„Schon die ersten Sätze faszinierten mich.“ – Michael Forcher über Alfred Komarek

Ob in Krimis, Kinderbüchern, Sachbüchern oder Bildbänden: Alfred Komarek verstand es wie kein Zweiter, Lesende mit seinen Worten zu begeistern.  Im Nachwort zu Alfred Komareks Werk „Spätlese“ erinnert sich Michael Forcher, der Gründer des Haymon Verlags, an die erste Begegnung mit Alfred Komarek und seinen Werken …

 

Ich habe ihn mir anders vorgestellt. Nein. Eigentlich habe ich ihn mir überhaupt nicht vorgestellt. Alfred Komarek war für mich schlicht und einfach ein Name, eher abstrakt. Er stand für Geschichten, Gedanken, Worte, Musik. Ja, auch Musik, was natürlich nicht nur mit Wortklang und Sprachmelodie zu tun hat, sondern auch damit, dass es Gedanken, Worte zum Weiterspinnen waren, zum Hineinträumen bei romantischer Musik, zum Sich-hinein-Verkriechen …

Viele, viele Menschen meiner Generation „50 plus“, aber auch Jüngere wissen, wovon die Rede ist: von Alfred Komareks Kultsendung „Melodie exklusiv“, die in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren regelmäßig hunderttausende Menschen zu später Abendstunde vor den Radioapparaten versammelte.

Später las ich wohl das eine oder andere von Alfred Komarek, in einem Merian-Heft, im Geo vielleicht, im Gedächtnis blieb es nicht. Und „Melodie exklusiv“ gab es nicht mehr. Dann gründete ich den Haymon Verlag, hatte Kontakt mit jungen, engagierten Autorinnen und Autoren, aber auch ordentliche Schwergewichte der Branche stießen zum Haymon Verlag. Wir hatten Erfolge zusammen, erlebten Enttäuschungen, und wie jeder Verleger hoffte ich inständig darauf, einmal den großen Coup zu landen.

Eines Tages entdeckte ich unter den gerade eingelangten Manuskripten ein Kuvert mit einem mir wohlvertrauten Namen: Alfred Komarek. Habe ich es falsch in Erinnerung oder schlug mir wirklich plötzlich das Herz bis zum Hals … Dieser Alfred Komarek? Kann das sein?
Tatsächlich, es war dieser Alfred Komarek, und er bot mir das Manuskript seines ersten Kriminalromans zur Veröffentlichung an: „Polt muß weinen“. Nie vorher und auch nachher nicht mehr habe ich mich so schnell ans Lesen gemacht, da galt keine Reihenfolge der eingelangten Manuskripte mehr. Und schon die ersten Sätze faszinierten mich, ein geradezu perfekter Anfang. Ein großer Erzähler war da am Werk. Aber auch ein Sprachkünstler, der mit wenigen Worten dichte Stimmung aufbauen kann.

Nach wenigen Seiten war Komareks Absicht klar: Die vordergründig gar nicht so spannende, aber letztlich packende und berührende Kriminalgeschichte mit – wie es sich erweisen sollte – überraschender Lösung war mit dem Hintergedanken geschrieben worden, den Leser*innen die dörfliche Welt der Weinbäuer*innen in der nordöstlichen Ecke Österreichs vorzustellen. Der Mord und seine Aufklärung waren sozusagen die Folie, auf der Komarek das Charakterbild einer Region und ihrer Menschen entwarf. Als Alfred Komarek mit dem ersten Simon-Polt-Roman „Polt muß weinen“ den renommierten Glauser-Preis gewann, stand denn auch die „Einfühlsamkeit, mit der der Autor die Menschen und die Landschaft des kleinen Ortes im Weinviertel nördlich von Wien beschreibt“ neben „der atmosphärischen Dichte und Bildhaftigkeit von Komareks Sprache“ im Mittelpunkt der Urteilsbegründung.

 

Aber ich eile voraus. Zunächst einmal war ich sofort entschlossen, den Roman ins Programm zu nehmen. Ein paar Jahre vorher hatten wir mit Kurt Lanthalers Tschonnie-Tschenett-Romanen erste Schritte auf dem Sektor der Kriminalliteratur gewagt, wobei für mich neben der literarischen Qualität der sozialkritische Akzent im Schreiben des Südtiroler Autors entscheidend war, der nicht nur unterhalten, sondern aufklären will und seine Geschichten so nahe wie möglich an der Wirklichkeit entlang erzählt. Der Erfolg blieb nicht aus. Auch die bald darauf gestarteten Kurt-Ostbahn-Krimis von Günter Brödl erreichten große Popularität und dementsprechend hohe Auflagen.
Und jetzt Alfred Komarek! Wie er mir später sagte, hatte er als verlagstreuer Autor den Roman zuerst mehreren größeren Verlagen angeboten, mit denen er schon in Kontakt stand. Die waren aber skeptisch und trauten sich nicht drüber. Wozu jetzt ein Krimi? Soll bei seinem Leisten bleiben, haben die wohl gedacht. Freund*innen und Kolleg*innen rieten Komarek dann, sich an den Innsbrucker Haymon Verlag zu wenden, der inzwischen zu einer der ersten Adressen in Österreich für dieses Genre geworden war.

 

Meine umgehend abgesandte Zusage, den Roman zu verlegen, war mit der Bitte verbunden, uns bald einmal in Wien treffen und persönlich kennenlernen zu können. Und da stand er vor mir. Erstmals leibhaftig. Er, der vorher nur Wort, nur Sprache war. Im Café Schwarzenberg war es, nach dem Eingang gleich links, ein Tisch im Eck am Fenster. Er hatte beschrieben, wo er sitzen würde. Stand auf, als er meinen suchenden Blick bemerkte. Herr Komarek? Herr Forcher? Grüß’ Sie Gott, freut mich … Ein großer, schlanker Mann mittleren Alters, im dezenten Straßenanzug mit eher altmodischer Krawatte. Freundlich, gewinnend. Ohne jede Starallüre.

Wir fanden uns im Reden, wurden schnell einig über Detailfragen des zu schließenden Vertrags, besprachen Termine, PR-Maßnahmen und was sonst alles dazugehört zum Geschäftlichen. Ich ließ mir vom Weinviertel erzählen, was ihn so fasziniert an der Landschaft dort, an den Menschen, warum er nach Rundfunk- und Magazinfeatures, Reisereportagen, kleinen Erzählungen, Essays, Texten zu Bildern, zu Kunst und Kultur und vielen anderen Facetten des Schreibens jetzt zum Krimiautor geworden war, der schon weitere Romane rund um den sympathischen Weinviertler Gendarmerie-Inspektor im Kopf hatte. „Ich wollte einen Lebensraum und seine Menschen, die Vorteile und Probleme des heutigen Lebens auf dem Land einmal nicht in Reportage- oder Sachbuchform darstellen, sondern es auf andere Weise probieren, und der Kriminalroman eignet sich dazu besonders gut, weil ein Mord den Alltag auseinanderklaffen lässt und verdrängtes, verleugnetes Unbewusstes herzeigt.“

Seit dem Tag sind mehr als zehn Jahre vergangen. Komarek hat mich damals gebeten, ihm ein strenger Lektor zu sein, allzu häufig verwendete Formulierungen und auffallende Lieblingswörter gnadenlos herauszustreichen, ja nichts durchgehen zu lassen. Ich bin dem Wunsch nachgekommen, doch habe ich nicht viel gefunden, was man hätte herausstreichen müssen. Selbst das angelernte Bemühen, unnötige Adjektiva auszumerzen und die Eigenschaften der Dinge eher der Fantasie der Leser*innen zu überlassen, ging größtenteils ins Leere.

Denn Komarek ist zwar ein Autor der vielen Adjektiva und Adverbien, doch sind es nie simple Ergänzungen aus dem Alltagswortschatz, sie schränken nie die Fantasie des Lesers ein, im Gegenteil, sie sind wohlüberlegt, überraschend kreativ, kaum eines ist verzichtbar, will man nicht den Sinn des ganzen Satzes, die Bedeutung der Aussage entstellen, ein Fenster zumachen, das der Autor durch gerade dieses Wort geöffnet hat.

Sehr oft verändern, relativieren die gewählten Eigenschaftswörter die Bedeutung des Hauptwortes, mildern, verschärfen, ja verkehren sie raffiniert ins Gegenteil, gibt ein Adverb dem folgenden Zeitwort einen neuen Sinn. Bei welchem Autor liest man sonst von „grausamer Zärtlichkeit“, wer beschreibt ein „Fest von sanfter Zügellosigkeit“, wer lässt einen Menschen „aufdringlich entspannt“ sein? Beispiele über Beispiele könnte man da anführen. Komareks Wörter treffen den Kern, durchdringen wie Röntgenstrahlen die äußere Wahrnehmungsschicht, legen tiefere Ebenen frei.

Und dann seine pointierte Sprache, sein Witz, seine Bonmots! Eine Formulierung wie „Die Existenz eines freiberuflichen Schriftstellers ist der eines Seiltänzers ohne Netz verdammt ähnlich“ könnte man auch bei anderen lesen. Bei Komarek kommt was nach „… und zuweilen fehlt auch noch das Seil.“ Niemand Geringerer als der verstorbene Altmeister unter Österreichs Sprachkünstlern, Hans Weigel, war von solchen Sätzen begeistert. Auch von dem: „Schön miteinander schweigen ist übrigens auch ein Gespräch.“ Dass diese Begabung Komarek zum Essayisten und Feuilletonisten alter Schule adelt, hat Hans Weigel im Vorwort zu Komareks Buch „Gott hab uns selig“ – aus dem in der vorliegenden Sammlung auch zahlreiche Beispiele abgedruckt sind – mit der Bemerkung hervorgehoben: „Als Alfred Polgar starb, nannte ich ihn in meinem Nekrolog den ‚letzten Ritter des Feuilletons‘. Ich bin glücklich, dass ich mich damals geirrt habe.“

 

Feuilletonistische Schärfe in Wortwahl und Formulierung sind das eine, Komareks Erzählkunst eine andere. Denn wunderbare Sätze, überraschende Metaphern und gescheite Gedanken machen noch keinen Roman aus. Geübt und erfahren in der kleinen Form märchenhafter Erzählungen, ausgestattet mit unbändiger Fantasie einerseits und exzellenter Beobachtungsgabe andererseits, dazu noch mit einem auch analytisch einsetzbaren Verstand, dem einige Semester Jusstudium offenbar nicht geschadet haben, ist er imstande, spannende Plots zu erfinden, Dialoge, Szenen und Bilder zu einer sinnvollen Handlung zusammenzuführen. Ein guter Erzähler eben, es gibt nicht gar so viele, leider!

 

Das Stichwort „Jusstudium“ erinnert mich daran, dass noch die Biografie Alfred Komareks zu erzählen ist. Geboren ist er am 5. Oktober 1945 in Bad Aussee. Sein Vater war Lehrer und Gelegenheitsautor, der dem Drittgeborenen die Lust am Formulieren und Erzählen vererbte, was sich schon früh in einer „übermütigen Hemmungslosigkeit im Umgang mit dem Material Sprache“ (O-Ton Komarek) niederschlug. Nach der Matura am Gymnasium in Stainach-Irdning bremste der Vater den Wunsch des geradezu schreibwütigen Sohnes, gleich als freier Autor tätig zu werden und riet ihm, zur Absicherung ein Jusstudium zu beginnen.

 

Für diese Argumentation hatte Alfred Komarek durchaus Verständnis, inskribierte in Wien und legte nicht nur die ersten beiden Staatsprüfungen ab, sondern bewährte sich auch als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Deutsche Rechtsgeschichte. „Ich bereue das bis heute nicht“, betont der erfolgreiche Autor im Rückblick, „denn wer mit dem kreativen Chaos in seinem Inneren produktiv umgehen will, sollte es auch gelernt haben, folgerichtig zu denken und ein stimmiges Konzept umzusetzen.“ Neben dem Studium machte der angehende Jurist das, was er am liebsten tat, nämlich schreiben, ab 1965 für den ORF, ab 1966 als freier Mitarbeiter der Wochenzeitung „Die Furche“. Aber der Stern des Alfred Komarek ging erst richtig auf, als die Geschichte des Rundfunks in eine neue Phase trat, als er – wie Komarek sagt – erwachsen wurde, sich nicht mehr für Unterhaltung genierte und nach der Rundfunkreform von 1968 mit Ö3 ein „junges“ Programm aus der Traufe hob.

 

Darin wurde dem Wort eine neue Dimension eingeräumt. Zwar waren es nach dem Vorbild der Programme der amerikanischen Besatzungstruppen in Europa meist frei sprechende Moderator*innen, die wortwörtlich das Sagen hatten, doch gelang es Komarek, radiogerechte Texte, Texte zum Hören zu schreiben, die von grandiosen Sprecher*innen wirkungsvoll an die Hörer*innen gebracht wurden, zuerst in „Entre nous“ von Erika Mottl und Wolfgang Hübsch, dann in „Melodie exklusiv“ von Meinrad Nell und Ingrid Gutschi, später in der Reihe „Texte“ von Ernst Grissemann. Gleichzeitig entstanden jede Menge anderer Manuskripte fürs Radio, für österreichische Lokalsender genauso wie für große, deutsche Rundfunkanstalten. Alfred Komarek war etabliert, verdiente ordentlich, war inzwischen glücklicher Ehemann, ging einer schönen Zukunft entgegen. Da passierte es. Seine Frau wurde das Opfer einer schweren psychischen Erkrankung, ihr Tod riss auch ihn in eine existenzielle Krise. „Ich wär auch bald draufgegangen“, sagt er nun. Er ist einer, der nie viel von sich erzählt. Aber wenn er schon nicht anders kann, als diese Katastrophe seines Lebens zu erwähnen, vergisst er nie dazuzusagen, dass es eine wunderbare Ehe war und er deshalb nur mehr allein weiterleben wolle. „So eine Frau finde ich nie mehr, wozu also noch einmal an Heirat denken …“ Wie sehr dieser gewaltige Lebenseinschnitt Komareks Schaffen beeinflusste, ist schwer zu sagen. Man müsste genaue Textvergleiche anstellen, um Spuren zu finden. Und würde sich wohl oftmals täuschen. Der Tod als Teil des Lebens war für ihn schon sehr früh ein gar nicht seltenes Thema, mit dem er – so wie heute auch – leicht und spielerisch umging, in Märchen und Bilder verkleidet. Manchmal verwirrten seine Texte gerade junge Fans. „Also, ich weiß nicht, sind Sie ein junger Alter oder ein alter Junger“, schrieb ihm eine Hörerin in den Siebzigerjahren. Und heute könnte es umgekehrt sein, als „guter Sechziger“ schreibt er so, dass ihn angesichts seiner Unbekümmertheit und seiner Lust am Schabernack vielleicht manch ältere Leser*innen für sehr jung hielten – es soll noch Leute geben, die nichts über Alfred Komarek gehört, gelesen oder ihn im Fernsehen gesehen haben. „Immer mehr fällt mir auf, dass mein Gesicht im Spiegel zwar älter ausschaut, dass meine Interessen, Gedanken und Gefühle aber die gleichen geblieben sind, auch mein berufliches und persönliches Selbstverständnis hat sich in den fünfundvierzig Schriftsteller-Jahren nicht wesentlich geändert.“

 

Mitte der Achtzigerjahre schlitterte Komarek auch noch in eine berufliche Krise. In allen Programmbereichen des Rundfunks wurde der Wortanteil immer kleiner und von immer besseren Moderator*innen bestritten, für das geschriebene Wort war bald kein Platz mehr. „Als ich im Radio nach und nach verzichtbar wurde, stand ich erst einmal verdutzt da und verarmte rapid. Ich war vierzig und lief, nach langen Beisl-Abenden riechend, jedem, aber auch wirklich jedem Auftrag hinterher, verfolgt von Furcht erregenden Steuerschulden aus besseren Tagen und belächelt von den erfolgreich Etablierten.“

 

Dass er wieder zu ihnen aufschließen konnte und so manchen überholen, hat Komarek harter Arbeit zu verdanken, seiner Ausdauer, Selbstdisziplin und Professionalität, seinem Fleiß, seiner vielseitigen Begabung und „… einer guten Portion Glück“, ergänzt er bescheiden und versichert glaubhaft, gerade deshalb nie billigen Triumph empfunden zu haben, er wisse genau, ohne dieses Glück hätte es auch anders ausgehen können. Beides, Schöpferkraft und Glück, meinte wohl Journalisten-Urgestein Herbert Völker, sein alter Weggefährte und Förderer, wenn er in einer Laudation auf Alfred Komarek mit einem Alfred-Polgar-Zitat das seltsamskurrile und gerade deshalb so stimmige Bild fand: „Wo er hintritt, da wächst Gras …“

 

Auf Komareks Lebensweg wuchs jedenfalls bald wieder Gras, dicht und üppig. Zunächst hielt ihn eine „durchaus nicht nutzlose“ Karriere als Werbetexter über Wasser – und mehr als das. Wohl jeder Österreicher kennt einen von Komarek erfundenen Slogan „Raunz nicht, kauf! – Wenn er’s nur aushält, der Zgonc!“

 

Dann entdeckten Büchermacher*innen und Magazinredakteur*innen Komareks Begabung, über verschiedenste Themen sinn- und lustvoll zu schreiben und dabei im Gegensatz zu anderen genialen Schreiber*innen auch noch verlässlich zu sein und pünktlich abzuliefern. Sowas spricht sich herum in der Branche. Er machte sich vor allem als weltweit agierender Mitarbeiter von Reisemagazinen einen Namen und stellte österreichische Landschaften und Lebensräume, kulturelle Schätze und Naturschönheiten in Büchern vor. Dass er darin weit über das Beschreiben hinausging, veranlasste Hans Weigel, ihn einen „Geosophen“ zu nennen, das Ergebnis dieser Art von Landeskunde eine „Melange aus Anschaulichkeit, Wissen und Charme“.  Und: „Ein konstituierendes Element seines Schreibens ist der Humor.“ Fügen wir hier gleich noch das außergewöhnliche Lob eines Berufskollegen und Weggefährten von besonderem publizistischen Gewicht an: Helmut A. Gansterer ließ einmal verlauten: „Komarek hat noch keinen langweiligen Satz geschrieben!“ Ganz schön stark!

 

Es folgten Sachbücher, profunde Begleittexte für Kunstbücher, Drehbücher fürs Fernsehen. Kleine Erzählungen entstanden, später Kinderbücher. Sogar Liedtexte flossen aus seiner Feder, in den Anfängen „zum Teil abscheuliche Machwerke für diverse Schlager“, wie Komarek heute zugibt, „unter dem Pseudonym Alfred Schilling geschrieben, damit jeder wusste, worauf es mir ankam.“ Später wurden die Texte anspruchsvoller, einige waren für damals prominente österreichische Sänger*innen und Gruppen bestimmt wie die Milestones. In Zusammenarbeit mit Toni Stricker entstand sogar eine CD mit Edita Gruberova als Sängerin. Er lässt sich halt schwer einordnen, dieser Komarek!

 

Und dann die Romane. Und ihr sensationeller Erfolg. Irgendwie war das Weinviertel an allem schuld. „Ich bin als Stadtflüchtling ins Weinviertel gekommen. Aussee war für einen schnellen Ausflug zu weit weg von Wien. Fasziniert hat mich an dieser Landschaft der Gegensatz zum Salzkammergut: hier eine bergende, bestimmte, spektakuläre Gegend, dort eine weithin offene, auf den ersten Blick beiläufige, leise Landschaft. Dazu die eigentümlichen Strukturen von Dörfern und Kellergassen, die mir bislang völlig fremde Welt der Presshäuser und Weinkeller, archaisch fest gefügt, aber auch verletzlich. Der Weg dorthin, das Bleiben, das Langsam- und Ruhig-Werden ist ein wichtiger Teil meines Lebens.“ Komarek kauft im Pulkautal einen Weinkeller mit dazugehörigem Presshaus, das er sorgfältig und respektvoll herrichtet. Immer öfter verbringt er hier seine Wochenenden und manche Tage dazwischen. Ein zweites Presshaus rettet er durch seinen Kauf vor dem Verfall und erhält sein skurriles Inventar wie ein Museum. Er wird heimisch, lernt die Leute kennen, gehört bald zum lebenden Inventar der Gegend. Und setzt ihr mit seinem Gendarmerie-Inspektor Simon Polt ein literarisches Denkmal.

 

Das letzte Jahrzehnt habe ich als Komareks glücklicher Verleger selbst miterlebt. Den großen Erfolg mit „Polt muß weinen“ und den Friedrich-Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi; den Lizenzverkauf an den Diogenes Verlag, der mit den Polt-Taschenbüchern neue Leser*innenschichten vor allem in Deutschland erschloss; das Interesse Erwin Steinhauers, den sympathischen Gendarmen zu verkörpern; die von knapp einer Million Österreicher*innen gesehene Ausstrahlung im ORF genau zu dem Zeitpunkt, als der zweite Polt-Roman auf den Markt kam: „Blumen für Polt“. Dann Polt 3 und 4 und die nächsten Filme, Fernseh-Talkshows, Interviews, Lesungen, das allgemein immer größer werdende Echo. Natürlich schrieb Komarek währenddessen auch anderes, darunter ein neues Kinderbuch, Fernsehdrehbücher, ein Theaterstück und für den Haymon Verlag die Texte zu Bildbänden über das Ötztal (Fotos von Guido Mangold), über Venedigs Inselwelten („Laguna“ mit Bildern von Manfred Duda). Einen fünften Polt-Krimi wollte er vorerst nicht mehr schreiben. „Im Pulkautal passieren halt nicht so viele Morde.“ Dem Ansinnen, Polt zur TV- Serienfigur zu machen, widerstand er umso leichteren Herzens. Für Polt sprang Daniel Käfer in die Bresche, ein arbeitslos gewordener Magazinjournalist, den Komarek erfand, um eine andere Landschaft seines Herzens in mehreren Romanen vorzustellen: das Ausseerland. Keine Krimis mehr, aber Romane mit starken Charakteren und einem liebenswerten Völkchen rundherum, mit viel Landschaft, Kultur und Geschichte, witzigen Dialogen und einer spannenden Handlung, eben mit allem, was guten Lesestoff auszeichnet. Der Erfolg der Polt-Romane setzte sich fort, die Filmfirma,  der Regisseur und der ORF stiegen wieder ein. Mit Peter Simonischek erhielt auch Daniel Käfer einen prägnanten, unverwechselbaren Darsteller.

 

Komareks inzwischen riesige Fangemeinde freut sich auf den vierten und letzten Käfer-Roman, erhofft (nicht aussichtslos) danach einen fünften Polt-Krimi und kommt mit dem vorliegenden Buch endlich auch schwer oder gar nicht zugänglich älteren Texten. Denn wer den echten und wahren Komarek kennenlernen will, muss verschiedenen Spuren folgen und braucht unterschiedliches Futter für seinen Lesehunger. Hier ist es, greifen Sie zu! Aber mit Bedacht. Ich empfehle, denn so hat man mehr davon, es sich langsam und genießerisch Happen für Happen einzuverleiben. Auf diese Weise können Sie mit Alfred Komarek auf Reisen gehen, österreichische Besonderheiten nachsichtig belächeln, alte Autos ausprobieren, der Esslust frönen, ernste Probleme weiterdenken – oder in eine Märchenwelt voller Symbole, Anspielungen, in Wachträume versinken.

 

Macht canceln Kultur? – Interview mit Kulturjournalist Johannes Franzen

Cancel Culture – ein Begriff, der Schlagzeilen macht und nicht allzu oft missverständlich Verwendung findet. Während ihn viele als moralische Überlegenheit begreifen, stellen andere ihn als linke Diktatur an den Pranger oder läuten gar das Ende der Demokratie ein. Doch was genau verbirgt sich hinter der stark emotional aufgeladenen Debatte zu moralisch korrektem oder inkorrektem Verhalten? Wie spiegeln sich unterschiedliche Wahrnehmungen in unserer Gesellschaft wider? Und wie sinnvoll ist es überhaupt, von Cancel Culture zu sprechen? Wir wollen es genauer wissen und haben Literaturwissenschaftler und Kulturjournalisten Johannes Franzen befragt.

Johannes Franzen, Cancel Culture oder Political Correctness – der Mythos hat viele Namen, deshalb fällt es auch so schwer, eine konkrete Definition dafür zu finden. In einem Ihrer X-Einträge (ehemaliges Twitter) beschreiben Sie Cancel Culture als „Selbsterzählung von Menschen mit Macht, die die Funktion hat, sich selbst als machtlos zu begreifen“. Wie genau kann man das verstehen? Und inwiefern hängt Cancel Culture mit Macht zusammen?

Zunächst muss man in aller Deutlichkeit sagen, dass es Cancel Culture gar nicht gibt. Man hat es, wie Osita Nwanevu schon 2019 in einem brillanten Artikel beschrieben hat, mit einem Schwindel („Con“) zu tun. Bei Cancel Culture handelt sich um eine kulturkritische Erzählung, die davon ausgeht, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen des öffentlichen Lebens von einem progressiven Mob vernichtet werden, weil sie gegen ein angeblich herrschendes Regelwerk (Rassismus, Sexismus) verstoßen haben. Diese „Kultur“ tritt in der paranoiden Fantasie ihrer Kritiker:innen oft als äußerst vager digitaler Mob auf. Diese Erzählung hat den Vorteil, dass sich Menschen, die nach allen soziologischen Kriterien zur Elite des Landes gehören (Professoren, Chefredakteure, Politiker) als Opfer und Außenseiter begreifen können – ein Symptom für die peinliche Machtvergessenheit liberaler Gesellschaften.

Können Cancel Culture und Political Correctness gleichgesetzt werden? Wer bedient sich dieser Begriffe?

Es gibt, wie man in Adrian Daubs Buch Cancel Culture Transfer nachlesen kann, eine Tradition solcher Begriffe, die im Wesentlichen die Funktion haben, progressive Anliegen abzuwehren. Es ist natürlich wirkungsvoller zu sagen: Der Kampf gegen Rassismus oder die Gleichberechtigung der Geschlechter geht zu weit, als offen zuzugeben, dass man ein Problem mit diesen Prozessen hat. So kann man in eine Viktimisierungskonkurrenz zu Menschen eintreten, die tatsächlich diskriminiert werden. Die Begriffe lösen sich dabei gegenseitig ab, immer dann, wenn die Gesellschaft dem Schwindel auf die Schliche kommt. Zuletzt wurde Cancel Culture durch den Kampfbegriff „woke“ ersetzt, der aus der Schwarzen Aktivistenkultur kommt und von rechten Aktivisten zu einem Schimpfwort umgedeutet wird. Es ist eigentlich ziemlich transparent, worum es hier geht.

 

© Katharina Stahlofen

Johannes Franzen ist Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Er arbeitet für Medien wie die F.A.Z.tazZeit Online oder den Deutschlandfunk. Er ist Mitgründer, Herausgeber und Redakteur des Online-Feuilletons 54books und betreut die Seite POP Online. Seit April 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Siegen.

Das Phänomen wird auch in der Literaturbranche immer wieder heftig diskutiert. Vor einiger Zeit löste Salman Rushdie eine Debatte über die Bearbeitung von Roald Dahls Kinderbüchern aus. Der britische Verlag Puffin Books ließ dabei diskriminierende Wörter, wie „fett“ oder „hässlich“ streichen und ersetzte sie durch angemessenere Adjektive. Rushdie empörte sich darüber und bezeichnete das Vorgehen als „absurde Zensur“. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie darüber gelesen haben?

Mein erster Gedanke bei solchen Nachrichten ist inzwischen eigentlich immer ein gewisses Grauen vor der Debatte, die das jetzt erzeugen wird. Diese Debatten laufen ja immer nach dem gleichen Muster ab und haben so gut wie keinen intellektuellen Mehrwert. Die neue Zensurdebatte ist dermaßen politisiert, dass ein Denken außerhalb der unmittelbaren Aufregung nicht mehr möglich ist. Dabei lassen sich eigentlich ein paar interessante Fragen stellen. Die Retromanie der Gegenwart – jeder Stoff muss zu einem Remake oder Reboot verwurstet werden – führt natürlich dazu, dass Menschen erst recht mit den Problemen ihrer geliebten ästhetischen Jugenderfahrungen konfrontiert werden. Wenn man Roald Dahl oder James Bond einfach in Ruhe lassen und sich einmal etwas Neues überlegen würde, dann hätte man diese Probleme nicht. Im Endeffekt ist es aber vor allem eine ökonomische Frage. Es ist eine lächerliche Vorstellung, ein Großverlag oder Netflix würden tatsächlich aus politischer Rücksicht irgendwelche Bücher zensieren. Diese Unternehmen haben aber einen gesunden rezeptionstheoretischen Realismus, der davon ausgeht, dass Menschen Bücher einfach nicht kaufen, wenn sie ständig mit der Nase auf politisch ekelerregende Dinge gestoßen werden.

Eine andere Richtung schlägt dagegen eine Debatte aus Amerika ein: In einem Ihrer Artikel von Kultur & Kontroverse berichten Sie von einer Situation an amerikanischen Schulen, an denen Eltern dazu aufrufen, Geschichtslehrende zu verklagen, wenn diese Themen wie Rassismus und Sexismus im Unterricht behandeln. Kann das Canceln eine politische Richtung für sich beanspruchen oder trägt es, abhängig vom Kontext, einfach nur andere Namen?

Ich würde den Begriff wirklich gar nicht verwenden. Canceln hat auch in diesem Fall die Funktion, eine ganze Reihe hochgradig unterschiedlicher politischer Praktiken zusammenzuwürfeln, vor allem um machttheoretische Unterschiede zu nivellieren. So kann dann eine Gruppe von Studierenden, die – wie im Fall der „Avenidas“-Debatte – ein bestimmtes Gedicht nicht mehr an der Fassade ihrer Universität lesen wollte, als genauso schlimm gewertet werden, wie wenn der Gesetzgeber offen die Meinungs- und Redefreiheit einschränkt, wie es in den USA ja schon länger geschieht und sich in Deutschland (Stichwort „Genderverbot“) auch abzeichnet. Das läuft dann alles unter dem vagen semantischen Schirm des Canceln. So können sich dann eben auch die Mitglieder der Elite, mächtige Millionäre wie Dave Chappelle oder Louis C.K. etwa als Opfer von Cancel Culture inszenieren, weil der Begriff einfach nicht mitbedenkt, wer hier mit wem spricht. Klar, es gibt Zensur und ständige Versuche, die Meinung und Kunst anderer Menschen zu verdrängen. Aber das muss mit anderen Begriffen analysiert werden. Ein Ausdruck wie Cancel Culture macht uns in Bezug auf diese Phänomene nicht klüger, sondern dümmer.

Kommen wir nochmals zurück zum oben erwähnten Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Dieser sieht in der Diskussion eine „aufmerksamkeitsökonomische Funktion“, die in der weltweit massiven Nutzung der Sozialen Medien ein Ventil findet. Stimmen Sie dem zu? Und könnte man davon ableiten, dass die Debatte darüber (stellenweise) gezielt von den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft abzulenken versucht?

Ja, das finde ich plausibel. Im Wesentlichen geht es um eine ungeheuer erfolgreiche Form der konservativen Kulturpolitik, die die großen politischen Kämpfe der Gegenwart (ökonomische Ungleichheit, Klimawandel) ständig auf Nebenkriegsschauplätze verschiebt, die für die Lebensrealität der meisten Menschen unerheblich sind, allerdings sehr schnell heftige politische Ressentiments freisetzen. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westerheuser haben in ihrem Buch Triggerpunkte gerade gezeigt, dass die Gesellschaft in vielen Bereichen gar nicht so gespalten ist, dass es aber Bereiche gibt, die unmittelbar zu affektpolitischen Explosionen führen können. Und der ganze Bereich der Cancel Culture gehört dazu. Ob der Ravensburger Verlag zwei Begleitbücher zum neuen Winnetou-Film zurückzieht oder nicht, dürfte für die meisten Menschen komplett egal sein, aber es trifft eben einen Triggerpunkt, der dann von politischen Akteuren ausgenutzt werden kann. Mau, Lux und Westerheuser nennen solche Menschen „Polarisierungsunternehmer“.

Nicht selten hört oder liest man im Zuge dieser Debatten, frei nach Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ Haben wir Menschen verlernt, sachliche und emotionsfreie Diskussionen zu führen?

Die Vorstellung, dass der Diskurs heute besonders verroht oder gespalten sein soll, beruht auf einer seltsamen diskursgeschichtlichen Nostalgie. Man denkt, dass es früher zivilisierter zuging im öffentlichen Leben. Da wurden Debatten noch mit echten Argumenten ausgetragen von intellektuellen Gentlemen! Da gab es noch nicht das Geschrei der digitalen Massen! Das entspricht natürlich keiner historischen Wirklichkeit. Öffentlichkeit war schon immer eine Hölle der kommunikativen Aggression, weil es auch hier um Macht geht und den Kampf um Macht. Wenn die Geschichte eines zeigt, dann, dass die Wahrheit dem Menschen überhaupt nicht zumutbar ist – mir bitte auch nicht. Der ganze Cancel Culture-Komplex beruht auch auf einer naiven liberalen Fantasie, dass die Gesellschaft sich schon wieder beruhigen wird, wenn wir nur alle etwas netter zueinander sind, etwas weniger polarisiert etc. Ich würde mir in dieser Hinsicht mehr politischen Realismus wünschen. Das bedeutet nicht, dass man netter streitet, sondern besser. Statt z.B. der immergleichen händeringenden Artikel über die Gefährdung der Kunstfreiheit, könnte man ja wirklich mal zu den interessanten und schweren Fragen vordringen, die durch diese Debatten aufgeworfen werden.

„Plädoyers für Toleranz und Menschlichkeit im Umgang mit Justiz und Verbrechen“ – Georg Hasibeder über Alfred Komarek

Wir trauern um Alfred Komarek. Mit ihm verlieren wir einen Schriftsteller, der Orte, Landschaften und Menschen klug und mit viel Feingefühl porträtierte und im Schreiben wie im Leben stets die Toleranz hochhielt, einen Anstifter zum Innehalten, einen, der so viel Fantasie hatte, dass er sie mit uns allen teilen konnte.
Zum Gedenken teilen wir hier einen Text von Georg Hasibeder über Alfred Komarek, der 2011 entstanden ist, als Alfred Komarek den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln erhielt.

Alfred Komarek nimmt unter den österreichischen Kriminal-Autor*innen eine herausragende Position ein: Nicht nur, weil er mit seinen „Polt“-Romanen den Grundstein für das Genre des charakteristischen Österreich-Krimis gelegt hat, nicht nur, weil er mit Gendarmerieinspektor Simon Polt eine einzigartige, vielschichtige und zutiefst authentische Ermittler-Figur geschaffen hat, nicht nur, weil seine „Polt“-Romane weit über das Krimi-Genre hinaus als literarische Porträts eines besonderen Kultur- und Lebensraumes, des Weinviertels, gelesen werden können. Über all das hinaus besitzen Komareks „Polt“-Romane auch noch eine weitaus tiefere sozusagen rechtsphilosophische Ebene, die der Autor unaufdringlich, aber konsequent und klug durchdacht durch alle fünf Episoden rund um Simon Polt hindurchführt. Dabei interessiert den Autor in erster Linie der Konflikt zwischen einem juridischen und einem rein menschlichen Gesetzesverständnis.

Der einfache Gendarm Polt fühlt sich stets im Zwiespalt zwischen der Befolgung seiner Dienstpflichten, der Vorschriften und Gesetze einerseits und seinem menschlichen Gewissen andererseits. Wo das Gesetz dem Gendarm Polt klare Entscheidungen vorgeben würde, ist dem Menschen Polt zugleich bewusst, dass es Situationen gibt, in denen die Buchstaben des Gesetzes in Frage stehen, stehen müssen – weil er weiß, dass die Bestrafung eines Verbrechers nichts ändern, keine Gerechtigkeit herbeiführen würde, oder weil die Gründe für ein Verbrechen so nachvollziehbar und schlüssig sind, dass er sich nur schwer dazu durchringen kann, es in aller Härte zu verfolgen. Das bedeutet nicht, dass Simon Polt ein Anarchist wäre, der sich um die Gesetze nicht kümmert – er ist ein pflichtbewusster Staatsdiener, aber zugleich auch ein sich selbst treuer Mensch, der es sich nicht so leicht machen will, den Zwiespalt zwischen Gesetz und Menschlichkeit zu ignorieren.

Alfred Komarek versteht es meisterhaft, diese Konflikte und Interessenskollissionen – mit denen alle mit der Strafverfolgung betrauten Personen und Organe, vom ermittelnden Polizisten bis hin zum Richter, die in ihrem Beruf eine Verpflichtung und einen Dienst am Menschen sehen, zwangsläufig immer wieder konfrontiert werden – einzufangen und bietet in seinen Romanen Lösungen an, die puren Juristen vielleicht nicht gefallen mögen, die aber Leser*innen, die diese Konflikte verinnerlichen können, im Endeffekt sehr befriedigen.

 

Foto: János Kalmár.

Damit sind Alfred Komareks Kriminalromane zugleich auch als Plädoyers für Toleranz und Menschlichkeit im Umgang mit Justiz und Verbrechen zu verstehen – nicht in dem Sinn, dass Komarek des Verbrechen beschönigen oder gar gutheißen würde, aber insofern, als er nachdrücklich darauf hinweist, dass eine eindimensionale, bloß am Buchstaben des Gesetzes ausgerichtete Sichtweise auf das Verbrechen nicht ausreichend ist, um die menschliche Dimension beider Seiten.

 

Der nachhaltige kulturelle und gesellschaftliche Wert von Alfred Komareks Gesamtwerk – seinen „Polt“-Kriminalromanen, der Roman-Serie rund um Daniel Käfer, die im Salzkammergut angesiedelt ist, wie auch seinen literarischen Reportagen und Landschaftsbüchern – liegt darüber hinaus in seiner von tiefem Verständnis und Sympathie getragenen, dabei aber nie beschönigenden oder idyllisierenden Landschaftsporträts. Mit seinen literarischen Darstellungen besonderer österreichischer Kultur- und Lebensräume wie des Waldviertels oder des Salzkammerguts weckt er ein dauerhaftes Bewusstsein, dass eine Region weit mehr ist als die Summe ihrer Sehenswürdigkeiten oder Traditionen, weit mehr als ihre touristische Selbstinszenierung. Gerade im Blick auf die Details, in der Konzentration auf das Unspektakuläre, Unauffällige und Stille macht Alfred Komarek deutlich, dass der Charakter einer Landschaft in ihren Bewohner*innen, in der Authentizität ihres Alltags besteht, und nicht in der touristischen Selbstvermarktung, im Beharren auf erstarrte Traditionen oder in der ängstlichen Abgrenzung vor dem Fremden.
Auch damit leistet Alfred Komarek einen Beitrag für ein ausgewogenes, tolerantes, weltoffenes und selbstbewusstes Verständnis österreichischer Kultur, der weit über die Landesgrenzen hinaus hörbar ist und wahrgenommen wird.

 

Ein Alltag im Ausnahmezustand: Leseprobe aus „Im täglichen Krieg“ von Andrej Kurkow

Februar 2022: Der russländische Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt. Beinahe zwei Jahre später stehen die Menschen in ihrem Land weiterhin unter Beschuss, haben unsägliche Verbrechen und Verluste erlebt. Wie macht man weiter, kämpft weiter, wenn sich alles verändert hat? Und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist?
Andrej Kurkows journalistische Texte, Notizen und Tagebucheinträge zeigen, was der Krieg, der sich immer mehr in den Alltag der Menschen integriert, mit ihnen macht. Die Diskrepanz einer jeden aufeinanderfolgenden Sekunde wird spürbar: Opernaufführungen bei Tageslicht – eine Bombe schlägt ein; Menschen schwimmen im Meer – eine Mine explodiert; eine Nacht durchschlafen – aber das feindliche Militär kennt die GPS-Daten eines jeden Schlafzimmers …
Wie formt sich ein Leben, ein Jahr, ein Tag, wenn die Sirenen niemals aufhören zu erklingen? Wenn Bienen fliehen, um dem Lärm des Krieges zu entkommen, weil der Blütenstaub nach Schießpulver riecht? Wie, wenn man nicht weiß, ob man Freunde und Familie wieder sieht?

22.08.2022

Luftalarm und Crowdfunding

Dieser Tage, wenn es Nacht wird in den Wäldern der Oblast Schytomyr, kann man oft Beilhiebe oder das schrille Surren einer Kettensäge hören. Nach Einbruch der Dunkelheit, spät am Abend und manchmal sogar mitten in der Nacht, vernimmt man vielleicht sogar das Rattern alter Autos, die Anhänger voller Holzscheite hinter sich herziehen, oder das Knattern riesiger Holzlaster, die frisch gefällte Kiefernstämme abtransportieren. Alle sind sie auf dem Weg aus dem Wald heraus.
Die alten Autos mit den Anhängern sind zumeist unterwegs in die umliegenden Dörfer. Das gleiche Bild wiederholt sich derzeit in der gesamten Ukraine: Die Landbevölkerung legt sich ihren Wintervorrat an Brennstoff zu. Natürlich ist diese Art der Brennholzgewinnung illegal, aber die Polizei schert sich nur selten um holzfällende Gelegenheitsdiebe. Früher wurden bisweilen Maßnahmen gegen rechtsbrecherische Waldarbeiter ergriffen, die nachts zugange waren, das Holz im großen Stil weiterverarbeiteten und an Bauunternehmer und Möbelhersteller verkauften. Diese rechtswidrige Holzernte bestückt zwar mittlerweile auch den Wintermarkt für Brennholz, doch die Polizei wird ihr nicht mehr Herr. Seit 2014, als der Krieg mit Russland ausbrach, haben viele Einwohner ukrainischer Dörfer und Städte den Glauben an gasbetriebene Heizkessel verloren. Sie haben ihre Heizsysteme umgesattelt, um sie mit anderen Brennstoffen befeuern zu können, insbesondere Holz.
Seither häufen sich die mit Wachstuch vor Regen geschützten Feuerholzstapel auf sämtlichen Dorfvorplätzen und sogar in den Höfen der Wohnhäuser in den Kleinstädten. Es würde mich nicht wundern, wenn man mir sagte, dasselbe ereigne sich derzeit in Polen, Tschechien oder sogar Österreich. In Europa wäre dieses Phänomen auf die in die Höhe geschnellten Gaspreise zurückzuführen. In der Ukraine sind die Preise für Gas und Gasheizungen weiterhin auf dem Vorkriegsniveau.
Erst vor Kurzem unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Dekret, wodurch die Brennstoffpreise auf dem derzeitigen Stand festgelegt werden, um die Ukrainer angesichts des bevorstehenden Winters nicht zu beunruhigen. Dennoch ist die Gasrechnung für die Menschen, die noch im Land leben, jene, die am meisten schmerzt.
Selenskyj kann zwar die Preise für Gas, Wasser und Strom einfrieren, aber er kann nicht garantieren, dass die Versorgungsbetriebe ukrainische Haushalte diesen Winter tatsächlich beliefern können. Dies hängt nämlich von der russischen Artillerie ab. Es steht jetzt schon fest, dass mehrere ukrainische Städte, sowohl besetzte als auch freie, diesen Winter ohne Heizung auskommen werden müssen.
Während sich die Ukraine konsequent auf den Winter vorbereitet, ertönen die Luftalarmsirenen mehrere Male pro Tag und warnen vor russischen Raketen, die auf militärische und zivile Ziele zusteuern. Durch die Explosionen kommen unsere Mitbürger ums Leben und Gebäude sowie die umliegende Infrastruktur werden zerstört, darunter Gas- und Wasserleitungen, die Kanalisation, Stromnetze und Wärmekraftwerke. Die Monteure machen sich, soweit möglich, umgehend auf den Weg und fangen mit den Reparaturarbeiten an – das heißt, soweit die betroffene Stadt nicht vollständig in Trümmern liegt.
In Mariupol und Melitopol, Slowjansk und Soledar bleibt die Heizung in diesem Jahr aus. In Charkiw und Mykolajiw ist diese Frage noch offen. Vitali Klitschko, der Bürgermeister Kyjiws, hat die Bewohner der Stadt davor gewarnt, dass die Temperaturen in den Wohnungen in diesem Winter nicht über 18 Grad Celsius steigen werden. Dazu muss ich sagen, dass die Temperaturen in unserer Wohnung in der Innenstadt von Kyjiw im Winter noch nie 18 Grad überschritten haben. Ziemlich oft hingegen sanken sie auf 13 Grad ab. Wir sind die Kälte also gewöhnt.
Klitschko rät den Menschen, sich Trockenbrennstoff (für Campingkocher) zuzulegen, warme Kleidung auszumotten und zusätzliche Elektroheizgeräte aufzutreiben. Neulich erklärte der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, Folgendes: „Der Feind zerstört zwar unsere Heizanlagen, aber wir werden durch den Winter kommen.“ Rund um die Uhr werden Wartungsarbeiten am zentralisierten Heizsystem der Stadt unternommen, oftmals unter Bombenbeschuss. Damit das System in diesem Winter störungsfrei betrieben werden kann, muss das gesamte 200 Kilometer lange Netzwerk an unter- und oberirdischen Leitungen im Oktober erneuert werden, doch das lässt sich nur bewerkstelligen, wenn Russland die bereits reparierten Leitungen und Wärmekraftwerke nicht wieder demoliert.
Oleksandr Sjenkewytsch ist der Bürgermeister einer weiteren Stadt, die regelmäßig Bombenhagel erleiden muss: Mykolajiw. Er hat die Einwohner davor gewarnt, dass ihrer Stadt, was die Wärmeversorgung angeht, das Schlimmste noch bevorsteht. „Es kann zu Bombenangriffen kommen. Heute haben wir es noch warm, aber wenn die Heizinfrastruktur morgen bombardiert wird, müssen das Wasser aus dem Kreislauf abgelassen und kaputte Leitungen repariert werden, ehe das System wieder in Betrieb genommen werden kann. In diesem Zeitraum kann es bitterkalt für Sie werden.“
Sjenkewytsch sprach noch etwas Weiteres an, das sämtlichen Großstadtbewohnern Sorge bereitet: die Tatsache, dass die Evakuierung der Bewohner im Falle eines Heizsystemausfalls mit keiner Silbe erwähnt wird. Es wäre aber seltsam, wenn diese Frage nicht doch früher oder später angesprochen würde, zumal die absichtliche Zerstörung der Wärmekraftwerke durch russische Raketen, während Minusgrade herrschen, eine jedwede Stadt unbewohnbar machen würde. Das Wasser in den Leitungen der Gebäude würde gefrieren und die Rohre zum Bersten bringen. Elektroheizgeräte reichen da nicht aus, um eine Wohnung während eines ukrainischen Winters zu beheizen.
Doch wie kann man die Einwohner einer ganzen Stadt evakuieren und wohin bringt man sie? Die Rede ist hier von hunderttausenden Menschen, die alle gleichzeitig in Sicherheit gebracht werden müssen. Keine einfache Aufgabe also.
Die Sirenen, die die Ukrainer vor drohenden Luftangriffen warnen, haben seit Kurzem eine weitere Funktion bekommen: Sie sind zum Signal für spontane Spendenaufrufe für die ukrainische Armee geworden. Auf die Idee für das Crowdfunding kam Natalia Andrikanitsch, eine junge Frau, die in Uschhorod als freiwillige Helferin tätig ist. Ihr wurde bewusst, dass jeder Luftalarm über der Stadt sie wütend machte, also beschloss sie, ihre Einstellung zu ändern und die Sirenen zu einem Mahnruf an sich selbst zu machen, dass die ukrainische Armee Unterstützung braucht, damit mit dem Lärm ein für alle Mal Schluss ist. Seitdem begibt sie sich nun jedes Mal, wenn die Sirene ertönt, nach wie vor in den Luftschutzkeller, überweist aber auch eine kleine Spende – 10 bis 20 Hrywnja (15 bis 30 Eurocent) – auf das Bankkonto der Armee.
Die Idee hat sich in der Ukraine herumgesprochen und viele tun es ihr mittlerweile gleich. Seither lässt jeder Luftalarm in der Ukraine die Kassen der ukrainischen Streitkräfte klingeln. Der Großteil des so gespendeten Geldes kommt aus den Oblasten, die weiter von der Front entfernt sind. „In Charkiw verdient niemand genug, als dass er so oft spenden könnte!“ – so erklärte es mir der bekannte Charkiwer Fotograf Dmitri Owsjankin.
Tatsächlich gibt es Regionen und Städte, in denen die Sirenen ununterbrochen ertönen. So zum Beispiel in Nikopol und Derhatschi sowie in den Rajonen Donezk, Saporischschja, Odesa und Mykolajiw. Dort bleibt den Menschen schlichtweg keine Zeit, eine Internetseite aufzurufen, um zu spenden.
Es ist nicht ganz durchschaubar, was genau mit dem Geld, das auf das Spendenkonto der ukrainischen Armee fließt, geschieht. Diese Information fällt sicherlich unter die Rubrik „Militärgeheimnisse“. Die Ukrainer können hingegen mitverfolgen, wie und wofür die bekanntesten und tatkräftigsten freiwilligen Helfer gesammelte Spenden ausgeben. Der bis heute erfolgreichste freiwillige Spendensammler ist der berühmte Entertainer, Stand-up-Comedian und beliebte Fernsehmoderator Serhij Pritula.
Bis 2019 duellierten sich Serhij Pritula und der damals noch Komiker Wolodymyr Selenskyj in TV ComedyShows. Als Selenskyj dann zum Präsidenten gewählt wurde, entwickelte auch Pritula ein reges Interesse an der Politik. Er ließ sich als Kandidat der Partei „Stimme“ aufstellen, die vom ukrainischen Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk ins Leben gerufen wurde, schaffte den Einzug ins Parlament jedoch nicht. Außerdem nutzte Pritula das Podium, das ihm die „Stimme“-Partei bot, um für das Bürgermeisteramt von Kyjiw zu kandidieren.
Mittlerweile sehen ihn viele Ukrainer als möglichen Rivalen, der Selenskyj die nächste Wahl streitig machen könnte. Seinen Beliebtheitsgrad konnte Pritula bereits bei der Spendenaktion „Bayraktar des Volkes“ unter Beweis stellen. Er hatte sich vorgenommen, 500 Millionen Hrywnja (etwa 13 Millionen Euro) für drei Kampfdrohnen aufzutreiben. In nur wenigen Tagen hatte er dann bereits 600 Millionen Hrywnja beisammen und konnte seine Spendenaktion erfolgreich zum Abschluss bringen.
Als der türkische Hersteller der Bayraktar-Kampfdrohnen dann von Pritulas Spendenaktion erfuhr, gab er kurzerhand bekannt, der ukrainischen Armee die drei Drohnen kostenlos zu überlassen. Folglich entschloss sich Pritula, mit den Spendengeldern stattdessen einen finnischen ICEYE-Mikrosatelliten zu kaufen. Dieser ist in der Lage, selbst bei schlechter Witterung hochwertige Satellitenbilder der Erdoberfläche zu machen. Zusätzlich zu diesem Satelliten schloss er ein Jahresabonnement für eine weitere Satellitengruppe ab, die die Ukraine mit detaillierten Aufnahmen der Positionen des russischen Militärs in der Ukraine und auf der Krim versorgt.
Kurzum: Pritulas Freiwilligenarbeit und seine Beliebtheit haben ungeahnte Höhen erreicht. Nicht jeder freiwillige Helfer ist jedoch gleichzeitig eine TV-Persönlichkeit mit politischen Ambitionen, und das macht es für Normalsterbliche der ukrainischen Gesellschaft schwieriger, Spendengelder aufzutreiben. Der Charkiwer Kultlyriker Serhij Zhadan unterstützt bereits seit Beginn des totalen Krieges sowohl die Spendenkampagnen des Militärs als auch das kulturelle Leben seiner von Bombenanschlägen gerüttelten Stadt aktiv. Vor Kurzem gab er bekannt, Geld für einhundert gebrauchte Jeeps und Kleintransporter fürs Militär sammeln zu wollen. Zhadan hat bereits fünfzehn Fahrzeuge für die Armee beschaffen können.
Der Ushhoroder Kultautor Andrij Ljubka, den ich vor ein paar Monaten schon einmal erwähnt habe, hat bereits Geld für achtunddreißig Fahrzeuge aufgetrieben und diese selbst an die Front gebracht. In der Ukraine witzelt man bereits, dass in ganz Europa keine gebrauchten Jeeps und Kleintransporter mehr erhältlich seien. Bald, so sagt man, müsse man Fahrzeuge per Schiff aus dem fernen Australien kommen lassen. In jedem Witz steckt auch ein Fünkchen Wahrheit: Die Zahl der bis heute an die ukrainische Armee übergebenen Jeeps und Kleintransporter geht in die Tausende. Das Militär hat teilweise bereits Mini Artilleriesysteme auf den Fahrzeugen montiert und sie in den Kampf geschickt.
In den sozialen Netzwerken postet die Armee regelmäßig Fotos kürzlich erhaltener Wagen sowie von Fahrzeugen, die von der russischen Artillerie oder Panzern zerstört worden sind. Diese Bilder bezeugen den Bedarf an weiteren Gebraucht-Jeeps und -Kleintransportern und lassen darauf schließen, dass so lange Nachschub nötig ist, wie der Krieg andauert. Demnach werden ukrainische freiwillige Spendensammler mitunter noch lange die Hauptabnehmer dieser vielseitig einsetzbaren Nutzfahrzeuge aus ganz Europa bleiben.

28.08.2022
Bienen und Verräter

Letzte Woche brachten freiwillige Helfer obdachlose und verwaiste Katzen aus den zerstörten Städten an der Front im Donbass, Bachmut und Soledar nach Kyjiw. Diese Katzen und Kätzchen brauchen ein Zuhause. Obwohl Nachrichten geretteter Haustiere aus den Kriegsgebieten schon lange nichts Ungewöhnliches mehr sind, hat mich die jüngste Meldung eines binnenvertriebenen Bienenvolks aus dem Rajon Bachmut doch aufhorchen lassen.
Vor dem Krieg lebten Tausende Bienenzüchter im Donbass, denn neben Kohle ist die Region seit jeher für ihren Honig bekannt. Noch vor zwei Jahren wurden trotz des Wegfalls der Krim und von Teilen des Donezbeckens immer noch über 80.000 Tonnen Honig pro Jahr aus der Ukraine ausgeführt. Leider kann man das mit dem lukrativen Honighandel die nächsten ein, zwei Jahre, vielleicht sogar noch länger, völlig vergessen.

Wir haben uns bereits an den Umstand gewöhnt, dass Haustiere infolge des Krieges heimatlos werden können. Jetzt müssen wir uns aber zusätzlich mit dem Gedanken abfinden, dass Zehntausende Bienenvölker ihre Heimat im Donbass und in der Südukraine verloren haben.
Wenn ein Bienenstock durch Geschützfeuer beschädigt wird, verwildern die Bienen in der Regel und kehren in die Natur zurück. Sie schwärmen dann von einem Ort zum anderen, lassen sich an Wänden zerfallener Gebäude oder in Baumkronen nieder, bis sie eine dauerhaftere Bleibe gefunden haben, in einer Baumhöhle oder auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause versuchen die Bienen auch, dem Lärm und der Zerstörung des Krieges zu entkommen. Sie fliehen nicht nur, weil Pollen, der nach Schießpulver riecht, nicht besonders gut schmeckt, sondern vor allem auch deswegen, weil Bienen Stille brauchen. Stille, um einander summen hören zu können.
An der Front bei Bachmut ließ sich zu Beginn des Sommers ein Bienenvolk in der Nähe der ukrainischen Militärstützpunkte nieder, weil es seinen vom Krieg beschädigten Bienenstock aufgeben musste. Unter den Soldaten gab es auch einen Imker, Oleksandr Afanassjew, der seine eigenen Bienenstöcke zu Hause in der Oblast Tscherkassy in die Obhut einiger freiwilliger Bienenzüchter gegeben hatte.
Als er den Schwarm fand, nahm Oleksandr eine leere Munitionskiste aus Holz, bohrte ein paar Löcher hinein und ließ das Bienenvolk darin unterkommen. Die Bienen gaben sich mit den beengten Bedingungen ihres neuen Heims zufrieden und, nachdem sie sich eingerichtet hatten, machten sie sich in ihrer neuen Umgebung auf zu einem Erkundungsflug auf der Suche nach Blüten.
Als der Sommer vorüber war, wurde Oleksandr einer neuen Einsatztruppe in einem anderen Frontsektor zugeteilt. Seine Waffenbrüder baten Oleksandr, den Bienenschwarm doch bitte mitzunehmen: Sie verstanden nichts von der Bienenzucht und hatten Angst davor, die Verantwortung für das Volk zu übernehmen. Zudem dürfen Soldaten keine Haustiere halten, schon gar keine Bienenschwärme. Wie es der Zufall aber so wollte, kam Ihor Ryaposchenko, ein freiwilliger Helfer aus der Oblast Tscherkassy, der alte Kleintransporter und Jeeps an die Front bringt, gerade zur rechten Zeit bei Oleksandrs Einheit vorbei und bot an, die Bienen mit zu sich nach Hause zu nehmen, obwohl auch er keinerlei Erfahrung mit der Bienenzucht hatte.
So reisten die Bienen über 700 Kilometer in der Munitionskiste, die zu ihrem neuen Bienenstock geworden war. Sie haben die Reise überlebt und machen es sich nun in Ihors Garten bequem. Um sie nicht weiter zu stören, beschloss Ihor, sie nicht in einen richtigen Bienenstock umzusiedeln, sondern sie in ihrem provisorischen Heim zu lassen.
Glücklicherweise gibt es in seinem Dorf mehrere Imker, die Ihor bei der Pflege der Bienen mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Bald wird er sich eine Honigschleuder von seinen Nachbarn leihen müssen, um den Honig zu gewinnen und einen Teil davon an die Front zu schicken, wo die Bienen ihr erstes Zuhause beim Militär gefunden hatten.
Die Stellung der ukrainischen Militärposten hat sich in letzter Zeit nicht geändert, obwohl sich russische Truppen von Osten her Bachmut nähern und die Stadt jede Nacht mit Artilleriefeuer und mehreren Raketenwerfern beschießen. Vor dem Krieg hatte Bachmut mehr als 70.000 Einwohner; jetzt sind es noch etwa 15.000. Das ukrainische Militär hat wenig Vertrauen in die Bewohner, die trotz des Angebots der Evakuierung in der Stadt oder in den umliegenden Dörfern bleiben wollten.
Viele dieser „Zurückgebliebenen“ beharren darauf: „Wir warten erst einmal ab. Mal sehen, was als Nächstes passiert!“ Ukrainische Soldaten nennen solche Menschen „Abwartende“, weil sie scheinbar darauf warten, dass Russland das Gebiet erobert. Einige dieser „Abwartenden“ scheinen den ukrainischen Soldaten gegenüber positiv eingestellt zu sein und schenken ihnen manchmal Gemüse oder Obst. Dennoch besteht Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Schließlich kann es sein, dass sie die Soldaten nur deshalb aufsuchen, um ausfindig zu machen, wo ihre militärische Ausrüstung untergebracht ist; Informationen also, die sie an die russische Artillerie weitergeben können. Einige derjenigen, die in den besetzten Städten Melitopol und Mariupol geblieben waren, kollaborierten schlussendlich mit den russischen Besatzungsbehörden, darunter auch ehemalige Polizeibeamte.

Das Thema Verrat ist in der Ukraine kein beliebtes und wird definitiv nur ungern angesprochen. Doch in letzter Zeit hört man zunehmend Meldungen über Ukrainer in den verschiedenen Oblasten des Landes, sogar in Kyjiw, die der russischen Armee und den Geheimdiensten in die Hände spielen. Beamte des Ministerkabinetts und der Nationalen Wirtschaftskammer sowie Parteichefs des pro-russischen Oppositionsblocks, Staatsanwälte und Richter sind bereits verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt worden. Aber diese Kreml-Spitzel sind gegenüber den Kollaborateuren in den besetzten Gebieten deutlich in der Unterzahl.
Die Ukrainer bekamen einen anfänglichen Schock, als bekannt wurde, wie viele Richter, Staatsanwälte, SBU und Polizeibeamte nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 in den Dienst der Russischen Föderation übergelaufen waren. Es handelte sich um einen Massenverrat, aber wie sich herausstellen sollte, war es auch das Ergebnis der langwierigen und akribischen Arbeit der russischen Geheimdienste auf der Krim.
Zudem war dieser Verrat auch dem Scheitern der ukrainischen Geheimdienste geschuldet, denn selbst jetzt ist Verrat im Donbass nicht so landläufig wie auf der Krim. Die meisten der verbliebenen Bewohner wollen zwar nicht mit den Besatzern kooperieren, doch Russland hat viele Waffen in seinem Arsenal, um Ukrainer zu zwingen, die Besatzer zumindest passiv hinzunehmen: Um humanitäre Hilfe zu bekommen, die Wasserversorgung wieder anschließen zu lassen oder jegliche Art von Zugriff auf die eigene Rente zu erhalten, muss man sich bei der Besatzungsverwaltung melden.
Wie eine Narbe prägt das Thema des Verrats die Dörfer und Städte rund um Kyjiw, die zu Kriegsbeginn unter russische Besatzung gefallen waren. In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es Moskau-Treue, die für die Invasoren Listen pro-ukrainischer Aktivisten, der Anschriften der Teilnehmer an den Majdan-Protesten und der Veteranen der Anti-Terroroperation im Donbass erstellten.
In Andrijiwka, einem Dorf unweit von Borodjanka, nordwestlich von Kyjiw, stellte sich ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats als eben solch ein Verräter heraus. Er bot nicht nur mehreren Invasoren in seinem Haus Unterschlupf, sondern zeigte ihnen auch prompt, in welchen Häusern im Dorf sich ein Einbruch lohnte und welche Bewohner entführt und gegen Lösegeldforderungen festgehalten werden könnten.
Als das Dorf dann befreit wurde, blieb dem Mönch keine Zeit zur Flucht. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Eine weitere Familie hingegen – Migranten aus Donezk –, die sich nach 2014 in Andrijiwka niedergelassen und auch mit den russischen Besatzern kollaboriert hatte, verließ das Dorf zusammen mit der russischen Armee, als diese nach Belarus abzog. Mehr als dreißig Einwohner Andrijiwkas gelten weiterhin als vermisst. Mindestens siebzehn Menschen wurden von russischen Soldaten erschossen und viele Häuser liegen weiterhin in Trümmern.
Mykola Horobets, ein bekannter Germanist und pensionierter Akademiker, der den Großteil seines Lebens an der Staatlichen Wissenschaftlich-Technischen Bibliothek der Ukraine in Kyjiw angestellt war, kehrte in sein Sommerhaus in Andrijiwka zurück, sobald die russischen Truppen aus dem Dorf vertrieben worden waren. Vor dem Krieg hatte er noch jeden Sommer dort verbracht, aber letzte Woche war er erst das fünfte Mal seit der Befreiung des Dorfes in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
Es ist ihm gelungen, Kartoffeln zu stecken, aber nur in dem Teil des Gartens, der dem Haus am nächsten liegt. Er hat Angst davor, den Boden zu bestellen, der weiter weg liegt: Was, wenn dort Minen vergraben sind? Niemand hat den Garten auf Sprengkörper abgesucht. Trotz der geringeren Fläche seines Kartoffelackers ist Mykola einigermaßen mit der Ernte zufrieden und konnte eine ordentliche Menge Kartoffeln im Vorratskeller einlagern. Jetzt legt er sich Feuerholz für den Winter an. Er denkt oft an den verräterischen Mönch und die Kollaborateure, die aus Donezk umgesiedelt hatten.
Während der Besatzung bewohnten russische Soldaten Mykolas Sommerhaus. Sie waren sehr überrascht, so viele deutschsprachige Bücher in den Regalen vorzufinden und erkundigten sich bei den Nachbarn über den Hausbesitzer: Lebt hier etwa ein Deutscher? Sie ließen ein kaputtes Sofa, mehrere Ausgaben der Zeitung Krasnaja Swesda („Roter Stern“) des russischen Verteidigungsministeriums und viele persönliche Gegenstände zurück, darunter eine Mütze, Pulver zum Anrühren eines Energy Drinks und einen Campingtopf zum Kochen.
Als Mykola nach der Befreiung des Dorfes zum ersten Mal wieder zurückkehrte, betrat die ukrainische Polizei das Haus noch vor ihm. Die Polizisten schauten sich um und fragten Mykola, was die russischen Soldaten zurückgelassen hatten. Im Schuppen fand Mykola einen großen Behälter mit Maschinenöl, wahrscheinlich für den Motor eines Kettenfahrzeugs. Die Polizei war nicht an dem Öl interessiert, aber einem von ihnen gefiel der Campingtopf des russischen Soldaten und so beschlagnahmte er ihn für sich selbst.
Das Motoröl steht noch immer im Schuppen. Vielleicht hat das örtliche Geschichtsmuseum in Makariw, der nächstgelegenen Stadt, ja daran Interesse. Der Museumsleiter arbeitet an einer Ausstellung über die Besetzung des Rajons Makariw und hat sämtliche Bewohner gebeten, dem Museum „Artefakte“ des Angriffs Russlands zu spenden.
„Ich habe Angst und möchte nicht so oft nach Andrijiwka fahren“, gab Mykola mir gegenüber zu. „Abends betrinken sich viele Leute hier und ballern dann im Dunkeln mit Gewehren herum. Die Russen haben wahrscheinlich auch einige Waffen zurückgelassen!“
Die Polizei hat scheinbar keine Eile, die Waffen zu beschlagnahmen, die die Dorfbewohner als Kriegsbeute eingesackt haben. Und niemand will sich über Alkoholiker mokieren, die die Besatzung durchmachen mussten. Manche sind der Ansicht, dass sie wegen des erlittenen psychologischen Traumas zur Flasche greifen, aber das macht die Situation nicht weniger beängstigend.
Tatsächlich sind alle Bewohner Andrijiwkas mittlerweile zutiefst traumatisiert, auch diejenigen, die die Besatzung anderswo ausgestanden haben, so wie Mykola. Er verbrachte sie in Kyjiw mit seiner erwachsenen Tochter, die eine cerebrale Bewegungsstörung hat. Wegen ihr hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, aus Kyjiw fortzugehen.
Auch sein Dorfnachbar Andrij, mit dem er schon seit seiner Kindheit befreundet ist, ist Alkoholiker. Manchmal stiehlt Andrij Gemüse aus Mykolas Garten und verkauft es, um sich dafür eine Flasche zu leisten. Seltsamerweise ist Andrij auch Bienenzüchter, oder vielmehr ehemaliger Imker, der eben noch Bienen hat. Eines seiner Völker „entwischte“ ihm kürzlich und ließ sich auf einem Kirschbaum in Mykolas Garten nieder. Andrij lehnte eine Leiter an den Baum und kletterte hinauf, wobei er mehrere Äste abbrach, es aber schaffte, den Schwarm wieder einzufangen.
Ich habe das schleichende Gefühl, dass die Bienen beim nächsten Mal viel weiter weg fliegen werden – an einen Ort, wo ihr betrunkener Besitzer sie nicht finden kann. Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen, tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.

 

20.10.2022
Zwischen Nationalismus und Patriotismus

Seit Februar dieses Jahres beschäftigt mich die Frage der Identität inständig. Das Thema wird täglich bei meinen Vorträgen und Veranstaltungen in verschiedenen europäischen Städten angestoßen. Ich versuche dann, den Europäern den Unterschied zwischen der russisch-sowjetischen und der ukrainischen Mentalität begreiflich zu machen. Sobald ich diese Differenzierung verdeutlicht habe, fällt es mir viel leichter, über die Ursachen dieses Krieges zu sprechen. So kann ich zudem meine eigene Identität erklären, die meiner Verständigung mit Russland schon lange im Wege steht und mir auch in der Ukraine viele Unannehmlichkeiten bereitet.
Tatsächlich gehörte mein Ich-Bewusstsein bis vor Kurzem zu den akzeptierten Formen der ukrainischen Identität und stand in keinerlei Widerspruch zu den wichtigsten Wertmerkmalen dessen, was einen „echten Ukrainer“ ausmacht. Es gibt jedoch einen Aspekt meiner Identität, der auf einige meiner intellektuellen Mit-Ukrainer ebenso wirkt wie ein rotes Tuch auf einen Stier: Ich bin ethnischer Russe und meine Muttersprache ist Russisch.
In allen anderen Wesensarten bin ich ein typischer Ukrainer. Ich höre nicht auf die mehrheitliche Meinung, sondern vertrete meine eigenen Ansichten. Für mich ist Freiheit – vor allem Redefreiheit und die freie Kreativitätsausübung – mehr wert als Geld und Stabilität. Ich unterstütze nur selten die Politik der machthabenden Regierung und bin stets bereit, sie zu kritisieren.
Kurzum: Ließe sich die Tatsache meiner Muttersprache und russischen Herkunft aus der Liste meiner Eigenschaften streichen, wäre ich der Prototyp eines Ukrainers, der mit Kusshand in den Schoß der „idealen Ukrainer“ aufgenommen würde. Die derzeitigen Mitglieder eben dieser Gruppe verbringen aber viel Zeit damit, auf Facebook öffentlich zu bestimmen, wer ein „waschechter Ukrainer“ ist und wer nicht, und wer partout nicht als Ukrainer gelten kann.
Ich betrachte mich selbst als Ukrainer – als Ukrainer russischen Ursprungs. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich lebe in einem wunderschönen Land mit einer komplexen Wesensart und einer komplizierten Geschichte, in dem jeder Bürger seine ganz eigene Vorstellung davon hat, was den ukrainischen Staat ausmacht, und dabei sein Bild für das richtige hält. Anders ausgedrückt sind wir eine Gesellschaft bestehend aus Individualisten.
Diese Art der Gesellschaft ist durch unsere historisch bedingte Erfahrung der organisierten Anarchie entstanden, welcher die Ukraine über die Jahrhunderte mehrmals verfallen ist. Es verwundert also nicht, dass Europas größtes Anarchistenheer – Nestor Machnos revolutionäre aufständische Armee – in der Ukraine gegründet wurde und dort, und nicht in Russland, kämpfte, einem Land, das traditionell im Kollektiv denkt. Im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 besiegte die Machno-Bewegung sogar sämtliche ihrer Kontrahenten!
Wenn ich mir die Ukraine von heute so ansehe, liefert mir die Tatsache, dass hier über vierhundert Parteien offiziell beim Justizministerium zugelassen sind, den Beweis für den ukrainischen Individualismus. Ich verstehe und respektiere die ukrainische Gesellschaft so, wie sie ist, mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten.
Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre haben mich Bekannte und Unbekannte aus den Rängen ukrainischer Nationalisten immer und immer wieder angehalten, ich solle doch auf Ukrainisch schreiben. Manche unter ihnen akzeptieren meine Begründung, dass ich eben in meiner Erstsprache schreibe – auf Russisch – und dass ich ein Anrecht auf meine Muttersprache habe. Manchmal stößt diese Erklärung aber auch auf Unverständnis und sogar Missfallen. Die Gespräche, die ich über dieses Thema geführt habe, sind aber bislang größtenteils freundlich abgelaufen.
Es kam aber auch schon vor, dass Anonyme, die gegenteiliger Meinung sind, in den sozialen Netzwerken posten, ich sei kein ukrainischer, sondern ein russischer Schriftsteller. Ich gehe darauf einfach nicht ein. Jeder Mensch in der Ukraine hat das Recht auf eine eigene Meinung sowie auf die freie Meinungsbildung und ‑äußerung. Und jeder hat zudem das Recht, die Meinung eines anderen nicht zu teilen.
In der Ukraine gibt es übrigens viele russischsprachige ukrainische Nationalisten. Ein Großteil der Mitglieder der bekannten rechtsextremen Organisation Prawyj Sektor („Rechter Sektor“), die 2014 an Bedeutung gewann, sind russischsprachige Ukrainer. Die ukrainische Sprache war also nicht immer eine Grundvoraussetzung für ukrainischen Nationalismus. Hier sollte ich anmerken, dass es in der Ukraine dutzende verschiedener nationalistischer Gruppierungen gibt, und dass diese oftmals aneinandergeraten, wenn es darum geht, die „korrekte“ Form des Nationalismus zu definieren. Selbst Stepan Bandera, eine Berühmtheit der ukrainischen Geschichte, geriet bereits beim Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1930er- und 1940er-Jahren mit seinen Genossen in Zwist.
Unterdessen sind derzeit keine Nationalisten in der Werchowna Rada vertreten, weil keine einzige der nationalistischen Parteien es geschafft hat, bei den letzten Parlamentswahlen die 5-Prozent-Hürde zu nehmen.
Eine Bewegung, die den Einzug ins Parlament nicht schafft, ist keine reale politische Macht. Im Gegensatz dazu schließt der ukrainische Patriotismus mehr Menschen mit ein. Die Grundbedingung besteht hierbei darin, das Land zu lieben, wobei niemand ein Interesse daran hat, Ausschlusskriterien aufzustellen. Von den krimtatarischen Aktivisten – die von den russischen Geheimdiensten schonungslos angegriffen werden – sprechen die wenigsten Ukrainisch. Die meisten beherrschen Russisch und ihre Muttersprache Krimtatarisch, doch niemand stellt deswegen ihren ukrainischen Patriotismus infrage.
Auch ich bin ukrainischer Patriot. Ich habe miterlebt, wie die Ukraine, als unabhängiger Staat, erwachsen wurde. Dreißig Jahre lang lebte ich in der Sowjetrepublik Ukraine und seit einunddreißig Jahren ist nun die unabhängige Ukraine mein Zuhause. Seit der Unabhängigkeit sind die ukrainische Literatur und Kultur zu neuem Leben erwacht und eine neue, ganz andere Generation europäischer Ukrainer ist herangewachsen, für die alles Sowjetische durch und durch fremd ist. Diese Generation hat die ukrainische Sprache und ukrainischsprachige Literatur populär gemacht. 2012 wurden die russisch und ukrainischsprachigen Ausgaben meines Romans Jimi Hendrix live in Lemberg gleichzeitig in der Ukraine veröffentlicht. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, dass sich ein Buch auf Ukrainisch in der Ukraine besser verkauft als dasselbe Buch in russischer Sprache. Seither haben die ukrainischen Übersetzungen meiner Bücher stets höhere Verkaufszahlen erzielt als die russischen Fassungen. Ich erlebe mit, wie die russische Sprache langsam ihre Stellung in der Ukraine einbüßt und, um ehrlich zu sein, echauffiert mich das nicht einmal. Junge Ukrainer lesen immer seltener auf Russisch.
Im Februar habe ich mich dazu entschlossen, meine Bücher nicht mehr in ihrer Originalsprache, auf Russisch, herauszugeben. Sollen die Bücher in der Ukraine auf Ukrainisch, in Frankreich auf Französisch, in Großbritannien auf Englisch verlegt werden. Russischsprachige Leser brauchen meine Bücher nicht. Die Publikation meiner Bücher in Russland wurde erstmals 2005 unterbunden, nach der Orangen Revolution, an der ich teilnahm. Nach einer kurzen Zeit des „Tauwetters“, während der meine Romane neu aufgelegt worden waren, wurde 2008 zum zweiten Mal ein Verbot verhängt.
Seit 2014 ist es russischen Buchhandlungen untersagt, meine Bücher aus der Ukraine einzuführen. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass es mich als Schriftsteller in Russland nicht gibt. Ich habe dort keine Leserschaft und es tut mir auch nicht um sie leid. In letzter Zeit wird Russisch von ukrainischen Facebook- Nutzern immer häufiger als „Sprache des Feindes“ bezeichnet. Der Kreml hat Himmel und Hölle – wortwörtlich – in Bewegung gesetzt und russischsprachige Ukrainer letztendlich dazu bewegt, ins Ukrainische zu wechseln. Dennoch hört man auf der Straße, wo sich die Menschen sowohl auf Russisch als auch auf Ukrainisch unterhalten, nur selten Auseinandersetzungen über die Sprache und beide Sprachen bestehen friedlich nebeneinander.
Die Sprachenfrage und Streitereien rund um dieses Thema waren früher einmal auf die politische Arena beschränkt, wo vor dem Ausbruch des Krieges 2014 die Verteidiger der ukrainischen Sprache gegen die Verfechter der russischen antraten – oder vielmehr gegen die Verfechter des russischen Einflusses auf die Ukraine. Der andauernde Militärangriff hat die Verteidiger der russischen Sprache jedoch aus der Politik verdrängt. Viele von ihnen haben sich als Verräter, Kollaborateure oder sogar russische Spitzel mit russischen Pässen herausgestellt.
Unter solchen Umständen geben manche ukrainische Intellektuelle sämtlichen russischsprechenden Ukrainern teilweise die Schuld für den Krieg. Es stimmt schon, dass Putin russischsprachige Ukrainer zum scheinbaren Auslöser für diesen Krieg erklärt hat, indem er darauf beharrt, dass seine „militärische Spezialoperation“ notwendig ist, um sie zu beschützen. Weil er diese Idee ständig wiederholt, wurden manche ukrainische Nationalisten zu der Aussage verleitet, dass es nicht zum Krieg gekommen wäre, gäbe es keine russischsprachigen Ukrainer!
Manche Nationalisten, darunter Iryna Farion, scheinen sich damit schwerzutun, sich ein objektives Bild der ukrainischen Gesellschaft zu verschaffen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Ukraine ein multikultureller Staat mit über zwei Dutzend nationalen Minderheiten ist. Glücklicherweise gibt es nur wenige Aktivisten, die die Realität in der ukrainischen Gesellschaft derart ausblenden, und jene, die sie vehement verleugnen, wirken keinerlei Einfluss auf die Staatspolitik aus. Trotzdem nutzen sie jede Gelegenheit, ihre polarisierende Meinung kundzutun und eine Spaltung zwischen Idealisten und Realisten unter der ukrainischen Bevölkerung zu bewirken.

Aus dem Englischen von Rebecca DeWald

 

©Haymon Verlag/Fotowerk Aichner

Andrej Kurkow wurde in St. Petersburg geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, vom Liebenswürdigen und Rätselhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. 2022 erschien sein „Tagebuch einer Invasion“ bei Haymon, in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. Kurkow schreibt weiterhin gegen die Zerstörung – und für die Zukunft der Ukraine.

Interview mit Anti-Work-Ikone Bianca Jankovska

Hast du sie gut überstanden? Die Zeit, in der einen gefühlt alle mit absurd-utopischen Neujahrsvorsätzen nerven, Instagram randvoll ist mit Selbstoptimierungstipps – und man selber einfach nur müde ist nach dem Feiertagsmarathon und von der Tatsache, dass jetzt wieder „der Ernst des Lebens“ beginnt. Ja, wir sprechen von diesem Wieder-arbeiten-müssen-Blues. Von diesem Bedürfnis, sich einfach wieder ins Bett zu legen, die Augen zu schließen und zu hoffen, dass sich niemand daran stört, dass man nicht am Schreibtisch sitzt. Mehr Nichtstun – das wäre mal ein neuer Jahresvorsatz. 
Darum haben wir uns gleich in den ersten Tagen im neuen Jahr mit Bianca Jankovska, Autorin von „Potenziell furchtbare Tage“, über Faulheit unterhalten. Aber nicht nur.

Bianca, auf deinem Instagram-Account (@groschenphilosphin) bezeichnest du dich selbst als „Anti-Work-Icon“. Gehen wir mal ganz an den Anfang, zurück zu dem Moment, als du dir zum ersten Mal dachtest: Hey, ich hab diesen Scheiß nicht nötig. Magst du uns davon erzählen?

Puh, was heißt „nicht nötig“? Ich glaube, ich habe es genauso wie alle anderen Lohnarbeitsabhängigen ohne massivem generational wealth prinzipiell nötig, zu arbeiten – sonst würde ich es ja nicht tun, sonst würde ich mir diverse Stunden meines Lebens sparen, in denen ich Arbeit für andere verrichte und stattdessen im Bett liegen bleiben.
Ich glaube, worauf du hinauswillst, ist mein innerer Widerstand, dieses „Ich habe es nicht nötig, mein Leben für die Kapitalakkumulation irgendeines Konzerns herzugeben“. Das kam schon relativ früh, ich glaube, bei meinem ersten Praktikum mit 16, bei dem ich den ganzen Tag vor dem Computer (ohne Internet, sei dazugesagt) saß, und vor mich hinstarrte. Da habe ich gemerkt: Ui, das soll dieses Erwerbsleben werden? Ich soll acht Stunden pro Tag, also die acht Stunden, in denen ich am wachsten und fittesten bin, hergeben, damit ich am Ende einen – am Gesamtumsatz des Unternehmens gemessen – mickrigen Lohn bekomme? Nein, sicher nicht! Dafür ist mir meine Zeit auf diesem Planeten einfach zu schade.

 

Die Frage „Was kannst du gut?“ beantwortete Bianca Jankovska als 18-Jährige mit „Schreiben“, also studierte sie Publizistik – und Politikwissenschaften noch dazu. Es folgte eine Karriere als Journalistin in verschiedenen Medien und Anstellungsformen, als Autorin, Dozentin und Medienstrategin. 2018 veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Das Millennial-Manifest“, 2020 folgte „Dear Girlboss, we are done“. Das Jurastudium diente nebenher mehr der emanzipatorischen Weiterentwicklung. Heute teilt Jankovska ihr geballtes Wissen über die (Arbeits-)Welt in Kündigungsberatungen („Thx bye“), ihrem Podcast („The Bleeding Overachiever“), auf ihrem Blog („Groschenphilosophin“), auf Social-Media (@groschenphilosophin) und in ihrem neuen Buch „Potenziell furchtbare Tage“.

Anti-Work klingt im ersten Moment nach … Nichtstun. Du selbst bist u.a. Autorin, Podcasterin, Journalistin, Bloggerin, Dozentin, Medienstrategin, Kündigungscoach, Ghostwriterin. Neben Publizistik und Politikwissenschaften hast du auch noch einen Jura-Abschluss – das alles klingt so gar nicht nach Nichtstun. Was meint Anti-Work also genau?

Ich bin das alles in Theorie, aber ich übe nicht jede Profession zu jeder Zeit aus – sondern mixe und wechsle ab. Journalismus mache ich seit 2018 eigentlich gar nicht mehr, unterrichten tue ich aktuell auch nicht. Außerdem muss ich sagen, dass meine Studienabschlüsse aus der Zeit kommen, in der ich mich intellektuell selbst noch sehr verbissen gefordert und danach beurteilt habe, wie produktiv und „erfolgreich“ ich bin. In meinem Buch „Potenziell furchtbare Tage“ gehe ich ausführlich darauf ein, wo mein Leistungsstreben herkommt, und warum ich meinen Selbstwert dadurch generiert habe, möglichst gut in der Uni zu sein und Abschlüsse zu sammeln wie Briefmarken.
Aber kommen wir zurück zu deiner Frage: Anti-Work ist nicht nur eine Bewegung mit konkreten politischen Zielen, sondern auch eine Haltung, die erstmal im Kleinen Wirkung haben kann.
Anti-Work bedeutet für mich als Lohnabhängige nicht, gar nicht zu arbeiten, sondern mich vom schlechten Gewissen der Nicht-Produktivität zu lösen. Von Zeit zu Zeit zu kündigen – nicht um sofort einen neuen Job anzufangen, sondern meine eigene mentale und physische Gesundheit zu retten. Die Lüge vom Traumjob zu verlernen und gleichzeitig neue Praktiken im eigenen Leben zu implementieren, die nichts mit dem ständigen Streben nach mehr zu tun haben.
Anti-Work bedeutet mehr Faulheit für alle – und nicht nur für das obere 1%.

Nochmal kurz zurück zu deiner Kündigungsberatung: Auf der Homepage steht, dass „THX BYE“ eine „ethische Kündigungsberatung für Arbeitnehmer in Bullshitjobs“ sei. Was genau sind Bullshitjobs und wie bist du auf die Idee gekommen, Beratungen für Kündigungen zu machen?

Bullshitjobs sind für mich persönlich Jobs, die nur existieren, damit irgendjemand etwas am Computer zu tun hat, oftmals in Kombination mit einer schlechten Bezahlung, wenig Impact, straffen Hierarchien und digitaler Messbarkeit, sodass jeglicher „Misserfolg“ sofort als KPI dargestellt und dem Arbeitnehmer unter die Nase gerieben werden kann.
Jobs, in denen man jeden Morgen in der Früh von oben „Tasks“ zugeschoben bekommt, die ungefähr so lauten: „Überlege dir, wie wir dieses Waschmittel noch besser verkaufen können, als im Vorjahresquartal!“. Oder: „Schreib doch nochmal diesen einen Webseiten-Text neu, der letzte gefällt mir irgendwie doch nicht ;).“ Oder: „Überleg dir doch mal ein schönes Powerpoint-Design für unseren nächsten Kunden-Call!“
Ich habe selbst vorwiegend im Journalismus und in der Kulturindustrie gearbeitet, und nach meinem Ausstieg im Jahr 2018 gemerkt: Hm, ich glaube nicht, dass irgendjemand meinen 100. Artikel über Fußpilz vermisst hat! Oder meinen Werbeslogan für das neue Label eines deutschen D-Promis. Es ist ganz einfach Arbeit, die krank im Kopf macht und eigentlich wenig bis keinen Mehrwert für Mensch und Umwelt generiert.
Deshalb habe ich thx-bye gegründet. Damit ich einen Ort schaffe, an dem sich Menschen darüber auskotzen und ihren Exit planen können. Ich möchte Arbeitnehmern in Bullshitjobs eine Auszeit vom Erwerbsleben verschaffen, damit ihr Kopf wieder ihnen selbst gehört.

Sehr viel Arbeit (Stichwort Sorgearbeit, um nur ein Beispiel zu nennen) wird nicht oder nicht annähernd fair bezahlt. Dazu kommt, dass zu verrichtende Arbeit für Menschen ganz unterschiedlich belastend sein kann, sie in vielen Fällen körperlich und/oder psychisch ausbeutet. Wie schätzt du diese Ungleichheit ein? Was müsste sich ändern, damit uns unsere Arbeit nicht noch kränker macht?

Als allererstes muss der 8-Stunden-Tag abgeschafft werden. Egal, ob in der Pflege oder in der Kreativindustrie. Ich denke, dass viele der krankmachenden Tätigkeiten besonders ab Stunde fünf krankmachen, weil da die Ressourcen des Arbeitnehmers bereits aufgebraucht sind, da beginnt dann der richtige Raubbau am Körper – sei es physisch oder psychisch. Auch im Verkauf sind meiner persönlichen Erfahrung nach nicht die ersten 30 Kunden „schlimm“, sondern die letzten, es sind die nicht endenden Stunden nach der Mittagspause, in denen man eigentlich längst nach Hause müsste, um Haushalt und Angehörigenpflege zu schmeißen.
Ansonsten reicht es natürlich nicht, wenn Lohnerhöhungen gerade mal die Inflation ausgleichen und Arbeitsstunden mit höheren Prozentsätzen versteuert werden, als Erbschaften (nämlich: gar nicht in Österreich). Auch dazu habe ich mehrere Kapitel in meinem neuen Buch geschrieben, nämlich: „4-Tage-Woche ≠ Teilzeit ≠ Faulheit“ und „Reiche Eltern umverteilen“. Also bitte, wer meine Meinung dazu in ganzer Länge lesen möchte, kann das Buch gerne vorbestellen.

Talking about bluten am Arbeitsplatz: Laut einer Studie schleppen sich 70 % aller Menstruierenden unter Schmerzen und/oder unter Schmerzmitteleinfluss regelmäßig zur Arbeit. Andere Länder, wie z.B. Japan, haben bereits einen „Menstrual Leave“, also Sonderurlaub für Menstruierende. Ist das deiner Meinung nach ein Vorbild-Modell, das du dir auch für den deutschsprachigen Raum wünschen würdest?

Auf jeden Fall. In Deutschland und Österreich droht nach aktueller Rechtslage eine krankheitsbedingte Kündigung bei häufiger Krankmeldung. Alleine juristisch betrachtet wäre ein menstruationsbedingter Urlaub für Menstruierende daher vorteilhaft, damit sie nicht auf Teufel komm raus im Office Pillen poppen müssen, um nicht aufgrund hoher Fehlzeiten gekündigt zu werden. Außerdem zeigte eine 2017 großangelegte Studie in den Niederlanden auf, dass Menstruierende einen durchschnittlichen Produktivitätsverlust von 33 % aufgrund menstruationsbedingtem Präsentismus verzeichneten, was einem durchschnittlichen Verlust von 8,9 Tagen pro Jahr entspricht. Wem bringt es also irgendetwas, wenn Menstruierende im Office erscheinen?
In Spanien wurde übrigens am 17. Mai 2022 ein Gesetzesentwurf gebilligt, der Frauen aufgrund von Menstruationsbeschwerden arbeitsfreie Tage gewährt. Am 1. Juni 2023 trat das Gesetz über Sexual- und Reproduktionsgesundheit schließlich in Kraft, das unter anderem das Fernbleiben von der Arbeit bei Regelbeschwerden ermöglicht. Die Kosten werden vom Staat übernommen. Damit soll verhindert werden, dass eine Kultur der Stigmatisierung entsteht, die sich auf die Einstellung von Frauen im Unternehmenssektor auswirkt.

Wie siehst du die Zukunft unseres aktuellen Arbeitssystems allgemein? Wie wird sich unsere Arbeitswelt, unsere Leistungsgesellschaft deiner Einschätzung nach entwickeln, wenn sich nichts ändert?

Personaler haben jetzt schon Probleme, Stellen zu besetzen. Fachkräftemangel, olé! Das wird durch den Generationenwechsel in Kombi mit den für meine Generation sehr unattraktiven Arbeitsbedingungen nur verstärkt werden. Wenig attraktive Stellen können nicht besetzt werden, vielleicht werden sich dadurch manche Unternehmen weiterentwickeln – Stichwort 4-Tage-Woche bei vollem Gehalt, 6-Stunden-Tage, Tandem-Modelle. Vielleicht werden einige Unternehmen schließen müssen, was – in Anbetracht der vielen unethisch agierenden fossilistisch-industriellen Konzerne – vermutlich nichts Schlimmes wäre. Zumindest nicht aus ökologischer Perspektive.
Zudem braucht es eine Umverteilung von Reichtum (Stichwort Grunderbe, bedingungsloses Grundeinkommen) und faire Erbschaftssteuern. Arbeit soll nicht vor Leben kommen!

Wenn du Arbeitskammerpräsidentin wärst, was wäre das Allererste, das du ändern würdest?

Die 40-Stunden-Woche (runter)
Die Höhe des Karenzgeldes (rauf)
Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds (rauf)
Die Höhe des Bürgergelds und der Mindestsicherung (rauf)
Zudem würde ich eine Grenze beim Monatseinkommen von CEOs in Relation zum am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter einführen.

 

 

Dieses Buch ist das Gegenteil von dem, was auf LinkedIn abgeht.
Hier gibt es keine Tipps für’s Bewerbungsgespräch – und kein schlechtes Gewissen, wenn du am Ende des Jahres keinen Meilenstein zu verkünden hast. Bianca Jankovska verbindet in ihrem Buch persönliche Anekdoten mit strukturellen Problemen und erzählt eindrucksvoll von Therapie im Kapitalismus, PMS und PMDS, von Privilegien-Checks, Kündigungserfahrungen, Scham, Schuld und Schmerz.
Willkommen in der feministischen Anti-Work-Bewegung: für Menstruierende, Arbeitende, Selbstständige und alle, deren psychischen und körperlichen Ressourcen von Tag zu Tag weniger werden.

Ab 06.06.2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich. 

Einen Auszug aus dem Interview haben wir vorab in unserem Newsletter gebracht. Du willst nichts mehr verpassen? Dann melde dich doch gleich an:

„Gasperlmaier hängt noch immer das Image des Tollpatschs nach.“ – Herbert Dutzler im Interview

Franz Gasperlmaier hat bereits im Bergwerksstollen ermittelt, sich im Fasching als Trommelweib getarnt, bei Verfolgungsjagden auf Gebirgsstraßen geschwitzt und dabei diverse Verbrecher*innen gestellt. Herbert Dutzler verrät uns, was „Letztes Zuckerl” für den Franz bereithält und inwiefern sich der Ermittler der Herzen über die Jahre verändert hat.

 

Seit Jahren dürfen wir Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen begleiten – in „Letztes Zuckerl“ bereits zum elften Mal. Was würdest du sagen, inwieweit hat sich Gasperlmaier in all den Jahren weiterentwickelt und inwiefern ist er der Alte geblieben? Und wie hat sich die Beziehung zwischen dir und deiner Romanfigur verändert?

Gasperlmaier hängt immer noch das Image des Tollpatschs nach, das ich ihm zu Beginn der Serie selbst verpasst habe. Mittlerweile hat er das Ungeschickte, Umständliche äußerlich abgelegt, das Zögerliche und Nachdenkliche aber sind ihm geblieben. Ich lasse Gasperlmaier nämlich immer noch sehr zaghaft auf Neues, Unerwartetes und Ungewöhnliches reagieren, das bringt auch Spannung in die Figur, sie muss sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen, wie zum Beispiel den Entwicklungen in seiner Familie.

 

Foto: © Haymon Verlag/ Fotowerk Aichner.

Ein altbekanntes Sprichwort lautet „Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen“. Glaubst du, Gasperlmaier würde diesem Spruch zustimmen?

Ja, sicher. Er macht sich um das Wohlergehen seiner Kinder und Enkel viele Gedanken, die ihm manchmal auch den Schlaf rauben. Da Gasperlmaier bereits im ersten Band fast erwachsene Kinder hatte, fehlt mir leider der Einblick in ihre frühe Kindheit und Jugend – welche Rätsel sie ihm damals aufgegeben haben, verbleibt im Dunkel der Vergangenheit. Aber vielleicht gibt es ja einmal einen Band „Gasperlmaier – the early years“!

 

Auch Internetkriminalität wird in „Letztes Zuckerl“ thematisiert. Musstest du selbst schon mal Erfahrungen mit Internettrollen machen?

Das ist mir bisher zum Glück erspart geblieben – obwohl: Bei einigen Büchern tauchten auf der Seite eines bekannten Onlineshops sehr kurz nach dem Erscheinen anonyme Ein-Stern-Bewertungen ohne Kommentar auf – da habe ich mir schon Gedanken gemacht, wer da wohl dahinterstecken könnte!

 

Wer auf der Suche nach einer Wohnung oder einem Eigenheim ist, weiß: Es ist schwierig, etwas Passendes und noch schwieriger, etwas Leistbares zu finden. Selbst im idyllischen Altaussee versucht jemand, dubiose Immobiliendeals zu machen. Hattest du selbst bereits mit Immobilienhaien zu tun?

Da muss ich ein wenig weiter zurückgehen: Während des Studiums habe ich mit meiner damaligen Freundin und jetzigen Frau in einer Garçonnière in Salzburg gewohnt. Der Besitzer verfügte, Gerüchten zufolge, über ca. 80 Wohnungen in Salzburg und hat während der insgesamt 5 Jahre, die wir dort verbrachten, die Miete um ca. 50% erhöht – da konnten wir zum ersten und einzigen Mal spüren, wie schwierig es sein kann, in Gegenden leistbares Wohnen zu finden, die sehr stark nachgefragt sind.

 

Der Franz ist traditionsverbunden, aber auch immer wieder bereit, sich auf Neues einzulassen. Was beschäftigt ihn derzeit? Was tut sich in seinem Leben?

Da gibt es tatsächlich einiges. Gasperlmaier macht sich zu viele Gedanken darüber, ob die Partner seiner Kinder auch wirklich die richtigen für sie sind. Da ist einmal Richelle aus Vancouver, die für seinen Geschmack etwas zu mondän und zu wenig naturverbunden ist. Ob das in Altaussee gut gehen kann, fragt er sich oft. Und die Frau seiner Tochter ist ja bekanntlich Journalistin, und er hat es nicht so gern, wenn sie zusammen mit seiner Katharina in Altausseer Interna herumwühlt. Und zu guter Letzt fragt er sich natürlich auch, ob er es bei der Polizei bis zur Pension schaffen wird – nach einem durchaus unerfreulichen Erlebnis im „Letzten Zuckerl“, über das nichts verraten werden soll. Aber es ist ihm ja schon einige Male übel mitgespielt worden, das darf man hier nicht vergessen!

 

Altausseer Landidylle, Opafreuden und Internetkriminalität  findest du in „Letztes Zuckerl” von Herbert Dutzler.

 

Full House bei den Gasperlmaiers!
Die bereits erwachsenen Kinder kehren mit ihren Familien zurück ins elterliche Nest und auch außerhalb des Gasperlmaier-Hauses geht es rund: Zuerst geschieht ein Unfall mit Todesfolge, dann gräbt ein Hund nicht etwa ein Stöckchen, sondern eine Leiche aus dem Schnee. Dass es Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen mit Männern zu tun bekommt, die sich mit Frauenhass brüsten, jemand um jeden Preis Altausseer Immobilien ergattern will und ein Hauch von Marihuanaduft in der Luft liegt, lässt seinen Vorsatz, es ruhiger anzugehen, gehörig wackeln.

 

Komm mit ins Ausseerland! Hier geht’s in die Welt von Franz Gasperlmaier.

Kriminell gute Weihnachtsgeschenke: Spannung unterm Weihnachtsbaum

Jedem Tierchen sein Pläsierchen – und jedem Krimifan sein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk. Das Krimi-Genre ist so verschieden wie die Geschmäcker, und den perfekten Krimi zu verschenken ist in vielerlei Hinsicht das perfekte Weihnachtsgeschenk: herrlich spannende Lektüre für die nebeligen Feiertage, ein guter Grund zum Liegenbleiben nach übermäßigem Genuss von Weihnachtsleckereien und die Freude über ein persönliches und wirklich passendes Geschenk. Damit das Krimigeschenk auch bestimmt ins Schwarze trifft, haben wir für euch die besten Tipps zusammengestellt.

Rabenschwarz, rasant und unglaublich wortwitzig: „Strippen statt sticken!“ von Tatjana Kruse.

 

Für die Humorvollen

Swinging in Schwäbisch Hall: Ex-Kommissar Seifferhelds schlüpfrigster Fall
Seifferhelds Freund und Ex-Polizeikollege Dombrowski (der von der Sitte!) hat Sorgen. Sein Neffe ist nämlich in einen alles andere als sittlichen Fall verwickelt: Der Schriftsteller weilt gerade dank des Comburg-Stipendium im schönen Schwäbisch Hall. Weil man aber nicht immer nur arbeiten kann, sondern auch etwas Abwechslung und Inspiration braucht, hat Dominik Dombrowski einen privaten Swingerclub aufgesucht – rein aus Recherchegründen, versteht sich. Hüstel. Dort verbringt er einen sehr vergnüglichen Abend mit einer jungen Frau. Doch als er mitten in der Nacht in einem der Nebenzimmer aufwacht, liegt die Frau erdrosselt neben ihm.

Tatjana Kruse, ungekrönte Königin der Krimödie, schafft pro Seite mehr Anschläge auf das Zwerchfell als manch zweistündiger Kabarettauftritt – Lachmuskelkater vorprogrammiert!

Zwischen Familienwahnsinn und mörderischer Castingshow: „Letzter Tropfen“ von Herbert Dutzler.

 

Für den Serienliebhaber

Verbotene Pillen und verhängnisvolle Fotos: Gasperlmaier ermittelt am Catwalk
Nicht genug, dass die Dreharbeiten einer bekannten Model-Castingshow mitsamt schriller Modelmama die beschauliche Idylle in Altaussee stören. Jetzt wird auch noch der Set-Fotograf tot im See aufgefunden. Das kommt für Franz Gasperlmaier höchst ungelegen, hat ihn schließlich das Hochzeitsfieber gepackt. Bevor seine Tochter Katharina ihrer Stefanie das Ja-Wort geben kann, gilt es nun also nicht nur deren etwas eigenwillige Eltern kennenzulernen, sondern auch die Ermittlungen im Dunstkreis der TV-Show aufzunehmen. Was für ein Glück, dass ihm Frau Doktor Kohlross mit ihrem flotten Flitzer zur Seite steht. Schon bald zeigt sich: Die ungeschminkte Wahrheit hinter der Model-Castingshow ist alles andere als schön.

Mit einer großen Portion Sympathie für Land und Leute zeichnet Herbert Dutzler seine Heimat – nicht ohne kritische Blicke auf die Schattenseiten des Landlebens und den touristischen Ausverkauf der Region.

Dublin online und offline: „Unfollow Stella“ von Ellen Dunne.

 

Für die Kosmopolitin

Patsy Logan sucht nach einem Neustart … und bald auch nach einer Vermissten
Patsy Logan, Kriminalhauptkommissarin aus München, steht ein paar Monate vor ihrem 40er und ist frisch getrennt, in Dublin, in einer beruflichen sowie privaten Auszeit. Unschlüssig, wie sie das Chaos um ihren Neuanfang in den Griff bekommen soll, entschließt sie sich dazu, abzuwarten – und erst einmal gar nichts zu tun. Während ihre Gedanken immer wieder um ihre berufliche Zukunft kreisen, bietet sich der Fall der verschwundenen Stella als Ablenkung an. Sam Feurstein, Polizeiattaché in der österreichischen Botschaft in Dublin, bittet Patsy um Hilfe bei der Suche nach der jungen Frau. Gemeinsam beginnen Patsy und Sam, die letzten Tage vor Stellas Verschwinden nachzuvollziehen. Tauchen tiefer ein in Stellas Doppelleben auf der Schattenseite der Sozialen Medien – und setzen dadurch eine Spirale immer bedrohlicherer Ereignisse in Gang.

Ellen Dunnes Kriminalromane sind ein bisschen wie frisch gezapftes Guinness: herb, dunkel, besonders und erfrischend köstlich.

Unkonventionell, ungleich und unwiderstehlich: „Schattenriss“ von Theresa Prammer.

 

Für den Theaterbegeisterten

Verliebt, verlobt, … verschwunden: ein neuer Fall für Toni und Brehm
Während der Sommerferien arbeitet die Schauspielschülerin Toni Lorenz mit Privatdetektiv Edgar Brehm. Doch die Beschattung vermeintlich untreuer Ehegatten müssen die beiden jäh unterbrechen, als sie eine dringende Nachricht erreicht: Ein junger Mann ist verschwunden. Und der Anruf kommt von einer Person aus Edgars Vergangenheit, die er eigentlich liebend gerne vergessen wollte. Doch das Vorhaben, sich aus der Sache rauszuhalten, geht so gar nicht auf, als auch noch eine junge Frau vermisst wird. Die beiden Fälle hängen zusammen – und bald schon merken Toni und Edgar, dass es ganz schön schwierig wird, alle Beziehungswirren, die die Vermissten und ihre Familien verbinden, im Blick zu behalten. Was genau ist zwischen den Vermissten vorgefallen, und warum wusste niemand von ihrem Treffen?

Theresa Prammer gönnt uns keine Atempause: auf Theaterbühnen und Filmsets, auf den Straßen Wiens, von der Donau bis in den Prater lösen Toni und Brehm Fälle, die unter die Haut gehen.

Ungeschönt mit Durchschlagkraft: „Zwischen euch verschwinden“ von Gudrun Lerchbaum.

 

Für die Sozialkritische

Zwischen Unsichtbar-Werden und der Angst gefunden zu werden
Maria wechselt ihre Identitäten, arbeitet mal da mal dort. Immer wieder wird ihre prekäre Situation schamlos ausgenutzt. Sie schwankt zwischen Passivität und Selbstermächtigung, sucht den Weg des geringsten Widerstandes, fügt sich und passt sich ihrer Umwelt geschmeidig an … so lange, bis es ihr reicht. Dass der Tod ihrer Mutter nicht der einzige Todesfall ist, in den sie involviert ist, und dass Maria nicht nur von der Polizei gesucht wird, lässt das Spiel mit der Identität zur Überlebensstrategie werden.

Gudrun Lerchbaum nimmt uns mit auf eine rasante Reise entlang der Schicksale jener Frauen, die ungesehen bleiben: da ist die pflegende Angehörige schwerkranker Eltern, da ist die Kellnerin in Schwarzarbeit, die ausgebeutet und erpresst wird, da ist die Ehefrau, die sich vor ihrem prügelnden Mann ins Frauenhaus rettet, und die 24-Stunden-Pflegekraft, von der viel mehr als nur Pflege erwartet wird.

Ein knallbunter Kriminalfall: „Lemmings Blues“ von Stefan Slupetzky.

 

Für die Tierfreund*innen

Wem hängen sie nicht schon längst zum Hals heraus? Die dauernden Sorgen um Corona, den Klimawandel und die generelle Weltlage …
Dem Lemming geht es ganz genauso. Deshalb steht für ihn fest: Wenn er Schriftsteller wäre, würde er diese Themen ruckzuck abarbeiten und sich dann endlich mit dem wirklich Wichtigen beschäftigen: seinem neuesten Fall. Der nämlich beschert ihm einen neuen Gefährten: Kuli, eigentlich Herkules, den Mops. Kuli befindet sich auf mysteriöse Weise plötzlich in seiner Detektei, scheint philosophisch versiert zu sein – und schwebt in Lebensgefahr. Denn eine Gruppe Schweißerbrillen tragender Wahnsinniger, die ihrer ganz eigenen Wahrheit anhängt, ist hinter ihm her. Und der Lemming? Der weiß plötzlich selbst nicht mehr so genau, was eigentlich wahr ist …

Stefan Slupetzkys Romane sind wie gute Musikstücke, die dich vor sich hertreiben, animieren und dann wieder sanft umschmeicheln. Mit Leopold „Lemming” Wallisch tauchst du ein in eine Welt, die permanent ihre Farben verändert, bis du nicht mehr weißt, was eigentlich real ist. Was im Übrigen ziemlich schön sein kann.

Rasante Action mit psychologischem Twist: „Böse Hoffnung“ von Thomas Baum.

 

Für die Adrenalin-Junkies

Kommissar Worschädl in seinem bisher persönlichsten Fall
Worschädl hat Schädlweh. Denn wieder einmal werden seine Kollegin Sabine Schinagl und er zu einem Verkehrsunfall gerufen – und das bei 36 Grad im Schatten. Was sollen sie als Kripo-Team dort? Am Tatort wird klar: Clemens Löffler, Motorradfahrer und Controller am Linzer Flughafen, wurde absichtlich überfahren – das bestätigt dem Linzer Ermittlerduo auch ein Augenzeuge. Als es ein zweites Mordopfer gibt, sind sich Worschädl und Schinagl sicher: Hier hütet jemand Geheimnisse. Um jeden Preis. Die beiden versuchen – entgegen aller polizeiinternen Widerstände –, mehr Klarheit in Löfflers Machenschaften zu bringen: Was genau geht am Zoll des Flughafens vor sich?

In einem atemberaubend temporeichen Fall muss Thomas Baums Ermittlerteam einige Regeln brechen, um Geschäfte aufzudecken, die zeigen: Wenn es um Einfluss und Geld geht, ist manchen Menschen kein Preis zu hoch.

Und für alle, die noch viel  mehr Krimi-Auswahl brauchen: Hier gibt es die besten Bücher für eine gelungene Bescherung!

Wir wünschen fröhliches Stöbern!

Lebende Vögel, hochpreisige Uhren und in Wein eingelegte Schlangen: Was sich in den Koffern von Reisenden versteckt. Ein Blick in den Alltag von Zollbeamt*innen.

In „Böse Hoffnung“ lässt Thomas Baum sein Ermittlerteam Robert Worschädl und Sabine Schinagl am Linzer Flughafen ermitteln, um düstere Machenschaften aufzuklären. Gerhard Matzer vom Zollamt Österreich kennt sie alle: die kreativsten Schmuggel-Verstecke und die absurdesten Güter, die am Zoll vorbei geschmuggelt werden.

 

Für Privatpersonen ist der Zoll oft etwas, dem sie gern heimlich entgehen würden, um Geld zu sparen. Was sind die kreativsten Verstecke oder Aktionen, mit denen Menschen versuchen, den Zollgebühren zu entkommen?

Schmuggelverstecke sind meist abhängig von der Art der Ware, die am Zoll vorbei in die Zollunion verbracht werden sollen. Zum Beispiel werden Schmuck oder hochpreisige Uhren getragen oder am Körper versteckt. Zigaretten und andere Tabakwaren werden oftmals aufwendig in bauartbedingte Hohlräume bei Kraftfahrzeugen eingebaut oder es werden hierzu extra Umbauten (doppelter Boden, …) an Kraftfahrzeugen vorgenommen.

 

Welche geschmuggelten Waren sind die skurrilsten?

Lebende Vögel wurden in leeren aufgeschnittenen Plastikflaschen im Reisegepäck aus Südamerika nach Österreich geschmuggelt und am Flughafen Wien entdeckt und beschlagnahmt. Die überlebenden Tiere wurden in entsprechende Quarantänestationen gebracht. Leider werden insbesondere im Bereich des Artenschutzes noch immer skurrile Dinge, wie in Wein eingelegte Schlangen, so genannte Snake Wines, oder auch Krokodilköpfe geschmuggelt.

 

Bei Schmuggelware denkt man oft an Zigaretten, Markenware oder auch Medikamente. Welche Produkte versuchen Personen häufig durch den Zoll zu schleusen, von denen man es nicht erwarten würde?

Es wird häufig versucht Waren, wie Fleisch, Käse, Honig, Eier, lebende Pflanzen, Gemüse und andere Lebensmittel, welche aus tierseuchenrechtlichen oder phytosanitären Gründen nicht eingeführt werden dürfen, in die Union zu verbringen. Es müssen jedes Jahr mehrere Tonnen solcher vom Zollamt beschlagnahmter und eingezogener Waren (hauptsächlich Fleisch, Milchprodukte und Gemüse) vernichtet werden.

 

Was passiert mit der Ware, für die Personen keine Zollgebühren bezahlen möchten?

Im Falle des Schmuggels ist nach dem Finanzstrafgesetz neben einer Geldstrafe auch grundsätzlich der Verfall (d.h. die Ware geht in das Eigentum des Staates Österreich über) vorgesehen. Verwertbare Waren, wie Schmuck, Uhren, … werden in der Folge oft versteigert.
Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, dass die Ware auch den Schmuggler*innen wieder überlassen wird. Dies kann entweder durch Rückkauf der für verfallen erklärten Ware oder durch Entrichtung des doppelten auf der Ware lastenden Abgabenbetrages (einfache Abgaben max. 1000 Euro) sein. Waren, bei denen der Besitz verboten ist (z.B. verbotene Waffen) oder bei deren Einfuhr besondere Voraussetzungen erfüllt werden hätten müssen (z.B. Vorlage bestimmter Zeugnisse, Bewilligungen oder anderer Dokumente) dürfen jedoch nicht überlassen werden.
Waren die nicht verwertet werden können, sind unter Aufsicht zu vernichten (dazu gehören Fleisch, Zigaretten, illegale Arzneiwaren, …).

 

Bei welchen Produkten denken viele Menschen, dass es illegal wäre, sie über die Grenze zu führen, obwohl sie tatsächlich erlaubt sind?

Zigaretten für nicht kommerzielle Zwecke (zur Abdeckung des Eigenbedarfs) dürfen aus einem Drittland in die Union eingeführt werden. Zu beachten ist jedoch, dass die Menge an Zigaretten, welche die Freimenge von 200 Stück überschreitet, beim Zollamt gestellt und zumindest mündlich angemeldet werden muss. Dies bedeutet z.B. am Flughafen, dass sich der Reisende in den „Rotkanal“ begeben und dort die Zigaretten mündlich erklären muss. Das Zollorgan überprüft die gemachten Angaben und berechnet die Höhe der zu entrichtenden Abgaben und teilt dies dem Reisenden mit. Nach Entrichtung dieser kann der Reisende mit den Zigaretten die Reise fortsetzen.
Waren, die keinen Verboten oder Beschränkungen unterliegen, können grundsätzlich unter Beachtung der geltenden Reisefreimengen und Reisefreigrenzen eingeführt werden. Wird eine Freimenge oder Freigrenze (z.B. Freigrenze von 430 Euro bei Waren, die im Luftverkehr durch Personen die 15 Jahre oder älter sind eingeführt werden) überschritten oder die Ware unterliegt einem Verbot oder einer Beschränkung unabhängig vom Wert, ist diese beim Zollamt zumindest mündlich anzumelden.

Beispiel: Die Einfuhr einer hochpreisigen Uhr aus Schweiz nach Österreich ist grundsätzlich erlaubt, übersteigt der Wert der Uhr die Reisefreigrenze von 430 Euro im Flugverkehr oder von 300 Euro bei der Einreise im Straßenverkehr, ist der Reisende verpflichtet die Uhr beim Zollamt an der Grenzzollstelle von sich aus anzumelden. Ist die Uhr mit einem Uhrband aus Krokodilleder ausgestattet, welches dem Artenhandelsgesetz unterliegt, ist unabhängig vom Wert der Uhr, diese beim Zollamt zu gestellen und von sich aus anzumelden. Die Einfuhrgenehmigung nach dem Artenhandelsgesetz ist dem Zollamt vorzulegen.

 

Welche ungerechtfertigten Vorurteile gibt es gegenüber dem Zoll?

Viele verbinden mit dem Zoll nur Kontrollen am Flughafen oder an der Zollgrenze zur Schweiz oder Liechtenstein. Tatsächlich nimmt der Zoll sehr viele Aufgaben zur Abwicklung des Warenverkehrs aus bzw. in Drittländer wahr. In einem Europa der offenen Grenzen hat sich das Gesicht des Zolls gewandelt. Neben der Erhebung von Steuern und Zöllen an der Grenze hat der Zoll heute noch viele andere wichtige Aufgaben: die Gewährleistung eines reibungslosen internationalen Warenverkehrs und eines fairen Wettbewerbs, der Schutz für Mensch, Tier oder Pflanzen, Wirtschaft und Umwelt im internationalen Warenhandel und damit im Binnenmarkt. Die Kontrollen des Zoll dienen aber auch dem Schutz der Verbraucher*innen vor mangelhaften Waren oder vor gefälschten Produkten. Durch Kontrollen im Bereich Artenschutz trägt er zum Erhalt der Artenvielfalt bei. Bargeldkontrollen fallen ebenfalls in das Aufgabenfeld des Zolls.

 

Rasante Action mit psychologischem Twist: „Böse Hoffnung“ von Thomas Baum.

 

Clemens Löffler, Motorradfahrer und Controller am Linzer Flughafen, wurde absichtlich überfahren – das bestätigt dem Ermittlerduo Robert Worschädl und Sabine Schinagl ein Augenzeuge. Als es ein zweites Mordopfer gibt, sind sich Worschädl und Schinagl sicher: Hier hütet jemand Geheimnisse. Um jeden Preis. Entgegen allen polizeiinternen Widerstände versuchen die beiden Klarheit in Löfflers Machenschaften zu bringen.
Worschädls Frau Karoline hat in der Zwischenzeit andere Sorgen: Ihre beste Freundin ist an Krebs erkrankt, doch die Therapie schlägt nicht richtig an. Das Seltsame: So geht es auch anderen Patient*innen, die dasselbe Medikament bekommen. Je mehr Karoline in dieser Causa recherchiert, desto mehr bringt sie sich selbst in Gefahr …

Mehr Infos zu dem Buch gibt es hier.

„Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch“ – Gespräch mit Bernhard Schöpfer, Gründer von „Der Fährmann”

2013 gründete Bernhard Schöpfer die Bestattung „Der Fährmann“  und damit einen Raum für alternative Verabschiedungen von  Verstorbenen. Das Unternehmen ist seitdem Anlaufstelle für Trauernde; neben der Unterstützung bei der Organisation traditioneller und individueller Abschiedsfeiern und Bestattungen liegt ein großer Fokus auf der Trauerarbeit, denn: Diese ist für die Hinterbliebenen genauso wichtig. Wir haben uns mit ihm über seine Arbeit, Abschiedsrituale und den Stellenwert des Todes in der Gesellschaft unterhalten.

Bernhard, wie kam die Idee für die Bestattung „Der Fährmann“? Was hat dich dazu gebracht, dich beruflich mit Tod und Abschied zu beschäftigen?

Die Idee kam aus dem Bedürfnis heraus, etwas an unserem aktuellen System der Beerdigungen zu ändern. Ich habe gemerkt, ich bin nicht ganz zufrieden mit der Trauerkultur, die bei uns üblich ist – etwas fehlt. Beerdigungen und die damit zusammenhängenden Abläufe werden meistens nach einem bestimmten Muster abgewickelt und möglichst schnell erledigt. Übrig bleibt danach in der Regel nur der Partezettel – der Raum, wo die Trauer ihren Platz findet, wird nicht ausreichend geöffnet für die, die einen geliebten Menschen verloren haben. Genau hier wollte ich ansetzen und eine Lücke füllen, den Hinterbliebenen und ihren Gefühlen Platz geben.
Und nicht zuletzt ist unsere Trauerkultur sehr eng mit dem christlichen Glauben verbunden. Es gibt kaum Rituale in Bezug aufs Begräbnis außerhalb der Kirche, ohne dass ein Pfarrer dabei ist. Viele wissen gar nicht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, im Sinne des*der Verstorbenen einen angemessenen Abschied zu bereiten.

Was genau macht „Der Fährmann“? Was unterscheidet euch von anderen, „klassischen“ Bestattungsunternehmen?

Wir bemühen uns dahingehend, dass auch Beerdigungen außerhalb der Kirche, unabhängig vom Kulturkreis, in welchem (nicht)religiösen Kontext auch immer, würdevoll stattfinden; nicht nur für den*die Verstorbene*n, sondern vor allem für die Angehörigen. Es ist Teil der Trauerarbeit, die wir machen, und diese muss unserer Erfahrung nach möglichst bald losgehen und nicht erst nach dem Begräbnis. Wir versuchen, die Menschen einzubinden, Möglichkeiten zu bieten, sich handlungsfähig zu erleben in ihrer Ohnmacht und nicht alles fernhalten.
Wenn jemand stirbt, kann man als Angehörige*r gewisse Dinge nur zu einem bestimmten Zeitpunkt machen – danach ist es unwiederbringlich. Ich kann nach der Beerdigung dem*der Toten nicht mehr ein letztes Mal über die Wange streicheln, die Hand halten und vieles mehr. Als Bestatter ist es meine Verantwortung, Räume dafür zu öffnen, unwiederbringliche Momente zu ermöglichen. Das kann unterschiedlich aussehen: die Angehörigen fragen, ob sie etwas tun wollen, den*die Tote*n nochmal berühren, zu ihm*ihr sprechen. Oft nehmen sie das dankend an, sind im Nachhinein froh, das getan zu haben. Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch. Deshalb sind Berührungen umso wichtiger in der Trauerarbeit. Beim Abschied von einem geliebten Menschen darf alles Platz haben, alles gesagt werden – auch, was nicht so gut war.

Auf der Homepage von „Der Fährmann“ ist immer wieder die Rede von „Abschiedsfeiern“ – das ist ungewöhnlich. Das Leben feiern – ja. Aber den Tod?

In der röm.-kath. Kirche gibt es einen Beerdigungsritus, der im Grunde immer gleich abläuft. Je nach Pfarrer hat daneben noch etwas Platz oder eben nicht. Wenn man sich für ein freies Begräbnis entscheidet, können Feiern sehr individuell gestaltet werden. Hier steht die verstorbene Person im Mittelpunkt und kann durch die zahlreichen Erinnerungen der Anwesenden noch einmal richtig aufblühen. Es entwickelt sich dadurch viel mehr Platz für Emotionalität, auch wenn man sich nicht bewusst dafür entscheidet, sich dem hinzugeben.
Rituale sind wichtig, um den Abschied zu begehen, ihn vor allem bewusst zu erleben, anstatt nur in starren Riten durchmanövriert zu werden. Trauern heißt auch aktiv zu sein, sich bewusst handlungsfähig zu machen und die Verabschiedung mit seinem Beitrag zu bereichern. Wenn sich der*die Verstorbene immer etwas Bestimmtes für das Begräbnis vorgestellt hat und ich setze mich dafür ein, dass dieser Wunsch erfüllt wird, dann habe ich etwas Schönes für sie*ihn getan. In meiner Erfahrung ist das ein sehr tröstlicher Gedanke für die Hinterbliebenen.
Im Vorfeld ist es natürlich hilfreich zu wissen: Wie will die Person beerdigt werden? Welche Rituale sind wichtig für sie? Das gehört ebenfalls zur Trauerarbeit: den Angehörigen aufzuzeigen, dass sie den Abschied aktiv mitgestalten können, um auch für sich einen Weg der Bewältigung des Verlusts zu finden.

Wie steht die heutige Gesellschaft deiner Einschätzung nach dem Tod gegenüber? Ist er Teil des Lebens oder immer noch ein schwieriges Thema?

Ich würde sagen, es ist nach wie vor schwierig. Die Art und Weise, mit der wir in der Gesellschaft mit dem Tod umgehen, ist geprägt davon, wie wir den Umgang damit erleben – eben meistens als schnelles Abwickeln der üblichen Abläufe ohne die Möglichkeit, angemessen zu trauern. In den letzten Jahrzehnten hat sich diesbezüglich viel getan. Früher war der Pfarrer zuständig, sich um das Seelenwohl des*der Sterbenden zu kümmern. Heute wird das ins Krankenhaus ausgelagert und es geht bis zum Schluss um Heilung. Mittlerweile wird durch Palliative Care versucht dem Sterbeprozess wieder Raum zu geben.
Noch ein kurzer Blick auf den Tod historisch gesehen: Wir haben eine Zeit der Weltkriege hinter uns, wo so viel Tod und Leid passiert ist, dass die Menschen wenig Möglichkeit hatten, die Trauer zuzulassen. Es herrschte eher das Motto „Jammer nicht, wir haben überlebt”. Mittlerweile ist das anders, da (zumindest in unserem unmittelbaren Umfeld) kein Krieg herrscht und der Abschied nun wieder besser möglich ist. Es zeigt sich auch eine erfreuliche Entwicklung in der jetzigen Zeit: Das Bedürfnis, zu trauern, wird wieder größer, die Menschen trauen sich wieder mehr, in diese Emotion reinzugehen.

Oft fällt es uns schwer, unser Beileid auszudrücken, die richtigen Worte zu finden. Wie kann man deiner Erfahrung nach auch ohne große Worte für Hinterbliebene da sein, ihnen Trost spenden?

Ich verstehe die Hilflosigkeit Außenstehender, wenn es um den Umgang mit Trauernden geht, gut. Worte bringen den Menschen nicht mehr zurück, machen die Situation nicht besser. Die Straßenseite zu wechseln, das Gespräch zu meiden, nichts zu sagen ist aber weit schlimmer. Es ist okay und wichtig, den Verlust feinfühlig anzusprechen und Beileid zu wünschen. Für die Trauernden kann diese Wertschätzung, die ihnen und dem*der Verstorbenen so entgegengebracht wird, sehr bereichernd sein. Und es braucht nicht unbedingt viele Worte – manchmal reicht ein feiner Händedruck, ein Blick, eine Berührung.

Du möchtest dich näher zum Angebot des „Fährmanns informieren? Hier geht es zur Website: https://www.der-faehrmann.at/home/ 

Lesen als Gegengift in lärmigen Zeiten – Dankesrede von Christoph W. Bauer anlässlich des Anton-Wildgans-Preises 2023

„Christoph W. Bauer ist in nahezu allen literarischen Genres zuhause. In seinen Prosa-Arbeiten, die vielfach im Grenzbereich zwischen Historiographie und Fiktion angesiedelt sind, dominieren Geschichten, die er im Alphabet ramponierter oder auch längst verschwundener Häuser ermittelt, sei es in Saint-Denis, sei es in Innsbruck-St. Nikolaus. Und in seinen Gedichten setzt Christoph W. Bauer mit seiner ganz eigenen Stimme souverän alle nur denkbaren lyrischen Formen ein, um in einer schier endlosen Kette von intertextuellen Bezügen, die von Homer und Catull über Dante und Villon und Borges bis zum Punk-Rock reichen, immer von neuem auf ein Spiel mit Möglichkeiten zuzusteuern, das ganz wenig übrig hat für scheinbar unverrückbare Gegebenheiten,“ heißt es in der Jurybegründung für den Anton-Wildgans-Preis 2023. Hier gibt’s Christoph W. Bauers Dankesrede in voller Länge zum Nachlesen: 

Sehr geehrte Damen und Herren,

vorab, ich rede nicht gerne, ich schreibe lieber, und noch weit lieber als das Schreiben ist mir das Lesen. Und wenn ich heute vor Ihnen stehe und diese Auszeichnung entgegennehmen darf, weiß ich, wem ich das zu verdanken habe: Dem Lesen. Alles, was ich über Literatur zu sagen weiß, hat mich das Lesen gelehrt. In der Auseinandersetzung mit den Werken anderer hat sich mein Denken geformt, meine Sprache. Ich bin durch die Schule des Lesens gegangen, durfte einige meiner Lehrerinnen und Lehrer persönlich kennenlernen, Julian Schutting, Robert Schindel, Sabine Gruber und Paul Nizon, um hier nur einige zu nennen. Sie haben mich durch ihren Zuspruch gefördert, vor allem aber durch ihre Bücher.

Ich habe keine Lehre abgeschlossen, die Universität einige Monate lang im wahrsten Wortsinn bloß besucht, war also Gast in einem Leben, das für mich keine Möglichkeit darstellte. Die Literatur jedoch begriff ich als ein Spiel mit Möglichkeiten, ein Spiel mit Masken, sie lehrte mich Alternativen, lehrte mich Aufbrüche, Ankünfte. Sie wurde mir Fluchthelferin, selbst wenn ich die Gefahr noch nicht erahnte, sie trieb mich an und ließ mich ins Leere laufen, düpierte meine Denkgewohnheiten, feite mich vor voreiligen Schubladisierungen; immer wieder war sie mir Fallenstellerin, auf sicheren Wegen wähnte ich mich, als sich plötzlich mit wenigen Worten ein Abgrund auftat. Ich lebte in den Tag hinein und dachte nicht an die Zukunft, ich setzte alles auf eine Karte, ich wollte, was ich tat: schreiben.

Das hat nun so gar nichts mit Berufung zu tun, sondern verdankt sich dem Umstand, dass ich mich in die Gegenwart immer erst hineinbuchstabieren muss, um sie mir greifbar zu machen, hineinzweifeln muss ich mich, nach jedem Aufwachen, Wort für Wort setzt sich ein Hier und Jetzt zusammen. Das mag hochtrabend klingen, pathetisch gar, ist aber bloß meinem Wunsch nach Neuanfängen geschuldet, literarischen Wahlverwandten gewiss auch, nicht zuletzt meiner Kindheit.

Vor mir ein Berg, hinter mir einer, links ein Berg, rechts ein anderer, dieses Bild stellt sich mir ein, wenn ich an meine Kindheit denke. Aufgewachsen im Tiroler Unterland, im Brixental, im Schatten des Hahnenkamms wurde mir dieses Bild zur Sprungfeder für Träume, Fantasien, nicht zuletzt für meine Neugier. Es muss noch etwas anderes geben als diese Berge, dachte ich, etwas anderes als Wachsgeruch in der Nase, etwas anderes als rote Tore, blaue, und jeden Tag Skiclubtraining und jedes Wochenende ein Skirennen, fünf vier drei zwo eins ab, fünf vier drei zwo eins ab, und runter den Hang, zweiter ist letzter, zweiter ist letzter, das war die Parole, mit der uns der Trainer in den Ohren lag.

Ja, es muss etwas anderes geben als die Sorge um ausgelastete Hotelbetten, als Nachbarn, die saisonlang mit ihren Kindern in die Keller ziehen, um ihre Schlaf- und Kinderzimmer an Gäste zu vermieten. Etwas anderes als postsaisonalen Baulärm und die herbstliche Zurüstung auf die nächste Wintersaison, schlicht etwas anderes als das Wort Saison, das wie ein Sesamöffnedich verwendet wird.

Etwas anderes als argwöhnische Blicke, die all jene trafen, die sich dem Ganzen entzogen, und die gab es freilich auch, solche, die sich abseits einer Melange aus Blasmusik und Hardrockklängen für andere musikalische Formen interessierten, für Bücher gar, oder sogenannte Zuagroaste. Letztere fielen auf, das hat sich bis heute nicht geändert. War ich einer von ihnen? Gewissermaßen ja. Der Herkunft meines Vaters geschuldet sprach ich zuhause Hochdeutsch, kaum hatte ich die elterliche Wohnung jedoch verlassen, redete ich im Dialekt, früh lernte ich, die Sprachebenen zu wechseln, eine Fähigkeit, wenn es denn eine ist, die ich noch heute beherrsche. Mein Vater zog Beethoven Mozart vor, meine Mutter konnte da nur protestieren, und beide lasen, Tolstoi, Dostojewski, aber auch Dante Alighieri, erinnere ich mich und sofort fällt mir ein, wie alleine die Namen der Schriftsteller meine Fantasie anregten.

Mein Lieblingsbuch im elterlichen Bücherregal war Meyers Universallexikon, in dem ich mich stundenlang vertiefen konnte – und dadurch so manches Skiclubtraining versäumte. Als Grund für mein Fehlen wagte ich, das Lexikon allerdings nicht zu nennen, ich erfand Geschichten, die zumindest für mich plausibel klangen, ich schwadronierte, ich war ein anderer. Ich verwandelte mich und spürte, dass Worte dies ermöglichten. Ob der Trainer mir die Geschichten abnahm, weiß ich nicht, sehr wohl aber, dass er mich ohnehin nicht als künftigen Skiweltmeister einstufte, was ihn mir plötzlich sehr sympathisch macht.

Vielleicht hätte er sogar am wahren Grund für mein Abwesenheit Gefallen gefunden, ja, ich hätte ihm erzählen sollen, was mich umtrieb: Worte, in deren Klang ich rote Tore und blaue Tore hinter mir ließ, ich war sozusagen über alle Berge, wenn ich das Lexikon aufschlug und Begriffe aneinanderreihte zu einer Zauberformel, die ich laut vor mich hin sprach: Madagaskar, Maracuja, Mare internum.

All das kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich in einen Zug einsteige, um ins Dorf meiner Kindheit zu fahren. Dann denke ich wieder an die Faszination, die von Worten ausging, an den Klang, den Worte auslösen können, ich denke an das Bücherregal meiner Eltern und daran, wie sehr sie mich im Lesen immer gefördert haben.

Diese Leseförderung versuche ich seit mehr als zwanzig Jahren auch an andere weiterzugeben, an Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen, ich gehe in Volksschulen, Hauptschulen, Abendschulen, ich gestalte Schreibwerkstätten, Lesungen, lasse mir selbst vorlesen – und merke erschreckend oft, wie sehr es dieser Förderung bedarf. Erst vor ein paar Tagen las ich in einer österreichischen Tageszeitung: „Rund eine Million Erwachsene in Österreich können nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen. 720.000 Menschen zwischen 16 und 65 befanden sich auf Lesekompetenzstufe eins. Das bedeutet, dass sie nur kurze Texte mit einfachen Vokabeln lesen und darin eine einzelne Information finden können, sofern der Text nur wenige widersprüchliche Informationen enthält. 140.000 Personen lagen unter der Kompetenzstufe eins. Sie haben Schwierigkeiten, Verträge zu lesen, Formulare auszufüllen, Beipackzettel von Medikamenten zu lesen oder sich an Fahrplänen zu orientieren. Die Mehrheit der Betroffenen hat Deutsch als Erstsprache, einen niedrigen formalen Schulabschluss trotz in Österreich erfüllter Schulpflicht.“

Wie kann das sein? Wieso misst man dem Lesen im Unterricht so wenig Wert bei? Oder ist es so, dass man die Leseschwächsten einfach mitzieht von einer Schulstufe in die nächste in der Meinung, sie würden ohnehin irgendwann in einem Beruf landen, und dann Extrawurst aufschneiden oder Weingläser nachfüllen oder unseren Müll wegräumen? Hauptsache, sie funktionieren, sie stellen nichts in Frage – wie es gute Literatur immer tun sollte.

Und warum überhaupt wird im Schulunterricht kaum noch Literatur vermittelt? Mehr noch: Warum wurde die Literatur in den letzten Jahrzehnten sukzessive aus den Lehrplänen gestrichen? Und durch welche Inhalte wurde sie ersetzt? Wie man einen Lebenslauf erstellt oder ein Bewerbungsschreiben formuliert, stand schon in meiner Schulzeit auf dem Lehrplan. Den Schülerinnen und Schülern wird hier – mit Vorsatz – etwas vorenthalten, worauf sie ein  Anspruch haben, etwas vorenthalten, das ihr Leben prägen könnte, das ihnen die Augen öffnen und sie dazu bestärken könnte, eine eigene Meinung zu entwickeln: Bildung durch Literatur.

Und ist nicht eine ausreichende Lesekompetenz die Grundvoraussetzung für Bildung schlechthin? Im erwähnten Artikel ist zu lesen: In unserem Schulsystem würden Kinder zwar lernen, wie das Lesen geht, aber das Einüben müsse außerhalb der Schule passieren. Wenn es die Eltern selbst nicht können, können sie die Kinder nicht unterstützen. In Österreich werde Bildung vererbt.“ Nun ja, überspitzt ausgedrückt wage ich die Behauptung: In Österreich wird Unbildung vererbt. Weniger spitz: Hierzulande erhält man Anerkennung über die verschiedensten Kanäle, aber kaum noch über Bildung. Auch eine Folge davon: Kunst und Wissenschaft werden abgetan, wer braucht sie denn noch.

Wenn ich mit Schülerinnen und Schülern arbeite, versuche ich, sie auf dem spielerischen Weg zum Lesen und Schreiben zu verführen. Und sie machen mit, sie wollen ihre Texte schreiben und vorlesen, sie erhalten Applaus. Und ich merke, wie viele von ihnen, gerade die Schreib- und Leseschwächsten, geradezu nach Anerkennung gieren. Sie erhalten sie, so wie ich sie heute erhalte, indem ich den Anton Wildgans Preis empfangen darf.

Bei Paul Nizon lese ich die Sätze: „Es ist ja nicht einfach nur Schicksal oder Pech, dass der eine im Lichte steht und der andere im Dunkel. Es ist die Frage: Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und als Schriftsteller weitermachen zu können.“ Lassen wir den Schriftsteller kurz weg. Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und weitermachen zu können? Egal in welchem Beruf. Wieviel braucht er?

Mir als Schriftsteller wird diese Anerkennung nun zuteil, sie ermöglicht es mir, meinen Weg unbeirrt weiterzugehen, ich setzte alles auf eine Karte, ich tue es immer noch. Anerkennung, also Respekt, und an Letzterem mangelt es leider viel zu vielen Menschen in diesem Land. Ein Blick in Online-Foren genügt, da wird gepostet, was das Zeug hält, Hauptsache, glauben und meinen und dabei zumeist nichts wissen. Unfassbar, mit welcher Häme und Respektlosigkeit hier abgeurteilt wird, ein hartes Wort, aber es trifft zu. Und wäre es nicht so beschämend, was meine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von sich geben, könnte ich mitunter sogar laut auflachen über diesen ungewollt spielerischen Umgang mit Sprache, der jede Grammatik und Rechtschreibung außer Kraft setzt, sodass man sich ob der Unverständlichkeit der geposteten Kommentare schon fragen will, in welcher Sprache sie verfasst worden sind.

Der spielerische Umgang mit Sprache war auch Anton Wildgans nicht fremd. Zumindest glaube ich ihn zu erkennen, schon in seinem frühen Stück Sappho, das er als Neunzehnjähriger schrieb, aber auch in späteren Arbeiten, in der Anverwandlung antiker Motive, in der Abwandlung antiker Versmaße. Ein Gedicht der frühgriechischen Dichterin verwende auch ich bei Lesungen in Klassenzimmern, ein Liebesgedicht, das ich nachgedichtet habe – und immer wieder bin ich erstaunt, welch großen Anklang es bei den Schülerinnen und Schülern findet. Floh Sappho mit ihren nur in Fragmenten vorhandenen Gedichten vor der Realität? Mitnichten.

Auch Anton Wildgans flieht nicht vor der Realität, im Gegenteil, er versucht, sich ihr einzuschreiben, er beschönigt nichts. Eines seiner Gedichte trägt den Titel „Ich bin ein Kind der Stadt“, was mich an dieser Stelle sagen lässt: Ich bin ein Hund meiner Zeit. Als solcher schnüffle ich herum, stöbere ich, belle schon mal vorlaut, aber nie ohne Grund, vor allem aber, ich bin wachsam. In Anton Wildgans Lebenszeit fallen der Zerfall der Monarchie, der Erste Weltkrieg, die Nachkriegszeit, in meine bisherige Lebenszeit der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege und zu viele andere mehr. Und nun erleben wir erneut einen Krieg, wir erleben ihn aus der Ferne, während andere ihn jedoch erleiden, erleiden müssen.

Wir leben in lärmigen Zeiten, Lesen könnte ein Gegengift sein, es ist ein stilles Unterfangen. Und schon klar, das Lesen kann keine Kriege verhindern, so naiv bin ich nicht, aber das Lesen schärft das Bewusstsein für Sprache. Kriege brechen nicht aus, sie sind keine Häftlinge, Kriege werden entfesselt, um im Bild zu bleiben, sie werden entfesselt von Demagogen, Verführern – diesen nicht immer ganz so rasch auf den Leim zu gehen, auch davor kann das Lesen feien.

Ja, lärmig ist unsere Zeit und voll der Debatten, und ich behaupte keineswegs, dass diese nicht geführt werden sollen, ich frage mich nur, warum sie immer so hitzig geführt werden. Und warum sich immer so viele daran beteiligen und das in einer Sprache, die – mit Verlaub – darauf schließen lässt, die Aufwiegler und Abwieglerinnen, die Aufwieglerinnen und Abwiegler haben nicht recht viel Literatur in ihrem Leben gelesen.  Ich will hier keine Beispiele nennen, ich denke, Sie finden selbst viele dafür.

Ich bin ein lesender Dichter, ein poeta legens, auch ein poeta ludens, ein spielender Dichter, was ich mit Sicherheit nicht bin, ein poeta vates, ein gottbegnadeter Seher, ein Genie. Gottbegnadet, ich habe das Wort mit Absicht gewählt, ein Begriff, den ich an sich aus meinem Vokabular gestrichen habe, weil er an die Liste der Gottbegnadeten erinnert in der Zeit des Nationalsozialismus, für mich ein verseuchter Begriff, aber erst das Lesen hat mich zu dieser Einsicht gebracht, das Lesen und sonst nichts. Lesen ist für mich in diesem Sinn auch ein Anlesen gegen das Vergessen, weil die gelesenen Werke ein Anschreiben gegen das Vergessen sind. Weil die gelesenen Werke der Geschichte einen Namen und ein Gesicht verleihen, weil sie Geschichte sichtbar machen. Wenn es heißt, dass Menschen nicht aus der Geschichte lernen, dann hat das auch diesen Grund: Weil sie nicht lesen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte mit einer ernstgemeinten Aufforderung schließen: Lesen Sie, und dann lesen Sie noch ein bisschen mehr, und dann, ja, dann lesen Sie halt bitte noch ein bisserl mehr! Herzlichen Dank.