jährigen Tochter Mia, die er alleine großzieht, gut eingerichtet. Doch dann wird Bens Leben auf den Kopf gestellt. Sein Vater steht plötzlich vor der Tür und muss ein paar Tage bei ihm unterkommen. Und Mia wird von der Polizei nach Hause gebracht. Sie ist ausgebüxt, um ihre Mutter zu finden … Im Interview spricht Fabian Neidhardt über patriarchale Elternrollen, die Erwartungen, die an Frauen* gestellt werden, das Vater- und Sohnsein und die Komplexität familiärer Beziehungen.

 

Gleich zu Beginn des Buches tauchen wir mit Ben direkt in das Chaos ein, das plötzlich auf ihn einprasselt. Er wird schlagartig damit konfrontiert, dass er auf einmal als Vater für Mia nicht mehr genug sein könnte. Die Sorge macht sich in ihm breit, die Angst, Mia zu verlieren. Ben und seine Tochter Mia sind die zentralen Figuren in „Nur ein paar Nächte“. Wer sind sie und was macht ihre Beziehung zueinander so besonders?

Ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht so sicher, ob ihre Beziehung so besonders ist. Ben will „der beste Vater“ sein und es „besser“ machen als sein eigener Vater, aber scheitert darin natürlich. Und ich glaube, so geht es vielen jungen Eltern. Vielleicht ist besonders, dass es in diesem Fall ein Vater ist statt einer Mutter. Aber ich denke, das Streben und das Gefühl und das Scheitern im Vorhaben ist oft ähnlich.

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 wurde er als erstes Kind von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, studierte u. a. Literarisches Schreiben in Hildesheim und lebt in Stuttgart. Wie schon in seinem Verlagsdebüt „Immer noch wach“ (Haymon Verlag, 2021) erzählt er in seinem zweiten Roman „Nur ein paar Nächte“ von Konflikt und Akzeptanz, von Gefühlen für- und zueinander. Ein rauschender Text über die Beschaffenheit von Beziehungen. – Foto: Daniel Gebhardt

Beziehungen spielen ja generell eine sehr große Rolle in „Nur ein paar Nächte“. Ben und Mia. Mia und ihre Mutter Orna. Orna und Ben. Ben und sein Papa. Wie ist es, über so viele Beziehungsgeflechte auf einmal zu schreiben und gibt es vielleicht ein Duo, über das du am liebsten geschrieben hast?

Für mich waren die Beziehung zwischen Ben und seinem Vater Emil, aber auch die Beziehung zwischen Ben und Mia die Ausgangspunkte für die Geschichte. Weil Ben immer stärker bewusst wird, dass er eigentlich keine richtige Beziehung zu seinem Vater hat, ist in ihm dieser Drang, es mit seinem Kind besser zu machen. Nur, um zu merken, dass das gar nicht so einfach ist. In den ersten Fassungen des Buches waren die anderen Beziehungen auch noch kaum ausgearbeitet. Da waren erstmal Ben und sein Papa und Ben und seine Tochter. Und dann wurde mir – dank meiner Betaleser:innen – immer klarer, dass auch alle anderen Beziehungen dazwischen wichtig sind. Und so sind sie mit jeder Runde stärker geworden. Dieses organische Wachsen hat mich einigermaßen den Überblick bewahren lassen. Aber auch nicht durchweg, es gab tatsächlich Momente, da habe ich das Buch vor lauter einzelner Szenen und Beziehungen nicht mehr überblicken können. Das sind dann die Momente des größten Zweifelns. Kann ich das? Ist dieses Themengeflecht nicht viel zu wirr für mich? Ich musste dann selbst erstmal Abstand zum Buch bekommen, um es wieder als Ganzes zu erfassen. Und auch ganz am Ende, nach all den Beziehungen, war klar, am liebsten habe ich Ben und Mia geschrieben. Mia zu schreiben war sowieso das Beste. Für mich ist sie eine Schwester im Geiste von Kasper aus „Immer noch wach“, meinem Verlagsdebüt bei Haymon. Kasper durfte machen und sagen, was er wollte. Jetzt ist es Mia. Solche Figuren sind immer spannend und machen Spaß. Und die Beziehung, die mir wirklich nahe, ist die zwischen Ben und Emil. Diese Vater-Sohn-Beziehung war der Auslöser für das ganze Buch und das habe ich auch beim Schreiben durchweg bemerkt.

 

In großer Wärme erzählt Fabian Neidhardt von den Ecken und Kanten seiner Protagonist:innen, von dem Monstrum und Glück, das sich Familie nennt.“ – So hat sich Autorin Marie Gamillscheg über deinen neuen Roman geäußert. Familie kann eben vieles sein: Im Fall von Ben bedeutet sie Schutz, aber auch eine gewisse Belastung. Während Orna keine Mutter sein und auch keine eigene Familie haben will, möchte Ben der beste Vater für Mia sein. Gleichzeitig wird die Beziehungskrise seiner Eltern bei ihm zu Hause ausgetragen und Ben durch die Anwesenheit seines Papas fast wieder zum Kindsein gedrängt. Was war für dich persönlich das Spannendste an der Dynamik zwischen Ben und seinem Vater?

Ich bin nicht Ben und mein Vater ist nicht Emil, aber ein Großteil der Dynamik zwischen Ben und seinem Vater ist natürlich von meiner Dynamik mit meinem Vater übernommen. Mein Vater liest meine Bücher immer in Rohfassungen und dieses Mal war ich ziemlich aufgeregt und gespannt, wie er reagieren würde. Er hat großartig reagiert und sehr schön zwischen uns und diesem Vater-Sohn-Paar im Buch unterscheiden können. Und trotzdem glaube ich, dass mein Schreiben über diese Dynamik auch unserer Dynamik gut getan hat. Und ganz vielleicht hilft das auch anderen in ihrer Beziehung zu ihren Eltern.

Orna möchte keine Kinder bekommen, Ben möchte, kann aber nicht. Glaubt er zumindest. Wir kennen dieses Thema eher in umgekehrter Form. Was war für dich am Tausch dieser klassischen Rollenbilder so interessant?

Unter uns: Zuallererst war das „Zufall“. Ich hatte das nicht geplant. Ich wollte einen Mann zwischen seinen Vater und sein Kind stellen und ihn daran scheitern lassen. In den frühen Versionen gab es Orna im ersten Teil des Buches quasi nicht. Aber wenn ich die Geschichte so erzählt habe – mit einer Mutter, über die nichts bekannt ist, die aber offensichtlich noch lebt – dann war für fast alle Menschen, denen ich das erzählt habe, klar, dass das eine Rabenmutter sein muss. Weil es in unserer Gesellschaft offensichtlich keinen akzeptablen Grund gibt, als Frau Kinder zurückzulassen. Aus dieser Erkenntnis ist dann dieses umgedrehte Rollenbild entstanden. Und je länger ich darüber erzählt habe, desto mehr habe ich gemerkt, wie krass Menschen darauf reagieren und wie viele sagen, „so geht es mir auch“. Das hat mir gezeigt, dass ein Rollenbild zwar klassisch sein kann, weil wir es oft wiederholen und lesen und sehen. Das heißt aber nicht, dass es der Gefühlswelt aller entspricht, sondern ganz viele genauso normale Rollenbilder verblassen lässt, einfach dadurch, dass wir nicht darüber reden. Und das allein war Grund genug, es diesmal so zu erzählen.

Ornas Wunsch, keine Mutter zu sein, ist nachvollziehbar. Dem gegenüber: Mia. Ein junges Mädchen, das seine Mama kennenlernen möchte. Ebenso verständlich. Wie war es für dich, in diese so lebensnahe wie komplizierte Situation einzutauchen und darüber zu schreiben?

Vielleicht ist erstmal das Wichtige, dass es keine allgemeingültige Wahrheit und keine einfache Antwort gibt. Ich selbst finde Geschichten dann spannend, wenn ich die Motivation aller Figuren verstehen kann, wenn niemand plump „gut“ oder „böse“ ist. Und wenn genau diese Blickpunkte aber zum Problem führen. So habe ich Mia und Orna geschrieben: immer mit der Idee, dass ich sie jeweils total nachvollziehen kann. Und mit dem glücklichen Wissen, dass ich gar keine Antwort auf dieses Dilemma geben muss. Das muss jede:r für sich ausmachen. Aber ich kann versuchen, allen Seiten gleich viel Aufmerksamkeit, Empathie und Zeit zu geben. So habe ich das auch mit diesen beiden gemacht.

Noch immer ist es kein Tabu, weiblich gelesene Personen nach ihrem Kinderwunsch zu fragen. Impliziert wird dabei immer erwartet, dass es diesen grundsätzlich geben muss. Wie ist es für dich gewesen, über das Mutter- bzw. Nicht-Mutter-werden-Wollen einer Frau zu schreiben?

Das war wohl der schwerste, aber irgendwie auch der schönste Teil beim Schreiben. Weil ich eine Weile, bevor all diese Gedanken überhaupt zu einem Buch wurden, erstmal selbst verstehen musste, wie groß dieses Thema „(Nicht)Mutterschaft“ eigentlich ist.
Ich bin als erstes von vier Kindern groß geworden, in einem Dorf, in dem all meine Freund:innen Geschwister und Vater und Mutter hatten. Ich wollte das genauso haben: Familie, vier Kinder, am besten schon mit 23 Vater sein. Alle happy und so und alles easy. Nur, dass ich dann mit 23 überhaupt nicht an dem Punkt war, Vater sein zu wollen. Und ganz langsam verstanden habe, dass ich zwar eine glückliche Kindheit, aber auch Eltern habe, die genauso nur Menschen mit Ängsten, Sorgen, Streiten und Nöten sind. Und als dann die ersten Kinder meiner Bekannten und Freund:innen auf die Welt kamen, ich zum ersten Mal von einer Abtreibung erzählt bekommen habe, von Fehlgeburten und Kinderwunschzentren, wurde mir mit etwa Mitte 30 klar, dass es das zwar gibt, dieses vier Kinder und alle happy und alles easy. Aber es gibt daneben auch ganz viel anderes, über das wir aber nicht so oft und offen reden. Also habe ich irgendwann auf Instagram gefragt: „Liebe Frauen*, will jemand von euch keine Kinder? Und falls ja, warum nicht?“ Und darauf habe ich überraschend viel und offen Antwort bekommen. So habe ich es dann mit jedem Aspekt in diesem Roman gehalten. Ich habe mit sehr vielen Menschen geredet. Über das Mutter sein und das nicht Mutter sein wollen. Über Schwangerschaften und Geburten und all die Scheiße, die passieren kann, über die wir aber nicht so oft reden. Das hat mir auf der einen Seite extrem tolle und intime Gespräche beschert. Und auf der anderen Seite gezeigt, dass das ein wirklich großes und hochsensibles Thema ist, bei dem ich keine Fehler machen möchte und niemanden verletzen will. Deshalb sind diese Aspekte und Szenen im Buch nicht erfunden. Hier wollte ich nicht auf meine enge und männliche, vielleicht sogar romantisierte Fantasie zurückgreifen, sondern schreiben, was mir andere Menschen aus ihrer Erfahrung anvertraut haben. Besonders diese Teile sind Mosaike, die ich zusammensetzen durfte. Und tatsächlich habe ich auch besonders Angst davor, was Leser:innen zu diesen Teilen sagen werden. Gerade weil das Themen sind, die ich ja gar nicht selbst erlebt habe oder gar erleben könnte.

Ben ist leidenschaftlicher Holzschnitzer. Für „Nur ein paar Nächte“ hast du extra einen Schnitzkurz absolviert. Warum gerade schnitzen? Ist nicht gerade das eine Tätigkeit, die eher wieder der klassischen Männerrolle entspricht?

(lacht) Witzig, dass du das so siehst. Weil ich meinen Workshop bei einer großartigen Frau absolviert habe, Paulina von Gemeines Holz. Mir war es für Ben wichtig, dass er nicht einfach nur am Rechner sitzt. Ich wollte ihn was mit seinen Händen machen lassen. Und dann immer noch lieber Holzlöffel schnitzen als an alten Autos schrauben, oder?

„Nur ein paar Nächte“ behandelt viele ernste Themen, gleichzeitig ist es aber auch ein Buch voller Liebe, Herzenswärme und mit viel Witz. Welche Szene hast du besonders gern geschrieben?

Puh. Schwer. Da gibt’s einige schöne Szenen, die Spaß gemacht haben. Aber ich glaube, wenn Mia dabei ist, ist es noch ein bisschen witziger gewesen, sie zu schreiben. Ich hoffe, ihr habt an Mia und dem ganzen Buch genauso Spaß wie ich.

 

Von einem alleinerziehenden Vater und einer Tochter, die sich kaum bändigen lässt, von Nähe und Loslassen, von Entscheidungen, die das Leben verlangt. Ben, seinem Vater, Mia und Orna bleibt ein Wochenende, um Generationen an Unausgesprochenem zu artikulieren, um Fehler zu akzeptieren, neue zu machen und sich zu entschuldigen. Sich einzugestehen, dass es kein Versagen auf ganzer Linie ist, zuerst das verletzte Kind in sich selbst heilen zu müssen, um sich besser um das eigene kümmern zu können. Bist du neugierig geworden? Hier kommst du zu „Nur ein paar Nächte“!