Haymon Her Story – Wiederentdeckte Literatur von Frauen

Editorial von Verlagsleiterin Katharina Schaller

Vor einigen Jahren – es muss in der Zeit der Pandemie gewesen sein – nahm ich an einer Online-Veranstaltung eines großen deutschen Mediums teil, bei der eine Journalistin und ein Journalist aus dem Feuilleton über Literatur sprachen. Und wie so häufig auch über das Geschlechterverhältnis in den  Programmen der Verlage, das Verhältnis zwischen Autorinnen und Autoren. Der Journalist sagte damals, dass sich das Verhältnis stark verändert hätte, hin zu mehr Frauen in den Programmen, da Frauen ab Ende der 80er-Jahre auch gelernt hätten zu schreiben.

Nach der Teilnahme an der Veranstaltung war ich wütend, vor allem deshalb, weil ich dachte: Das alles wird sich nie ändern. Die Perspektive wird sich nie ändern. Zum Glück habe ich mich geirrt, zumindest teilweise. Ja, Verlage müssen sich gefallen lassen, dass ihre Programme auf Geschlechterverhältnisse gezählt werden (und das ist nur ein Parameter). Das ist gut so. Denn die Aussage, dass dieses Verhältnis nicht beeinflussbar sei oder auf Qualitätskriterien basiere, ist schlicht falsch.

Frauen haben schon immer geschrieben, Frauen waren schon immer Autoren, aber sie wurden in ihrer Arbeit behindert, durften zu oft nur im Hintergrund, für ihre Schriftsteller-Männer, schreiben, wurden häufig nicht gefördert. Wenn es Veröffentlichungen gab, setzte alsbald das Vergessen, das aktive  Verdrängen ein. Haymon Her Story – Wiederentdeckte Literatur von Frauen, die neue Reihe im Haymon Verlag, herausgegeben von der Autorin Bettina Balàka, widmet sich solch vergessen geglaubten  deutschsprachigen Romanen.

Als Literaturverlag, der sich als feministisch begreift, fühlt sich diese Reihe auch nach Ankommen an. Denn
neben den Ansätzen in der Gegenwart, neben den Veränderungen, die wir uns für die Zukunft wünschen, bedeutet eine solche Reihe, dass wir die Geschichte des weiblichen Schreibens ein Stückweit zugänglicher machen dürfen, dass wir erkennen, wie und in welch unterschiedlichen Formen und worüber Frauen  geschrieben haben.

Jeder Roman, der in der Reihe erscheint, wird gerahmt von einem Beitrag Bettina Balàkas zur literarischen Einordnung und einem Beitrag von der Historikerin Katharina Prager zur biografischen Einordnung. Den  Auftakt der Reihe macht Doris Brehm mit „Eine Frau zwischen gestern und morgen“, ein Roman über  Widerstand im Krieg, über die Widerständigkeit von Frauen. Es gäbe keinen besseren, keinen treffenderen Start für diese Reihe.


Zwei Frauen im Widerstand: Wie viel sind sie bereit zu riskieren?

Zwischen bitterem Verrat, unmöglicher Liebe und eiserner Entschlossenheit

  • Der Roman von Doris Brehm aus den 1950er-Jahren erzählt von Widerstand, Menschlichkeit und Mut, von der Emanzipation einer Frau während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit.
  • Eine Buchhandlung in Wien: Versteckt hinter Büchern, die nicht mehr existieren dürfen, rettet Gerda mehr als nur Worte, schafft einen sicheren Ort, grenzt die Zerstörung aus.

 

 


© Bildarchiv der KPÖ

Doris Brehm (1908–1991): Schriftstellerin, Bibliothekarin und Widerstandskämpferin. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Brehm im kommunistischen Widerstand als „U-Boot-Referentin“, deren Aufgabe es war, geheime Unterkünfte für Jüdinnen und Juden sowie Deserteure zu organisieren. Im April 1945 wurde sie Mitglied der KPÖ, war in der Redaktion der von den drei demokratischen Parteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ) herausgegebenen Tageszeitung „Neues Österreich“ tätig und begann ihre Arbeit als Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Der Roman „Eine Frau zwischen gestern und morgen“ erschien 1955 und ist von den Erfahrungen Brehms geprägt.

© Christopher Mavrič

Bettina Balàka wurde 1966 in Salzburg geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Wien.
Zahlreiche Auszeichnungen und Erscheinungen. Bei Haymon zuletzt
erschienen: der historische Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ (2023),
der Gedichtband „Die glücklichen Kinder der Gegenwart“ und der Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen“ (beide 2024).


INTO THE DARK – über die, die nachts wach sind

Mit der Dunkelheit verbinden wir vieles: Angst, Bedrohung und Gefahr, aber auch Geborgenheit, Frieden und Ruhe. Wir assoziieren Dunkelheit mit Nacht, mit Schlaf, mit Sternen. Dunkelheit fasziniert uns und Dunkelheit ist vielfältig, ambivalent.

Aber wie ist es, dann zu arbeiten, wenn es dunkel ist und alles schläft –  zu arbeiten, wenn die Welt pausiert? 

Mit Dunkelheit und der Nachtarbeit setzt sich auch Lisa-Viktoria Niederberger in ihrem neuen Essayband „Dunkelheit“ auseinander: 

„Schicht- und Nachtarbeit, also Arbeit außerhalb der üblichen Tagesarbeitszeit, ist gängig, und zwar überall, insbesondere seit der industriellen Revolution, während der Fabrikarbeiter*innen schon gerne mal im Namen der Produktivität und des Wettbewerbs und unterstützt durch das Kunstlicht 80 bis 100 Stunden Wochenarbeitszeit zugemutet wurden, bis die Arbeiter*innenbewegung dem einen Strich durch die Rechnung machte.
Auch in der Gegenwart ist Nacht- und Schichtarbeit in vielen Bereichen nötig für das Fortbestehen der Gesellschaft, in anderen vielleicht nicht dringend überlebenswichtig, aber kulturstiftend und wichtig für das soziale Gefüge.” (Dunkelheit, 2025. S.163)

 

Wir haben mit verschiedenen Menschen gesprochen, die sowohl in system- als auch sozialrelevanten Bereichen nachts arbeiten oder gearbeitet haben. Eine Paketverteilerin, ein Barkeeper, ein Nachtportier, ein Arzt, eine Pflegefachkraft und eine Sanitäterin erzählen: über Schwierigkeiten und Vorteile der Nachtarbeit und über die Bedeutung von Licht.

Klappe die untenstehenden Blöcke aus, um die detaillierten Antworten lesen zu können.

© Zoe Goldstein

Lisa-Viktoria Niederberger, geboren 1988, lebt als Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin in Linz. Ihr Schreiben geht oft Zusammenhängen, feinen Verbindungen und feministischen Fragestellungen nach und scheut sich nicht, nach Schönheit auch an den allerdunkelsten Orten zu suchen. Ihre Prosa wurde u. a. mit dem Kunstförderpreis der Stadt Linz, dem Theodor-Körner-Förderpreis und dem Exil-Literaturpreis ausgezeichnet.

Der natürliche Tagesablauf von hell und dunkel steht deinem Tagesablauf gegenüber: Wenn es hell ist, schläfst du, wenn es dunkel ist, musst du produktiv sein und arbeiten. Wie beeinflusst das dich mental und körperlich?

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Sanitäterin: Wenn der Funkmeldeempfänger geklingelt hat, dann hat es eine gewisse Alarmbereitschaft und Fokus in einem ausgelöst. Ganz unabhängig von Tag oder Nacht, konnte man sich somit auf die anstehende Arbeit konzentrieren und auf der Rückfahrt aus dem Krankenhaus konnte der Stress meist auch wieder abfallen, sodass ich selten länger als 15 Minuten gebraucht habe, um wieder einzuschlafen. Ich denke nicht, dass Einsätze in der Nacht mich mental oder körperlich mehr herausgefordert hätten, außer sie fanden direkt draußen in der Dunkelheit statt, dann war sich einen Überblick verschaffen definitiv erschwert, aber andere Probleme fielen auch weg, wie zum Beispiel Schaulustige.

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Paketverteilerin: Da es nur eine „halbe“ Nacht war, habe ich versucht, am Tag davor früh ins Bett zu gehen, dann aufzustehen für die Arbeit und die halbe Nacht mit einem Mittagsschlaf oder frühen Zubettgehen am selben Tag auszugleichen. Ich habe aber nach einem Monat bereits gemerkt, dass das nicht so ging, wie ich mir das zuvor vorgestellt hatte. Ich habe oft zwei Tage gebraucht, um wieder in meinen Tagesrhythmus zu finden und das war meistens das Intervall, in dem ich den zweiten Arbeitstag der Woche machen musste.

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Arzt: Mit dem Rhythmus als Arzt hat mich das weniger tangiert. Das heißt, ich war immer im Tag/Nacht-Rhythmus, allerdings oft übermüdet und oft hatte ich auch Schlafstörungen.

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Nachtportier: Probleme hatte ich eigentlich nur beim Umstellen des Rhythmus. Die Müdigkeit kam erst in der zweiten oder dritten Nacht, insbesondere die erste Nacht war immer wieder aufs Neue getragen von dem Gefühl des bewussten und ein bisschen faszinierten Erlebens der Zeit. Die Nacht kam mir vor wie ein riesiges Zeitreservoir, das ich dann – manchmal hatte ich Zeit dazu – mit Lesen füllte, vielleicht habe ich da auch größere Teile meiner Diplomarbeit geschrieben. Auch wenn es grundsätzlich sogar erlaubt gewesen wäre, mich kurz hinzulegen, wollte ich nichts von dieser gewonnenen Tageszeit abgeben und habe mich ehrlich gesagt auch nie getraut. Einzelne Nächte oder Wochenend-Vertretungen gingen dann allerdings an die Substanz, weil man den mangelnden Schlaf nicht „aufholen“ kann.

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Pflegefachkraft: Die zweite Nacht ist für mich die schwerste, da ich nach Nacht 1 häufig nicht gut einschlafen kann. Mein Körper ist dann auch nach 9 Stunden Arbeit noch wach, ich komme nicht zur Ruhe und schlafe dann schlecht. Ich bin dann müde, ich friere stark, und fühle mich, als würde ich krank werden. Ich merke nicht nur die Nachtschicht, sondern vor allem die Schichtwechsel. Ich kann mich nie an einen Rhythmus gewöhnen, wenn ich innerhalb von einer Woche alle drei verschiedenen Schichten gearbeitet habe, ist das Normalität. Nach 4 Tagen Spätdienst, wo man um 02:00 Uhr schlafen geht nur einen Tag später dann um 04:00 aufzustehen ist schwierig. Ebenso zählt die Nacht, aus der man kommt und theoretisch schon 7 Stunden gearbeitet hat, als freier Tag. Der wird bei uns Ausschlaftag genannt. So kann es vorkommen, dass man nur 24 Stunden später, wenn man aus der Nacht kommend morgens um 06:00 Uhr Übergabe an den Frühdienst macht, nur 24 Stunden später selbst als Frühdienst dasitzt. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Nachtarbeit. Schlafmasken, Ohrstöpsel und eine gute Planung sind essenziell. Nach einer Nachtschicht brauche ich Regeln für mich selbst. Gerade im Sommer muss es ordentlich dunkel sein, ansonsten liege ich hellwach im Bett, egal wie anstrengend der Dienst war. Meine Regeln sind: kein Koffein nach 02:00 Uhr, egal wie müde ich bin, nach Möglichkeit keine Aktivitäten vor 12:00 Uhr planen, um wenigstens ein bisschen zu schlafen, nicht mehr ans Handy gehen nach 08:00, egal was gerade los ist.

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Barkeeper: Es ist ganz wild. Teilweise bin ich einfach sehr ausgelaugt und habe selbst in meiner Freizeit kaum Energie für Dinge, die mir eigentlich Freude bereiten. Durch zum Teil chronischen Schlafmangel – da sich ja das Leben eben nicht in der Nacht abspielt – bin ich schon oft gereizt und/oder körperlich einfach nicht in Topform.

Licht und Lichtverschmutzung, insbesondere in der Nacht, sind viel diskutierte Themen. Wie siehst du das, gerade im Kontext deiner Arbeit? Fühlst du dich durch mehr Licht nachts sicherer und beruhigter bei der Arbeit? Oder bringt dir die Dunkelheit auch Vorteile?

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Sanitäterin: Es gab keine Momente, in denen ich mich unwohl gefühlt hätte wegen der Dunkelheit. Das war mit Sicherheit auch dem zu verdanken, dass wir immer als Team unterwegs waren. Die meisten Einsätze erfolgten auch nachts in Wohnungen. Aber im Allgemeinen war der Vorteil sicher, mit weniger Schaulustigen zu tun zu haben.

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Paketverteilerin: Wegen eines Mangels an anderen öffentlichen Transportmöglichkeiten bin ich von Innsbruck nach Hall mit dem Auto in die Arbeit gefahren. Hier habe ich mich nicht unsicher gefühlt und es hätte auch keine Beleuchtung direkt gebraucht. Auf dem Firmenparkplatz habe ich mich durchaus wohler gefühlt, weil es beleuchtet war. In der Halle habe ich mich nie unwohl gefühlt und wir brauchten auch das Licht, um die Versandschriften lesen zu können.

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Arzt: Naja, in den Räumlichkeiten, in denen man arbeitet, ist es ja auch nachts immer hell. Man ist eigentlich nur mit der Dunkelheit draußen konfrontiert und mit der ganzen Nachtatmosphäre. In ruhigen Stunden bringt diese einen zum Nachdenken, ab und an auch zu kreativem und besinnlichem Nachdenken.

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Nachtportier: Es war ambivalent. Ich habe ehrlich gesagt ein kindliches Vergnügen daraus gezogen, durch das nächtliche Hotel zu streifen, reinzuhören in den Körper, der durch die Situation einfach alerter ist, zum Beispiel Geräusche viel intensiver wahrnimmt, die nicht in die gewohnte Kulisse passen. Das an sich zu beobachten, seinen unwillkürlichen Angstreflexen und Instinkten nachzuspüren, und natürlich deren Überwindung war irgendwie faszinierend. Andererseits war es nicht immer angenehm, zu wissen, dass man in der beleuchteten Rezeption hinter der Glasschiebetür in der Auslage steht, während man kaum sieht, was auf der anderen Seite geschieht. Die Auslagesituation wirkte an starken Ausgehtagen an Wochenenden zudem gewissermaßen als Einladung für illuminierte Nachtschwärmer, die – manchmal auch in Gruppen – Einlass begehrten. Oft auch nur, weil der Abend ihren Bedarf an Kommunikation, Diskussion oder Konfrontation nicht gedeckt hatte und jemand in einem halböffentlichen Raum offensichtlich als Adressat zur Verfügung stand. Das waren mitunter schon herausfordernde Situationen. Dies hat weniger mit der Beleuchtungssituation an sich, als mit der Passantenfrequenz des „Nachtlebens“ zu tun.

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Pflegefachkraft: Im Krankenhaus ist es nie richtig dunkel. Die Lichter im Flur sind bei uns gedimmt, aber brennen weiter. In jedem Zimmer, in das man geht, um medizinische oder pflegerische Handlungen zu machen, wird ein kleines Nachtlicht angemacht, um beispielsweise eine Infusion anzuhängen. Wenn es dunkel ist, werde ich bei einer Nachtschicht schnell müde. Ich lasse deswegen im Stationszimmer meistens das große helle Tageslicht brennen. Die Dunkelheit, in Verbindung mit der Stille, fühlt sich manchmal seltsam an. Gerade, wenn es irgendwo klappert oder eine Tür aufgeht. Das kann die Anästhesistin aus dem Bereitschaftszimmer sein, die in den Kreißsaal rennt, oder ein eventueller Sturz. Man muss dann schauen gehen durch alle Zimmer, wenn man kein gutes Gefühl hat. Patient*innen, die weder zu Situation, Zeit noch Ort orientiert sind und eine starke Hinlauftendenz haben, haben manchmal die ganze Nacht das Licht brennen, um das Sturzrisiko zu senken. Ich grusle mich nachts nicht, doch manchmal kommt ein mulmiges Gefühl in einem auf.

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Barkeeper: Bei meiner Arbeit selbst fällt mir Lichtverschmutzung bzw. durchgehende Beleuchtung meines Lebensraums nicht auf, da ich drinnen arbeite – anders als jetzt zum Beispiel Straßenarbeitern oder Busfahrern – allerdings kann ich sagen, dass sich mein Heimweg durch durchgehende Helligkeit schon immer sehr sicher anfühlt. Mir fällt Dunkelheit in dem Sinne auf, dass ich quasi nie mit ihr konfrontiert werde, und sollte es dann einmal doch der Fall sein fühlt sie sich beinahe unnatürlich an. Natürlich könnte sich Dunkelheit nach der Reizüberflutung einer Bar (viele Menschen, laute Musik, Licht etc.) fast wie Erholung anfühlen, das kann ich in meinem Fall allerdings nicht beobachten.

Wenn alle schlafen, passieren seltsame Dinge – stimmt das? Was ist die skurrilste, schlimmste, denkwürdigste Erfahrung, die du in deiner Arbeit nachts erlebt hast?

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Sanitäterin: Ich denke, als Sanitäter*in gerät man allgemein in viele seltsame Situationen. Aber das war unabhängig, ob die Arbeit am Tag oder in der Nacht stattfand. Selten werden Situationen noch skurriler um 3 Uhr in der Nacht, aber da fällt mir eine ein: Wir wurden gerufen, weil das Auge seit einer Woche wehtut und auf Nachfrage, ob sich das um 3 Uhr in der Nacht gerade verschlimmert hätte, wurde mit einem „Nein“ geantwortet. Daraufhin haben wir gefragt, warum die Rettung gerufen wurde, und die Antwort war, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Auf eine weitere Nachfrage, warum es nicht möglich war, dass der Partner sie ins Krankenhaus bringt, antwortete sie, dass sie im Krankenhaus nicht warten, sondern direkt behandelt werden wollte. Daraufhin haben wir natürlich erklärt, dass im Krankenhaus nochmal neu eingestuft wird und dass der Transport mit dem Rettungswagen kein Kriterium für eine direkte Behandlung ist, sondern der Allgemeinzustand des Patienten.

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Arzt: In der Nacht kamen immer die heftigsten Fälle auf Station. Einmal brachten mir Polizisten einen Mann in die Psychiatrie, der seine Frau geschlagen hatte. Ich habe gefragt, warum sie ihn zu mir bringen und ihn nicht verhaften. Darauf kam die Gegenfrage: „Ist es normal, seine Frau zu schlagen?“

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Nachtportier: Man erlebt viele skurrile Dinge, richtig schlimme sind mir zum Glück erspart geblieben. Es gab Feueralarme, medizinische Notfälle, Polizei, sehr unangenehme Gäste und unangenehmen Besuch, mit dem man alleine zurechtkommen muss, und einiges mehr. Vieles davon ist untrennbar mit der nächtlichen Arbeitszeit verbunden. Es gab wirklich sehr seltsame nächtliche Zimmerservice-Bestellungen, Musiker, deren „Substanzen“ plötzlich unauffindbar waren, Überbuchungen und Komplikationen.

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Barkeeper: Ich habe eigentlich schon ziemlich alles gesehen. Von Drogendeals über Heiratsanträge mit Live Musik bis zu masturbierenden Obdachlosen, es gibt nichts was es nicht gibt.

Wieso hast du dich für diesen Beruf entschieden und möchtest du in diesem Bereich bleiben?

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Barkeeper: Meine zwei Lieblingsdinge im Leben: Menschen und Geld. Und durch meine Arbeit in der Nacht ist es mir möglich zu studieren, wenn natürlich auch nur mit sehr viel Koffein. Die nächsten Jahre auf jeden Fall, solange mein Körper noch mitmacht.

Es zeigt sich: Unabhängig davon, in welchem Bereich und auch in welchem Ausmaß die Nachtarbeit stattfindet, muss bei jeder Person erst ein Umgang damit gefunden werden. Die Nachtarbeit bedeutet in jedem Fall eine Umstellung, egal ob sozial, körperlich oder mental und lässt alle Menschen, die daran beteiligt sind, gesundheitliche Nachteile oder Herausforderungen erfahren.

In ihrem neuen Buch berichtet Lisa-Viktoria Niederberger übrigens auch über ihre eigenen Erfahrungen in der Nachtarbeit. Und über all die Ambivalenzen, Kontinuitäten und Gleichzeitigkeiten, die in der Dunkelheit zu entdecken sind.


Möchtest du weiter in die Dunkelheit eintauchen?

Lisa-Viktoria Niederberger beschäftigt sich in ihrem Essayband mit der Bedeutung von Dunkelheit, dem Zusammenhang zwischen Dunkelheit und Machtverhältnissen, mit verborgenen Klassenunterschieden, Patriarchatskritik, mit dem Himmel und den Sternen als Kulturgut, mit Naturschutz, Arbeitsschutz, feministischen und politischen Fragestellungen.

Sie fragt sich: Wie kann ein Leben aussehen, in dem wir der Dunkelheit wieder mehr Raum erlauben?

Dunkelheit“ ist eine literarische Spurensuche nach Ambivalenzen und Kontinuitäten rund um das Dunkle.

Überall erhältlich, wo es Bücher gibt! 


Magazin

Warum wir uns mit dem eigenen Sterben nicht gerne beschäftigen wollen, es aber trotzdem unbedingt tun sollen! – ein Interview mit Fabian Neidhardt

David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam erwachsen geworden und haben jung geheiratet. Als Katha plötzlich bei einem Autounfall ums Leben kommt, steht Davids Welt still. Tag für Tag schleppt er sich an den Friedhof und fragt sich: Wie geht Trauern eigentlich? Er trifft dort auf Marie, die Tochter des Totengräbers, die nur zu gut weiß, dass niemand zu viel Zeit hier verbringen sollte. Wo endet Trauern, wo beginnt loslassen? Wir haben mit Fabian Neidhardt über seinen neuen Roman „Endlosschleifentage“  gesprochen und warum es so wichtig ist, dass wir uns auch mit dem Ende des Lebens beschäftigen: 

Bereits zum zweiten Mal hast du ein wunderschönes Buch geschrieben, das sich mit den Themen „Trauer“ und „Abschied“ beschäftigt. Gibt es einen Grund, warum dich diese Themen so bewegen?

Themen wie Trauer, Tod und Sterben, das sind Themen, die uns alle einmal betreffen. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft ist es nun mal so, dass wir alle einmal sterben werden. Und wir lernen in unserem Leben mehr als genug Menschen lieben und  kennen, die halt auch alle einmal sterben. Trotzdem gehört das Sterben zu den Themen, über die wir viel zu wenig reden und ich wünsche mir, dass wir es Menschen einfacher machen können in ihrer Trauer, in ihrem Umgang mit Krebs, mit dem Tod, mit Krankheit. Ich merke, dass mich diese Themen selbst ganz stark interessieren und beschäftigen, und ich erzähle deshalb Geschichten, die sich damit eben auseinandersetzen. Wenn ich mit Menschen darüber spreche, merke ich, dass ich damit ganz offensichtlich nicht allein bin.

Kannst du etwas zur Entstehungsgeschichte dieses Buches sagen, wie bist du zum Thema dieses Buches gekommen?

2010 ist meine Oma gestorben. Sie war sehr viele Jahrzehnte mit meinem Opa zusammen und relativ kurz nach dem Tod meiner Oma ist mein Opa mit einer neuen Frau zusammengekommen. Für ganz viele Leute in meiner Familie war das ganz komisch. Es gab Leute, die haben sich darüber gefreut, dass er, als damals Mitte/Ende 70-jähriger, nicht allein seinen Lebensabend verbringen muss, und andererseits gab es Leute, die enttäuscht und  verletzt waren und auch an der Liebe meines Großvaters zu meiner Großmutter gezweifelt haben. Ich fand das unglaublich spannend, wie unterschiedlich Menschen darauf reagieren und auch wie offensichtlich so ein unausgesprochenes Regelwerk von „Wie trauert man richtig?“ und „Was bedeutet Trauern?” zu existieren scheint. Ab da ging es los, dass ich mich gefragt habe: Muss das so sein und schränkt das nicht auch ganz viele Leute in ihrer Trauer ein, wenn es ganz viel gefühlten Zwang gibt und Regeln und wie könnten wir vielleicht Trauer auch anders sehen und irgendwie anders öffnen und dann habe ich mich damit auseinandergesetzt über viele Jahre mittlerweile, habe zwei andere Bücher geschrieben und jetzt auch das, hab ein Praktikum in einem Bestattungsinstitut gemacht und ganz viel darüber gelernt und habe hoffentlich ganz viel davon in dieses Buch fließen lassen.

Spricht man übers Sterben, sind die meisten Menschen erstmal betroffen und möchten sich gar nicht so wirklich damit auseinandersetzen. Glaubst du, ist es die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, die diese Hemmung verursacht und warum ist die Auseinandersetzung damit dennoch wichtig?

Ich glaube diese letzte Deadline, dieses „der eigene Tod“, das macht natürlich etwas mit uns. Das fühlt sich erstmal absolut an, ganz egal, ob jemand daran glaubt, wie oder ob es danach weitergeht. Es ist ein krasser Einschnitt im Leben, wortwörtlich der letzte große Einschnitt. Ich kann total verstehen, dass das unangenehm ist, gleichzeitig glaube ich aber, dass es total sinnvoll ist sich damit auseinander zu setzen, vor allem mit dem eigenen Sterben. Nicht im Sinne davon, dass man das glorifizieren muss, aber uns ist ja allen klar, dass dies passieren wird, und vielleicht gibt es aber Dinge, die vorher passieren sollen. Wie bei jeder Deadline haben Menschen die Tendenzen, Dinge vor sich herzuschieben, aber ich behaupte, diese letzte Deadline, von der wir alle nicht wissen, wann sie kommt, eröffnet Fragen: Was möchtest du noch Leuten gesagt haben? Wie möchtest du den Leuten in Erinnerung bleiben? Aber auch, wie möchtest du, dass mit dir umgegangen wird, wenn du gestorben bist? Wie möchtest du beerdigt werden? Möchtest du verbrannt werden? Wie bunt dürfen die Klamotten sein, die auf deiner Beerdigung getragen werden? Für all diese Sachen sollten wir dann doch am besten den Mut finden, dass wir sie vorher besprechen.

David hat nach dem Tod von Katha manchmal das Gefühl, dass er es nur falsch machen kann: sowohl das Weiterleben im Hier & Jetzt, als auch das Trauern, das sich wie Stillstand anfühlt. Was ihm hilft, ist die Musik. Hast auch du Lieder, die dich bewegen und berühren? Welche sind das?

Ich selbst spiele tatsächlich kein Instrument. Aber klar gibt es Musik, die mich regelmäßig neu berührt, die mich tröstet und die mich auch in ganz unterschiedliche Stimmungen bringt. Eines der Lieder, das mich auf jeden Fall einen großen Teil meines Lebens schon begleitet ist „first day of my life“ von Bright Eyes. Diesen Song hat mir meine Cousine vor mehr als zwanzig Jahren gezeigt. Ein großartiges Lied, das mich jedes Mal wieder aufs Neue sehr berührt. Oder „proof“ von I am Kloot. Aber es gibt fast jährlich einen Song, den ich irgendwo zufällig höre und von dem ich merke, boah krass, auf irgendeine Art berührt er mich, tröstet, erfreut mich oder bringt mich in irgendeine Stimmung, die ich gerade brauche. Es gibt zum Buch auch eine Playlist auf Spotify mit Songs aus dem Roman, aber auch mit Songs, die vorkommen könnten, wenn das Buch ein Film wäre oder ein Film in euren Köpfen ist. Das heißt, es ist nicht nur die Musik aus dem Buch, sondern auch darüber hinaus.

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Weitere Informationen

„Endlosschleifentage“: Du verlierst die Liebe deines Lebens – und jetzt? David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam groß geworden und haben jung geheiratet. Doch dann kommt Katha bei einem Autounfall ums Leben, und Davids Welt steht still. Sie war jedes seiner ersten Male, ist in jeder seiner Erinnerungen. Er schleppt sich Tag für Tag auf den Friedhof und fragt sich: Wie geht Trauern eigentlich? Dort trifft er Marie, die Tochter des Totengräbers, die nur zu gut weiß, dass niemand zu viel  zeit hier verbringen sollte. Wo endet Trauern, wo beginnt Loslassen? David kann weder das eine noch das andere. Alles fühlt sich falsch an. Nur die Musik, die er macht, klingt richtig.

 

„Manchmal bin ich so im Geschehen, dass ich wirklich allen einen Mord zutraue“ – ein Interview mit Isabella Archan

Edwina Teufel soll eigentlich nur eine Auszeit von ihrem Alltag als Ermittlerin bei der Wiener Polizei nehmen – und wird dann prompt in einen dubiosen Todesfall am idyllischen Gardasee verwickelt: Der Wiener Chefinspektorin wird von der Polizeitherapeutin geraten, eine Pause zu machen, weswegen sie sich für ein Jahr in Sirmione entscheidet. Aber dort nur das süße Nichtstun zu genießen, liegt nicht in Edwinas Interesse und sie arbeitet für ein paar Stunden in einem lokalen Fundbüro. An einem Tag wird dort eine Schlange abgegeben und am nächsten Tag wird der Schlangenfinder – ein bekannter Eistüten-König – tot aufgefunden. Edwina kann es nicht lassen und mischt sich sofort tatkräftig in die Ermittlungen der Polizia ein. 

Wir sprechen mit der Autorin Isabella Archan über die Wiener Ermittlerin, Urlaub am Gardasee und über den Stellenwert von Schlangen:

Liebe Isabella, deine Protagonistinnen finden wir eigentlich eher in Deutschland oder Österreich: Die MörderMitzi und Agnes Kirschnagel ermitteln in Kufstein, auf der Donau, in den Alpen und Willa Stark und Leocardia Kardiff lösen ihre Fälle in Köln. Woher kam die Idee, die Wienerin Edwina Teufel in eine Auszeit an den Gardasee zu schicken?

Der Gardasee war schon in meiner Kindheit ein Ziel meiner Familie, wenn Kurzurlaub angesagt war. Meine Mutter war ein großer Italien-Fan, hat in ihrer Jugend zwei Jahre in Rom gelebt. Und als ich vor nicht allzu langer Zeit wieder ein paar Tage am Lago war, dachte ich, wenn ich je eine Auszeit bräuchte, wäre das mein Fleckchen…. Schwupps – die erste Idee von Edwina Teufel war da.

Wir finden uns also gemeinsam mit Edwina und ihrem Lebensgefährten Antonio „Toni“ Russo in Sirmione wieder, aber anstatt ihnen beim gemütlichen Pizzaessen und Aperoltrinken im Sonnenuntergang zuzuschauen, werden wir mit Edwina in eine geheimnisvolle Villa, in den Keller eines Fundbüros oder zu einem Tortellinifestmahl geschickt. Nur am Strand liegen ist also eine klare Fehlanzeige. Trotzdem ermitteln wir in den schönen Gassen des Städtchens, an den Küstenstraßen des Gardasees und im Schatten beeindruckender Sehenswürdigkeiten. Kannst du uns an der Stelle einen Gardasee-Tipp geben? Und kanntest du Sirmione bereits davor und hattest das Potenzial direkt im Kopf oder musstest du erst recherchieren und selbst vor Ort sein, um dir ein Bild zu machen?

Ich bleibe bei Sirmione und der Umgebung. Bis man alles gesehen und genossen hat, braucht es eine Weile. Schon allein, weil es sich lohnt, viele Pausen einzulegen mit Eis schlecken, Cappuccino trinken, Tortellini essen. Natürlich am Strand die Seele baumeln zu lassen, zu schwimmen in diesem seidigen Wasser – hach, jetzt würde ich gerne sofort wieder hinfahren. Limone kann ich auch sehr empfehlen. Wobei es am Gardasee kein Plätzchen gibt, das nicht schön ist, finde ich.

Ich habe aber selbst in San Martino della Battaglia logiert. Ich bin auch nach Sirmione und zurück täglich alles zu Fuß abgelaufen, wie Edwina. Es ist erholsam, beeindruckend und schlichtweg schön. Die Aussicht, die Luft, der Lago – herrlich. Die vielen Eisdielen waren ebenso eine Inspiration, wie auch die Burg und die Strände und die Altstadt und, und, und…. Man kann sagen, dass die Geschichte in meinem Kopf mit jedem Schritt klarer wurde. Recherche braucht es zusätzlich allerdings immer. Eine Schulfreundin, die in Italien lebt, hat mir geholfen. Ein Commissario, der am Gardasee zu Hause ist, eine Rechtsmedizinerin und zwei tolle Krimi-Kolleginnen haben mir bei Rückfragen ebenso zur Seite gestanden.

Übrigens liebe ich es, spazieren zu gehen und meine Fantasie laufen zu lassen. Dabei sprudeln die Ideen wie ein Springbrunnen. 😊

© C. Assaf

Isabella Archan ist in Graz geboren und betrat nach ihrer Schauspielausbildung die Bühnen von mehreren großen Häusern, wie u.a. dem Wiener Volkstheater. Doch nicht nur vom Zuschauerraum aus kann man Archan beobachten, sondern auch auf den Bildschirmen: In Serien wie der „Lindenstraße“ oder dem „Tatort Köln“ ist sie zu sehen. Von ihren Engagements in Krimiserien zog es die, in Köln lebende, Autorin in die Welt der Bücher. Seit 2014 führt Archan hier selbst Regie, darunter auch in der Reihe um die „MörderMitzi“.

Bevor wir uns näher mit deinen Figuren beschäftigen, noch eine persönliche Frage an dich: Du bist nicht nur Autorin, sondern auch Schauspielerin und kombinierst die beiden Bereiche gerne, wie man bei deinen MordsTheaterLesungen sieht. Fließt auch beim Schreiben selbst das Schauspiel mit ein?

Oh ja. Ich gehe an die Bücher über die Figuren und deren Charaktere. Ich beobachte gerne, lausche im Café oder im Zug den Gesprächen, höre mir Geschichten von Menschen an, die viel erlebt haben. Dann versetze ich mich, wie bei Theaterrollen, in die Romanfiguren, spiele quasi bis zur kleinsten alles innerlich nach. Am Ende lote ich meine eigenen Tiefen aus. All das ist mit viel Spaß und Freude verbunden.

Dazu kommt, dass ich bei meinen MordsTheaterLesungen zu dem jeweiligen Krimi den direkten Kontakt mit dem Publikum, mit meiner Leserschaft, haben kann. Das macht mich jedes Mal sehr glücklich.

 

Edwina ist eine sehr eigenwillige und auch impulsive Persönlichkeit, insbesondere, was das Treffen von Entscheidungen angeht. Das merken wir beispielsweise öfters bei ihren Begegnungen mit Commissario Adriano Alceste oder wenn sie auf eigene Faust etwas ohne Toni unternimmt. Gab es Momente beim Schreiben, wo Edwina dich überrascht, eine andere Richtung angegeben hat, als du geplant hattest?

Bei Edwina wirklich einige. Ihr Charakter ist wunderbar eigensinnig und doch immer sehr mitfühlend. Eine sympathische Mischung, die mich während der Arbeit laufend berührt hat. Dazu kommt die Magie des Schreibens, wie ich es nenne. Der Plot ist fertig, die Auflösung ist klar – ich setze mich an das Manuskript. Und schon entwickeln die Figuren ein Eigenleben, das mich die Geschichte anders als geplant weiterführen lässt. Ich werde überrascht und in neue Richtungen gelenkt. Bei Edwina war das eine laufende Zusammenarbeit zwischen ihr und mir könnte man sagen…. sie hat sich meistens durchgesetzt. 😊

 

Deine Figuren stehen allesamt in komplexen, geheimnisvollen Beziehungen zueinander: Da gibt es Edwinas Chefin Rosa Rinaldi und ihren Enkel Bruno, der in Schwierigkeiten steckt, aber Edwina trotzdem hilft. Den ermordeten Eis- und Hotelkönig Giovanni di Levia, der scheinbar überall irgendwie verwickelt war und seine Exfrau Greta Galli. Dann Felix Stacherer und Luis Brand, die Zeugen, die sich gegenseitig decken könnten. Schließlich die Polizeibeamt*innen Commissario Alceste, der Edwina nicht einbeziehen kann (oder will) und Ispettore Punta, die flott und ehrgeizig ermittelt. Und natürlich mittendrin Edwina und Toni, die sogar immer wieder selbst in Gefahr sind. Waren die ganzen Verstrickungen so geplant oder haben sich die Beziehungen organisch beim Schreiben entwickelt? Wie hast du den Überblick behalten?

Beides. Den Überblick zu behalten ist wichtig, damit sich all die Spuren und Möglichkeiten am Ende bei einem Lösungspunkt finden. Ich habe einen Plan, aber überprüfe laufend, wenn sich andere Wendungen ergeben. Da ich ganz in die Geschichte eintauche, kann ich auch stets mit den Figuren mitgehen und ihren neuen Wegen folgen. Die Verstrickungen der einzelnen Charaktere machen die Spannung aus. Manchmal bin ich so im Geschehen, dass ich wirklich allen einen Mord zutraue. Total gerne schreibe ich Kapitel aus der Sicht der Täterfigur, was richtig faszinierend ist.

 

Schlangen haben, wie der Titel ja schon irgendwie vermuten lässt, eine ganz zentrale Bedeutung in deinem Roman. Edwina trägt selbst den Spitznamen „Zornnatter“ und kommt im Laufe ihrer Zeit in Sirmione immer wieder mit ihren Namensgebern in Kontakt. Keine Spoiler, aber: Wir treffen auf viele Schlangen in unterschiedlichen Formen, die viele unterschiedliche Zwecke haben. Edwina ist diesen eigentlich auch nicht abgeneigt. Wie sieht es bei dir aus? Sind Schlangen missverstandene Tiere oder sind die Angst und der Ekel gerechtfertigt, den viele Menschen vor ihnen haben?

Früher hatte ich Angst vor Schlangen. Dann habe ich mich mit ihnen immer wieder beschäftigt, was mir eine andere Sicht auf diese, für die Natur so wichtigen, Tiere gegeben hat. Dazu kommt, dass es am Gardasee jede Menge Schlangen unterschiedlicher Art gibt. Edwinas Kollegenschaft in Wien hat ihr den Spitznamen „die Zornnatter“ sogar liebevoll gegeben, weil sie bei Ungerechtigkeiten stets wütend wird und sich bei ihren Kriminalfällen richtig festbeißen kann. Und sie hat ein Herz für die nicht so knuddeligen Spezies auf der Welt. Ich selbst liebe auch Hunde, Katzen, Pferde, Vögel usw., aber ich gehe mit Edwina: Respekt verdienen alle Lebewesen.

 

Abschließend noch eine kurze Frage: Sehen wir Edwina bald wieder ermitteln oder bleibt sie zunächst einmal in ihrer Auszeit?

Ich glaube, wer Edwina Teufel kennenlernt, dem wird schnell klar, dass sie einfach nicht anders kann, als sich bei möglichen Verbrechen einzumischen – Auszeit hin oder her 😊 – Und ich selbst plane gerade wieder ein paar Tage am Gardasee ein….Oh, jetzt hab ich ja fast schon zu viel verraten…

 


Zum neuen Buch

Hast du jetzt Lust bekommen, mit der ebenso eigenwillig wie liebenswerten Edwina auf Ermittlungstour am Gardasee zu gehen und nicht nur La Dolce Vita sondern auch La Vita Pericolosa zu erleben? „Die Schlange von Sirmione“ ist überall erhältlich, wo es Bücher gibt. Urlaubsfeeling (trotz Mordfall) inklusive!


„Wir sollten an einer Gesellschaft arbeiten, die aus der Schwäche anderer nicht das Recht ableitet, diese auszunutzen” – ein Interview mit Gudrun Lerchbaum

Ein nur scheinbar aufgeklärter Mord, eine Frau ohne Erinnerung, ein Dorf, das sich Varianten der Wahrheit  zuraunt, und die Frage: Kann ein Opfer zugleich Täterin sein? Gudrun Lerchbaums Roman „Niemand hat es kommen sehen“ erzählt nur auf den ersten Blick die Geschichte eines ungelösten Verbrechens. Denn das Schicksal der Hauptfigur Maria nimmt uns mit auf eine rasante Reise entlang der Schicksale jener Frauen, die ungesehen bleiben: Da ist die pflegende Angehörige schwerkranker Eltern, da ist die Kellnerin in Schwarzarbeit, die ausgebeutet und erpresst wird, da ist die Ehefrau, die sich vor ihrem prügelnden Mann ins Frauenhaus rettet, und die 24-Stunden-Pflegekraft, von der viel mehr als nur Pflege erwartet wird. Wie durchlässig unsere sozialen Netze im Ernstfall sein können, wie unbeständig und flüchtig auch nur das zufällige Privileg sein kann, als Person, als gleichberechtigtes Gegenüber wahrgenommen zu werden, das lässt sich bei der Lektüre der Romane Gudrun Lerchbaums erahnen.

Wir haben mit ihr über Solidarität, Hoffnung und die Bedingungen gesprochen, aus der Kriminalität entsteht:

»Sei Teig, sei Wachs, sei Was­ser!«

Weiterlächeln, schweigen, undurchdringbar bleiben – Maria – die Protagonistin deines Romans „Niemand hat es kommen sehen“ bleibt beharrlich stumm und lässt dadurch das Gerede um sie immer maßloser werden. Das Rätsel um sie, ihre Vergangenheit, ihre vermuteten Taten übt eine unwiderstehliche Faszination auf ihre Umgebung aus. Welche Kraft liegt für dich in dieser ambivalenten Figur, die sich (nur scheinbar) passiv durch ihr Leben manövriert?

Ja, man könnte meinen, das Schweigen wäre Marias Strategie, um ein geheimnisvolles Image aufzubauen, und so wird es von jenen, die ihr nicht wohlgesonnen sind, wohl auch aufgefasst. Für sie selbst hat ihr Schweigen aber eher die Funktion einer Rüstung. Es ist der einzige Schutzschild, der sich für sie bewährt hat. Von Kindheit an hat man sich über ihre oft vergeblichen Versuche lustig gemacht, die richtigen Worte zu finden. Diese Suche nach den richtigen Worten beschäftigt sie. Daher auch ihre Begeisterung für Leitsprüche.

Maria fehlt die Erfahrung, dass andere ihr und ihren Worten Bedeutung zumessen. Sie ist nicht die Hellste, nichts Besonderes. Das hat sie zu oft gehört, um noch unbefangen auszuplaudern, was ihr in den Sinn kommt. Wenn sie also nichts zu sagen hat, was in ihren Augen einen Unterschied macht, dann schweigt sie. Wenn sie keine Chance sieht, sich durchzusetzen – schweigt sie. Das erspart ihr, sich für ihre vermeintliche Dummheit verteidigen zu müssen. Nur mit Menschen wie Rafi oder Max oder auch dem Journalisten Lando, von denen sie sich gesehen fühlt, blitzen ihr Witz und ihre Tiefe auch in ihren Worten auf.

Marias Kraft, wenn man es so nennen möchte, liegt also zunächst darin, dass sie viel aushalten kann, eine traditionell bei Frauen und Untertanen erwünschte Tugend, die auf dem Weg zu einem selbstbestimmten, gelungenen Leben nicht allzu erfolgversprechend ist. Aber genau deshalb habe ich Maria ausgesucht: Weil sie eben nicht stark, weil sie keine Heldin ist. Es sind nun einmal nicht alle stark. Die wenigsten sind es. Wir sollten an einer Gesellschaft arbeiten, die aus der Schwäche anderer nicht das Recht ableitet, diese auszunutzen. Und zwar bevor sich ihnen Gewalt als einziger Ausweg aus einer verzweifelten Situation aufdrängt.

Anders als in vielen klassischen Whodunnits, ist anstatt der eigentlichen Verbrechen vielmehr Marias irritierende Verweigerung treibende Kraft der Handlung und offenbart uns viel über gesellschaftliche und mediale Dynamiken. Wolltest du das von Beginn an zeigen, oder hast du dir beim Schreibprozess selbst ein bisschen Marias Maxime zu Herzen genommen: Teig, Wachs, Wasser zu sein?

Nicht in Bezug auf die Grundidee. Von Beginn an hat mich bei diesem Buch der Wunsch getrieben, Maria in der Außensicht noch einmal neu erstehen zu lassen, da sich Zwischen euch verschwinden ja ausschließlich auf ihre eigene, nicht ganz zuverlässige Perspektive konzentriert. Kurz hatte ich sogar einen klassischen Krimi aus Ermittlersicht im Sinn, doch dieser Ansatz war zu dünn, um das umfassende Panorama der sozialen Ursachen und Auswirkungen erstehen zu lassen, das ich im Sinn hatte.

Beim Schreiben selbst zeigt sich in meiner Arbeitsweise wohl immer schon eine gewisse Verwandtschaft zu Marias Maxime. Ein gerichtetes Treiben auf dem Fluss der Gedanken, Gefühle und Handlungen meiner Charaktere – so könnte man es schon beschreiben.

Mit Maria hast du eine Figur geschaffen, die aufzeigt, wie eine einzige Lebensentscheidung ein Leben aus den Fugen geraten lässt und wie schnell man sich in einer Abwärtsspirale der Abhängigkeiten wiederfindet. Aber es gibt bei aller Aussichtslosigkeit auch Hoffnungsschimmer, oder?

Ja, Hoffnung muss es geben, sonst wäre alles sinnlos.

Zwar konstruiere ich mir vor oder während der Arbeit keinen theoretischen Überbau für meine Figuren, aber aus heutiger Perspektive würde ich sagen, dass Marias Probleme die Wurzel alle in ihrer Scheu haben, sich mit anderen auszutauschen, weil sie deren abschätziges Urteil fürchtet. Sich Hilfe in Krisen zu suchen, bleibt ihr damit verwehrt. Doch sie hat Glück. Immer wieder trifft sie nicht nur auf soziale Kälte, Ausbeutung oder Sensationslust, sondern auch auf Menschen, die sich mit ihr solidarisieren und von sich aus helfen. Die einen, weil sie an sie glauben, sie lieben oder schätzen oder einfach Mitgefühl haben. Andere, weil sie sich als Frau oder auch auf einer abstrakteren Ebene mit Maria und ihren Problemen identifizieren. Bei aller Kritik an (sozialen) Medien wird hier auch das Potential sichtbar, das ihnen innewohnt. Der solidarische Teil der Öffentlichkeit übernimmt quasi für Maria die Kommunikation, gleicht ihr Defizit aus und verleiht so ihren vermeintlich persönlichen Problemen gesellschaftliche Bedeutung. So wird sie doch noch zur Heldin. 🙂

In deinen Romanen rückt das auslösende Verbrechen, das große Skandalon, in den Hintergrund. Die Aufklärung bietet nicht unbedingt die erwünschte Erlösung, was bleibt, ist allerdings ein ungeschönter panoramischer Blick auf Lebensrealitäten, die im Diskurs oft verdrängt, zugeschüttet, zum Verstummen gebracht werden. Ist es der angstlust-volle Blick auf die isolierte Tat und ihre Urheber*innen, der uns oft den (politischen) Blick auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Verbrechen, Sucht, Armut versperrt?

Genau. Im lustvollen Schwelgen in den abscheulichen Grausamkeiten psychisch kranker Serienkiller beispielsweise kann man zwar möglicherweise eigene Aggressionen abbauen und sich von alltäglichem Ärger ablenken, aber man grenzt sich naturgemäß zu Recht von den Taten selber ab und sie haben auch keinen gesellschaftlichen Kontext. Ein Glück, dass uns so etwas aller Wahrscheinlichkeit nach nie treffen wird. Alles ist gut, wenn der Bösewicht im Kerker sitzt. Wir müssen nichts weiter unternehmen, alles bleibt, wie es ist, im Guten wie im Schlechten.

Demgegenüber interessiert mich sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben ein Ansatz, der den Blick, immer ausgehend vom persönlichen Schicksal, von unten auf die gesellschaftlichen Strukturen richtet. Allerdings mag ich keine Chronistin des Elends sein, sondern ermutige meine Charaktere sozusagen zum Widerstand und spinne weiter, was sein könnte.

Ausgeliefertsein im Frauenhaus, in der häuslichen Pflege oder als unsichtbare Hilfskraft in der Gastronomie: Marias Geschichte bringt uns an unzugängliche Orte und führt uns ausbeuterische Strukturen in unserer Mitte vor Augen. Wie recherchiert man diese Dinge, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passieren und doch so verborgen liegen?

Liegen sie wirklich im Verborgenen oder vermeiden wir nur den Blick darauf, um unser Gewissen nicht zu belasten? Natürlich gibt es Anteile klassischer Recherche bei meiner Arbeit. So habe ich beispielsweise ausführliche Telefonate mit der Leiterin des Frauenhauses Innsbruck geführt, in dem Maria untergekommen ist, oder mich mit einer Organisation für 24-Stunden-Pflegerinnen ausgetauscht. Dabei erfahre ich nicht nur etwas über Tatsachen und Routinen, sondern entwickle auch ein Gespür für die Haltung des Gegenübers. Was nervt, frustriert, beglückt, macht stolz? Das gleiche ich dann ab mit den Erfahrungen von Bekannten in verwandten Berufen und verwebe alles zu einer Figur.

Meine wichtigste Quelle aber ist das Hinsehen. Hinsehen, wenn im Urlaub die Frauen im Hijab das Bett machen oder die Küchenabfälle raustragen. Fragen, woher sie kommen. Zuhören, wenn ein Hotelier woanders über die faulen Angehörigen derselben Nation schimpft. Auch mal den Personaleingang nehmen. Lauschen, was bei der hastigen Zigarette zwischendurch geredet wird. Wahrnehmen, wie sich das Leben für 24-Stunden-Pflegerinnen im privaten Umfeld gestaltet. Könnte ich diese Arbeit tun? Wo sind meine Grenzen, wenn ich in einer echten Notlage stecke? Dabei schadet es nicht, sich selbst schon in Notlagen befunden, als Kellnerin schwarz gearbeitet, am Fließband gestanden oder mit letzter Kraft Sorgearbeit geleistet zu haben. Und nicht zu verdrängen, welchen Platz ich als Nutznießerin solcher Dienstleistungen in diesem Gefüge einnehme. Ein Platz der nicht verdient oder unverdient ist, sondern ein mehr oder weniger zufälliges Privileg, das ich, wie alle anderen, jederzeit durch äußere Umstände verlieren kann.

Hinsehen, erzählen, riskieren – das ist übrigens auch das Motto der feministischen Autorinnenvereinigung HERland, der ich angehöre.

 

Wie schnell aus einer unscheinbaren Frau die „Waldviertler Elektra“ werden kann und ob sie es aus dem verhängnisvollen Strudel der Schuldzuweisungen, der Abhängigkeiten und des Ausgeliefertseins schafft, könnt ihr in Gudrun Lerchbaums neuem Roman lesen, der ab sofort überall erhältlich ist:


„Niemand hat es kommen sehen“: Marias Geschichte lässt uns schaudern, aber auch hoffen: auf Gerechtigkeit, Solidarität und Freundschaft.

Nach über einem Jahr kehrt die verschwundene Frau in ihr Heimatdorf zurück  und kann sich nicht daran erinnern, wo sie war. Oder an das, was sie getan hat. Auch als Melanie Ramsauer und Theo Nebel vom Landeskriminalamt vor Marias Tür stehen, bleibt sie stumm.

Was würde eine wie Maria tun, wenn es nötig ist? Und, viel wichtiger: Was hat sie getan? Als immer mehr  Verbindungen zu einem nur scheinbar aufgeklärtem Mordfall auftauchen, wird die Frage laut: Ist Maria Opfer? Täterin? Oder beides?

 

„Die Sprachlosigkeit hat sich in den Roman eingeschrieben” – ein Interview mit Michèle Yves Pauty

Familienkörper” ist ein Debütroman mit erzählerischer Wucht über das Geflecht einer Familie, drei Generationen von Frauen, Medical Gaslighting und Gender Medizin:

Das Ich wächst im Tirol der 80er-Jahre auf, zwischen schneebedeckten Bergspitzen und dem schlammgrünen Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt, lebt im Olympischen Dorf. Wächst als gesunder Körper zwischen kranken auf. Großmutter, Mutter, Schwestern – Krankheit trifft alle. Nieren, Schilddrüse, Allergien, Erschöpfung, jede Geburt eine Opfergabe, Gebärmutterentfernung beinahe Tradition. Die Ärzt*innen reagieren nicht, wiegeln ab. Um sich selbst zu schützen, entfremdet die Ich-Figur sich immer mehr. Und beginnt dann doch, alles zusammenzusetzen, verwebt einen Familienkörper.

Wir haben uns mit Michèle Yves Pauty über das Debüt unterhalten.

Medical Gaslighting und Gender Medizin sind zwei zentrale Themen in deinem Roman, die eng miteinander verbunden sind. Dabei handelt es sich um strukturelle, kontinuierliche Problematiken, die doch immer noch sehr wenig thematisiert werden. Was war für dich der ausschlaggebende Punkt, genau diese Themen in einem Roman zu verarbeiten? Hat dich die Familiengeschichte dazu bewegt oder konntest du erst durch den Schreibprozess einordnen, dass diese Themen eng mit der Familie verknüpft sind? 

Am Beginn des Schreibprozesses waren diese beiden Themen noch nicht bewusst als Schlagwörter in meinen Überlegungen vorhanden. Es war mehr ein Nachtasten, was diesen Familienkörper umtreibt, warum manche Episoden sich zu wiederholen scheinen, warum es so wenige Orte gab, zu denen Mitglieder meiner Familie gehen konnten. Ich wollte verstehen. Medical Gaslighting und Gender Medizin haben sich erst im Laufe des Schreibens als Themen herauskristallisiert, die inhärent mit der Gesundheit von Frauen im allgemeinen und besonders mit der meiner Familie zusammenhängen.

In deinem Roman erzählst du über drei Generationen von Frauen. Das Buch setzt bei allen drei Perspektiven in der Kindheit ein und berichtet über lange Spannen hinweg auch über ganze, unterschiedliche Jahrzehnte. Wie war es für dich, in diese verschiedenen Figuren, Leben und auch Zeiten einzutauchen, die du selbst nicht erlebt hast? Welche Herausforderungen gab es dabei?

Die erste Version waren elf Seiten, in denen eine Erzählstimme das Geschehen von außen beobachtet hat. Inhaltlich ging es damals ausschließlich um meine ältere Schwester, den Super-GAU in Tschernobyl und ihre Hashimoto-Diagnose. Als der Text länger wurde, war es nicht mehr möglich, mich aus den Erzählungen herauszuhalten. Die Stimme des Kindlichen wurde zum roten Faden für die Geschichte, sie bietet eine gewisse Chronologie in den Zeitsprüngen. An einem Punkt war alles von meiner Erinnerung dominiert, das war nicht, wie ich schreiben wollte. Zusätzlich gibt es die Erzählungen im Roman, die vor meiner Geburt stattgefunden haben. Um diese Episoden nah an den Personen zu gestalten, habe ich viel recherchiert und Interviews mit meinen Familienmitgliedern begonnen. Zuerst waren es nur gelegentliche Anrufe, „Wie war das damals mit Tschernobyl?“, aber irgendwann habe ich die Interviews in das Manuskript mit aufgenommen. Ich fand den Blick der anderen spannend, die Unsicherheit von Erinnerung. Immer wieder kamen vollkommen unterschiedliche Erzählungen über dasselbe Ereignis. Erinnerung ist wie Wahrheit, es gibt nicht eine, sondern viele subjektive.

Medical Gaslighting beschreibt eine Praxis, in der Krankheiten oder Symptome von medizinischem Fachpersonal nicht ernst genommen und heruntergespielt werden. Dabei wird Patient*innen nicht geglaubt und auch nicht zugehört und die Krankheiten oder Symptome werden als eingebildet oder (bei körperlichen Beschwerden) psychosomatisch abgesprochen. Wenn eine Diagnose nicht sofort feststellbar ist, werden auch oft keine weiteren Verfahren wie beispielsweise eine Überweisung oder eine Laboruntersuchung angeordnet. Davon sind vor allem Frauen und weiblich gelesene Personen betroffen, aber auch Menschen mit Mehrgewicht oder chronischen Erkrankungen und Menschen mit Rassismuserfahrungen.

 

Gender Medizin heißt, dass Krankheiten sowohl geschlechtssensibel als auch geschlechtsspezifisch untersucht, erforscht und behandelt werden. Gender Medizin beinhaltet die Auswirkungen von sex und gender auf Krankheit und Gesundheit. Das bedeutet, dass soziale und psychologische Unterschiede in der Medizin berücksichtigt werden, ebenso wie der Faktor, dass Symptome und Krankheiten aufgrund unterschiedlicher biologischer Voraussetzungen verschieden ausgeprägt sein können.

Das Ich im Roman wächst als gesunder Mensch zwischen und mit Kranken auf. Es entfremdet sich zum Schutz immer mehr von der Familie und dem Geschehen, um dann alles zusammenzusetzen. Wie war es für dich, diesen Familienkörper zu verweben, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten?

Herausfordernd. Alle möglichen Emotionen sind aufgekommen. Zu Beginn war es spielerisch, bis mir aufgefallen ist, dass ich nur die angenehmen Episoden erzähle oder Stellen, die wenig mit mir zu tun haben. Dann bin ich chronologisch alles abgegangen, habe in einem halben Jahr das Grundgerüst des jetzigen Romans geschrieben. Mit dem Text habe ich zu diesem Zeitpunkt am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Eine Studienkollegin, Oliwia Hälterlein, hat damals in einer Textwerkstatt gesagt, „sie liest den Schmerz dieses Ich“. Und ich glaube, das war das erste Mal, dass mir das bewusst wurde. Danach hat sich das Ende einfach gefunden. Ursprünglich war es nicht mein Plan, über die Entfremdung zu schreiben. Aber als es sich in das Manuskript hineingeschrieben hat, dachte ich mir, das will der Text.

Krankheit und gerade chronisches Kranksein sind auch heute oft noch eine Art Tabuthema. In unserer Gesellschaft gilt es, zu funktionieren. Das spiegelt sich auch in deinem Roman wider. Was muss sich diesbezüglich ändern und was können wir individuell für eine Entstigmatisierung und Enttabuisierung tun?

Ein Problem sehe ich in dem schulmedizinischen Zugang, der sich oft nur der Beseitigung der Symptome widmet und nicht den Ursachen. Ich hatte eine Zeit lang chronische Rückenschmerzen, worauf mir die Ärzte Schmerzspritzen angeboten haben. Damals war ich Anfang dreißig. Ich dachte mir, ich kann nicht jetzt schon mit Schmerzmitteln anfangen. Ich  war schockiert, wie wenig die Ärzte daran interessiert waren, die Ursache zu finden. Unserer Medizin fehlt ein ganzheitlicher Zugang. Viele Erkrankungen haben multifaktorielle Ursachen. Und der Kapitalismus ist generell kein gesundes System, wie sollen wir darin gesund bleiben? Viele Dinge, die wir in der Vergangenheit als normal angesehen haben, brechen auf und zeigen, wie schädlich sie für uns sind/waren. Es ist eine Zeit der Wandlung.

In deinem Roman fragst du einmal: „Bin ich mein Körper, oder habe ich einen Köper?“. Der Roman lässt die Frage einfach stehen – kann man darauf überhaupt eine Antwort finden, wenn die Körperlichkeit und die Entscheidungen über den eigenen Körper gerade auch in einem medizinischen Kontext immer noch gesellschaftlich und politisch so fremdbestimmt sind?

Deine Frage beantwortet die meine bereits perfekt.

Im Roman wird immer wieder thematisiert, dass der Ich-Figur Erinnerungen fehlen, aber auch das Nichtvorhandensein von Sprache in der Familie ist ein zentrales Motiv. Durch deinen Roman gestaltest du sozusagen Sprachlosigkeit mit Sprache. Wie bist du hinsichtlich einer literarischen Form dafür vorgegangen?

Die Sprachlosigkeit hat sich in den Roman eingeschrieben. Bei der Form war ich konzentriert auf einen multiperspektivischen Blick, das Verhandeln des Ich mit der Mutter ist erst später dazugekommen. Hier wollte ich trotz der ungleichen Machtverteilung eine Art von Waagschale schaffen, wo beide Teile – aus unterschiedlichen Gründen – dasselbe Gewicht tragen.

Du bist Schriftsteller*in, aber auch Fotograf*in. In „Familienkörper“ hast du dich für eine bildhafte Sprache entschieden, beim Lesen wird deutlich, wie intensiv optische Reize, Licht, Räumliches auf die Ich-Figur wirken. Wie stark beeinflusst das Visuelle dein literarisches Schaffen, sind die beiden Bereiche für dich stark miteinander verknüpft?

Ich höre öfters, dass ich so schreibe, weil ich Fotograf*in bin. Aber wahrscheinlich bin ich Fotograf*in geworden, weil ich so wahrnehme. Und dasselbe gilt für das Schreiben, nur, dass ich dort tiefer gehen kann, als es mir mit der Fotografie möglich ist. Fotografie ist trügerisch. Wir interpretieren aufgrund eines Bildes, dabei kann die Bildunterschrift den gesamten Kontext ändern.

© Ian Ehm Iowres

Autor*in

Michèle Yves Pauty (*1982) hat Fotografie und Deutsche Philologie in Wien und Literarisches Schreiben in Hildesheim und Leipzig studiert. Pauty hat in diversen Magazinen und Anthologien veröffentlicht, 2021 folgte die Auszeichnung mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium. Pauty lebt in Wien und Leipzig und ist Teil des Künstler*innen-Kollektivs sy:rup. Im Februar 2025 erscheint das Debüt „Familienkörper“ im Haymon Verlag.


Familienkörper” erzählt von der Geschichte mehrerer Frauenleben und von den Zusammenhängen zwischen Geschlecht, Herkunft, Klasse, Bildung und Gesundheit; ein großer, ein traurig-schöner Roman. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!

Jetzt schlägts 12! Die Erfolgsgeschichte von Franz Gasperlmaier

Über eine halbe Million verkaufte Bücher, sehnsüchtig erwartete Fortsetzungen, glückliche Leser*innen: Herbert Dutzler schreibt mit seinen Altaussee-Krimis mehr als nur Geschichten. Haymon-Krimi-Verlagsleitung Linda Müller spürt einer besonderen Liebesgeschichte nach: jener zwischen Franz Gasperlmaier und den Krimi-Fans. 

Wie alles begann

„So etwas hatte selbst Gasperlmaier noch nie gesehen.“ Mit diesem Satz betrat ein Ermittler die Bühne, der sich heute, 12 Bände später, fest in die österreichische Krimilandschaft eingeschrieben hat: Franz Gasperlmaier. In seinem ersten Fall geht es ins Bierzelt, wo nach dem Altausseer Kirtag ein Erstochener aufgefunden wird. So etwas hat Gasperlmaier tatsächlich noch nie erlebt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt seit über 20 Jahren Polizist ist. Und mit diesem Fall tritt auch Dr. Renate Kohlross ins Leben des Franz, mit der sich, nach anfänglicher Eingeschüchtertheit des Franz durch ihr taffes Auftreten, eine lange und gute Arbeitsbeziehung und eine private Freundschaft entwickeln wird, die sich über viele Jahre und viele Fälle hält.

 

Being Franz Gasperlmaier: im Kopf eines Nachdenklichen

Franz Gasperlmaier ist nicht nur Polizist. Er ist auch Familienvater, er ist Ehemann, er ist Freund, er ist Nachbar, Gemeindemitglied, Feuerwehrmann und mittlerweile sogar Opa. Er hat sich über die Fälle und Jahre stark weiterentwickelt, ist ein guter Beobachter, der seine Beobachtungen aber nur mit Menschen teilt, die er gut kennt und denen er vertraut. Er ist jemand mit Mitgefühl, der verstehen kann, warum die Täter*innen, die er stellt, dort gelandet sind, wo er sie festnimmt. Er ist ein Mensch, der die Dinge nicht in schwarzweiß denkt und manchmal ein wenig braucht, um zu seiner eigenen Meinung zu finden und sich mit Veränderungen anzufreunden. Als sich beispielsweise seine Tochter outet, ist er zwar von seiner neuen Schwiegertochter angetan, sorgt sich aber zugleich auch, was die Kollegen bei der Feuerwehr denken könnten. Da braucht der Franz dann oft seine Christine, die ihm hilft, die Dinge klarer zu sehen und einen Standpunkt zu finden. Und wenn er den dann einmal gefunden hat, vertritt er ihn auch energisch. Jedenfalls dann, wenn ihm ein Thema wichtig genug scheint, die Stimme zu erheben.

 

Herbert Dutzler im Einklang mit dem Ausseerland. Foto: Monika Löff

Herbert Dutzler, geboren 1958, ist mit seinen Krimis um den Altausseer Polizisten Gasperlmaier Autor einer der erfolgreichsten österreichischen Krimiserien. Bisher erschienen bei HAYMONtb sind zwölf Fälle, zuletzt  „Letztes Glückskeks” im Jänner 2025. Mit seinen Kriminalromanen wie „In der Schlinge des Hasses“ (2022, HAYMONtb 2024) zeigt er, dass es in seinen Krimis nicht nur gemütlich zugeht. Er nimmt uns mit in die Köpfe jener, die zu Täter*innen werden. Dass Herbert Dutzler auch abseits der Krimiwelt ein versierter Schriftsteller ist, beweist der Erfolg von „Die Welt war eine Murmel“ (2020) und „Die Welt war voller Fragen“ (2023). Mit „Wenn die Welt nach Sommer riecht“ entführt er 2024 ein drittes Mal in die Zeit seiner Kindheit und Jugend.

„ein paar Schriftsteller, die es nicht lassen konnten, ein Buch nach dem anderen zu schreiben, das im Ausseerland seinen Schauplatz hatte“

Eigentlich mehr als Kulisse, sondern vielmehr ein spezieller Protagonist, ist die Region, in der Franz Gasperlmaier lebt und arbeitet: das wunderschöne Ausseerland. Die Region mit ihren idyllischen Seen und Bergen und dem gelebten Brauchtum ist ein auch literarisch viel bereister Sehnsuchtsort, die authentische Atmosphäre zieht nicht nur Einheimische in den Bann. Die Romane um Franz Gasperlmaier atmen den Geist dieser besonderen Gegend – und lassen uns auch deren Kulinarik auf der Zunge zergehen, zumal der Franz ein Feinspitz ist, was traditionelle Küche betrifft. Auch wenn ihn seine Tochter Katharina von Zeit zu Zeit von veganen Produkten überzeugt, nicht immer zu seinem Vergnügen:

„Während er aß, dachte er über das mit dem Rückgrat nach, was die Kathi gesagt hatte. Eigentlich, so musste er sich eingestehen, hatte er den ganzen Tag nur getan, was anderen eingefallen war, und er hatte mitgeholfen, es umzusetzen. Eigene Entscheidungen, und das war es ja wohl, was „Rückgrat“ bedeutete, waren keine dabei gewesen. Und jetzt kaute er sogar noch auf Sojawürfeln herum. Auch nicht gerade ein Zeichen von Rückgrat.“

 

Die Liebe von Herbert Dutzler zum Ausseerland ist deutlich zu spüren – aber er scheut sich auch nicht, die Schattenseiten zu betrachten: den Übertourismus etwa, der Landschaft und Bewohner*innen zum Teil ausbeutet, die enge Gemeinschaft, die es Zugezogenen nicht immer leicht macht, sich einzugliedern, die Vermarktung der eigenen Kultur, die ihre Blüten in billig produzierten „Traditionswaren“ aus dem Ausland treibt. Und dann gibt es da eben auch noch Schriftsteller, die ihre Bücher in Altaussee verorten – und damit noch mehr Tagestouristen anlocken, wie Franz Gasperlmaier in seinem aktuellen Fall bedauert. 😉

 

Spannung trifft Gemütlichkeit: Krimis zum Heimkommen

Es scheint fast so, als hätte Herbert Dutzler das Bestseller-Rezept gefunden für Kriminalromane zum Wohlfühlen: Seine Romane sind spannend, aber gleichzeitig nie so düster oder gar voyeuristisch in Bezug auf Gewalt, dass sie einem den Schlaf rauben. In jeder Geschichte steckt eine große Portion Humor, oft auf eine wunderbar trockene, österreichische Art, und eine Menge Situationskomik – wenn etwa das Ehepaar Gasperlmaier mit den Nachbarn diniert und Dr. Altmann in hohen Tönen die Prostata-Vorsorge-Untersuchungen des neuen Hausarztes lobt, der Gasperlmaiers Sohn ist – und Gasperlmaier bei der Vorstellung fast im Küchenboden versinkt. Das Personal aus Dutzlers Altaussee-Krimis ist vertraut geworden, den neuesten Band aufschlagen ist ein bisschen so, wie auf einen Familienbesuch nach Hause kommen und vermisste Menschen wiederzusehen – Franz Gasperlmaier, seine Frau Christine, die Kinder, Enkel und Schwiegerkinder, den alten Kollegin Friedrich, der plötzlich nur noch im Radldress anzutreffen ist, und den Dr. Altmann, der ohne Flachmann niemals das Haus verlässt. Außerdem natürlich die resoluten Kolleginnen von Franz, die mit ihm gemeinsam kein Verbrechen ungesühnt lassen: von Mord bis zur alkoholinduzierten Gartenzaunbeschädigung.

12 Fälle hat Franz Gasperlmaier schon gelöst – und in jedem ist er ein wenig über sich hinausgewachsen. Wir sind gespannt, in welche Verbrechen er in den nächsten Jahren stolpern wird – und freuen uns jetzt schon auf den nächsten Fall für Österreichs Ermittler der Herzen.

Was die Hallstätter können, können die Altausseer schon lange, denkt sich der Tourismusobmann, als er die chinesische Delegation zuerst beim Trachtenschneider ausstatten lässt und dann zu allerhand Highlights zwischen See und Loser bugsiert. Der Plan: Nachgebaute Altausseer Gebäude sollen im Reich der Mitte neue Märkte erschließen. Das ist nicht nur dem traditionsbewussten Gasperlmaier höchst suspekt. Als einer der Gesandten tot im Hotelpool treibt und dann verschwindet – noch schlimmer als eine Leiche ist keine Leiche, wenn eine da sein sollte – muss er sich die Frage stellen: Ist einem der demonstrierenden Einheimischen die Sicherung durchgebrannt oder stecken Drahtzieher von ganz anderem Kaliber dahinter?

Dichte Poesie und feiner Humor: Angelika Rainer erhält den Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck

Vor 30 Jahren stellte die große Friederike Mayröcker – in wenigen Tagen werden ja Mayröcker-Festspiele einsetzen, anlässlich der einhundertsten Wiederkehr des Geburtstages dieser Poetin, die übrigens ihren mutmaßlich letzten langen Lese-Auftritt, wenn auch digital, bei einem Tiroler Literaturfestival hatte – vor 30 Jahren also stellte Friederike Mayröcker in einem Gedicht, das den Titel „was brauchst du“ trägt, die Frage: „was brauchst du?

Die Antwort folgte stante pede:

„was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch“.

Und einige Zeilen später hieß es da:
„du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus“.

Und vom Baume abbrechend, natürlich unter gesittet försterlicher Aufsicht, braucht man den „Kunst – Zweig Literatur“. Und dazu, wie Frau Mayröcker meinte, ein Haus. Denn, wie es in Frau Rainers „See’len“ an einer Stelle heißt:

„In den pelagischen Regionen des Auges tritt die Welt auf –
ein Baum, ein Haus, ein Vogel, ein Mensch.“

Statt eines Hauses kann es aber auch ein Zweckbau sein.

Portrait: © A. Darmann

Angelika Rainer, die Trägerin des Preises für künstlerisches Schaffen 2024 in der Sparte Literatur, mit (v.l.) Vizebürgermeister Georg Willi, Kulturamtsleiterin Isabelle Brandauer und Alexander Kluy (Jury).
 

Angelika Rainer gebührt der heute verliehene Preis aber nicht nur für ihren Band „Zweckbau für Ziegen“. Sondern mit gleichermaßen egalitärer Berechtigung und ob schriftstellerischer Verve und für poetischen Furor gebührt er ihr für ihr Gesamt-Werk. Davon ist „Zweckbau für Ziegen“ der letzte, der neueste Band.

Der Titel schon irritiert. Und er irisiert.

Zweckbau, wird da gleich im Auftakt erläutert, geht zurück auf Gion Caminada, einen Schweizer Architekten – oder wäre nicht: Baumeister treffender? –, der aus dem Dorfe Vrin stammt, das zur Gemeinde Lumnezia gehört und das im Kanton Graubünden liegt.

„Vrin“„Lumnezia“ – Worte und Namen, die die Poesie kaum besser und kaum schöner erfinden kann.

Das Werk Caminadas, des inzwischen Mittend-Sechzigers, weist neben Erwartbarem, einem Hotelumbau, einer Gemeindehalle und einigen Wohnhäusern, auch einen Käserei-Neubau auf, eine Telefonkabine und mit der Stiva da morts tatsächlich eine: Totenstube – sowie in Puzzatsch, einem Weiler nahe Vrin, das zur namenstraum-verlorenen Gemeinde Lumnezia gehört, – einen Geissenstall. Der in zwei Baukörper aufgeteilte Entwurf schmiegt sich riegelig an den Hang. Aus Holz und Stein errichtet, mutet er einerseits traditionell an. Und ist es andererseits auf der Stelle, auf seiner Stelle nicht. Ein Weg führt daran vorbei. Auf jüngeren Fotografien mutet das Ganze an, als stünde das ställerne Gebäude schon seit Generationen dort, wo es steht und vor dem knollig jäh ansteigenden Berghang schützt.

Gleich-Ähnliches gilt für „Zweckbau für Ziegen“.

Der Band, von dem man inzwischen meint, es habe ihn schon immer gegeben, schmiegt sich riegelig in die knollig ansteigende Handinnenseite einer und eines jeden, der das schön gestaltete Buch in die Hand nimmt und aufschlägt. Und sich festliest.

Über den so fein wie feinsinnig alliterierend tänzerischen Titel „Zweckbau für Ziegen“ meditierten nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker.

Ist dieser Zweckbau nun – eine Heimstatt?

Steht es für – Zuflucht? Signalisiert es – Gemeinschaft? (Und sei es auch nur die mengenmäßig überschaubare Gemeinschaft von Lyrik-Lesenden …)

Oder ist es nicht einfacher – weil man schon auf der ersten Seite nur lesen muss. Da steht es:
ein Nutzbau, ein Gebäude für eine begrenzte Zeit, er schützt wie die Hecke, der Baum, der Schirm“ – jedoch wovor?

Vor, Überraschung: „dem fremden, dem neugierigen, dem beschämenden Blick.“

Zu „Ziegen“ übrigens bietet dieses Haus, die Stadtbibliothek, 54 Medien-Einträge, von der Ziegen-Haltung bis zum – und das ist etwas irritierend – „Schaf-Thriller“, in dem die Ziegen kaum mehr als Nebendarsteller sind. Bei Angelika Rainer sind solcherart Überraschungen wortreich treffend beseelt.

„Wer ist zuständig für die Beseelung der Dinge?“ hieß es in Angelika Rainers Zweitling „Odradek“, der schon im Titel eine Verbeugung Richtung Prag vollzog. Es war ein Verweis auf Anker. Auf Verankerndes und auf ihren Ort, ihren eigenen Ort, findende Bilder und Sprach-Bilder. Und auf stets und stetig Banges.

Es werden Ereignisse in verschiedenen Größen, Farben, Formen gesammelt.
Liest man da. Und: Nichts ist zu gering, alles ist gleich gültig, um ein schützendes Dach über dem Kopf zu schaffen.

Formal ist das außerordentlich ausgepicht. Und mit leichter Hand konstruiert. Wobei der Verlag gerne mitspielt. Entfernen Sie beispielsweise den Schutzumschlag des Bandes, den eine weißlineare Konstruktionszeichnung auf himmelblauem Grunde schmückt, dann entdecken Sie darunter – Sterne auf Nachtdunkelblau.

Daher, daher?, steht geschrieben in Numero 12:

Dass das Weltall wächst
habe ich staunend vernommen
bestand es doch bisher vornehmlich
aus erloschenen, nachglühenden Sternen
wie die Erinnerung.

Tief in die eigene Erinnerung, ins Lesegedächtnis prägen sich die Gedichte Angelika Rainers ein. Sie glühen zwischen Emotionen und der Evidenz von Vergänglichkeit.

Es geht bei ihr um: Sammeln, Ordnen und Aufbewahren – die drei Urformen der Literatur seit Anbeginn – und um stille Existenz, um die Stille der Existenz und um in der Tiefe, auch der eigenen Tiefe, lauernde Ängste und Unsicherheiten.

Portrait: © Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Kunstvoll kommt das daher, manchmal balladesk, dann wieder austariert lakonisch. Hier erscheint es erzählerisch additiv – der Auftakt von „Luciferin“ etwa mit den vielen, vielen Anaphern –:

Sie kommt zur Welt
Sie wirft einen großen Schatten
Sie rächt sich für alles.
Sie hat nichts zu geben.

Dort ist es aphoristisch: Schlafgedanken halten sich nicht im Licht.

Vor allem ist es alles andere als so einfach, wie es klingt und so unverstellt frisch klingen mag – denn, so zwei Zeilen in „Odradek“:
Warum soll nicht auch ich Umgang haben dürfen mit großen Gedanken?
Ich will die Hilfe von Vordenkern annehmen.

Angelika Rainer nimmt solche Hilfe an, von Poeten, von Ovid über Trakl zu John Berger und – welch Zufall! Friederike Mayröcker –, sie nimmt aber auch die Hilfe und Klang-Unterstützung von speziellem Wissen an, sei es botanischer Art oder physikalischer Natur.

Es ist das Geflüsterte, in Klammern Gedachte“, was sie an- und umtreibt und wortmalerisch bewegt.

Es sind die verwilderten Hecken und die Apokalypse, der Nasenzwicker und die Aniskekse, es sind Torf und Vierkant-Ruine, es sind Nod, ein Land in der Bibel, und der Jennesey-Strom in Sibirien, es sind Betrachtungen, psychogrammatische Rekonstruktionen und diaphanes Dunkel, durch das hier und da etwas Helles mit zitternd zithernder Stimme aufzirpt, während eine Selbstgedrehte zur „Musik der kleinen Planeten“ aufgeraucht wird.

Harfe, Zither, Stimme. Das ist, was Angelika Rainer musikalisch zu Franui beisteuert. Joseph Roth und Thomas Bernhard, Mahler-Lieder, Schubert-Lieder und Georg Kreisler-Lieder. Schnitzler als Prosa-Puppenspieler und Nikolaus Habjan als echter Puppenspieler, das waren und sind Programme dieser Musicbanda. Auch eines, das – sehr beruhigend in heutigen Zeiten – „Alles wieder gut“ hieß. Und ein anderes war das „Ständchen der Dinge“.

Bei Angelika Rainer ist ein solches Ständchen fragil, erträumt, hochartistisch, all und das All memorierend:

„Die genaue Seele vergisst
[…] Nichts wird verloren gegangen sein
Nur ich mir selber ein wenig im Schlaf“

liest man in „Luciferin“.

Portrait: © Filippo Cirri

Alexander Kluy, geboren 1966, Studium der Germanistik und Amerikanistik. Autor, Journalist und Herausgeber erfolgreicher Anthologien und der Reihe „Wiener Literaturen“. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen, österreichischen und schweizer Zeitungen und Zeitschriften.

Angelika Rainer macht uns zu Staunenden in Sachen Welt-Wunder. Und zu Staunenden in Sachen Welt-Verwunderung. Auch darüber, was Zeit ist. Und besser als in ihre Bücher lässt sich die eigene Lese-Zeit kaum investieren.
Auch Angelika Rainer lässt sich Zeit. Zwischen dem Debüt „Luciferin“ und dem Zweitling „Odradek“ lagen vier, zwischen „Odradek“ und „See’len“ sechs, zwischen „See’len“ und „Zweckbau für Ziegen“ fünf Jahre. Dies virtuose Warten kommentierte Lucy einst im Erstling schon treffend, mit diesen ihr von Angelika Rainer in den Mund gelegten Worten:

„Meine Geschichte zu erzählen braucht die Zeit, die ich bei den Lebenden war.“

Für ihre große, für ihre bezwingende, für ihre durchsichtige und verspielte Lyrik, für ihre verständlichen und verstehenswerten Gedichte, die sich ganz konkret, dabei gebildet durch Segmente des Sinns hindurch schlängeln und durch alle 26 Buchstaben des Alphabets sich hindurchmusizieren, gebührt Angelika Rainer der Preis.

Ganz am Ende von „Zweckbau für Ziegen“, in der finalen, der Nummer 60 der 60 Nummern heißt es: „Alle Bilder habe ich umsonst gemacht.“

Dies zu Ihrem Glück und für unsere Lese-Fortüne stimmt denn doch nicht am heutigen Abend und für das künstlerische Schaffen von Angelika Rainer.


Weitere Infos zum Preis und die vollständige Begründung der Jury bestehend aus Elisabeth R. Hager (Schriftstellerin und Klangkünstlerin), Roland Sila (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum) und Alexander Kluy (Schriftsteller, Kritiker) findet ihr hier.

„Solange … bin ich Feminist:in“ – Künstlerin Katharina Cibulka im Gespräch

Ein feministisch besticktes Netz auf einer Baustelle – das ist die markante Bildsprache des Projekts „SOLANGE“ von Katharina Cibulka. Seit 2018 macht die Tiroler Künstlerin damit weltweit auf Genderungleichheit aufmerksam. Im Interview spricht sie über die Entstehung ihrer Arbeiten, deren internationale Entwicklung und was sie antreibt.

© in the headroom

Frau Cibulka, wie ist die Idee zu „SOLANGE“ entstanden?

Katharina Cibulka: Ich bin in Innsbruck in einer Familie mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Für mich war Gleichberechtigung selbstverständlich: Ich konnte studieren, in meinem Kunststudium waren Männer und Frauen gleichermaßen vertreten. Ich war lange der Meinung, Feminismus sei nicht mehr notwendig.

Das änderte sich, als ich Mutter wurde. Die Geburt meines ersten Kindes war ein Aha-Moment – plötzlich sah ich, wie stark Rollenbilder unser Leben bestimmen. Mein Alltag als Mutter und Künstlerin war von Erwartungen und gesellschaftlichen Zuschreibungen geprägt, die Männer in dieser Form nicht erleben. Das war irritierend und hat mich motiviert, feministische Kunst zu machen.

Mit der Zeit entstand die Frage: Wie lange werden wir noch für Gleichberechtigung kämpfen müssen? Daraus entwickelte sich das Konzept von „SOLANGE“. Ich sammelte Antworten aus meinem Umfeld, wie etwa „Solange es keine Päpstin gibt“ oder „Solange ich mein Geschlecht nicht frei leben darf“. Diese Sätze wollte ich aus der feministischen Bubble herausholen und im öffentlichen Raum sichtbar machen – an Orten, die jeder Mensch sieht. Baustellen sind da ideal: Sie sind einerseits eine Männerdomäne und andererseits ein Symbol für Veränderung und Vergänglichkeit.

Warum haben Sie sich für den Kreuzstich entschieden?

Katharina Cibulka: Ich wollte mit einer Technik arbeiten, die – zumindest in unserem Kulturkreis – weiblich konnotiert ist. Der Kreuzstich ist ein traditionelles Handwerk, mit dem Frauen über Jahrhunderte am Stickrahmen im privaten Raum kreativ ruhig gehalten wurden. Indem wir diese Technik riesengroß auf Netze bringen, führen wir sie in die Öffentlichkeit – das ist fast schon ein Befreiungsakt. Das Sticken selbst wird von unserer Stickerin Vivian Simbürger in Murau umgesetzt, während wir die Texte in meinem Team gemeinsam erarbeiten.

 

Installation in der Bienerstraße in Innsburck: „SOLANGE ICH VON KARRIERE REDE UND DU FAMILINEMANAGMENT MEINST, BIN ICH FEMINISTIN“
SOLANGE ICH VON KARRIERE REDE UND DU FAMILIENMANAGEMENT MEINST, BIN ICH FEMINISTIN.
Innsbruck, Februar – Mai 2018

Wie lief die Umsetzung des ersten Netzes?

Katharina Cibulka: Ich habe das Konzept bei „Kunst im öffentlichen Raum Tirol“ eingereicht und eine Förderung für fünf Netze bekommen. Die erste Baustelle fand ich in der Bienerstraße in Innsbruck. Die Zusammenarbeit mit den Gerüstbauern war ein Abenteuer, besonders, weil es in 30 Metern Höhe ganz schön unheimlich ist. Schon am ersten Tag ging das Netz durch die sozialen Medien, und ich habe gemerkt, wie groß das Interesse ist.

 

Ihr Projekt hat inzwischen internationale Aufmerksamkeit erhalten. Wie kam es dazu?

Katharina Cibulka: Die sozialen Medien haben eine entscheidende Rolle gespielt. Anfänglich hatte ich gar keinen eigenen Account – das wurde schnell notwendig, um das Projekt sichtbar zu machen. Heute haben wir über 15.000 Follower:innen auf Instagram und erhalten täglich neue Satzvorschläge aus aller Welt. Diese Vielfalt zeigt, dass Gleichberechtigung ein globales Thema ist.

Wir wurden in verschiedene Städte eingeladen, etwa nach Rabat, Washington und Trondheim in Norwegen. In diesen Städten entwickeln wir die Sätze gemeinsam mit den Menschen vor Ort. Dadurch entstehen sehr lokale und aktuelle Botschaften, etwa zu den Themen Tradition, Gewalt oder kulturelle Normen. Diese partizipative Arbeit ist inzwischen ein zentraler Bestandteil des Projekts.

SOLANGE GOTT EINEN BART HAT, BIN ICH FEMINIST.
Dom zu St. Jakob, Innsbruck, Juli – November 2018

Was waren Ihre größten Erfolge?

Katharina Cibulka: Ein Höhepunkt war das Netz am Innsbrucker Dom. Mit dem ehemaligen Domprobst Florian Huber und der Kunsthistorikerin Elisabeth Larcher konnten wir die Botschaft „Solange Gott einen Bart hat, bin ich Feminist“ umsetzen. Der Satz hat viele Diskussionen aufgeworfen, generationenübergreifend, und genau das ist unser Anliegen: sensibilisieren und zum Dialog anregen. Besonders spannend war dabei die Entscheidung, die männliche Form „Feminist“ zu verwenden. Florian Huber hatte diesen Wunsch geäußert, um als Mann bewusst ein Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass auch Männer hinter der feministischen Idee stehen können.

 

AS LONG AS FOLLOWING OUR RULES IS MORE IMPORTANT THAN FOLLOWING OUR HEARTS, I WILL BE A FEMINIST.
Rabat, Marokko, September 2019 – Januar 2020

 

Ein weiteres Highlight war Rabat, Marokko. Vor dem Königspalast haben wir 600 Quadratmeter bestickt – mit einem Satz in arabischer Schrift: „As long as following our rules is more important than following our hearts, I will be a feminist.“ Es war eine riesige Herausforderung, in einem patriarchalisch geprägten Umfeld solch eine Botschaft zu platzieren, aber es war ein großer Erfolg.

Welche Herausforderungen gibt es bei Kunst im öffentlichen Raum?

Katharina Cibulka: Die größte Hürde ist, Baustellen zu finden. Bauträger sind sehr skeptisch gegenüber feministischen Botschaften. Mit der Zeit haben wir aber Vertrauen aufgebaut, und viele Unternehmen sehen inzwischen auch den positiven Wert des Projekts. Der öffentliche Raum ist perfekt, weil wir damit Menschen erreichen, die sonst nichts mit Kunst oder Feminismus zu tun haben.

Welche Bedeutung hat Sprache für Ihre Arbeit?

Katharina Cibulka: Sprache ist das Herzstück von „SOLANGE“. Jedes Wort hat Gewicht, und wir, die Kommunikationswissenschaftlerin Tina Themel und ich, legen großen Wert darauf, ohne Vorwürfe und Provokationen zu texten. Das Wort „Feminist:in“ ist oft ein Reizwort, und genau deshalb nutze ich es. Es muss positiv aufgeladen werden, denn Feminismus hat unsere Gesellschaft enorm bereichert.

Mit den Texten versuchen wir, Diskussionen anzustoßen, ohne Gräben zwischen den Geschlechtern zu vertiefen. Humor und Wortspiele sind dabei hilfreich, um Menschen zum Nachdenken zu bringen, ohne sie abzuschrecken.

Gibt es künstlerische Vorbilder, die Sie inspirieren?

Katharina Cibulka: Natürlich. Vor allem viele großartige Frauen, die schon vor Jahrzehnten große Kunst machten, wie zum Beispiel Louise Bourgeois, sind für mich eine große Inspiration – sie hat als Frau und Künstlerin in einer schwierigen Zeit viel bewirkt. Maria Lassnig mit ihren großen Gemälden hat Jahrzehnte lang brillante Kunst produziert und wurde erst im hohen Alter dafür gefeiert. Und dann gibt es auch zeitgenössische Künstlerinnen wie die Brasilianerin Juliana Notari, die mit ihrer Arbeit auf beeindruckende Weise gesellschaftliche Normen hinterfragt. Ihre monumentale Installation einer 33 Meter großen Vulva in einem stillgelegten Park, ausgehoben aus Beton und mit rotem Epoxidharz überzogen, ist ein mutiges, provokantes Statement. Solche Arbeiten fordern uns dazu auf, über die kulturelle Sichtbarkeit von Körpern und Geschlechtern nachzudenken, gerade im Kontrast zu den unzähligen Phallussymbolen, die kaum hinterfragt werden. Das finde ich originell und wichtig.

Auch literarisch lasse ich mich inspirieren: Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Franziska Schutzbachs Die Erschöpfung der Frauen haben mich tief berührt.

 

Was steht bei Ihnen aktuell an?

Katharina Cibulka: Neben neuen Netzen arbeite ich neuerdings als Bühnenbildnerin am Landestheater. Es ist spannend, gesellschaftskritische und queere Themen in die darstellende Kunst einzubringen. Theater kann das Publikum auf einzigartige Weise herausfordern, weil es direkt im Moment wirkt.

 

Die Künstlerin Katharina Cibulka steht vor einem ihrer "SOLANGE"-Projekte.
© in the headroom

Über Katharina Cibulka
Katharina Cibulka (* 1975, Innsbruck) studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien und an der New York Film Academy. Mit ihrem Projekt „SOLANGE“ setzt sie sich weltweit für feministische Anliegen ein. Diese waren bislang auf 30 Baustellen in sieben Ländern und sechs verschiedenen Sprachen zu sehen, zuletzt in Österreich im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Salzkammergut in Bad Ischl. Ihre Arbeiten wurden unter anderem mit dem Hauptpreis für zeitgenössische Kunst des Landes Tirol ausgezeichnet.


„Die ukrainische Kultur soll zu einem vereinigenden Faktor für alle Ukrainer werden“ – Ein Essay von Andrej Kurkow

In seinem Essay „Die Rolle der Kultur nach dem Krieg“ spricht Andrej Kurkow über den Wiederaufbau der Ukraine, wenn die Invasion durch Russland endet. Ein Wiederaufbau, der längst nicht nur die physische Zerstörung des Landes betrifft, sondern auch die Seelen der Menschen, die darin wohnen. Um Wunden zu heilen, Traumata zu bewältigen – schlicht: weiterzuleben – spielt die ukrainische Kultur eine wichtige Rolle. Die kulturelle Identität, die Geschichte, die Sprache sind es, die den Weg in eine Zukunft nach dem Krieg sichern und die Gesellschaft vereinen.

In den ersten Monaten der neuen russischen Invasion gab es in der ukrainischen Gesellschaft neben den Diskussionen über Kampfhandlungen aktive Debatten über den zukünftigen Wiederaufbau der Ukraine. Aktivisten kündigten die Gründung von Fonds zur Mittelbeschaffung an, die dem Wiederaufbau des Landes zugutekommen sollen, ausländische Architekten präsentierten ihre Visionen und Projekte, westeuropäische Städte und ganze Länder erklärten, welche Städte oder Regionen der Ukraine sie “unter ihre Fittiche” nehmen und bei der Wiederherstellung der Infrastruktur, Straßen und Gebäude unterstützen würden.

Aber der Krieg zog sich hin, die Zerstörungen wurden immer größer, und die Diskussionen über den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg verstummten und rückten in den Hintergrund. Obwohl lokale Wiederaufbauarbeiten in der Region Kyjiw fortgesetzt werden, wo die Städte Borodjanka, Butscha, Irpin, Hostomel, Worsel und andere von russischen Raketen und Granaten zerstört wurden. Auch in Kyjiw wurden mehrere durch russische Raketen beschädigte Hochhäuser wiederhergestellt. Was aber die Ukraine nach dem Krieg erwartet, scheint nun eine riesige, kaum zu bewältigende Aufgabe zu sein. Es geht um den physischen Wiederaufbau eines von Russland zerstörten Landes, von dem immer noch 20 Prozent des Territoriums besetzt sind.

Der physische Wiederaufbau des Landes bedeutet die Wiederbelebung eines zerstörten und in Ruinen verwandelten Territoriums, wohin die Einheimischen nur dann zurückkehren werden, wenn dort wieder Bedingungen für ein normales Leben entstehen. Es ist klar, dass viele Ukrainer in Dörfern ihre eigenen Häuser und Höfe selbst wiederaufbauen wollen. Man darf jedoch nicht vergessen, in welchem moralischen und psychologischen Zustand die Bewohner in die neu aufgebauten Städte und Dörfer zurückkehren werden.

„Die Ukraine heute ist ein Land mit traumatisierten Menschen. Das Ausmaß der Traumatisierung kann sehr unterschiedlich sein, denn viele haben nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Geliebten und Angehörigen verloren. Viele haben den Tod gesehen und sind nur knapp dem eigenen Tod entkommen.“

Andrej Kurkow auf der Geschwister-Scholl-Preisverleihung 2022

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er studierte Fremdsprachen (spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Romane wie „Picknick auf dem Eis“ (1999) und „Der Milchmann in der Nacht“ (2009) machten ihn einem breiten Publikum bekannt. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet.

Bewohner von Städten und Dörfern fernab der Frontlinie hörten die Explosionen von Raketen und Drohnen und sahen die Folgen der Luftangriffe. All dies lässt sich mit einem Wort beschreiben: “Schmerz”. Dieser Schmerz sammelt sich in der Seele eines jeden Ukrainers an und darf nicht ignoriert werden. Denn er wird einen Ausweg suchen, er wird sich lange Zeit nach dem Krieg zeigen.

Wenn für den Wiederaufbau von Städten und Dörfern Baumaterialien, Baumaschinen, Werkzeuge und Arbeitskräfte benötigt werden, braucht es für die Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Seele eines traumatisierten Menschen ganz andere Werkzeuge. Und eines der wichtigsten “Werkzeuge” für die Rückkehr einer Person zu einem normalen Leben ist die Kultur. Dieses Wort umfasst viele Konzepte. Es geht nicht nur um Künste, sondern auch um die Rückkehr in die Gesellschaft einer gewohnten Kultur der Kommunikation, der Kultur der guten Nachbarschaft, der traditionellen ukrainischen Toleranz, insbesondere in den Grenzgebieten, wo viele Vertreter verschiedener nationaler Minderheiten leben.

In den letzten Monaten erinnere ich mich oft an meine Kindheit in den 1960er-1970er Jahren. Obwohl bereits 15-20 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen waren, war der Krieg überall präsent. Kyjiw war bereits wiederaufgebaut und restauriert worden, und wenn es irgendwo noch Ruinen in der Stadt gab, handelte es sich um konservierte Gedenkruinen, die an den kürzlichen Krieg erinnerten. Ein Beispiel dafür ist die Uspenski-Kathedrale des Höhlenklosters, des wichtigsten Klosters in Kyjiw.

Aber trotz des friedlichen Lebens in den 1960er-1970er Jahren war der Krieg täglich präsent, er erinnerte uns ständig an sich, erzählte von sich. Und das lag daran, dass der Krieg zum Hauptthema der sowjetischen Nachkriegskultur wurde. Täglich liefen im Fernsehen Kriegsfilme, Kriegsveteranen kamen in die Schule und erzählten von ihren Heldentaten, in den Buchläden wurden zahlreiche Romane über heldenhafte sowjetische Soldaten verkauft. Deshalb spielten wir Kinder ständig Krieg im Hof vor unserem Haus. Und als wir in die Schule kamen, wurden die Kriegsspiele von unseren Lehrern organisiert. Für diese Spiele, die mir jetzt eher wie Militärübungen für Kinder erscheinen, wurden wir an verschiedene Orte auf dem Land oder im Wald gebracht. Dieses “Spiel” wurde “Sarniza” genannt und fand regelmäßig in der gesamten Sowjetunion statt. Und natürlich spielten Exkursionen in Kriegsmuseen und zu den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle in der Erziehung.

„Diese Erinnerungen führen mich zu dem Gedanken, dass die ukrainische Nachkriegskindheit nicht die sowjetische Nachkriegskindheit wiederholen sollte, die sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Die Aufgaben der Kultur, der Musik, des Films und der Literatur sind ganz andere. Die ukrainische Kultur soll die Ukrainer aus dem Kriegszustand herausholen und ihnen helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Die ukrainische Kultur soll zu einem vereinigenden Faktor für alle Ukrainer werden – sie soll sie auf ihrem Weg in eine Nachkriegszukunft vereinen.“

Die Stimmen des Krieges werden bleiben, sie werden hörbar sein und eine wichtige patriotische Rolle spielen. Die Bücher der Schriftsteller, die die Ukraine mit Waffen in der Hand verteidigten, werden zu neuen Klassikern. Anatolij Dnistrowskyj, Artem Tschech, Artem Tschapaj, Markijan Kamysch und viele andere werden eine neue Generation von Frontschriftstellern sein, sie sollten jedoch nicht das Schicksal der sowjetischen Frontschriftsteller wiederholen, die nach Anweisung der kommunistischen Partei ihr ganzes weiteres Leben ausschließlich Bücher über den Krieg schreiben mussten.

Die Geschichte legt Matrizen auf, aber wir leben in einer dynamischeren und vor allem demokratischen Zeit! Das bedeutet, dass der Staat den Kulturschaffenden, Schriftstellern und Musikern nicht vorschreibt, worüber sie singen und schreiben sollen. Der Staat sagt den Architekten nicht, welcher Stil gerade angemessen ist. In den über dreißig Jahren der Unabhängigkeit hat sich in der Ukraine eine von der politischen Konjunktur unabhängige Kultur herausgebildet. Die ukrainische Kultur konnte eigenständig und selbstgenügsam werden. Sie reagiert auf die kulturellen Bedürfnisse der Ukrainer selbst. Als die Ukrainer mehr über die Geschichte ihres Landes und ihres Volkes wissen wollten, erschienen neue fachliche und belletristische Bücher zu diesem Thema. Als die Ukrainer mehr über ihre historischen Persönlichkeiten erfahren wollten, entstanden biografische Romane und Forschungen über Hetman Mazepa, Skoropadsky und Nestor Machno. Es erschienen neue fachliche und belletristische Bücher über wichtige historische Ereignisse und markante Figuren der ukrainischen Geschichte.

Aktuell sind Bücher über die Geschichte der Ukraine sehr beliebt an der Front. Ukrainische Soldaten bitten darum, ihnen Bücher über die Geschichte der Ukraine zu schicken, während russische Soldaten Bücher über die Geschichte der Ukraine in den Bibliotheken auf besetzten Gebieten zerstören.

„Geschichte und Kultur eines Volkes sind Teile seiner nationalen Identität. Und eines der Hauptziele der russischen Aggression gegen die Ukraine ist die Zerstörung der ukrainischen Identität, die Assimilation der Ukrainer.“

Gerade aus diesem Grund zerstörten russische Raketen das Museum des bekannten ukrainischen Philosophen Hryhorij Skoworoda in der Nähe von Charkiw oder das Museum der Künstlerin Marija Prymatschenko in der Nähe von Kyjiw.

Das auffälligste Beispiel für ein Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Kultur ist die Ermordung des ukrainischen Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko durch russische Soldaten. Als er zusammen mit seinen Eltern und seinem kranken halbwüchsigen Sohn auf dem besetzten Gebiet der Region Charkiw zurückblieb, führten die Besatzer ihn zu Verhören ab. Nach dem zweiten Verhör kehrte er nie nach Hause zurück. Acht Monate später wurde seine Leiche gefunden und identifiziert. Zwei Kugeln aus einer Makarow-Pistole wurden aus seinem Körper entfernt, was nur beweist, dass der ukrainische Schriftsteller gezielt hingerichtet wurde.

Das tragische Schicksal von Wolodymyr Wakulenko ist bereits Teil der modernsten Geschichte der Ukraine geworden. Genauso wie das Schicksal des in Butscha bei Kyjiw ermordeten Professors und Übersetzers aus dem Altgriechischen Oleksandr Kysljuk, genauso wie die Schicksale dutzender anderer von Händen der Russen ermordeter Dichter, Schriftsteller, Musiker, Verleger und Journalisten.

„Die ukrainische Kultur hat sowie die gesamte ukrainische Gesellschaft in diesem Krieg schwere Verluste erlitten. Dennoch zeigt eben dieser Krieg, wie groß die Rolle der Kultur in einem Land ist, das seine Unabhängigkeit verteidigt.“

Heute ist die ukrainische Kultur in Europa stärker vertreten als in der Ukraine selbst. Dies geschieht hauptsächlich durch eine neue Generation ukrainischer Kulturmanager, Ausstellungskuratoren, Dramatiker und Schriftsteller. Dank ihrer aufklärenden und diplomatischen Arbeit im Ausland versteht die Welt die Ukraine und die Ukrainer besser und unterstützt sie dadurch stärker. Nach dem Krieg wird die Hauptlast der Wiederherstellung des kulturellen Lebens auch auf den Schultern dieser neuen Generation liegen. Dennoch hoffe ich sehr, dass auch die Kulturinstitutionen Europas und anderer Kontinente nicht abseitsstehen werden. Die besonderen kulturellen Beziehungen, die sich zwischen der Ukraine und den europäischen Staaten vor dem Krieg und während des Krieges entwickelt haben, sollten nach dem Krieg noch intensiver werden, damit wir sehr bald von einer vollständigen kulturellen Integration der Ukraine in Europa sprechen können.

Für mich wären die Ausstellungen von Gustav Klimt in Charkiw und Egon Schiele in Kyjiw bedeutungsvolle und symbolische Episoden der Wiederbelebung eines normalen kulturellen Lebens in der Ukraine. Dies würde mir und allen Ukrainern sofort Optimismus und Glauben an die Zukunft, an die europäische Zukunft der Ukraine verleihen.


Der Text Die Rolle der Kultur nach dem Kriegwurde für das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten Sektion V – Internationale Kulturangelegenheiten Ukraine Office Austria verfasst und ist zuerst im Jahrbuch 2022/2023 des Außenministeriums (Titel: Imagine Dignity) erschienen; online hier abrufbar.


Es gibt eine Zukunft nach dem Krieg, es gibt Hoffnung für die Ukraine – dafür plädiert Andrej Kurkow unentwegt. In seinem neusten Buch Im täglichen Krieg berichtet er über den ukrainischen Alltag im Ausnahmezustand, zwischen Sirenengeheule und dem Versuch, eine Form von Normalität zu erfahren. Über Momente, die an ein Danach, eine Zeit in Freiheit glauben und hoffen lassen.