Kategorie: Allgemein

Leseprobe aus „Muss ich das gelesen haben?“ von Teresa Reichl

Was wir lesen, ist eben, was wir lesen. Oder? Falsch. Welcome to patriarchy! Ja, das Patriarchat hat überall Einfluss – auch auf das, was und wie wir lesen. Wie könnte es sonst sein, dass „gute“ und „wichtige“ Literatur praktisch nur von Männern geschrieben wird?! Genauer von weißen, christlichen, heterosexuellen Männern ohne Behinderung aus der „oberen Gesellschaftsschicht“. Und warum wird über andere Autor*innen behauptet, sie hätten nichts geschrieben, wenn das doch gar nicht stimmt? Teresa Reichl hat die Schnauze voll davon. Es ist an der Zeit für den nächsten logischen feministischen Schritt: Die Literatur und ihre Geschichte werden umgeschrieben. Werden divers. Werden endlich korrigiert. Wie? Mit Basics zur Literaturgeschichte, einem ausgewachsenen Alternativ-Kanon und geballtem Wissen: in verständlich und für alle!

Vorwort
Servus und willkommen in meinem Buch! Wie wild, das zu tippen. Ich bin Teresa und ich wollte dieses Buch richtig lange richtig dringend schreiben. In der Schule war ich der Deutsch-Nerd, der zum Spaß so Sachen wie Gustav Freytags Die Technik des Dramas gelesen hat. Später dann habe ich Deutsch und Englisch auf gymnasiales Lehramt studiert – und selbst da war ich noch manchmal die größte Streberin im Raum. Das muss man echt erstmal schaffen. Sosehr ich alles geliebt habe, was ich lernen durfte, so sehr habe ich mich immer schon geärgert über scheinbar unveränderliche Leselisten, immergleiche Vorgehensweisen und Blickwinkel bei der Analyse oder Interpretation und müdes Lächeln auf Fragen, die ich wohl nicht hätte stellen – oder noch besser, gar nicht erst haben sollen. Dann habe ich angefangen, mich im Internetz über literarische Klassiker aufzuregen, mich in YouTube-Videos, Instastories und TikToks über Literatur zu freuen, sie zusammenzufassen und zu versuchen, einen Kontakt zu den Leuten herzustellen, die am meisten (und unfreiwilligsten) damit zu tun haben: Jugendliche. Und sie haben geantwortet. Ihr habt geantwortet. Ihr habt mich gefragt, was ihr euch im Unterricht nicht getraut habt zu fragen. Ihr habt verstanden, was ihr zuvor im Unterricht nicht verstanden habt. Und ihr habt euch bestätigt gefühlt, weil ich die gleichen Werke wie ihr gelesen und auch verstanden habe, sie aber trotzdem teilweise scheiße finde. Das ist erlaubt, es ist sogar normal. Bücher können die größten Klassiker der Welt sein und trotzdem euren persönlichen Geschmack nicht treffen. Darüber ist ein richtiger Austausch entstanden. Viele von euch haben anschließend tatsächlich Bock bekommen, die Werke zu lesen, die für die Schule gelesen werden sollten. Was mich allerdings am meisten umgehauen hat: Ihr habt begonnen, ein Mitspracherecht einzufordern darüber, was ihr in der Schule lesen sollt.
Erwachsene sind leider gut darin, sich darüber aufzuregen, dass Jugendliche immer weniger lesen, immer weniger davon verstehen, sich immer weniger für literarische Klassiker interessieren. Die eigentlichen Fragen sind jedoch: Ist das wirklich so und, falls ja, warum? Wenn ein literarischer Klassiker ach so zeitlos ist, wieso interessieren sich dann immer weniger Leute für ihn? Wieso finden Jugendliche (sowie Erwachsene) den Zugang dazu nicht mehr? Müssen Jugendliche wirklich ohne Hilfestellung Goethe lesen können? Müssen sie sich denn unbedingt ausschließlich in die Lage von längst toten weißen Männern versetzen? Gibt es nicht vielleicht (klassische) Literatur, die einen persönlicheren Zugang ermöglicht? Was zur Hölle sind Klassiker in der Literatur überhaupt, wer entscheidet das denn? Sind die wirklich so komplett genial, wie wir glauben? Und was können wir, die Erwachsenen, Lehrkräfte und Menschen, die Literatur vermitteln, tun, um den Zugang zu Klassikern leichter und diverser zu machen?
Jetzt hat sie schon in der Einleitung „weiße Männer“ gesagt, holy shit! Wenn wir schon dabei sind, kann ich da gleich noch ein bisschen aufräumen: Das hier ist kein Männerhassbuch. Es ist auch kein Autorenhassbuch (mit einer Ausnahme, hehe). Es ist auch kein Weiße-, Christ*innenoder cis Menschenhassbuch. Das hier ist ein Patriarchat und White Supremacy-Hassbuch. Ich hasse nicht, dass weiße Männer Bücher geschrieben haben. Ich hasse, dass Frauen und alle FLINTA+-Personen (also Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre und agender Personen), Bi_PoC Autor*innen (also Black, Indigenous und People of Colour), queere Autor*innen und Autor*innen, die behindert, nicht christlich oder aus der „Oberschicht“ sind, vom Schreiben, Veröffentlichen und Gelesenwerden abgehalten wurden und werden. Und, sorry not sorry, das ist die kollektive Schuld der weißen cis Männer. Lässt sich aber alles ändern (in verschiedenen Ausmaßen natürlich) und genau das soll dieses Buch zeigen.
Was wird also hier passieren? Drei Dinge im Groben. Zuerst schauen wir uns an, wozu Literatur eigentlich gut ist: Wieso gibt’s die, was tut sie, was bringt sie mir und was will die Schule damit? Was nützt mir das Analysieren und Interpretieren von Literatur fürs Leben und wieso muss ich die Epochen auswendig wissen? Solche Fragen. Im zweiten Teil nehmen wir den Schulkanon unter die Lupe, den es offiziell gar nicht gibt. Von dem außerdem immer behauptet wird, er wäre total neutral, objektiv und nach Niveau der Literatur zusammengestellt (Spoiler: Quatsch). In diesem Teil hinterfragen wir, wieso die brains hinter diesen Texten alles Männer sind, wieso die alle weiß, gebildet sind und aus den „oberen Gesellschaftsschichten“ kommen und so weiter. Und wo da die Diskriminierung steckt. Im dritten Teil werde ich dann zeigen, wen und was es da noch so gibt. Welche Werke und Stimmen verdrängt und aus dem Kanon verbannt wurden, wo die Frauen sind, die (gender)queeren Menschen, die Bi_PoC, die behinderten Menschen und so weiter. Es soll dabei auch um die Frage gehen, wie wir es vielleicht hinkriegen, dass diese Bücher auch Jugendliche (wieder) interessieren – und zwar mehr als den einen Nerd in der Klasse.
Versteht mich bitte nicht falsch: Ich liebe Literatur. Vielleicht mehr, als gut für mich ist. Ich liebe auch klassische Literatur. Nur war ich damit vor zehn Jahren schon die Ausnahme im Klassenzimmer und das ist so, so schade. Wer also einen Blog hat und bereits die Clickbait-Schlagzeile „Influencerin cancelt im Rundumschlag die ganze deutschsprachige Literatur“ vorbereitet hat, soll bitte erstmal weiterlesen. Wir sind auf derselben Seite, ich versprech’s.
Dieses Buch hier ist übrigens mit Absicht nicht in wissenschaftlichem Sprachstil geschrieben. Bücher über Literatur sind fast immer von und für Literaturwissenschaftler*innen. Und wenn Teenager keinen Bock haben, Goethe zu lesen, haben sie auch keinen Bock, einen wissenschaftlichen Aufsatz über Goethe zu lesen, komplett verständlich. Da mein Buch für alle lesbar sein soll, besonders für Jugendliche, die sich mit Literatur befassen möchten (oder müssen), gebe ich mein Bestes, mich so einfach wie möglich auszudrücken – und so, wie ich mit 16 gewollt hätte, dass es mir jemand erklärt.
Trotz aller Einfachheit will ich so genau wie möglich sein. Deshalb werde ich nur von „Autoren“ schreiben, wenn ich nur Männer meine. Genauso wie ich „Autorinnen“ nutze, wenn ich nur Frauen meine, und Autor*innen, wenn ich alle Geschlechter meine (nicht beide, alle!). Und wo man über Diskriminierung spricht, muss man ganz klar über Rassismus sprechen. Deshalb wird von weißen Autor*innen, Black, indigenous und/oder Autor*innen of Colour die Rede sein (gesammelt abgekürzt Bi_PoC). Diese sprachliche Unterscheidung macht die strukturelle, unser gesamtes gesellschaftliches System betreffende Diskriminierung sichtbar, unter der negativ Betroffene täglich leiden. Dementsprechend schreibe ich auch weiß kursiv und Schwarz groß. Das waren jetzt viele Fach- und Fremdwörter auf einmal, ich weiß. Zum Schluss ergibt das allerdings alles Sinn, trust me.
Ich bin mir sehr bewusst darüber, dass ich dieses Buch als nicht-behinderte, weiße cis Frau schreibe, also aus einer sehr privilegierten Position heraus. Deshalb schreibe ich hier teilweise über Diskriminierung, die ich nie erfahren habe und nie erfahren werde, und das ist immer eine schwierige Gratwanderung. Weil ich einerseits den Raum, der mir hier gegeben wird, nutzen und möglichst viel beleuchten will – und nicht nur das, was mich persönlich betrifft. Weil ich den Raum und die Privilegien, die ich habe, auch als Verpflichtung sehe, meinen Beitrag zu leisten. Es kann schließlich nicht immer nur an negativ Betroffenen hängenbleiben, aufzuklären und auf strukturelle Diskriminierung hinzuweisen. Und das ist, was ich hier tun will. Auf der anderen Seite will ich natürlich keinen Raum einnehmen, der mir nicht gehört oder zusteht. Deshalb verlasse ich mich an vielen Stellen auf die Expertise negativ betroffener Personen.
Man könnte über jedes Kapitel in diesem Buch ein ganzes Buch schreiben – und über manche Kapitel gibt es bereits welche. Was ich hier tun will, ist: zusammenfassen und in Zusammenhang setzen. Denn Feminismus darf nicht nur darauf aus sein, weiße Frauen weißen Männern gleichzustellen, sondern er muss gegen alle strukturellen Diskriminierungen kämpfen. Wenn ich also „feministisch“ schreibe, meine ich intersektionalen Feminismus. Also einen Feminismus, der berücksichtigt und sichtbar macht, dass Menschen mehrfach marginalisiert und auch mehrfach privilegiert sein können. Nur dadurch wird eine bessere und gerechtere Zukunft für alle möglich. Vor diesem Hintergrund will ich zeigen, wer im literarischen Kanon alles nicht auftaucht, warum das so ist und dass es noch sehr viel mehr Werke gäbe, die in diesen Kanon gehören sollten. Müssen sogar. Okay? Cool.
Also, auf los geht’s los.
Los.

Der Kanon ist ein Gewohnheitstier
Ich verstehe also rein strukturell echt, wieso die meisten Werke, die man in der Schule liest, von weißen, christlichen, hetero cis Männern ohne Behinderung aus der „oberen Gesellschaftsschicht“ sind. Sie hatten in der Literatur immer schon die Oberhand, die Werke sind bekannt, die Autoren sind bekannt, und, ja, ich gebe es zu, die meisten Werke, die es gibt, sind von ihnen. Doch das ist eben nicht einfach so passiert, sondern liegt daran, dass alle anderen aktiv unterdrückt wurden. Ich kann ja aber nicht die Erste sein, der dieses Ungleichgewicht aufgefallen ist¹ – bin ich auch nicht! Bei weitem nicht. Es gibt schon so viele Bücher und Artikel und Projekte für einen diverseren Kanon. Kritik an kanonisierter Literatur gibt es also schon lange und sie wird immer lauter – nur leider kommt sie immer nur von Einzelnen und meist auch eher aus wissenschaftlichen Kreisen, wodurch sie nicht bis außerhalb dieser Grenzen dringt. Aber wieso wird denn immer noch das Gleiche gelesen, wenn man längst weiß, dass es viel mehr gibt? Der Grund, wie immer: das Patriarchat, White Supremacy und die Macht- und Diskriminierungsstrukturen, in denen wir leben. Die gibt es schon sehr lang und deswegen ist es super schwierig, sie aufzubrechen. Wir müssen aber. Vielleicht kann ich dafür ein paar Schrauben aufzeigen, an denen man drehen kann.
Ein Grund dafür, dass in der Schule immer das Gleiche gelesen wird, ist der damit verbundene Aufwand für die Lehrkräfte. Ist das Buch lieferbar? Wie teuer ist es? Gibt es Unterrichtsmaterial dazu? Gibt es Filme oder Inszenierungen online? Das alles muss man erst mal checken, bevor man ein Buch auf die Leseliste setzt. Da spielen Verlage, wie zum Beispiel der Reclam Verlag, eine große Rolle. Denn die meisten Bücher, die ich in der Schule gelesen habe, gab es als günstige Reclam-Ausgabe und das hat mir den Arsch gerettet. Sie sind klein und günstig und sie machen klassische Literatur leichter zugänglich. Und es gibt Lektüreschlüssel und Ausgaben für Schüler*innen, in denen Wörter oder Anspielungen erklärt werden. Ich besitze selbst über 100 von den Dingern² und liebe sie komplett. Natürlich gibt es noch die Hamburger Lesehefte oder andere Verlage, aber Reclam hat schon eine gewisse Oberhand – und damit auch eine große Verantwortung. Zum Beispiel gibt es beim Reclam Verlag Sonderausgaben für die größten Schulklassiker und da ist exakt eine Frau dabei: Annette von Droste-Hülshoff mit Die Judenbuche. Von den 23 Autor*innen sind auch nur fünf nicht christlich und das sind Sophokles, der im antiken Griechenland lebte, und Kafka, Schnitzler, Heine und Zweig, die Juden waren. Schwarze Menschen, indigene Menschen und Personen of Colour sind keine dabei. Genauso wenig eine (offen) queere Person, eine behinderte Person oder eine aus der „Arbeiter*innenklasse“, geschweige denn eine mehrfachmarginalisierte Person. Begründet hat Reclam das damit, dass sie sich mit ihren Programmen einfach nach den Lehrplänen richten – Ministerien aber sagen, sie orientieren sich am Reclam Verlag und damit daran, was günstig und lieferbar ist. Dabei hätten beide Seiten, also Verlage und Ministerien, die Macht, sich gegenseitig zu beeinflussen. Und entweder checken sie das nicht, oder sie wollen einfach nicht anders.
Wie ganz am Anfang des Buchs schon gesagt: Damit will ich überhaupt nicht die Lehrkräfte bashen, ich will nur betonen, dass die Verantwortung für den Schulkanon hin- und hergeschoben wird. Damit „neue“ Klassiker verlegt werden, braucht es Nachfrage. Es muss jemand anfangen – sei es eine übermotivierte Lehrkraft oder ein Kulturministerium. Auch die Verlage könnten bestimmt ein bisschen mehr Aufsehen für „neue“ Klassiker generieren, wenn sie wirklich wollen würden. Das Problem ist eben fehlendes Interesse. Der Kanon wird nicht hinterfragt, geschweige denn geändert. Viele Lehrkräfte wollen nichts lesen, bei dem es eventuell ein bisschen zu viel um Sexismus, Rassismus, Klassismus oder Ableismus geht oder einfach um marginalisierte Perspektiven. Weil das unbequem ist und Arbeit macht. Oder leider, weil immer noch viele Menschen denken, das gäbe es alles gar nicht und die jungen Leute wären alle „snowflakes“ – was natürlich kompletter Quatsch ist, wir fordern nur unsere Rechte ein. Ich versteh auch irgendwie, dass das ein bisschen viel ist alles, aber so geben wir diese Diskriminierungen halt Generation um Generation weiter anstatt sie zu bekämpfen und zu beenden. Und damit ist wirklich niemandem geholfen. Nicht den Autoren, die längst tot sind, nicht dem Unterricht oder den Lehrkräften und vor allem nicht den Kindern und Jugendlichen. Diskriminierung existiert nun mal, wir werden die nicht von heute auf morgen beseitigen können. Negativ Betroffenen zuhören und von ihnen lernen (und sie entsprechend entlohnen!), sich der eigenen Privilegien bewusst werden und sich selbst hinterfragen wären schon mal geile erste Schritte, find ich.
Ein weiterer Grund ist auch relativ simpel: fehlendes Interesse an der Sache insgesamt. Ich will der Literaturwissenschaft jetzt nicht zu nahetreten, doch für die meisten Leute ist das nicht das spannendste Feld der Welt, schon überhaupt nicht für Jugendliche. Die Diskussion darüber, was jetzt genau an Schulen gelesen werden sollte, ist eben sehr literaturwissenschaftlich. Heißt, es wird hauptsächlich an den Universitäten diskutiert, auch da mehr unter den Dozierenden als den Studierenden oder angehenden Lehrkräften. Wenn dann Artikel oder Sachbücher rauskommen, die sich mit dem Thema befassen, wer liest die? Leute, die sich eh schon sehr für Literaturwissenschaft interessieren. Und das sind nicht unbedingt die Deutschlehrkräfte (die haben wissen müssen) und auf keinen Fall die Schüler*innen. Das ist eigentlich genau, was ich mit diesem Buch will: das Thema an die Schüler*innen und jungen Menschen bringen. Weil genau ihr mir gezeigt habt, dass eine Veränderung so herum klappt.
Meine Videos im Internet hatten nie den konkreten Plan, relevant für den Deutschunterricht zu werden, wirklich nicht. Mein Konzept am Anfang, als das YouTube-Format noch „Drunk Classics“³ hieß, war, mir zwei Weinschorlen in den Kopfbahnhof zu schaffnern und über klassische Literatur zu ranten – weil ich das ein bisschen zu gern mache, weil es die Leute in meinem Privatleben herzlich wenig interessiert und auch einfach, weil halt Lockdown war und ich was zu tun brauchte. Was dann aber passiert ist, seid ihr Geilen. Ihr habt meine Videos Lehrkräften gezeigt und, noch viel krasser: Ihr habt angefangen, zu diskutieren, was ihr lesen wollt und was nicht. Meine Videos konnten so beispielsweise schon einige Klassen davor bewahren, Die Marquise von O. … zu lesen – weil ihr euch gewehrt habt! Wenn du also der eine Literaturnerd in deiner Klasse bist, der dieses Buch gelesen hat: Danke dir! Fang an, zu diskutieren! Der dritte Teil dieses Buches ist komplett voll mit Alternativen für (ich hoffe) jede Vorgabe im Literatur-Lehrplan. Niemand soll je wieder alternativlos Die Marquise von O. … oder Effi Briest lesen müssen.
In der klassischen Literatur haben wir also leider im Vergleich wirklich wenig, was nicht von weißen, christlichen cis Männern geschrieben wurde (oder wo zumindest ihr Name draufsteht). Das ist super schade, aber leider auch nicht mehr wirklich zu ändern. Es kann natürlich gut sein, dass noch ein paar Mal rauskommt, dass in Wirklichkeit die Frau des ach so großen Dichters und Denkers „genial“ war und er einfach seinen Namen auf ihr Werk draufgeklatscht hat. Oder dass noch ein paar verdrängte Werke auftauchen. Aber wir werden einfach damit arbeiten müssen, dass wir – zumindest wenn wir uns mit Klassikern beschäftigen – nicht immer eine andere Perspektive als diese haben. Da sollte es doch förderlich und wünschenswert sein, an den Stellen im Lehrplan, wo man Literatur von marginalisierten Menschen zur Verfügung hat, ebendie zu lesen. Gezielt und mit Absicht. Das heißt auch, dass man absichtlich etwas liest, was (noch) nicht zu 110 Prozent Klassiker ist wie das. Das wird sich aber erstens mit der Zeit ändern – weil was Klassiker sind, entscheiden wir, und was wir unaufhörlich lesen, wird zum Klassiker – und zweitens muss es uns das wirklich wert sein, finde ich. Wenn es sowieso Stellen im Lehrplan gibt, wo es beispielsweise um Frauen oder Menschen aus der „Arbeiter*innenklasse“ geht, dann sollten wir uns zumindest bemühen, Bücher zu lesen, die von negativ Betroffenen selber kommen. Damit nicht nur über sie gelesen und geredet wird, sondern wirklich ihre Perspektive gesehen und gelesen wird. Das wäre nicht nur schön, es ist einfach nötig.


¹ Ich find mich schon clever, aber so clever bin ich auch nicht.
² Das ist der nischigste Flex, den ich je gemacht habe, und ich bin komplett stolz drauf.
³ Das musste ich ändern, weil der Algorithmus das gehasst hat.

Leseprobe aus „Du Herbert“ von Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser

Eine Komposition männlicher Gewalt: Im Jahr 2020 gab es auf orf.at über 450 Berichte über Gewalt von Männern. Die Zahl scheint hoch, doch umfasst sie längst nicht alle Taten. 450 Screenshots, die als Ausgangspunkt für „Du Herbert“ dienen – eine Auseinandersetzung mit der Grausamkeit, die den gewalttätigen Handlungen zugrunde liegt: Männlichkeit. Bereits in der Einleitung zum Buch trifft uns die grausame Realität wie ein Schlag in die Magengrube. Einmal mehr. Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser haben die Normalität männlicher Gewalt in Kunst verwandelt, die nicht mehr loslässt. Literatur, Wissenschaft und Beweisführung vereinen sich und machen deutlich: Die Auswirkungen von Männlichkeit sind keine Minute länger erträglich.

Anleitung zur Grausamkeit!

Männliche Gewalt ist allgegenwärtig. Ob in Beziehungen, im Berufsleben, an öffentlichen Orten oder in dunklen Ecken: Es sind in der Regel Männer, die zerstören, verletzen, rauben, morden, über andere herfallen, Macht und Kontrolle ausüben und ihre langsam bröckelnde Vorherrschaft um jeden Willen verteidigen wollen. Sie stellen eine Bedrohung für sich selbst und ihre Umwelt dar, glauben sich dennoch stets im Recht und verstehen sich als Ma stab aller Dinge. So sind diese toxischen Verhaltensweisen auch Beweis dafür, dass unzählige Männer nie gelernt haben, mit Konflikten, Streit und Zurückweisung konstruktiv umzugehen und sich selbst sowie mit männlicher Sozialisation verbundene Privilegien einer kritischen Reflexion zu unterziehen.
Ein Jahr lang – 2020 – haben wir Screenshots der orf.at-Startseite (Chronik Österreich) gesammelt, um zu dokumentieren, in welcher Fülle und Rasanz die unterschiedlichsten Taten von Männern begangen werden. Sie liefern die Grundlage für die hier abgedruckte, vielschichtige Auseinandersetzung mit der Gewaltförmigkeit unterschiedlicher Männlichkeiten, die sich aus dokumentarischen, literarischen wie auch wissenschaftlichen Elementen speist und ein hybrides Text-Bild-Format entstehen ließ. Aus den Geschichten und Themen der Berichterstattung sowie der darin erwähnten Gewalttaten von Männern schuf Lydia Haider das hier vorliegende literarische Werk, das von Judith Goetz durch die Taten erklärende Fußnoten ergänzt wurde, während Marina Weitgasser die von ihr gesammelten Screenshots aufgearbeitet und im Text platziert hat.
Die rund 450 Berichte, die wir dabei zusammengetragen haben, stellen jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aller gewalttätigen Handlungen von Männern dar, da unsere Sammlung doppelt begrenzt wurde: einerseits dadurch, welche Taten – beispielsweise über Anzeigen, polizeiliche Meldungen oder politische Skandale – überhaupt Eingang in die öffentliche Wahrnehmung fanden, und andererseits dadurch, welche Ereignisse orf.at als so relevant eingestuft hat, dass sie es auf die Startseite schafften. Die sogenannte Dunkelziffer muss folglich noch deutlich höher eingeschätzt werden.
Die Informationen, die wir aus den Beiträgen zusammengetragen haben, sind oft selektiv und spärlich. Durch die Berichterstattung finden bereits erste Interpretationen statt, und bei vielen Einordnungen handelt es sich um Spekulationen, da ausreichende Informationen oftmals fehlen. Diese Herausforderungen haben an dieser Stelle jedoch keine Bedeutung, denn letztlich sind die konkreten Taten und Täter austauschbar, weil sich ähnliche Muster immer wieder wiederholen. Entsprechend kam es im Jahr 2020 nicht nur einmal dazu, dass Burschen oder Männer aus Langeweile mit verschiedenen Waffen aus ihren Wohnungen schossen oder im stark alkoholisierten Zustand sowie unter Drogeneinfluss (zu schnell) Auto fuhren und dadurch andere Menschen verletzten oder zumindest gefährdeten. Zigfach missbrauchten Männer in diesem Jahr Kinder, Mädchen wie Burschen und Frauen sexuell, bedrohten andere Menschen – häufig mit dem Umbringen – und/oder taten ihnen Gewalt an. 31 Mal wurden Frauen von Männern ermordet, in den allermeisten Fällen kannten sich Opfer und Täter und standen entweder in einer (Liebes-)Beziehung zueinander oder hatten sich gerade getrennt. Oft sind die den Taten zugrundeliegenden Motive (noch) unbekannt, und werden diese in der Berichterstattung genannt, stehen nicht selten verharmlosende, sexistische Deutungsmuster wie Eifersucht als Begründung der Taten im Mittelpunkt. So zeigt sich wiederholt, dass Trennungen und Scheidungen die gefährlichsten Phasen im Leben von Frauen darstellen, da zahlreiche Gewalttaten gegen Frauen – auch in diesem Jahr – genau zu ebendiesen Zeitpunkten verübt wurden.
Wenngleich die häufigsten Mittel der männlichen Gewaltanwendung 2020 (Küchen-)Messer und Schusswaffen sowie körperliche Gewalt darstellten, reichten sie von einem Fondue-Spie , einem Sparstrumpf über Schwerter, Schnitzelklopfer, Golfschläger, Pfefferspray, Schraubenzieher, Macheten bis hin zu Schuhlöffeln, Lattenroststangen oder Äxten und Hundeleinen. Ebenso unterschiedlich sind die beruflichen und sozialen Hintergründe der Täter, zu denen neben (hochrangigen) Polizisten oder (Polizei-)Ärzten u.a. auch Gastwirte, Köche, Lehrer, Bankmanager, Feuerwehrmänner, Politiker, Busfahrer oder (einfache) Jugendliche zählten. Entgegen hegemonialer Vorstellungen findet männliche Gewalt in allen Berufsgruppen statt und wird mit allen möglichen und vorhandenen Mitteln von Männern ausgeübt. Durch den Ausbruch von Covid-19 zeigte sich zudem spätestens ab Mitte März 2020, dass zahlreiche Taten in direktem Zusammenhang mit der Pandemie oder den Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung standen.
Wenn wir im Folgenden Bezug auf die in Österreich von Männern verübten Gewalttaten nehmen, verzichten wir darauf, diese im Konjunktiv zu beschreiben und von Unschuldsvermutungen oder ‚mutmaßlichen‘, ,vermeintlichen‘ oder ,angeblichen‘ Tätern zu schreiben – auch wenn entsprechende strafrechtliche Verurteilungen zumeist (noch) nicht gegeben waren oder bis heute nicht sind. Wir haben diese aus mehreren Gründen nicht weiterverfolgt oder recherchiert. Weder schenken wir der Berichterstattung, die unsere zentrale Informationsquelle darstellt, kritiklos Glauben, noch vertrauen wir der Polizei und Justiz, geschlechtsbezogene Gewalt als das zu erkennen, was sie ist, und sie innerhalb des bestehenden Rechtssystems adäquat bestrafen zu können. Nicht zuletzt wissen wir, dass Bestrafungen oder auch die Androhung selbiger Täter nicht davon abhält, anderen Menschen Gewalt anzutun, und entsprechend sehen wir den Handlungsbedarf auch und vor allem an anderer Stelle. Insofern ist es für unser Projekt irrelevant, ob und wer rechtlich belangt wurde oder nicht, und so werden Verurteilungen ebenso wie Freisprüche nur dann erwähnt, wenn sie Thema der gesammelten Berichte sind. Wir setzen die beschriebenen Taten als gegeben, denn selbst wenn sich eine dieser unzähligen ungeheuerlichen Geschichten als unwahr herausgestellt hätte oder ein Täter – aus welchen Gründen auch immer – freigesprochen worden wäre, können wir uns sicher sein, dass die erwähnten Taten auf ähnliche Art und Weise in anderen Kontexten von Männern verübt wurden (und lediglich von der Berichterstattung unerwähnt blieben). Sie fungieren somit als Ausgangspunkt unseres Texts, den wir mit der Intention verfasst haben, männliche Gewalt und patriarchale Verhältnisse sichtbar zu machen und zu benennen. Es geht uns dabei weniger um die individuellen Vorfälle, als darum, die hohe Frequenz, Brutalität und Systematik, mit der die Taten vollzogen werden, aufzuzeigen.
In unserem Text verzichten wir weitgehend darauf – wie in der österreichischen Berichterstattung zumeist üblich –, die in den Reisepässen angegebenen Staatsbürgerschaften oder sogenannten, ‚ursprünglichen Herkunftsländer‘ der Täter zu erwähnen, weil wir glauben, dass diese Informationen in erster Linie dazu dienen, Rassismus zu schüren und von den eigentlichen Problemen abzulenken. Alle in unserem Text erwähnten Täter teilen sich schließlich nicht den gleichen Geburtsort, sondern weisen eine andere, ganz zentrale Gemeinsamkeit auf: ihre Männlichkeit. Auch die hinter den Taten stehenden Legitimationsmuster wie die Vorstellung männlicher Überlegenheit, Dominanzansprüche, patriarchales Besitzdenken und Kontrollstreben, Selbstüberschätzung oder heteronormative Geschlechterrollen unterscheiden sich weniger im Hinblick auf Nationalitäten als auf gelebte und angestrebte Männlichkeitsbilder. So haben selbst Dschihadisten mit autochthonen Rechtsextremen mehr gemeinsam, als ihnen lieb ist.
Da die Berichterstattung, auf die wir Bezug nehmen, von einem binären Geschlechtersystem ausgeht und nur Männer und Frauen als geschlechtliche Identitäten anerkennt, haben wir diese Logik in unserem Text übernommen, auch wenn wir wissen, dass sich abseits dieser Positionen noch viele andere geschlechtliche Lebensentwürfe finden. Diesen Widerspruch, dass wir von den Gewalttaten aus jenen Medien erfahren, die geschlechtliche Vielfalt nicht berücksichtigen und es daher verunmöglichen, die jeweiligen Selbstbezeichnungen der Betroffenen adäquat wiederzugeben, konnten wir hier folglich nicht auflösen. Dennoch ist es nicht unsere Intention, dazu beizutragen, die Lebensrealitäten und insbesondere die Gewalterfahrungen von Lesben, intergeschlechtlichen, nichtbinären und trans* Personen unsichtbar zu machen. Vielmehr wollen wir dazu auffordern, beim Lesen des Texts immer mitzudenken, dass nicht alle von Gewalt Betroffenen sich in der Geschlechterdichotomie von Mann und Frau wiederfinden – auch wenn die jeweiligen Identitäten nicht immer explizit benannt werden (können).
Nicht nur die Gewalttaten selbst, sondern auch die Art und Weise, wie darüber auf orf.at berichtet wird, macht Teil unserer Auseinandersetzung aus. Neben den bekannten irreführenden und dadurch verharmlosenden Schlagwörtern wie ‚Bluttaten‘, die 26 Mal in der Berichterstattung vorkommen oder ‚Beziehungstaten‘, die fünf Mal erwähnt werden, ist die Häufigkeit, mit der orf.at von ‚Situationen‘ (34 Mal) oder ‚Streits‘ (145 Mal, davon zehn Familien- und vier Beziehungsstreits) schreibt, die ‚eskaliert‘ (39 Mal) seien, gelinde gesagt, auffallend. Gerade die Rede von ,Situationen‘ versucht vermutlich, Bewertungen und (vorschnelle) Einordnungen zu vermeiden, um dadurch vermeintliche (journalistische) Neutralität und Äquidistanz zu transportieren, die eine Teilschuld aller Beteiligten zumindest als möglich einräumt. Genau diese Darstellung blendet aber aus, dass diese ‚Situationen‘ nicht vom Himmel fallen oder ohne das Mitwirken bestimmter Personen entstehen. Dadurch wird schlichtweg verschwiegen, wer die eigentlichen Verursacher dieser Gewalttaten und -dynamiken sind, und unsichtbar gemacht, dass kein Verhalten oder Tun der Betroffenen es rechtfertigt, auf die in den gesammelten Beispielen veranschaulichte Art und Weise mit Gewalt zu reagieren. Dasselbe gilt auch für das in der Berichterstattung häufig wiederkehrende Erklärungsmuster, dass den Taten ein ‚Streit‘ vorausgegangen sei, obgleich auch Streitigkeiten keinen hinreichenden Grund darstellen, anderen Menschen Gewalt anzutun, sie zu verletzen, zu missbrauchen, zu bedrohen, zu demütigen oder im schlimmsten Fall zu ermorden. Nicht selten werden in der Berichterstattung den Perspektiven der Täter bzw. deren Erklärung ihrer Gefühle umfassend Raum gegeben, während die Perspektiven der Betroffenen oder ihrer Angehörigen ausgespart bleiben – und dadurch auch die zumeist fatalen Konsequenzen der Taten.
Sich selbst nicht als potentielle Betroffene dieser Gewalt zu sehen oder entsprechende Taten zu leugnen, kleinzureden und runterzuspielen, ermöglicht und erleichtert es vielen Menschen, sich zu distanzieren und nicht dort hinzusehen, wo es wehtut. Die hier in diesem Buch zusammengetragene Auswahl männlicher Gewalttaten übersteigt in vielerlei Hinsicht unsere Vorstellungskraft – in Hinblick auf die Grausamkeit, die Alltäglichkeit oder auch die Häufigkeit der Taten. Aber das ist gut so, denn nur, wo sich die Abstumpfung noch nicht gänzlich ausbreiten konnte und die Normalisierung noch nicht abgeschlossen wurde, besteht die Möglichkeit, in den Wunden dieser Gesellschaft zu bohren und die Unerträglichkeit in den Blick zu rücken.
In diesem Buch wollen wir daher nicht nur die männlichen Gewalttaten benennen und sichtbar machen, sondern auch (erklärende) Verbindungslinien zeichnen und zeigen, was Taten wie Täter mit Patriarchat, Sexismus, Misogynie und Männlichkeit zu tun haben.
Mit diesem Buch wollen wir aber auch zu einem oder mehreren Arschtritten ausholen, die die Perspektive hin zum Unerträglichen verschieben und längst überfällige Veränderungen dahingehend einleiten, (gewalttätigen) Männlichkeiten ihre konstitutiven Fundamente zu entreißen.

Wien, am Valentinstag 2022

 

Aus „Du Herbert“ von Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser

 

„In unserer Gesellschaft gibt es offensichtlich keinen akzeptablen Grund, als Frau ein Kind zurückzulassen.“ – Fabian Neidhardt im Interview über „Nur ein paar Nächte“

Wie kann Familie aussehen? Was kann Familie sein? – Diese Fragen stehen im Zentrum von Fabian Neidhardts neuem Roman „Nur ein paar Nächte“: Ben ist Mitte 30 und hat sich sein Leben mit der 12-jährigen Tochter Mia, die er alleine großzieht, gut eingerichtet. Doch dann wird Bens Leben auf den Kopf gestellt. Sein Vater steht plötzlich vor der Tür und muss ein paar Tage bei ihm unterkommen. Und Mia wird von der Polizei nach Hause gebracht. Sie ist ausgebüxt, um ihre Mutter zu finden … Im Interview spricht Fabian Neidhardt über patriarchale Elternrollen, die Erwartungen, die an Frauen* gestellt werden, das Vater- und Sohnsein und die Komplexität familiärer Beziehungen.

 

Gleich zu Beginn des Buches tauchen wir mit Ben direkt in das Chaos ein, das plötzlich auf ihn einprasselt. Er wird schlagartig damit konfrontiert, dass er auf einmal als Vater für Mia nicht mehr genug sein könnte. Die Sorge macht sich in ihm breit, die Angst, Mia zu verlieren. Ben und seine Tochter Mia sind die zentralen Figuren in „Nur ein paar Nächte“. Wer sind sie und was macht ihre Beziehung zueinander so besonders?

Ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht so sicher, ob ihre Beziehung so besonders ist. Ben will „der beste Vater“ sein und es „besser“ machen als sein eigener Vater, aber scheitert darin natürlich. Und ich glaube, so geht es vielen jungen Eltern. Vielleicht ist besonders, dass es in diesem Fall ein Vater ist statt einer Mutter. Aber ich denke, das Streben und das Gefühl und das Scheitern im Vorhaben ist oft ähnlich.

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. 1986 wurde er als erstes Kind von vieren in eine polnisch-italienische Familie geboren, studierte u. a. Literarisches Schreiben in Hildesheim und lebt in Stuttgart. Wie schon in seinem Verlagsdebüt „Immer noch wach“ (Haymon Verlag, 2021) erzählt er in seinem zweiten Roman „Nur ein paar Nächte“ von Konflikt und Akzeptanz, von Gefühlen für- und zueinander. Ein rauschender Text über die Beschaffenheit von Beziehungen. – Foto: Daniel Gebhardt

Beziehungen spielen ja generell eine sehr große Rolle in „Nur ein paar Nächte“. Ben und Mia. Mia und ihre Mutter Orna. Orna und Ben. Ben und sein Papa. Wie ist es, über so viele Beziehungsgeflechte auf einmal zu schreiben und gibt es vielleicht ein Duo, über das du am liebsten geschrieben hast?

Für mich waren die Beziehung zwischen Ben und seinem Vater Emil, aber auch die Beziehung zwischen Ben und Mia die Ausgangspunkte für die Geschichte. Weil Ben immer stärker bewusst wird, dass er eigentlich keine richtige Beziehung zu seinem Vater hat, ist in ihm dieser Drang, es mit seinem Kind besser zu machen. Nur, um zu merken, dass das gar nicht so einfach ist. In den ersten Fassungen des Buches waren die anderen Beziehungen auch noch kaum ausgearbeitet. Da waren erstmal Ben und sein Papa und Ben und seine Tochter. Und dann wurde mir – dank meiner Betaleser:innen – immer klarer, dass auch alle anderen Beziehungen dazwischen wichtig sind. Und so sind sie mit jeder Runde stärker geworden. Dieses organische Wachsen hat mich einigermaßen den Überblick bewahren lassen. Aber auch nicht durchweg, es gab tatsächlich Momente, da habe ich das Buch vor lauter einzelner Szenen und Beziehungen nicht mehr überblicken können. Das sind dann die Momente des größten Zweifelns. Kann ich das? Ist dieses Themengeflecht nicht viel zu wirr für mich? Ich musste dann selbst erstmal Abstand zum Buch bekommen, um es wieder als Ganzes zu erfassen. Und auch ganz am Ende, nach all den Beziehungen, war klar, am liebsten habe ich Ben und Mia geschrieben. Mia zu schreiben war sowieso das Beste. Für mich ist sie eine Schwester im Geiste von Kasper aus „Immer noch wach“, meinem Verlagsdebüt bei Haymon. Kasper durfte machen und sagen, was er wollte. Jetzt ist es Mia. Solche Figuren sind immer spannend und machen Spaß. Und die Beziehung, die mir wirklich nahe, ist die zwischen Ben und Emil. Diese Vater-Sohn-Beziehung war der Auslöser für das ganze Buch und das habe ich auch beim Schreiben durchweg bemerkt.

 

In großer Wärme erzählt Fabian Neidhardt von den Ecken und Kanten seiner Protagonist:innen, von dem Monstrum und Glück, das sich Familie nennt.“ – So hat sich Autorin Marie Gamillscheg über deinen neuen Roman geäußert. Familie kann eben vieles sein: Im Fall von Ben bedeutet sie Schutz, aber auch eine gewisse Belastung. Während Orna keine Mutter sein und auch keine eigene Familie haben will, möchte Ben der beste Vater für Mia sein. Gleichzeitig wird die Beziehungskrise seiner Eltern bei ihm zu Hause ausgetragen und Ben durch die Anwesenheit seines Papas fast wieder zum Kindsein gedrängt. Was war für dich persönlich das Spannendste an der Dynamik zwischen Ben und seinem Vater?

Ich bin nicht Ben und mein Vater ist nicht Emil, aber ein Großteil der Dynamik zwischen Ben und seinem Vater ist natürlich von meiner Dynamik mit meinem Vater übernommen. Mein Vater liest meine Bücher immer in Rohfassungen und dieses Mal war ich ziemlich aufgeregt und gespannt, wie er reagieren würde. Er hat großartig reagiert und sehr schön zwischen uns und diesem Vater-Sohn-Paar im Buch unterscheiden können. Und trotzdem glaube ich, dass mein Schreiben über diese Dynamik auch unserer Dynamik gut getan hat. Und ganz vielleicht hilft das auch anderen in ihrer Beziehung zu ihren Eltern.

Orna möchte keine Kinder bekommen, Ben möchte, kann aber nicht. Glaubt er zumindest. Wir kennen dieses Thema eher in umgekehrter Form. Was war für dich am Tausch dieser klassischen Rollenbilder so interessant?

Unter uns: Zuallererst war das „Zufall“. Ich hatte das nicht geplant. Ich wollte einen Mann zwischen seinen Vater und sein Kind stellen und ihn daran scheitern lassen. In den frühen Versionen gab es Orna im ersten Teil des Buches quasi nicht. Aber wenn ich die Geschichte so erzählt habe – mit einer Mutter, über die nichts bekannt ist, die aber offensichtlich noch lebt – dann war für fast alle Menschen, denen ich das erzählt habe, klar, dass das eine Rabenmutter sein muss. Weil es in unserer Gesellschaft offensichtlich keinen akzeptablen Grund gibt, als Frau Kinder zurückzulassen. Aus dieser Erkenntnis ist dann dieses umgedrehte Rollenbild entstanden. Und je länger ich darüber erzählt habe, desto mehr habe ich gemerkt, wie krass Menschen darauf reagieren und wie viele sagen, „so geht es mir auch“. Das hat mir gezeigt, dass ein Rollenbild zwar klassisch sein kann, weil wir es oft wiederholen und lesen und sehen. Das heißt aber nicht, dass es der Gefühlswelt aller entspricht, sondern ganz viele genauso normale Rollenbilder verblassen lässt, einfach dadurch, dass wir nicht darüber reden. Und das allein war Grund genug, es diesmal so zu erzählen.

Ornas Wunsch, keine Mutter zu sein, ist nachvollziehbar. Dem gegenüber: Mia. Ein junges Mädchen, das seine Mama kennenlernen möchte. Ebenso verständlich. Wie war es für dich, in diese so lebensnahe wie komplizierte Situation einzutauchen und darüber zu schreiben?

Vielleicht ist erstmal das Wichtige, dass es keine allgemeingültige Wahrheit und keine einfache Antwort gibt. Ich selbst finde Geschichten dann spannend, wenn ich die Motivation aller Figuren verstehen kann, wenn niemand plump „gut“ oder „böse“ ist. Und wenn genau diese Blickpunkte aber zum Problem führen. So habe ich Mia und Orna geschrieben: immer mit der Idee, dass ich sie jeweils total nachvollziehen kann. Und mit dem glücklichen Wissen, dass ich gar keine Antwort auf dieses Dilemma geben muss. Das muss jede:r für sich ausmachen. Aber ich kann versuchen, allen Seiten gleich viel Aufmerksamkeit, Empathie und Zeit zu geben. So habe ich das auch mit diesen beiden gemacht.

Noch immer ist es kein Tabu, weiblich gelesene Personen nach ihrem Kinderwunsch zu fragen. Impliziert wird dabei immer erwartet, dass es diesen grundsätzlich geben muss. Wie ist es für dich gewesen, über das Mutter- bzw. Nicht-Mutter-werden-Wollen einer Frau zu schreiben?

Das war wohl der schwerste, aber irgendwie auch der schönste Teil beim Schreiben. Weil ich eine Weile, bevor all diese Gedanken überhaupt zu einem Buch wurden, erstmal selbst verstehen musste, wie groß dieses Thema „(Nicht)Mutterschaft“ eigentlich ist.
Ich bin als erstes von vier Kindern groß geworden, in einem Dorf, in dem all meine Freund:innen Geschwister und Vater und Mutter hatten. Ich wollte das genauso haben: Familie, vier Kinder, am besten schon mit 23 Vater sein. Alle happy und so und alles easy. Nur, dass ich dann mit 23 überhaupt nicht an dem Punkt war, Vater sein zu wollen. Und ganz langsam verstanden habe, dass ich zwar eine glückliche Kindheit, aber auch Eltern habe, die genauso nur Menschen mit Ängsten, Sorgen, Streiten und Nöten sind. Und als dann die ersten Kinder meiner Bekannten und Freund:innen auf die Welt kamen, ich zum ersten Mal von einer Abtreibung erzählt bekommen habe, von Fehlgeburten und Kinderwunschzentren, wurde mir mit etwa Mitte 30 klar, dass es das zwar gibt, dieses vier Kinder und alle happy und alles easy. Aber es gibt daneben auch ganz viel anderes, über das wir aber nicht so oft und offen reden. Also habe ich irgendwann auf Instagram gefragt: „Liebe Frauen*, will jemand von euch keine Kinder? Und falls ja, warum nicht?“ Und darauf habe ich überraschend viel und offen Antwort bekommen. So habe ich es dann mit jedem Aspekt in diesem Roman gehalten. Ich habe mit sehr vielen Menschen geredet. Über das Mutter sein und das nicht Mutter sein wollen. Über Schwangerschaften und Geburten und all die Scheiße, die passieren kann, über die wir aber nicht so oft reden. Das hat mir auf der einen Seite extrem tolle und intime Gespräche beschert. Und auf der anderen Seite gezeigt, dass das ein wirklich großes und hochsensibles Thema ist, bei dem ich keine Fehler machen möchte und niemanden verletzen will. Deshalb sind diese Aspekte und Szenen im Buch nicht erfunden. Hier wollte ich nicht auf meine enge und männliche, vielleicht sogar romantisierte Fantasie zurückgreifen, sondern schreiben, was mir andere Menschen aus ihrer Erfahrung anvertraut haben. Besonders diese Teile sind Mosaike, die ich zusammensetzen durfte. Und tatsächlich habe ich auch besonders Angst davor, was Leser:innen zu diesen Teilen sagen werden. Gerade weil das Themen sind, die ich ja gar nicht selbst erlebt habe oder gar erleben könnte.

Ben ist leidenschaftlicher Holzschnitzer. Für „Nur ein paar Nächte“ hast du extra einen Schnitzkurz absolviert. Warum gerade schnitzen? Ist nicht gerade das eine Tätigkeit, die eher wieder der klassischen Männerrolle entspricht?

(lacht) Witzig, dass du das so siehst. Weil ich meinen Workshop bei einer großartigen Frau absolviert habe, Paulina von Gemeines Holz. Mir war es für Ben wichtig, dass er nicht einfach nur am Rechner sitzt. Ich wollte ihn was mit seinen Händen machen lassen. Und dann immer noch lieber Holzlöffel schnitzen als an alten Autos schrauben, oder?

„Nur ein paar Nächte“ behandelt viele ernste Themen, gleichzeitig ist es aber auch ein Buch voller Liebe, Herzenswärme und mit viel Witz. Welche Szene hast du besonders gern geschrieben?

Puh. Schwer. Da gibt’s einige schöne Szenen, die Spaß gemacht haben. Aber ich glaube, wenn Mia dabei ist, ist es noch ein bisschen witziger gewesen, sie zu schreiben. Ich hoffe, ihr habt an Mia und dem ganzen Buch genauso Spaß wie ich.

 

Von einem alleinerziehenden Vater und einer Tochter, die sich kaum bändigen lässt, von Nähe und Loslassen, von Entscheidungen, die das Leben verlangt. Ben, seinem Vater, Mia und Orna bleibt ein Wochenende, um Generationen an Unausgesprochenem zu artikulieren, um Fehler zu akzeptieren, neue zu machen und sich zu entschuldigen. Sich einzugestehen, dass es kein Versagen auf ganzer Linie ist, zuerst das verletzte Kind in sich selbst heilen zu müssen, um sich besser um das eigene kümmern zu können. Bist du neugierig geworden? Hier kommst du zu „Nur ein paar Nächte“!

„In der Medizin wird von männlichen Körpern ausgegangen” – Mag. Barbara Haid MSc im Interview

Mag. Barbara Haid MSc ist Psychotherapeutin am Landeskrankenhaus Hall, betreibt ihre eigene psychotherapeutische Praxis in Innsbruck und ist Präsidiumsmitglied des ÖBVP (Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie). Wir haben uns mit ihr darüber unterhalten, wieso die Covid-19-Pandemie zu einem erhöhten Bewusstsein für die psychische Gesundheit geführt hat und warum die Frauenquote bei medizinischen Studien steigen muss.

© Ricardo Gstrein

Wie sehen Sie die Entwicklungen in Bezug auf die psychische Gesundheit und deren Stellenwert in der heutigen Gesellschaft? Ist sie immer noch ein Tabuthema?

Psychische Gesundheit hat u.a. durch die Begrifflichkeit „Mental Health“ einen anderen Stellenwert bekommen. Es wird heute viel mehr über das Thema, auch über psychische Erkrankung, gesprochen als noch vor wenigen Jahren.
Viele Initiativen, die in den vergangenen drei Jahren entstanden sind, leisten hier einen wertvollen Beitrag. Als Beispiele seien die multiorganisationale Initiative „Gut, und selbst?“ mit dem „Mental Health Jugendvolksbegehren“, das demnächst im Familienausschuss behandelt wird, oder die Kampagnen „#darüberredenwir“ (PSD Wien*) und „#mehrpsychotherapiejetzt“ (ÖBVP*) erwähnt. Die Vielzahl an Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und über ihre psychischen Erkrankungen sprechen, durchbrechen dieses Tabu ebenso.
Aber von einer gänzlichen Enttabuisierung und vor allem Entstigmatisierung zu sprechen, wäre vermessen. Immer noch werden psychische Erkrankungen als Zeichen von Schwäche gesehen. Sehr eng einher gehen Begrifflichkeiten wie „Schuld“ und „Scham“.
Und leider ist das Thema psychische Gesundheit immer noch ein Randthema – vor allem, wenn es um die Finanzierung der Behandlung von psychischen Erkrankungen geht.

*PSD Wien – Psychosoziale Dienste Wien

*ÖBVP – Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie

Inwiefern hatte die Corona-Pandemie darauf Einfluss?

Die Corona-Pandemie und deren Maßnahmen, die vor allem unser soziales Gefüge massiv beeinflusst und verändert haben, haben sich wie ein Brennglas auf die mentale Verfassung von uns Menschen und die Gesellschaft im Allgemeinen gelegt. Vieles, das bereits vorher vorhanden war, ist dadurch stark in den Vordergrund getreten. Wir waren als Kollektiv davon betroffen. Die Ängste, die Sorgen, die Unsicherheiten – in unserer unsicher gewordenen Welt – betreffen uns alle. Diese allgegenwärtige Verunsicherung hat es aber auch ermöglicht, dass es heute leichter ist, zu sagen „es geht mir nicht gut, ich bin belastet, ich habe Sorgen, Ängste …“. Kurz gesagt: Ja, die Corona-Pandemie hat das Sprechen über das eigene psychische Wohlbefinden leichter gemacht!

Was genau ist der „Gender Health Gap“ und wie entsteht er? Welche Auswirkungen hat er auf die Medizin und daraus resultierend auf den Besuch beim Arzt?  

Unter „Gender Health Gap“ versteht man das Fehlen einer geschlechterspezifischen Medizin bzw. den Unterschied in Bezug auf den Gesundheitszustand bzw. die Gesundheitsversorgung zwischen Männern und Frauen*.
In der Medizin wird nach wie vor von männlichen Körpern ausgegangen. Obwohl Frauen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Fakt ist, dass Frauen und Männer biologisch unterschiedlich sind und dementsprechend auch medizinisch unterschiedlich behandelt werden müssten. Bei Versorgungsstudien, bei der Testung von Medikamenten und bei der Entwicklung von passenden Behandlungs- und Therapieformen wird primär der männliche Körper berücksichtigt.
Da dies bis heute nicht ausreichend geschehen ist, kommt es häufig zu Fehlbehandlungen bei Frauen.

*Wir sind uns bewusst, dass diese Thematik bisher nur auf der binären Geschlechterebene Mann-Frau erforscht wird – betroffen sind aber alle Personen und Lebensrealitäten, die nicht cis männlich sind.

Was sind Beispiele für sogenannte „Frauenkrankheiten“ und wieso werden diese nicht ausreichend ernst genommen? Woher kommt es, dass Frauen Schmerzen abgesprochen werden?

Auf psychischer Ebene kann hier die Depression genannt werden. Depressionen werden oft als Zeichen von Schwäche gesehen. Bei Männern wird häufig von „Burn-out“ gesprochen: das Ausgebranntsein wegen zu viel Arbeit. Hier wird die Arbeit (ein Faktor von außen) dafür verantwortlich gemacht, bei Depressionen ist die Ursache („die Schuld“) im Innen zu sehen. Aber auch psychosomatische und somatoforme Störungen, wie beispielsweise Essstörungen oder verschiedenste Schmerzerkrankungen, werden viel häufiger bei Frauen diagnostiziert.
Die Gründe dafür sind, dass diese Erkrankungen bei Männern ein anderes Gesicht haben. Essstörungen bei Männern werden oft nicht erkannt, da ein bulimisches Verhalten häufig mit extremem Sport (weniger mit Hungern oder Erbrechen) ausgeglichen wird. Sportlich zu sein ist ein „sozial erwünschtes“ Verhalten und wird nicht bzw. oft erst viel zu spät als pathologisches, dysfunktionales Bewältigungsmuster (Symptom) erkannt. Depressionen werden bei Männern oft nicht diagnostiziert, da sich das äußere Erscheinungsbild häufiger in aggressiven Verhaltensmustern, Substanzmittelkonsum usw. zeigt. Unerkannte und daher nicht behandelte Depressionen führen nicht selten zu Suiziden bei Männern.

Wie kann diesem Ungleichgewicht entgegengewirkt werden? Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass sich die Umstände verbessern?

Gesundheitskompetenz ist hier wohl das Mittel der Wahl. Je mehr alle Menschen über psychische Gesundheit und psychische Erkrankung wissen, desto besser kann man auch damit umgehen. Das Wissen über die unterschiedlichen Symptome bei physischen und psychischen Erkrankungen von Männern und Frauen ist dabei zentral.
Das Einrichten von Lehrstühlen an Universitäten und Kliniken zur Gendermedizin ist ein weiterer wichtiger Punkt. Die Gendermedizin beschäftigt sich mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden von Mann und Frau, wobei hier sowohl biologische als auch soziale und soziokulturelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
Und schließlich: die Gesundheitsversorgung als Ganzes. Die Gesundheitsversorgung muss so ausgerichtet sein, dass die bio-psycho-soziale Wirklichkeit der Menschen abgebildet wird. Gerade was die psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung der Menschen in Österreich betrifft, haben wir auch hier einen großen Gap. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von kassenfinanzierten Psychotherapieplätzen. Daher müssen sich viele Menschen einen Teil der Kosten selbst finanzieren. Da Frauen nach wie vor massiv weniger verdienen, können sich auch vermehrt Frauen die Psychotherapie nicht ausreichend leisten. Armut ist weiblich und Armut macht krank, vor allem auch psychisch krank!

Gibt es in der Wissenschaft mittlerweile eine Tendenz zu mehr Bewusstsein für den Gender Health Gap? In Großbritannien wurde 2022 eine „Women’s Health Strategy“ vorgestellt, die sich bemüht, die Frauenquote in medizinischen Studien zu heben und einen Schwerpunkt auf die Gesundheit von Frauen zu richten. Gibt es auch in Österreich neue Strategien dahingehend?

Ja, es gibt Tendenzen in diese Richtung. Es gibt den „Aktionsplan Frauengesundheit“. Es gibt den Frauengesundheitsdialog. Es gibt u.a. das Wiener Programm für Frauengesundheit. Es gibt das Fach Gendermedizin an den Medizinischen Universitäten und es gibt vereinzelt Lehrstühle für Gendermedizin. Aber es gibt vor allem noch sehr viel zu tun!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Leseprobe aus „Tagebuch einer Invasion“ von Andrej Kurkow

Seit 2014 herrscht Krieg in der Ostukraine. Die Menschen dort taumeln seit Jahren zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Trauer und Glaube an eine Zukunft in Freiheit. Mit dem Beginn des Angriffskrieges der russländischen Truppen im Februar 2022 verwandelten sich die schlimmsten Befürchtungen in Realität: Das Land, und damit seine Bewohner*innen und seine Unabhängigkeit stehen unter Beschuss. Was macht der Krieg mit den Menschen, über die er kommt? Wie geht es jenen, die Nächte in U-Bahn-Stationen verbringen, weil sie in ihren eigenen Wohnungen und Häusern nicht mehr sicher sind? Welches Vokabular eignen sie sich in Zeiten des Krieges an? Fragen wie diese haben Andrej Kurkow, den größten Schriftsteller der Ukraine, in den letzten Jahren dazu veranlasst, Tagebuch zu schreiben und damit jene Geschichten festzuhalten, die in den Kurzmeldungen keinen Platz finden.

23.2.2022
Anspannung, aber keine Panik
Seit drei Tagen klingelt mein Telefon ununterbrochen. Ein paar meiner alten Freunde, Ihor und Irina, riefen an, um mir zu sagen, dass sie mit dem Auto in die Karpaten unterwegs waren. Andere Anrufer wollten einfach nur wissen, ob ich glaubte, es würde Krieg geben, und dann wiederum, ob der Krieg meiner Meinung nach sofort oder erst in zwei Wochen ausbrechen würde. Dann wandte sich der russische Präsident in einer Fernsehansprache an das russische Volk, um seine Version der Geschichte Russlands und der Ukraine zu erklären und die Welt zu verändern.
Russland erkannte zwei nicht bestehende „Staaten“ auf ukrainischem Staatsgebiet an und unterzeichnete Freundschaftsverträge und Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit mit ihnen. Putin sagte, die „Grenzen“ zur Ukraine (also die Front) würden nun von der russischen Armee bewacht – was bedeutet, dass das russische Heer von nun an von ukrainischem Grund und Boden aus auf das Staatsgebiet der Ukraine schießen wird.
Sie fragen sich vielleicht: Was hat sich geändert? So einiges! Vor Putins „Umstrukturierung“ erwiderten ukrainische Truppen die Bombardierung durch Separatisten mit Feuerkraft. Wenn das ukrainische Militär nun auf den Beschuss durch russische Soldaten reagiert, wird man das den Russisch-Ukrainischen Krieg nennen müssen. Und die russischen Streitkräfte, die die Ukraine umstellt haben, können von jedem beliebigen Punkt aus entlang der Grenze mit Russland und Belarus ins Staatsgebiet einmarschieren. Zum ersten Mal ist in Kyjiw die Anspannung spürbar. Dennoch ist bislang keine Panik ausgebrochen. In der Nähe meines Hauses legt das libanesische Restaurant „Mon Cher“ eine Sommerterrasse – schließlich hatten wir in diesem Jahr einen sehr kurzen meteorologischen Winter. Der Frühling ist da und die Temperaturen sind auf 13°C bis 14°C gestiegen. Die Sonne scheint, die Vögel singen und von Westen her rollen Militärfahrzeuge und Krankenwagen die Straße entlang. Sie passieren Kyjiw und fahren gen Osten weiter.
Ich erinnere mich noch, als 2014 gepanzerte Mannschaftstransportwagen und Militärfahrzeuge ebenfalls aus der Westukraine in den Osten fuhren, während zerstörte Panzer und ausgebrannte Panzerwagen auf Traktoren zurückgebracht wurden. Jetzt geht der Transport rein Richtung Osten. Dafür gibt es eine andere Ost-West- Bewegung. Geflüchtete aus Stanyzja Luhanska, einer Stadt direkt an der Front in der Nähe von Luhansk, haben es nach Charkiw geschafft. Bisher sind es nur ein Dutzend Menschen. Sie ließen ihre Wohnungen und Häuser zurück in der Erwartung, dass bald nichts mehr von ihnen übrig sein würde. Sie überlebten die Jahre 2014 und 2015, als ein Drittel der Häuser in der 15.000-Einwohner-Stadt durch Artilleriebeschuss beschädigt wurde. Bis vor Kurzem lebten noch etwa 7.000 Menschen dort. Es lässt sich nur schwer sagen, wie viele jetzt noch übrig sind. Vor allem, nachdem eine Bombe der Separatisten in einem Kindergarten eingeschlagen war. Auf wundersame Weise kam dabei niemand ums Leben.
Und ich habe meine Zugfahrkarten verloren. Ich hätte am 2. März nach Sjewjerodonezk in der Oblast Luhansk fahren und mit dem Nachtzug am 4. März nach Kyjiw zurückkehren sollen. Jetzt werde ich nicht hinfahren.
Bis vor ein paar Tagen arbeitete ein Filmteam aus Kyjiw noch in einem halb verlassenen Dorf in der Nähe von Sjewjerodonezk, 16 km von der Front entfernt, an der Verfilmung meines Romans „Graue Bienen“. Vor etwa einer Woche wurde es vom Militär gewarnt, dass man jederzeit mit der Evakuierung beginnen könne. „Die Russen werden uns zwei Stunden Vorwarnung vor dem Angriff geben!“, erklärte ein ukrainischer Offizier dem Filmteam. „Macht euch also bereit!“
Iwanna Djadjura, die Filmproduzentin, regelte mit Fahrern vor Ort, dass sie sich im Falle einer Evakuierung bereithalten sollten. Diese „Versicherung“ kostete sie viel Geld. In der Gegend gibt es immer noch kaum Arbeit, aber die Menschen haben Autos. Es gibt Autos, aber keine Straßen. Genauer gesagt, es gibt keinen Asphalt. Eine Woche lang standen die Autos untätig herum, bis das Militär kam und zur dringenden Evakuierung aufrief.
Das Filmteam ist bereits wieder in Kyjiw. Sie hatten es nicht geschafft, die Dreharbeiten zu beenden. Sie werden einen anderen Drehort finden müssen – vielleicht in der Oblast Tschernihiw oder der Oblast Sumy, wo es viele verlassene oder halb geräumte Dörfer gibt. Diese Oblaste grenzen auch an Russland – und auf Russlands Seite der Grenze warten russische Soldaten. Wie lange wird es dort sicher genug für Dreharbeiten bleiben? Das kann keiner vorhersagen!
Ich mache mir keine Gedanken mehr um diesen Film. Seit Putins Rede denke ich über etwas ganz anderes nach. Immer wieder riefen mich Freunde an. Dann bekam ich einen weiteren Anruf, der mir die Angst nahm.
Die Lehrerin Larisa Alekseewna, die an der Kyjiwer Schule Nr. 92, zu der alle meine drei Kinder gegangen waren, Literatur unterrichtet, bat mich, am nächsten Tag eine Stunde zur Geschichte der Detektivromane zu halten. Diese Bitte kam völlig unerwartet und ich stimmte sofort zu. Der Unterricht lief sehr gut. Während ich über den Unterschied zwischen australischen, japanischen und britischen Kriminalgeschichten sprach, vergaß ich Russland, Präsident Putin und beider Verbrechen. Auch die Kinder schienen sich von Russland und einem möglichen Krieg ablenken zu lassen.
Auf dem Heimweg trank ich in einem Café eine Tasse Tee und aß eine Kleinigkeit. Ich schaute in die Gesichter der Menschen, um ihren Gesprächen zu lauschen, aber niemand unterhielt sich. Es herrschte fast vollkommenes Schweigen, während die Menschen ihren Kaffee tranken und ihre Brote aßen.
Ukrainische Politiker erheben ihre Stimmen nun mehr als gewöhnlich. Das Außenministerium appellierte an Präsident Selenskyj, die diplomatischen Beziehungen zu Russland zu beenden. Der ehemalige Abgeordnete und Aktivist Boryslaw Beresa forderte Selenskyj auf, in den Oblasten Luhansk und Donezk das Kriegsrecht auszurufen. Irgendetwas sagt mir, dass Präsident Selenskyj nichts dergleichen tun wird. Er hatte bereits offiziell erklärt, er hoffe immer noch darauf, einen großen Krieg in der Ukraine vermeiden zu können.
Ich würde seine Logik gern verstehen, aber bisher habe ich das noch nicht geschafft. Der Anführer der „Volksrepublik Lugansk“, die von Russland, Venezuela, Kuba und Abchasien anerkannt wird, forderte die Ukraine auf, die andere Hälfte der Oblast Luhansk, die nicht von Separatisten kontrolliert wird, „freizugeben“. Er will eine „Republik“ gründen, deren Fläche sich mit der der ukrainischen Oblast deckt. Der Führer der „Donezker Volksrepublik“ schweigt zwar für den Moment, hat in der Vergangenheit aber bereits damit gedroht, die gesamte Oblast Donezk von der Ukraine abzuspalten. Russlands Außenministerium erklärte, dass es beide „Republiken“ innerhalb ihrer derzeitigen Grenzen anerkenne, aber dass die Grenzen eines „Staates“ allgemein die Privatsache des „Staates“ selbst seien.
In dieser Aussage verbirgt sich ein zukünftiger Krieg, der aber nicht unmittelbar bevorsteht. Die Pause zwischen der Anerkennung der „Republiken“ und der Fortsetzung der russischen Militäroperationen gegen die Ukraine könnte zwei Wochen, aber auch drei Monate oder noch länger andauern. Alles hängt davon ab, wie die Welt auf diese Situation reagiert. Wenn die Reaktion deutlich ist und die neuen Sanktionen der Wirtschaft Russlands schaden, könnte sich die Pause sechs Monate lang hinziehen. Wenn sich die Reaktion aber als schwach herausstellt, dann wird der Krieg nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Russland verdient sich das Geld für diesen Krieg in Europa, indem es dort Öl und Gas verkauft. Das Land verfügt über enorme Finanzreserven, und nur Sanktionen, die weitere Geldhähne zudrehen, können Russlands Streben aufhalten, weiter in ukrainisches Staatsgebiet vorzudringen.
Während ich diese Zeilen schreibe, lese ich weiterhin den Newsfeed. Nun hat Putin erklärt, dass er die „Republiken“ innerhalb weitläufigerer Grenzen anerkennt als die Gebiete, die derzeit von den Separatisten kontrolliert werden. Und fast gleichzeitig sehe ich eine Erklärung Präsident Selenskyjs, dass er gerade einen Befehl zur Einberufung der Reservisten in die Armee unterzeichnet habe.
In den letzten Wochen sind viele Ukrainer zu Militärexperten geworden. Ich gehöre auch dazu. Ich weiß bereits, dass eine vorrückende Armee Soldaten im Verhältnis von zehn zu eins verliert. Das bedeutet, dass die Verluste unter denjenigen, die ein Gebiet verteidigen, zehnmal geringer sind als unter den Angreifern.
Bekannte haben mir einen Screenshot von einer russischen Website des öffentlichen Beschaffungswesens geschickt. Auf dem Bildschirmfoto steht, dass das Burdenko- Hospital, Moskaus wichtigstes Militärkrankenhaus, 45.000 Leichensäcke sucht. In der Ausschreibung wird der medizinische Begriff „pathologisch-anatomische Säcke“ verwendet. Diese Anzahl an Leichenhüllen entspricht fast genau den Aussagen eines ehemaligen russischen Generals, der meinte, Russland sei bereit, bei einer Militäroffensive in der Ukraine bis zu 50.000 Soldaten einzubüßen. Ich habe diesen Screenshot einem Freund weitergeleitet, der sich mit öffentlichen Beschaffungssystemen auskennt. „Das ist eine Fälschung“, schrieb er zurück. „Die haben schon lange Hunderttausende von Leichensäcken bereitstehen!“
Und da sehe ich beim Schreiben wieder eine Nachricht, dass Putin nicht nur die „Republiken“, sondern auch deren „Verfassungen“ anerkannt hat. In diesen „Verfassungen“ steht, dass die Staatsgebiete dieser „Republiken“ die gesamten Oblaste Donezk und Luhansk umfassen. In dem Moment, als ich diese Nachricht las, rückte der Krieg plötzlich viel näher.
Es ist jetzt schon viel schwieriger, sich von Gedanken über den Krieg abzulenken. Putin sprach schon wieder irgendwo und stellte der Ukraine und der Welt ein Ultimatum: Entweder erkennen die Welt und die Ukraine die Krim als Teil Russlands an und die Ukraine lässt für immer von ihrem Traum eines NATO-Beitritts ab, oder aber die russische Armee wird bis nach Kyjiw vorrücken.
Die ukrainischen Nachrichten sind bereits voll von Prognosen über russische Angriffe. Die „populärste“ davon besagt, dass Russland zunächst drei Städte angreifen wird: Charkiw, Kyjiw und Cherson. Ich gehe davon aus, dass Cherson von der Krim aus und Charkiw von der Oblast Belgorod in Russland aus angegriffen wird, aber von wo aus werden sie einen Angriff auf Kyjiw starten? Der kürzeste Weg nach Kyjiw führt für das russische Heer durch Belarus und die Sperrzone von Tschornobyl. Dort gibt es fast keine Straßen, dafür aber zahlreiche Sümpfe und Bäche. Tatsächlich stehen viele russische Panzer auf der belarussischen Seite der Grenze bereit. Satellitenbilder zeigten das russische Militär bei Übungen zum Bau von panzertauglichen Behelfs-Pontonbrücken über die Flüsse nahe der Ukraine.
Man kann unmöglich Putins nächste Schritte vorhersagen; man kann nur klar erkennen, welches Ziel er verfolgt. In seiner jüngsten Rede sagte er ausdrücklich, dass er die Ukraine nicht als unabhängigen Staat anerkenne. Für ihn ist sie ein Teil Russlands. Sein Ziel ist also, die Ukraine zu erobern und sie zum Föderationskreis Südwestrussland zu machen. Die Staatsduma kann die russische Verfassung innerhalb von zwei Stunden ändern, wie sie es bereits getan hat, um die Krim in die russische Verfassung aufzunehmen. Die gedankenlose ausführende Staatsmaschinerie Russlands ist bereit, jedweder von Putins Launen nachzugeben.
Und in der Ukraine betet man in sämtlichen Kirchen und Moscheen für den Frieden – das heißt, in allen außer den etwa 12.000 orthodoxen Kirchen des Moskauer Patriarchats, wo man immer noch für das Wohlergehen des russischen Patriarchen Kyrill I. betet. Andere Kirchen haben die „Moskauer Kirchen“ bereits gebeten, ebenfalls für den Frieden zu beten, aber das Moskauer Patriarchat schweigt sich aus.
2014, als das ukrainische Parlament eine Sitzung zum Thema Militäroperationen im Donbass abhielt, zu der Vertreter aller Kirchen und Konfessionsgemeinschaften eingeladen waren, wurde eine Schweigeminute zum Gedenken an die im Krieg gefallenen ukrainischen Soldaten eingelegt. Das gesamte Parlament stand dazu auf, mit Ausnahme der Vertreter des Moskauer Patriarchats. Sie blieben trotzig auf ihren Sitzen hocken. Dann weigerten sich die Priester des Moskauer Patriarchats auch noch, ukrainische Soldaten zu beerdigen, die im Krieg umgekommen waren. Dennoch steckte niemand ihre Kirchen in Brand oder versuchte gar, sie zu verprügeln.
Vor ein paar Tagen haben SBU-Beamte jedoch mehrere russische Agenten dabei erwischt, wie sie versucht haben, die Kirchen des Moskauer Patriarchats in Charkiw zu verminen. Die Agenten wollten die Bombenangriffe auf Kirchen zu einem weiteren Casus Belli machen.
Es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als Krieg. Selbst die Coronavirus-Pandemie scheint nun zu etwas Gewöhnlichem und Verständlichem geworden zu sein. Einen Krieg kann man jedoch weder verstehen noch hinnehmen.
Die Ukrainer leben aber weiter wie bisher. Gestern blieb ich vor einem modernen Hipster-Barber-Shop stehen. Dort wurden zwei Kunden die Bärte gestutzt, während ein dritter an der Bar wartete und einen Whisky trank. Unterdessen landete ein mit Waffenlieferungen aus Kanada beladenes Transportflugzeug auf dem Flughafen von Kyjiw. Die neue Realität in der Ukraine übertrifft meine schriftstellerische Vorstellungskraft bei Weitem. Ich kann nicht sagen, dass sie mir gefällt. Aber ich akzeptiere sie.
Zwischenzeitlich haben meine alten Bekannten Ihor und Irina angerufen, die mit dem Auto in die Karpaten gefahren waren, um dem Krieg zu entfliehen. Sie erzählten mir, sie überlegten nun, über Polen nach Litauen weiterzufahren. Sowohl Polen als auch Litauen sind zuverlässige Verbündete der Ukraine und werden, falls erforderlich, nicht nur Ihor und Irina, sondern Hunderttausende weiterer Ukrainer willkommen heißen. Ich hoffe nur, das wird nicht notwendig werden.

24.2.2022
Letzter Borschtsch in Kyjiw
Zwischen Telefonaten bereitete ich gestern Abend für ein paar Journalisten, die zu Besuch gekommen waren, Borschtsch zu. Ich hoffte, Putin würde unser Abendessen nicht stören. Das tat er auch nicht. Er beschloss stattdessen, am nächsten Morgen um 5.00 Uhr Raketen auf die Ukraine abzufeuern. Auch im Donbass brach der Krieg aus und es gab Angriffe auf andere Ortschaften, darunter einen aus Belarus.
Jetzt befinden wir uns im Krieg mit Russland. Aber die U-Bahn in Kyjiw fährt wie gehabt und die Cafés haben geöffnet. Gerade wurde berichtet, dass die Ukraine sämtliche diplomatischen Beziehungen zu Russland abgebrochen hat. Seit Kriegsausbruch hat die ukrainische Armee bereits sechs russische Flugzeuge und zwei Hubschrauber abgeschossen. Es ist eindeutig, dass wir auch bereits große Verluste erlitten haben. Wenn sich die Lage vor dem Angriff durch Russland noch täglich änderte, dann wandelt sie sich nun stündlich. Aber ich werde bei Ihnen bleiben und weiterhin für Sie schreiben, damit Sie wissen, wie die Ukraine während des Krieges mit Putins Russland weiterlebt. Bleiben Sie sicher, wo immer Sie sind.

1.3.2022
Es ist jetzt an der Zeit
Meine Bekannte aus Deutschland, eine Journalistin, kam heute auf keinem meiner beiden Mobiltelefone zu mir durch. Eine automatische Stimme sagte ihr: „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“ Das Internet funktionierte aber und so konnten wir schließlich per Zoom eine Verbindung herstellen und uns unterhalten. Nach unserem Gespräch blieb mir dieser Satz, „Diese Rufnummer ist nicht vergeben“, im Gedächtnis und dann sah ich auf Facebook, dass meine Bekannte, die im Außenministerium der Ukraine arbeitet, sich ebenfalls darüber beklagte, dass niemand aus dem Ausland sie erreichen konnte. Wir müssen nun also aufhören, uns von solchen Dingen überraschen zu lassen. Solange es mich gibt, gibt es auch meine Rufnummer.
Jetzt leben wir bei Freunden in der Westukraine. In der Nähe verläuft eine Straße, die zur ungarischen Grenze führt. Viele Autos fahren diese Straße entlang. Manchmal halten sie an und der Fahrer und die Passagiere steigen aus, um sich zu strecken. Indische und arabische Studierende fahren oft alte Autos. Sie tun mir schrecklich leid. Ich weiß, dass viele von ihnen aus Charkiw, Dnipro oder Sumy hergereist sind, wo viele von ihnen Medizin und andere Fächer studieren. Es sind Studierende, die in diesem Sommer ihre Universitätsdiplome hätten erhalten sollen. Was wird aus ihnen werden? Was wird aus ihrer Zukunft werden? In erster Linie geht es aber ums Überleben! In Charkiw wurde vor ein paar Tagen ein Student aus Indien bei der Explosion einer russischen Rakete getötet. In der Nähe von Kyjiw schossen russische Soldaten auf ein Auto, in dem ein israelischer Staatsbürger saß. Auch er kam ums Leben.
Für mich ist dieser Krieg bereits jetzt ein „Weltkrieg“. Meine Frau und ich machen uns Sorgen um unsere befreundeten Nachbarn aus Kyjiw, ein französisch-japanisches Paar. Er ist ein ehemaliger französischer Diplomat, 85 Jahre alt; seine Frau ist eine japanische Künstlerin. Sie waren schon immer in Kyjiw und die Ukraine versessen und wollten ihren Lebensabend hier verbringen. Sie kauften sich eine Wohnung in der Nähe der Oper; von ihrem Fenster aus kann man die majestätische Wolodymyrkathedrale sehen. In den ersten Tagen des Krieges, als man Kyjiw noch mehr oder weniger problemlos verlassen konnte, wollte unser französischer Freund sein Zuhause einfach nicht aufgeben. Als die Bomben dann ununterbrochen auf Kyjiw niederregneten, bekam es seine Frau mit der Angst zu tun und wollte so schnell wie möglich fliehen. Ich telefonierte mit ihm, überredete ihn, dass sie schlicht gehen mussten. Schließlich haben sie sich zum Aufbruch entschlossen. Sie haben ein Auto, aber nicht genügend Benzin im Tank. Mindestens eine Strecke aus Kyjiw heraus ist sicher – die Richtung Odessa. Am anderen Ende warten dort keine russischen Truppen. Ich weiß, dass sie geflohen sind, aber sie hätten mit einem von den Vereinten Nationen organisierten Konvoi fliehen sollen. Wir wissen noch nicht, wohin sie letztendlich gegangen sind.
In den letzten Tagen sind unsere Nächte sehr kurz geworden. Ich trinke hundert Gramm ukrainischen Cognac vor dem Zubettgehen und schlafe gegen 1.00 Uhr morgens sofort ein. Dann wache ich mehrmals auf, um zu lesen, was es Neues gibt. Dann stehe ich wieder auf, lese mir die Nachrichten sorgfältiger durch, und fange an, meine Freunde anzurufen. Eine meiner Kolleginnen, eine gute Freundin, ist in Melitopol gelandet, das von der russischen Armee besetzt wird. Sie hockt in ihrer Wohnung und verlässt sie nicht. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Sie e-mailt mir ab und zu. Manchmal funktioniert ihr Telefon nicht. Aber dann kommt wieder ein Lebenszeichen.
Ein weiterer Freund, ein Museumsdirektor, hat es heute nicht geschafft, den Zug nach Lwiw zu nehmen. Er hatte versucht, seine halb gelähmte 96-jährige Mutter aus Kyjiw zu retten. Er fuhr sie zum Bahnhof und sie fanden ihren Waggon, aber selbst mit Fahrkarten durften sie nicht in den Zug einsteigen. Die Schaffner sagten, Fahrkarten seien jetzt unwichtig geworden, heute dürften nur Mütter mit kleinen Kindern mitfahren. Von Kyjiw verkehren noch Züge in den Westen der Ukraine. Die Menschen steigen ohne Fahrkarten in die Bahn. Wer es in den Waggon geschafft hat, wird zum Passagier. In jedem Abteil sind sieben- bis achtmal mehr Personen, als es Sitzplätze gibt.
Im Februar 1919 geschah bereits etwas Ähnliches, als die Bolschewiki in Kyjiw einfielen. Damals bombardierten sie das Kyjiwer Stadtzentrum und töteten dabei alle, die ihnen über den Weg liefen. Jetzt wiederholt sich die Geschichte. Die Truppen des sowjetischen Patrioten Putin haben Kyjiw umzingelt, aber sie können die Stadt nicht einnehmen. Sie wird bis aufs Äußerste verteidigt. Und die Zivilbevölkerung versteckt sich entweder in ihren Wohnungen, versucht, die Stadt mit den verfügbaren Transportmitteln zu verlassen, oder tritt der Territorialverteidigung bei, um ihre geliebte Heimatstadt zu verteidigen.

Aus „Tagebuch einer Invasion“ von Andrej Kurkow

Leseprobe aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas

Linda Biallas ist Feministin, Mitte Zwanzig und steckt im Studium als sie ungeplant schwanger wird. Der Freund trennt sich, noch bevor das Baby geboren ist: nicht bereit, Vater zu sein. Heute arbeitet Linda als Sozialarbeiterin in Berlin. In ihrem Buch „Mutter, schafft“ schreibt sie über Ungleichheit und Erziehungsmodelle, Care- und Beziehungsarbeit und bohrt mit dem Finger in den Wunden unserer Gesellschaft, bis wir den Schmerz so richtig spüren!

Herzlich willkommen in der Mutterrolle, bitte geben Sie Ihre persönlichen Interessen an der Kreißsaaltür ab

Zu der Herausforderung, Mutter zu werden, trug auch bei, dass es in Deutschland nicht üblich ist, gleichzeitig Mutter und finanziell unabhängig und junge Frau mit Freizeitinteressen zu sein. Mutterschaft bedeutet in Deutschland Ehe, klassische Rollenverteilung, beruflich vorher etwas erreicht haben, weil das als Frau mit Kind nicht mehr geht.
Die Idee von Mutterschaft hängt damit zusammen, einiges aufgeben zu müssen: Autonomie, eigene Interessen, Freizeit. Rückblickend denke ich, dass ich mit Mitte 20, als ich zum ersten Mal Mutter wurde, wirklich gedacht habe, dass man dann mit Mitte 30 bereit dafür sein würde, mehr Kompromisse für die Mutterschaft zu machen. Aber ich bin auch jetzt mit Mitte 30 nicht dazu bereit, so viel von meinen persönlichen Interessen zu opfern, weil es so wenig Raum dafür gibt, etwas anderes zu sein als „nur Mutter“.
Mutter zu werden, bedeutet nicht nur, ein Kind zu gebären und danach plötzlich einfach so Mutter zu sein – genauso wenig, wie bei Co-Müttern, also Müttern, die ohne Liebesbeziehung gemeinsame Elternschaft leben, oder Müttern von Pflegekindern, Müttern, die ein Kind adoptiert haben, Patchworkmüttern nur der rechtliche Status, der Verwaltungsakt der Moment ist, in dem die Mutterschaft beginnt oder der die Mutterschaft ausmacht.
Mutter zu werden, kann ein längerer Prozess sein, eine Auseinandersetzung mit sich selbst, den Erfahrungen der eigenen Kindheit, den Erfahrungen mit den eigenen Eltern. Diese Auseinandersetzung mit der Mutterrolle kann in verschiedenen Konstellationen schon vor der Geburt, vor der Adoption, vor dem offiziellen Muttersein beginnen. Ich stelle mir immer wieder vor, dass Frauen, die geplant schwanger werden, bestimmt schon vorher überlegen, wie sie leben wollen, wie sie arbeiten wollen, wie das Kinderzimmer eingerichtet werden soll. Bei mir war das nicht so. Mir war vorher auch gar nicht so richtig klar, was und vor allem wie viel ich erfüllen sollte, um als gute Mutter zu gelten. Ich hatte eine grobe Vorstellung davon, dass gute Mütter nur Wolle-Seide-Bodys kauften, natürlich voll stillten, Brei immer frisch selbst kochten, also viel mehr dünsteten, und zwar Biogemüse, na klar. Außerdem würden sie immer gerne vorlesen und nie den Fernseher anmachen, den ganzen Tag Lust haben, mit dem Kind zu spielen, und vieles mehr.
Mutter zu werden, bedeutet in jedem Fall, dass so einiges erledigt werden muss. Also habe ich Babykleidung und Möbel akquiriert, mich informiert über das Stillen und über Milchnahrung und darüber, welche Themen aus dem Bereich Kinderkriegen der Esoterik zuzuordnen sind und nicht der Wissenschaft (Blähungen durch Ernährung der Mutter, Bernsteinketten gegen Zahnschmerzen, Aromatherapie bei der Geburt). Ich habe aufgehört zu rauchen und zu trinken und versucht, irgendwie den Entwicklungsschritt von der Studentin, die sich für Politik, Partymachen und Ausschlafen interessiert, zur alleinerziehenden Mutter, die plötzlich nicht nur für sich selbst verantwortlich ist, zu bewerkstelligen.
Ich habe mich nicht nur gefragt, ob mein Kind im ersten Lebensjahr Zucker essen darf, ab welchem Zeitpunkt ich wie viel Medienkonsum gut finde, wie sich meine Perspektive auf meine eigene Kindheit durch die Mutterschaft verändern würde, sondern mir auch Fragen gestellt, die nicht nur im Persönlichen beantwortet werden können, sondern die Art und Weise betreffen, wie wir leben und wirtschaften: Warum soll ich in der Familie so viel Care-Arbeit alleine machen? Warum soll ich das gerne machen müssen? Weil ich eine Frau bin? Weil die Trennung von Lohn- und Care-Arbeit und die Festlegung von Care-Arbeit als unbezahlte Ressource, die aus Liebe absolviert wird, ein unveränderbarer Fakt ist? Mir war nicht klar, dass es diese „Vereinbarkeit“, von der immer die Rede ist, eigentlich gar nicht so richtig gibt.
Die klassische Geschlechterrolle für Mütter ist die Mutterrolle, und die funktioniert, sehr vereinfacht gesagt, so: Mutti opfert sich gerne ohne Gegenleistung für die Kinder auf, aus Mutterliebe, weil sie so selbstlos ist, so sind Frauen eben. Die Karrierenachteile (wobei die klassische Mutterrolle eigentlich noch nicht einmal eine Arbeitstätigkeit von Müttern vorsieht), die Belastung durch die Second Shift nach der Lohnarbeit in Form von die Kinder von der Kita abholen und beschäftigen, den Haushalt alleine schmeißen, dann die Altersarmut, all das nimmt sie gerne in Kauf, die Mutter, denn das Lächeln der Kinder macht alles wieder gut. Sie macht das nicht fürs Geld, das wäre kaltherzig und irgendwie materialistisch, so sind Mütter nicht. Ganz so, als würden Mütter im Unrecht sein, wenn sie sich sichere finanzielle Verhältnisse wünschten, obwohl sie natürlich durch Schwangerschaft, Wochenbett, Stillzeit weniger an der Lohnarbeit partizipieren können. Dabei ist es eigentlich andersherum: Das kapitalistische System, in dem wir leben, hat sehr viel mit der Art, wie die Mutterrolle angelegt ist, zu tun und „die Wirtschaft“ profitiert davon, dass Frauen neue Arbeiterinnen und Arbeiter gebären und sie im Prinzip nix dafür zurückgeben muss. Kinder zu bekommen, gilt praktischerweise als private Entscheidung in der Familie, in der dann die idealtypische Aufteilung vorherrschen soll: Vater – Lohnarbeit. Mutter – Care-Arbeit.
Der Zeitpunkt und die Konstellation, in der ich Kinder bekommen habe, entsprechen nicht der klassischen Vorstellung darüber, wann und wie Leute Kinder bekommen. Mutter zu werden, das war für mich höchstens ein Vielleicht, ein Irgendwann. Eigentlich hatte ich so gut wie nie drüber nachgedacht, ob ich überhaupt einmal Kinder bekommen wollte und wie das dann sein sollte. Deswegen hatte ich bis dahin auch kaum Anlass, mich in Bezug auf mich selbst damit auseinandersetzen zu müssen, was Mutterschaft für mich bedeuten könnte, und vor allem hatte ich kaum Anlass dazu, mich mit der riesigen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an (werdende) Mütter auseinanderzusetzen. Noch nicht einmal in dieses „Kinder kriegen will ich schon irgendwann später mal“, von dem viele Freundinnen sprachen, stimmte ich mit ein, so wenig relevant war das Thema in meinem Leben.
Das erklärt ein Stück weit, weshalb meine Mutterschaft ein riesiger Entwicklungsschritt für mich war. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es auch Frauen, die die Mutterschaft geplant haben, überrascht und erschreckt, mit welcher Vehemenz die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter herangetragen werden, und wie eng der gesellschaftliche Rahmen für Mütter gesteckt ist. Mutter zu werden, heißt nicht nur, sich die eigenen emotionalen, die pädagogischen, die zwischenmenschlichen Fragen zu stellen. Mutter zu werden, heißt auch, sich mit der übergroßen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Mütter auseinandersetzen zu müssen.
Meine damalige Beschäftigung mit Feminismus und der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft hat mich nicht darauf vorbereitet, was für einen krassen Einschnitt das Mutterwerden im Leben einer Frau darstellt und was es in unserer Gesellschaft für einen „Rückschritt“ darstellt in Bezug auf „Frauen können alles erreichen“. Das hängt auch damit zusammen, dass es wenig Kontinuitäten im Feminismus gibt. Nicht nur gibt es unterschiedliche Theorien und Schwerpunkte, sondern jede Generation Frauen entdeckt den Feminismus immer wieder ein Stück weit neu. Lange Zeit hatte Feminismus einen schlechten Ruf, es war nicht erstrebenswert, Feministin zu sein. Das ist nicht mehr so, aber der Feminismus, der heutzutage medial präsent und sexy ist, speist sich weniger aus der feministischen Theorie, dafür umso mehr aus der marktbezogenen Nutzbarmachung eines popkulturellen Feminismus. Eine verwässerte feministische Botschaft, gedruckt von ausgebeuteten Frauen auf ein „Made-in-Bangladesh“-T-Shirt.
Frauen entdecken Feminismus meist dann für sich, wenn sie ihn brauchen, und als Mutter erwächst da eine besondere Dringlichkeit. Dass man sich mit Anfang  20 noch nicht für die Lage von Müttern, insbesondere alleinerziehenden Müttern interessiert, ist logisch. Die Zeit, in der man selbst ein Teenager war und Eltern langweilig, uncool und uninformiert fand, ist noch nicht lange her. Selbst Kinder zu bekommen, erscheint verdammt fern am Horizont. Rückblickend fand auch ich wohl mit den Zusammenhang zwischen der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft und der Mutterschaft kein ergiebiges Thema, weil es keine so naheliegende Idee ist, dass Frauen, die als Mütter durchschnittlich alle älter sind als man selbst, aufgrund ihrer Lebenslage „unterdrückter“ sind, weniger Wahlfreiheit haben. Das Erwachsenwerden funktioniert doch von der Jugend bis zum Ende der Ausbildung so, dass man immer mehr Autonomie und finanziellen Spielraum dazugewinnt. Ich hatte mich mit Sexismus beschäftigt, Simone de Beauvoir gelesen, fand erschreckend, wie weitverbreitet Gewalt gegen Frauen ist, und war persönlich nicht daran interessiert, aufgrund meines Geschlechts gesellschaftlich einer untergeordneten Position zugeordnet zu werden.
Die Geschlechterrolle „Frau“ ist bereits eine Zumutung, aber die Mutterrolle stellt handfeste Grenzen auf. Wie schwierig die Lebenslage von Müttern sein kann und was das mit Patriarchat und Kapitalismus zu tun hat, das war mir nicht klar, bevor ich selbst Kinder hatte. Und ich war geschockt. Sehr geschockt, dass man als Mutter so derartig im Stich gelassen werden kann, ohne jegliche Konsequenz für den Vater, der keinen Unterhalt zahlt und so gut wie nie das Kind betreut. Weil sich ab und zu um das Kind zu kümmern zwar insofern schön ist, als dass wenigstens ein bisschen Vater-Kind-Bindung entsteht, aber es für die Mutter wegen der fehlenden Planbarkeit keine Entlastung in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Zudem ist es eine zusätzliche Belastung, bis zur letzten Minute nicht zu wissen, ob ein Treffen stattfindet: sich mental darauf vorzubereiten, den Expartner zu treffen, Freizeitaktivitäten spontan absagen zu müssen, weil er doch nicht kommt, all das neben den ganzen anderen Stressoren, wie Armut, Stigma oder Überlastung, die das „So-richtig“-alleinerziehend-Sein mit sich bringt.
In so eine Situation können Männer einen einfach so bringen, und es gibt kein Instrument, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Sich nicht um die eigenen Kinder zu kümmern, keine Verantwortung für die Familie zu übernehmen, passt in das Bild, das wir uns von Vätern in dieser Gesellschaft machen. Am allerschlimmsten sind die Leute, die die Empörung darüber gar nicht verstehen, die irritiert sind: Als Mutter sei es doch sowieso unsere Aufgabe. Man hätte das Kind ja nicht bekommen müssen, wenn man sich jetzt nicht darum kümmern will. 50:50-Elternzeit? Völlig übertriebene Anspruchshaltung! Durch eine Schwangerschaft tun sich jede Menge Themen auf, sowohl die persönliche, die individuelle Entwicklung betreffende als auch Themen, die die eigene Position in der Gesellschaft und den Umgang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betreffen.
Durch meine Schwangerschaft hat sich mein ganzes Leben verändert. Formell betrachtet ist bei mir alles gut gelaufen. Gesunde Mutter, gesundes Kind. Keine Komplikationen, keine Geburtsverletzungen. Aber jede Geburt ist ein einschneidendes Erlebnis. Ich hätte jemanden gebraucht, der in meinem Team ist, auf den ich mich in diesem vulnerablen Moment verlassen kann. Die Geburt meines Sohnes war mein erster großer „Das-war-verdammt-hart-und-ich-habe-das-allein-geschafft,-weilich-es-schaffen-musste“-Moment. Fast ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie das Leben als alleinerziehende Mutter werden würde.
Für mich war völlig klar, dass ich mein Studium abschließen wollte, dass ich es abschließen musste. Und weil ich nicht wusste, dass allgemein üblich ist, dass gute Mütter mindestens ein Jahr Elternzeit machen, in Westdeutschland besser drei, und Väter höchstens, wenn überhaupt, die zwei danach benannten Vätermonate, habe ich nur ein Urlaubssemester lang Elternzeit gemacht. Zum nächsten Semester, als mein Kind acht Monate alt war, habe ich mir dann einen Praktikumsplatz für das anstehende fünfmonatige Praxissemester, das in meinem Studiengang Pflicht war, besorgt. „Ist ja nicht nur mein Kind“, dachte ich, und fand es völlig selbstverständlich und normal, dass der Vater die zweite Hälfte der Elternzeit machen würde. Dem war dann leider nicht so. Kurz vor Beginn meines Praxissemesters hat er mir mitgeteilt, dass er den Kleinen nicht betreuen würde können oder wollen. Wie sollte ich nun das Praxissemester machen, ohne das ich meinen Hochschulabschluss nicht bekommen würde? Und wie sollte ich ohne Abschluss genug Geld verdienen, um für mich und mein Kind zu sorgen? Fragen, die sich der Erzeuger in unserer Gesellschaft offenbar nicht stellen muss.
Care-Arbeit, also das notwendige Sich-um-jemanden-Kümmern, zum Beispiel in Form von Pflege, Erziehung, Hausarbeit, bleibt meistens an Frauen hängen. Nach der Geburt des ersten Kindes findet in bürgerlichen Heterokleinfamilien in der Regel die sogenannte Retraditionalisierung statt, bei der plötzlich die klassischen Geschlechterrollen und Zuständigkeiten in der Familie gelebt werden, die für Frauen viel Selbstaufgabe und wenig Freiheit bedeuten.
Bei mir hat sich das trotz aller gesellschaftlichen Gegebenheiten, Institutionen, Gesetze, des Drucks und der Geschlechterrollen, die uns alle in diese Richtung drängen, dann anders weiterentwickelt, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen war einfach kein Partner da, der die klassische Vaterrolle hätte übernehmen können. Ich lebe nicht in einer traditionellen, bürgerlichen Kleinfamilie, weil ich gar nicht die Möglichkeit dazu hatte. Ohne Partner keine klassische Rollenverteilung. Und der andere Grund, warum ich mich nicht in einer traditionellen Kleinfamilie wiedergefunden habe, ist der, dass ich von vornherein wenig Interesse daran hatte, weil ich den Deal der klassischen Rollenverteilung in der Heterokleinfamilie von Anfang an absolut ungerecht fand.

Aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas

Leseprobe aus „Wie rote Erde“ von Tara June Winch

Tara June Winch ist eine in Frankreich lebende Wiradjuri-Autorin und Teil einer jungen Generation selbstbewusster, indigener Kulturschaffender aus Australien. ⁠Mit „Wie rote Erde“ („The Yield“) erschien im Oktober 2022 erstmals ein Buch von Tara June Winch in deutscher Übersetzung. Darin setzt sie der Sprache ihrer Vorfahren ein Vermächtnis. 

Eins

Ich wurde geboren auf Ngurambang – hörst du das? – Nguram-bang. Wenn du es richtig aussprichst, schlägt es hinten im Mund an, und du solltest in deinen Worten Blut schmecken. Jeder Mensch in diesen Gegenden sollte das Wort für Land in der alten Sprache, der ersten Sprache, lernen – denn das ist der Weg, der zu allen Zeiten hinführt, zu mythischen Reisen! Ihr könnt euch ganz zum Anfang zurückbegeben.

Mein Daddy war Buddy Gondiwindi, er starb als junger Mann aufgrund einer inzwischen ausgerotteten Krankheit. Meine Mutter war Augustine, und sie starb als alte Frau – nun, auch an einer Krankheit der alten Welt.

Doch tatsächlich stirbt nichts, vielmehr gerät alles unter eure Füße, neben euch, wird Teil von euch selbst. Schaut hin – das Gras am Straßenrand, der Baum, der sich im Wind biegt, die Fische im Fluss, der Fisch auf eurem Teller, Fisch, der euch ernährt. Nichts verschwindet jemals. Wenn ich mich bald verändere, werde ich nicht tot sein. Stets habe ich Johannes 11:26 im Gedächtnis behalten: Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben, doch das Leben ist durch mich hindurch und an mir vorbeigeeilt, wie es jedem Menschen geschieht.

Bevor ich alles geglaubt habe, was man mich lehrte, dachte ich, wenn alle tot sind, dann wären alle nicht mehr da, und so versuchte ich als junger Bursche meinen Platz in diesem kurzen Leben zu finden. Ich war nur darauf aus, selbst zu entscheiden, wie ich leben würde, aber das war viel verlangt in einem Land, das einen Plan für mich bereithielt, der bereits vor der Geburt in meinen Adern angelegt war.

Was ich wenigstens beherrschen zu können glaubte, war mein eigener Verstand. Gut lesen zu lernen schien mir das Sinnvollste, was ich tun konnte. In einem Land, wo zu sein uns eigentlich nicht erlaubt war, beschloss ich also zu sein. Die Sterne vom Himmel zu holen, versteht ihr?

Später lernte ich meine schöne Frau kennen, wenn auch die Schönheit das Geringste an ihr war, weit größer war ihre Stärke und Furchtlosigkeit –, nun, sie brachte mir eine Menge bei. Das Größte, Beste, was sie mir beibrachte, war, die Wörter auch zu schreiben, sie brachte mir bei, dass ich nicht nur ein zweitklassiger Mann war, aufgezogen mit weißem Mehl und Christentum. Es war meine Frau Elsie, die mir das erste Wörterbuch kaufte. Ich glaube, sie wusste, dass sie damit einen Samen pflanzte, der in mir keimte. Was für ein treuer Gefährte das Wörterbuch ist. In diesem Buch stehen Geschichten, die euch glatt umhauen. Bis heute ist es mein wertvollster Besitz, und um nichts in der Welt würde ich es hergeben.

Wegen des Wörterbuchs von Elsie schreibe ich dies nieder – es führte mich an die Idee heran, ein Verzeichnis anzulegen, in schriftlicher Form, so wie der Reverend einst die Geburten und Taufen in der Mission erfasste, wie der Farmvorsteher die Zuteilungen notierte, wie die Dienstherrinnen und -herren unser gutes Benehmen im Jungenwohnheim zu Papier brachten – eine Liste von Wörtern, in der jeder Dummkopf nachschlagen und erfahren kann, was sie bedeuten. Ein Wörterbuch, selbst wenn diese Sprache nicht nur meine ist, selbst wenn wir nur in sie hineinwachsen und, wenn wir genug gelebt haben, uns von ihr entfernen. Ich schreibe, weil die Geister mich mahnen, dass ich mich erinnere, und weil die Stadt wissen muss, dass ich mich erinnere, mehr denn je müssen die Menschen das wissen.

Am Anfang – aber es gibt sehr viele Anfänge für uns Gondiwindi, damit wurden wir durch ein und dieselbe zwielichtige Magie beschenkt wie verflucht – war ein ewiges Es war einmal. Es heißt, die Kirche habe uns die Zeit gebracht, und die Kirche werde sie uns, wenn ihr es geschehen lasst, wieder nehmen. Ich schreibe jedoch über die andere Zeit, die abgrundtiefe Zeit. Dies hier ist eine große, große Geschichte. Die großen Dinge nehmen ihren ewigen Lauf, die Zeit zieht sich hin und windet sich, niemals verläuft sie geradlinig, das ist die wahre Geschichte der Zeit.

Das Problem, dem sich jetzt mein eigenes Es war einmal gegenüber sieht, besteht darin, dass mir Doktor Shah von der Praxis in der High Street ein lausiges Gesundheitszeugnis ausgestellt hat: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Demzufolge bin ich ein hoffnungsloser Fall.

Weil es also heißt, es sei dringend, und weil ich die Kirchenzeit gegen mich habe, greife ich zur Feder, um alles, was jemals jemandem im Gedächtnis war, weiterzugeben.

All die Wörter, die ich im Wind gefunden habe.

Dankesrede von Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis 2022

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow erhielt am 28. November 2022 den Geschwister-Scholl-Preis 2022 für sein „Tagebuch einer Invasion“. Das Buch sei zugleich als „eindringliche Chronik wie auch als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen, so die Jurybegründung. Die Auszeichnung wird jährlich an ein Buch verliehen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern.

Der Preis wird vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München vergeben.

Hier die berührende Dankesrede von Andrej Kurkow im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, den Sophie- und Hans-Scholl-Preis zu erhalten. Ich bin den Mitgliedern der Jury für diese Entscheidung dankbar und nehme diese Auszeichnung an, im Bewusstsein der großen Verantwortung für mein weiteres Handeln.

Wenn Sie heute Abend von oben aus dem Kosmos auf Europa blicken, werden Sie sehen, dass Europa hell erleuchtet ist. Aber es gibt auch einen dunklen, unbeleuchteten Flecken auf seinem Territorium. Das ist die Ukraine. Die Ukraine ist aber kein schwarzes Loch in Europa. Die Ukraine lebt heute wegen der russischen Aggression in Dunkelheit und Kälte. In den meisten ukrainischen Haushalten werden jetzt Kerzen statt Glühbirnen angezündet. Statt fernzusehen oder Radio zu hören, sitzen die Ukrainer jetzt an ihren Küchentischen. Sie trinken Tee und reden über die Zukunft.

Ja, in der Ost- und Südukraine finden schwere Kämpfe statt. Russische Truppen bereiten einen erneuten Versuch vor, Kyjiw von Belarus aus anzugreifen. Das Ende dieses Krieges ist vielleicht noch weit weg, aber viele Ukrainer sind bereits in Gedanken mit Plänen für die Zukunft beschäftigt. Und all diese Pläne beziehen sich auf den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Städte und Dörfer, die Wiederherstellung zerstörter Museen, Universitäten, Schulen und Kirchen.

Übrigens brennen jetzt in vielen ukrainischen Haushalten auch Kirchenkerzen. Aber nicht etwa vor Ikonen wie in Kirchen. Wenn einem Dorfladen die gewöhnlichen Kerzen ausgehen, gehen die Ukrainer nicht nur in die Kirche, um für Siege und für ihre Familien zu beten, sondern auch, um von dort Kerzen nach Hause zu bringen.

Leider wiederholt sich die Geschichte viel zu oft. Im Januar 1918 griff der General der Roten Armee, Michail Murawjow, Kyjiw an, die Hauptstadt der damals schon unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik. Er marschierte 1918 auch von Nordosten auf Kyjiw – so wie Putins Armee am 24. Februar dieses Jahres. Am 10. Oktober dieses Jahres feuerte Russland Raketen auf die Straßen des historischen Zentrums von Kyjiw, einschließlich der Wolodymyrska-Straße. Dieselben Straßen wurden im Januar 1918 vom bolschewistischen General Murawjow mit Kanonen beschossen, bevor er die Stadt stürmte. Nach der Eroberung Kyjiws durch die Bolschewiki gab General Murawjow die Stadt zur Plünderung frei, er erlaubte den Soldaten die Bevölkerung Kyjiws zu töten und auszuplündern [mit der Begründung, es handle sich um ukrainische Nationalisten!]. Die Gewalt von damals kann nur mit der Gewalt verglichen werden, die die Bewohner der Städte Bucha, Irpin, Hostomel und Worzel im Februar/März dieses Jahres ertragen mussten. Es sind diese Vororte in der Nähe von Kyjiw, die zu Symbolen des russischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine geworden sind. Dort werden noch immer Bürger der Ukraine gefunden, die von russischen Soldaten gefoltert und erschossen wurden. Dort, in Bucha, wurde Oleksandr Kisljuk, Professor an der Pädagogischen Universität Drahomanov und Übersetzer aus dem Altgriechischen, vor seinem Haus erschossen. Die Werke von Aristoteles in seiner Übersetzung ins Ukrainische werden immer noch in ukrainischen Buchhandlungen verkauft, zusammen mit Büchern anderer Autoren, die in diesem Krieg getötet wurden, wie Ilya Chernilewskyj, Ewgen Bal, Wolodymyr Wakulenko und drei Dutzend anderer ukrainischer Dichter und Schriftsteller.

Aber trotz der Opfer in diesem Krieg planen die Ukrainer weiterhin die Zukunft ihres Landes. Eines der bereits in Umsetzung befindlichen Projekte ist die Restaurierung des alten Gebäudes der Tschernihiwer Regionalbibliothek für Jugend, das von russischer Artillerie zerstört wurde. Dieses Gebäude überlebte den Krieg von 1918-1921, es überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber nicht die russische Aggression von 2022. Freunde der Bibliothek wollten anfangen, Geld für die Restaurierung der Bibliothek zu sammeln, aber dann entschieden sie, dass es jetzt wichtiger sei, die Armee mit Spenden zu unterstützen. Aber sie begannen, Bücher für die Bibliothek von Tschernihiw zu sammeln, und wenn das Gebäude nach dem Krieg restauriert wird, wird die Bibliothek neue ukrainische Bücher anstelle der verbrannten Bücher bekommen. Das gilt nicht nur für die Bibliothek von Tschernihiw, sondern auch für viele andere von der russischen Armee zerstörte Bibliotheken.

Auf dem Rückzug aus der Region Cherson plünderten russische Truppen und die Besatzungsverwaltung lokale Museen und nahmen mehr als 15.000 Gemälde und andere Artefakte mit. Aus Cherson wurden alle Archive, einschließlich der historischen, gestohlen. Russland will die Geschichte der Ukraine stehlen und zerstören. Aber das wird sie nicht können. Die Geschichte der Ukraine gehört der Ukraine.

Die Ukraine kennt und schätzt ihre Geschichte. Die Ukraine bewahrt ihr historisches Gedächtnis. Und nur eines kann bei den Ukrainern wie bei den Einwohnern jedes anderen demokratischen Landes Bedauern hervorrufen: dass sich die Geschichte wiederholt. Dass Putin glaubt, das Ergebnis des bolschewistischen Generals Murawjow wiederholen und Kyjiw erobern zu können, ist sein persönlicher Irrglaube. Die Tatsache, dass sein Wunsch, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören, von der großen Mehrheit der russischen Bürger unterstützt wird, ist eine russische Entscheidung und russische Verantwortung. Eines Tages werden ihre Kinder und Enkel das verstehen und für ihre Sünden büßen, aber heute stehen die Russen auf der Seite des Bösen, auf der Seite von Gewalt und Aggression.

Aber die Ukrainer sind heute anders als 1918. Die Ukrainer sind heute bereit, die Unabhängigkeit ihres Landes zu verteidigen, und tun dies erfolgreich. Auch während der Okkupation.

Während der gesamten 9 Monate der Besetzung Chersons operierte in der Stadt die patriotische Untergrundorganisation „Gelbes Band“, deren Mitglieder jeden Tag patriotische Flugblätter und Plakate in der Stadt aufhängten. Sie haben unter hohem persönlichem Risiko russische Fahnen abgehängt und ukrainische aufgehängt. Unter den Aktivistinnen dieser Organisation sind viele Frauen. Eine von ihnen, die 50-jährige Swetlana, erzählte nach der Befreiung der Stadt, dass sie das Haus während der Besetzung nie ohne ein gelb-blaues Band in der Tasche oder versteckt in ihrer Kleidung verlassen habe. Während der Besetzung verbrannte das „Gelbe Band“ Auflagen russischer Propagandazeitungen und zerstörte Bestände an SIM-Karten für Mobiltelefone, die aus Russland mitgebracht worden waren. Sie führten sogar illegale Importe von Sprühdosen mit Graffiti-Farbe durch, und nachts bemalten Cherson-Teenager die Wände von Häusern mit der Erinnerung, dass Cherson Teil der Ukraine ist. All dies geschah während der vollständigen Informationsblockade der Stadt, als es nicht möglich war, mit dem freien Territorium der Ukraine zu kommunizieren. Und das zu einem Zeitpunkt als die russischen Invasoren ständig und immerzu wiederholten: „Die Ukraine hat dich vergessen. Russland wird für immer hier sein!“

Am meisten beeindruckten mich die Flugblätter des Gelben Bandes, auf denen ein einzelner Buchstabe „Ї“ abgebildet war, ein Buchstabe, der zum Symbol des Widerstands wurde, ein Buchstabe, der die Besatzer wütend machte, in Rage brachte. Er wurde auf Wände und auf Säulen gemalt. Der Buchstabe „Ji“ ist ebenso zu einem Symbol des Widerstands geworden wie die gelb-blauen Bänder, die die Bewohner Chersons abends heimlich an Äste banden.

Die Verleihung dieses Ehrenpreises hat mich in die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs zurückversetzt. Sophie und Hans Scholl und ihre Mitstreiter liebten ihr Land, liebten Deutschland und wollten das Beste für ihre Heimat. Sie wollten in einem anderen Deutschland leben, ohne Antisemitismus, ohne Nazi-Ideologie. Sie hatten die Wahl zwischen Konformismus und dem Kampf für ein anderes, demokratisches, vor allem freies Deutschland. Sie entschieden sich für den Kampf. Mit friedlichen Mitteln versuchten sie, die deutsche Gesellschaft mit Worten zu erreichen.

„Man darf nicht nur dagegen sein, man muss etwas tun,“ sagte Sophie Scholl.

Die Ukrainer lernen heute zu gewinnen. Sie kennen den Preis, der für die Freiheit und eine glückliche Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu zahlen ist. Sie lernen, dem Bösen und Unrecht zu widerstehen, unter anderem von der Weißen Rose, von Sophie und Hans Scholl und ihren Gleichgesinnten.

„Die Sonne scheint noch,“ sagte Sophie Scholl vor ihrem Tod.

Die Sonne scheint immer noch und wird immer scheinen. Auch im Dunkeln. Sonne der Hoffnung. Die Sonne, die täglich die Dunkelheit besiegt.

Das Engagement und die Aufopferungsbereitschaft von Hans und Sophie Scholl, 80 Jahre nach ihrem Tod, ist ein Beispiel für staatsbürgerliche Verantwortung. Ihr Kampf und ihr Schicksal werden zukünftige Generationen immer inspirieren.

Ja, die Geschichte wiederholt sich. Aber sie wird sich auf beiden Seiten der Front wiederholen. Und wenn eine Seite das alte Böse wiederholt, dann wiederholt sich auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen dieses Böse. Und am Ende besiegt stets das Gute das Böse, so wie die Sonne immer die Dunkelheit besiegt.

 

Herzlichen Glückwunsch, Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis!

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt

Magdalena Baran-Szołtys ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte Germanistik und Slawistik an der Universität Wien, der Jagiellonen-Universität in Krakau und der Universität Breslau und forscht seit März 2021 zu ihrem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation – Transformations- und Ungleichheitsnarrative im postsozialistischen Polen“. In unserem Beitrag erzählt sie uns, wie wichtig Literatur für die Erinnerungskultur ist und welche Transformation die Ukraine durchläuft.


© Pamela Rußmann

In deinen Forschungen beschäftigst du dich mit der Beziehung zwischen Literatur und Politik. Wie hängt dies für dich, gerade in Hinblick auf die derzeitige Situation in der Ukraine, zusammen?

Ganz grundsätzlich gilt, dass es keine Literatur ohne Politik gibt, denn Politik bestimmt die Welt, in der wir leben, in der Literatur entsteht und von der sie erzählt. Das ist ein Gemeinplatz, grundsätzlich ist es aber gut, sich das vor Augen zu halten, vor allem in Anbetracht von Künstler*innen und Bürger*innen, die meinen, „neutral“ oder „politisch nicht interessiert“ zu sein oder sich von der Politik abschirmen wollen.

Literatur und Kunst entstehen nicht im luftleeren Raum und ihr Wert besteht im Spiegeln der Realität, im Aufbrechen von Vorstellungen und Imaginieren von Möglichkeiten. Das ist der gesellschaftliche Sinn von Kultur, weit mehr als nur Unterhaltung ist sie der Ort für unsere Ängste und legt den Finger in unsere Wunden. Sie lässt uns Angst und Trauer artikulieren und macht diese zugänglich.

Literatur tröstet uns, gestaltet unsere Deutung der Welt und nimmt damit Einfluss auf unser Handeln sowie den öffentlichen Diskurs.

 

Besonders in Zeiten von großen Erschütterungen wie dem Krieg sind diese Funktionen wichtig. In Krisen ist sinnstiftendes Erzählen essenziell, denn es animiert zum Verstehen und Weitermachen, zum Kämpfen. Wir können uns in ihren Utopien und Dystopien verlieren und lassen uns von ihnen gleichzeitig den Weg weisen.

In der Ukraine sieht man das gerade besonders gut. Schriftsteller*innen sind hier im Kampfmodus. Manche sind an der Front im Einsatz, andere unterstützen die Armen und alle schreiben gegen den Krieg an. Ihre neuesten vom Krieg handelnden Werke sind nicht nur eine Quelle der Dokumentation, sondern vor allem auch eine Quelle der Hoffnung für die ukrainische Bevölkerung. Im Zentrum dieser Werke stehen die Freiheit und der Sinn des Überlebens, des Kämpfens. Dies motiviert, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen. Die Sachen klar zu benennen und zu sehen. Das ist ein politischer Akt.

Ukrainische Kulturschaffende sind zudem die Sprachrohre der Ukraine im Ausland, mit einer klaren diplomatischen Agenda. Durch ukrainische Literatur lernt das Ausland die Ukraine kennen und wird zum Verbündeten. Autor*innen als Intellektuelle sind mit ihren Büchern, Texten und Auftritten die Botschafter*innen des Landes. Das ist ein nicht zu unterschätzendes, politisch sehr einflussreiches Kapital.

Welche Bedeutung hat Kriegsliteratur für die Geschichtsschreibung?

Zunächst muss hier zwischen zwei Sachen unterschieden werden: der Geschichtsschreibung in einem wissenschaftlichen Sinne als Geschichtswissenschaft und der Geschichtsschreibung in einem gesellschaftlichen, viel breiteren Sinne als Gedächtnispolitik bzw. Erinnerungskultur, also der Umgang der Gesellschaft mit der Erinnerung allgemein. Beide bestimmen, was ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und woran überhaupt erinnert wird. Wir haben es mit Politiken der Erinnerung zu tun. Vieles wird bewusst oder unbewusst vergessen. Den unerzählten Teil der Geschichte muss man mitdenken, denn viele Stimmen bleiben stumm.

In der Erinnerungskultur hat Literatur einen fixen Platz, weil der*die Rezipient*in zu ihr eine emotionale Verbindung herstellt. Während uns Daten oft unberührt lassen, können wir mit literarischen Figuren empathisch sein, mit ihnen mitleiden. Botschaften kommen so besser an und bleiben in unserer Erinnerung, weil sie uns berühren. So kann man uns leichter überzeugen. Nicht zu unterschätzen ist, dass unsere Vorstellung von historischen Ereignissen und Zeiten oft auf Kunst, Literatur oder Film zurückgeht. Oft verbinden wir Geschichte im Kopf unmittelbar mit Bildern, die aus der Kultur kommen. Wenn ich an die Französische Revolution denke, habe ich unmittelbar das Gemälde von Eugène Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ vor Augen. Beim Ersten Weltkrieg denke ich an „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Diese Vorstellungen müssen nicht unbedingt viel mit den historischen Abläufen zu tun haben, aber sie bestimmen unsere Erinnerung daran. Das ist ihre große Wirkmacht. So spielen gegenwärtig die literarischen Texte über die Ukraine eine ausschlaggebende Rolle – sie erinnern uns an den Krieg, geben uns Einblicke und wecken unser Mitgefühl. Gleichzeitig werden sie als Dokumente in die Geschichtsschreibung eingehen und unsere Vorstellung von diesem Krieg prägen.

In deinem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation“ beschäftigst du dich mit Transformation und Ungleichheit. Wie siehst du diese zwei Punkte in der Ukraine? Welche Entwicklungen gibt es?

Für die postsozialistischen und -sowjetischen Länder Ostmitteleuropas ist dieses Thema bestimmend. Diese Länder, u.a. eben die Ukraine wurden auch nach 1989 bzw. 1991, dem Jahr der Wende bzw. des Zerfalls der Sowjetunion, vom Westen und Russland nie als ebenbürtig angesehen, sondern als Objekte ihrer eigenen Wirtschaft, Politik und Kultur. Das fühlten auch die Betroffenen und wussten, dass sie aus einer unterlegenen Position agieren. Das russische Volk und ukrainische Volk wurden seit Jahrhunderten als Brudervölker bezeichnet, wobei die Russen sich in der Rolle des großen Bruders sehen. Der Westen sah sich wiederum gegenüber den postsozialistischen Ländern als Erzieher in Sachen Kapitalismus, Konsumtionismus und Demokratie und investierte viel Geld in diese Staaten. Dazu kommt der Antislawismus, ein Rassismus gegenüber den slawischen Völkern, der im Westen immer noch weit verbreitet ist. Die Konsequenzen dieser historischen Entwicklungen sehen wir heute.

Die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus vergrößerte überdies die sozioökonomische Ungleichheit in der Bevölkerung. Es gab zahlreiche Menschen, die ihr Vermögen und ihre Freiheit vergrößern konnten, doch für eine größere Anzahl war es eine sozioökonomische Katastrophe, auch in der Ukraine. Die sozialistischen Länder wiesen weltweit ein sehr niedriges Niveau der Ungleichheit auf. Der Staat versorgte seine Bürger*innen mit dem Wichtigsten: Wohnen, Essen, Bildung etc. Doch musste man auf viele Freiheiten wie Reisen oder vollständige Meinungsfreiheit verzichten. Das Problem vieler ehemals sozialistischen Länder, einschließlich vieler der Erfolgsbeispiele wie Polen, besteht darin, dass die Profite der Transformation so ungleich verteilt sind, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Veränderungen in dieser Form nicht mehr unterstützt.

In der Ukraine war die Situation noch dramatischer: Sie ist eines der sechs postsozialistischen Länder, deren Bruttoinlandsprodukt 2016 unter dem von 1989 lag. Nicht einmal das Kapital, das ungleich verteilt werden könnte, war hier groß. Dazu kommen Probleme wie die Korruption. Die Lage ist deshalb besonders schwierig, da die Ukraine zwischen Ost und West gefangen ist, somit aus geopolitischen Gründen nicht in die NATO oder EU aufgenommen wurde, gleichzeitig aber aufgrund der Geschichte verständlicherweise mehrheitlich keine gemeinsame Politik und Wirtschaft mit Russland mehr haben wollte. Das war eine Pattsituation.

Gibt es etwas, das du den Leser*innen noch mitgeben möchtest?

Nicht aufzugeben, an seine Ideale zu glauben und sich davon in seinem Lebensweg leiten und von der Literatur unterstützen zu lassen. Dies gilt in Zeiten des Friedens wie des Krieges. Wir dürfen nicht auf unsere Werte vergessen, auch wenn es scheint, dass wir dafür einen hohen Preis bezahlen könnten.

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt.

 

Und auch in schwierigen Zeiten gibt es immer etwas, was wir lieben können – unser Leben und die Literatur: „Ich liebe alles, was mir geschenkt ist, ich muss es einfach teilen. Ich muss einfach über die Freude und Bitterkeit, über die Sorge und Melancholie reden. Dazu habe ich tausend Bücher, die ich lesen soll, dazu habe ich das Schreiben.“ Literatur ist und bleibt. Wie diese von Zhadan.

Andreas Grubers Laudatio für Herbert Dutzler, Preisträger des Österreichischen Krimipreises 2022

Herbert Dutzler erhielt den Österreichischen Krimipreis 2022, der bereits zum fünften Mal verliehen wurde. Für seine Laudatio reiste Andreas Gruber, der Preisträger 2021, sogar an den ehemaligen Arbeitsplatz seines Krimikollegen:

Jedes Jahr wird ein Autor, eine Autorin für die Leistungen in der Kriminalliteratur mit dem Österreichischen Krimipreis ausgezeichnet. In den kommenden Jahren werden vermutlich noch Beate Maxian ausgezeichnet werden, Claudia Rossbacher, Wolf Haas, Theresa Prammer, Marc Elsberg und so weiter und so fort … Jetzt gibt es in Österreich ca. 80 Schriftsteller, die Krimis schreiben. Ich weiß, es werden jedes Jahr neue dazustoßen, aber auch einige wegfallen. Aber im Jahr 2098, wenn dann schon wirklich jeder diesen Preis gewonnen hat, wird es dann so sein:

„Der österreichische Krimipreis 2098 geht an jemanden, der eine Krimi-Kurzgeschichte von 3 Seiten als Self-Publisher im Netz hochgeladen hat.”

Im Jahr darauf:

„Der österreichische Krimipreis von 2099 geht an jemanden, der ein Gedicht über einen True-Crime-Fall verfasst hat.“

Irgendwann einmal werden uns die guten Autorinnen ausgehen. ABER … und jetzt kommt das ABER: Man muss es schaffen, unter die Top Ten zu kommen. Und nach Thomas Raab, Ursula Poznanski und Alex Beer hast du es, lieber Herbert, sogar unter die ersten fünf geschafft.

Du blickst jetzt schon auf ein beachtliches Gesamtwerk zurück. Bis vor kurzem warst du ja noch Lehrer und dein erstes Buch „IT-schülertaugliches Material für den Unterricht an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz“ war jetzt nicht der große Bestseller – wurde mir berichtet … Aber … in „Bär im Bierkrug, Gott und Teufeleiner Sammlung von 14 Krimi-Kurzgeschichten – und du hast ja schließlich mit Kurzgeschichten begonnen –, lesen wir abwechselnd Grausiges, Tiefsinniges, Spannendes und Humorvolles mit viel Wortwitz, und das auf einer Almhütte, einem Adventmarkt, am Schulhof, bei einer Gartenschau, in einer Tanzschule oder während einer Zugfahrt.

Du hast auch vier – ich würde sagen psychologisch tiefsinnige, teils autobiografische, teils kriminalistische, belletristische Romane verfasst – auf die wir später noch zu sprechen kommen. Und schließlich …

… deine neun Gasperlmaier-Kriminalromane

… aus dem Altausseer-Land. Eigentlich 10, denn nächstes Jahr ist das Gasperlmaier-Jubiläum, und da erscheint „Letzter Tropfen“.

Die Filmreihe ist kürzlich mit der dritten Servus-TV-Verfilmung durchgestartet, die die Bücher auch in der richtigen Reihenfolge bringen – was nicht immer eine Selbstverständlichkeit ist. Gasperlmaier wird diesmal zwar von einem anderen Schauspieler gespielt, aber Ian Flemings James Bond hat schließlich auch mehrere Schauspieler. Und wenn Cornelius Obonya Sean Connery ist, dann ist Johannes Silberschneider jetzt Roger Moore. Ich habe alle drei Filme gesehen und ich habe im 1. und 3. Teil auf einen Cameo-Auftritt von dir á la Alfred Hitchcock gewartet, aber leider vergeblich. Aber dafür warst du zumindest im 2. Teil vertreten, als Polizist grandios, und hättest mit deinem Auftritt, trotz fehlender Sprechrolle, Cornelius Obonya fast an die Wand gespielt. Und jetzt noch vom TV-Star zum Krimi-Preisträger.

In einem Interview hast du Folgendes gesagt:

„Die Reise begann 2008, als meine erste Kurzgeschichte in einer Krimi-Anthologie eines Kleinverlages erschien. Und heute, zwölf Jahre danach, bin ich beim österreichischen Krimipreis angekommen, ein Ziel, das mir bisher so utopisch erschien wie einem Gelegenheitsradler die Fahrt auf den Großglockner. Ich hätte nie gedacht, dass meine Romane einmal preiswürdig werden würden und bin entsprechend gerührt. Ich hoffe allerdings – trotz der mir zuteil gewordenen Ehre – sehr, das Ziel der zuvor erwähnten Reise noch nicht erreicht zu haben!”

Lieber Herbert, ich kann dich beruhigen. Jetzt, wo du seit 2022 im Lehrer-Ruhestand bist, jetzt, wo du hauptberuflich Schriftsteller bist und nicht mehr Nebenerwerbs-Schriftsteller und Teilzeit-Autor, der während zweier Sabbaticals schreiben musste, geht es erst so richtig los mit dem Schreiben. Und dann hast du ja vielleicht auch Zeit für einen weiteren Cameo-Auftritt im 4. und 5. Teil und in allen, die noch kommen werden.

Und dieses Thema finde ich wahnsinnig interessant: Du warst Deutsch- und Englisch-Professor am Bundesrealgymnasium Schloss Wagrain in Vöcklabruck. Als Herr Prof. hast du in einem Schloss unterrichtet! Ich habe im Internet entdeckt, dass dir eine ehemalige Schülerin Folgendes geschrieben hat:

Daniela Hansl: „Soeben erfahre ich in den Medien, dass mein einstiger Englischlehrer seinen Lebenstraum erfüllt hat und Autor geworden ist. An diese Zukunftsvisionen kann ich mich noch ganz genau erinnern. Dazu gratuliere ich Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg.“

Also du hast schon damals von deiner Vision erzählt, Autor werden zu wollen.

Regina Ahammer: „Ich erhielt durch Zufall vor einigen Tagen Ihr Buch „Letzter Kirtag“ von meinem 86-jährigen Großonkel und er meinte: Regina, dieser Krimi von Herbert Dutzler, den ich da gerade lese, der ist echt gut geschrieben! Nachdem ich mir gedacht hatte, dass mein ehemaliger Englisch-„Prof“ so hieß, und dies dann auch noch durch Ihr Bild auf der Rückseite des Buches bestätigt wurde, musste ich es natürlich sofort lesen! Jedenfalls gratuliere ich Ihnen zu diesem gelungenen Werk, welches trotz der kriminalistischen Story doch so authentisch mit Ihnen selbst ist, und möchte Ihnen sagen, dass ich stolz bin, dass Sie mal mein Lehrer waren. Damals hielt man „plötzlich auf Schüler fliegende Kreiden“ noch nicht für Schülermisshandlungen, sondern gerade an solche erinnere ich mich noch gerne lachend zurück …“

Du hast mit Kreide auf deine Schülerinnen geschossen?

Jemand, der im Internet einen alten Deutschen Orden als Profilfoto hat, hat auf deiner Webseite Folgendes geschrieben:

„Hallo, so viel Lobhudelei kann man kaum ertragen. Habe soeben den „Letzten Stollen“ abgeschlossen. Erstens heißt es „Pfiat Enk!“ und nicht „Pfiat Euch!“, zweitens ist die ewige Biersauferei vom Gasperlmaier auf die Dauer albern. Und schließlich hätt ich schon gern gewusst, was zum Geier die Flacherdler bitteschön mit den „Rechten“ zu tun haben? Schmarrn! Aber vielleicht kommt ja endlich ein Krimi-Autor mal wieder ohne Seitenhiebe auf Nicht-Linke aus. Zu hoffen wär’s …“

Wenn mir das passiert, gehe ich sofort in die Diskussion, ich verteidige mich, ich rechtfertige mich und sage: „Ja, aber … ich schreibe nicht nur Kritik gegen Rechte, auch gegen Linke!“ Er antwortet: „Ja, aber …“ Ich antworte wiederum: „Ja, aber …“ Und das wiegelt sich dann zu einer Katastrophe auf.

Was macht der Herr Dutzler? Er schreibt kurz und prägnant:

„Wer einen Naziorden als Profilfoto verwendet, disqualifiziert sich selbst.“

Und zwar hast du das am 12. Februar 2019 um 8.41 Uhr geschrieben. Das war ein Dienstag. Und zwar waren da keine Semesterferien, denn die haben in OÖ erst am 18. Februar 2019 begonnen. Wahrscheinlich hast du das in der kleinen Pause zwischen erster und zweiter Unterrichtsstunde, flott im Konferenzzimmer, geschrieben.

Und weil mich dieses Thema so fasziniert hat – der Lehrer Prof. Dutzler –, habe ich an deiner ehemaligen Schule angerufen …

… und zwar im Schloss Wagrain in Vöcklabruck. Irena Marjanovic vom Sekretariat war dran. Die ist neu und noch nicht so lange an der Schule. Ich habe gesagt: „Mein Name ist Andreas Gruber, und der Herr Professor Dutzler bekommt dieses Jahr den Österreichischen Krimpreis verliehen, und ich darf die Laudatio halten. Ich möchte gern über ihn recherchieren.“ Und sie hat geglaubt, das ist Gernot Kulis, der Ö3-Call-Boy. Meine Anfrage wurde dann an den Herrn Direktor Manfred Kienesberger weitergeleitet, der hat dann mit der Personalvertreterin gesprochen. Die haben Kontakt mit mir aufgenommen.

Am Tag der offenen Tür, Samstag, 22. Oktober, also letzte Woche, bin ich nach Vöcklabruck gefahren, um mit Lehrern und Schülern über dich zu sprechen.

Einige ehemalige Mitschülerinnen sind selbst, wie du später auch, Lehrer geworden und auch einige Schülerinnen, die du unterrichtet hast, sind mittlerweile auch Lehrerkolleginnen geworden. Mit denen habe ich gesprochen. Und so hatte ich eine breite Quelle an Recherchen angezapft, um mehr über dich zu erfahren.

Kurzer Einschub: Herbert und ich haben uns übrigens letzte Woche in Innsbruck beim Tiroler Krimifest getroffen, und in einem Pub geplaudert. Und zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon alles über ihn, musste mich aber dumm stellen.

Völlig naiv habe ich ihn gefragt: „Du hast doch früher unterrichtet, oder?“ Und mehrmals wäre mir fast ein „Ja, richtig, das weiß ich eh!“ herausgerutscht.

Das ist übrigens noch nicht die Laudatio. Das ist das Vorwort. Das ist die Einleitung. Der Prolog. Die Laudatio kommt noch.

Und da sind wir auch schon beim Thema: Einer deiner Lieblingsautoren ist der schottische SF-Autor Iain Banks. Vielleicht bist du – als Sci-Fi-affiner Mensch – auch ein bisschen mit dem Film Matrix vertraut. Neo, der von Keanu Reeves gespielt wird, werden zwei Pillen angeboten: eine rote und eine blaue. Die blaue führt ihn zurück in seine heile Welt, in die Illusion, die rote Pille zeigt ihm schonungslos die Realität. Er muss sich für eine entscheiden. So … und ich habe zwei Reden vorbereitet. In einem roten und in einem blauen Kuvert! Wie heißt die Mehrzahl von „Laudatio“? Richtig, Herr Professor, Laudationes. Ich musste im Duden nachschauen!

In einem Kuvert befindet sich eine Laudatio über deine herausragenden schriftstellerischen Leistungen. Im anderen Kuvert befindet sich die schonungslose Wahrheit über den Professor Herbert Dutzler, wie er wirklich ist, erzählt von seinen ehemaligen Schülerinnen und Lehrerkollegen. Ich weiß nicht, wo was drinnen ist! Ich habe es blind eingepackt. Du musst dich entscheiden! Es tut mir leid … es ist …

© Fotowerk Aichner

Die schonungslose Wahrheit über Herbert Dutzler

Du bist geboren in Schwanenstadt und wohnst dort in deinem Elternhaus. Du hast in deiner Kindheit die Ferien in Altaussee verbracht, ca. 1 Std. entfernt, wo deine Gasperlmaier-Romane spielen. D.h. das Setting deiner Romane sind autobiografische Erinnerungen an deine Kindheit. Du war selbst kein Lehrerliebling, hast im BG Vöcklabruck ein Jahr wiederholt. Und Undemokratisches hat dich bereits als Schüler auf die Palme gemacht. Du warst immer ein loyaler Schulfreund und später auch ein loyaler Kollege, der zu seinem Wort gestanden hat. Du hast deine Frau, die Uli, noch als Schüler an der Schule kennengelernt, die dann später auch Lehrerin wurde und Mathe unterrichtet. Ende der 80er hast du deinen Schülerinnen am Pensi, dem Gymnasium in Gmunden, Ort der Kreuzschwestern, eine reine Mädchenschule, schon erzählt, dass du eines Tages einen Roman schreiben möchtest.

Du warst ein fortschrittlicher Lehrer, hast vom Erlebnisaufsatz Abstand genommen und bereits Zeitungsartikel im Unterricht verwendet. Du hast deinen Schülerinnen H.C. Artmann vorgelesen. Und später deine jungen Kolleginnen im Umgang mit dem Computer geschult, wie man z.B. mit PowerPoint Filme macht. „Was will uns dieser alte Dattel beibringen?“, haben deine jungen Kolleginnen zunächst gedacht, dann aber nur so gestaunt, wie fit der Herr Prof. ist. Leider waren deine Schulungen aber erfolglos, denn sie können heute immer noch nicht mit dem PC umgehen.

Und nebenbei bemerkt: Im Konferenzzimmer schaut es schrecklich aus. Alles voll geräumt, kein Platz!

Du hast Sprachreisen organisiert. Du hast Lese-Beweismappen eingeführt. Und warst der erste Professor, der auf Laptop umgestellt hat, wodurch deine Kolleginnen im Konferenzzimmer an ihren engen Schreibtischen mehr Platz hatten – und wie ich mich selbst davon überzeugen konnte, haben die ihn dringend notwendig. Du warst ein effizienter Arbeiter, immer gut strukturiert, gut organisiert und sehr diszipliniert.

Das hast du auch von deinen Schülerinnen verlangt. Du wolltest den Kindern kritisches Denken beibringen. Vor allem auch gutes Benehmen. Wobei … ich denke da nur an die fliegende Kreide!

Du bist in der Kommunikation wahnsinnig effektiv. Du bringst es auf den Punkt und bist kein Dampfplauderer. Du hast die Pausen stets in der Lehrerküche verbracht, und dort warst du der Einzige, der es geschafft hat, in nur fünf Minuten alles zu erfahren, was du wissen wolltest, um danach wieder pünktlich in der Klasse zu sein. Du bist neugierig und interessiert, und du hast gern diskutiert.

Ja, das stimmt, denn man kann mit Herbert Dutzler keinen Smalltalk führen. Das ist unmöglich! Wenn man ihn trifft und fragt: „Wie war die Fahrt nach Velden?“

  • Landet man bei der Verkehrspolitik der ÖBB

Wenn man nebenbei erwähnt: „Zum Glück ist heute ein schönes Wetter.“

  • Landet man beim Klimawandel.

Das ist das Schöne an dir. Du bist an den wichtigen Themen des Lebens und der Gesellschaft interessiert.

Bei Maturareden und offiziellen Anlässen, wo du übrigens sehr launige Reden hältst, trittst du immer gern in Lederhose auf. Als du einmal viel Gewicht abgenommen hast, und du dir deine Lederhose enger hast machen lassen, hattest du Bedenken, dass sie dir vielleicht später einmal nicht mehr passen könnte. Aber bei Recherchen hast du herausgefunden … ich zitiere dich selbst: „Der Hintern wird bei alten Männern nicht mehr größer!“ Ein schöner Aphorismus!

Du warst einmal sehr stolz, als dich ein Schüler um ein Autogramm gebeten hat. Dann hat er allerdings gesagt: „Vielen Dank, das ist für meine Oma!“

Du war ja mehrmals beim ORF eingeladen, einmal aber als „Stargast“. Wenn du Hausarbeit daheim machen solltest, willst du dich oft davor drücken, weil du ja ein „Stargast“ bist, aber das lässt die Frau Dutzler, die Uli, nicht zu. Weiter so, Frau Dutzler! Das ist der richtige Weg, mit Star-Autoren umzugehen!

Einmal wurdest du von einem Kollegen gefragt: „Sind dir die Lesungen nicht langweilig?“ Und deine knappe und präzise Antwort war: „Im Vergleich zur Schule sind Lesungen viel besser, weil:

  • man sich nur 1 x vorbereiten muss,
  • immer das Gleiche liest,
  • man das Honorar nimmt
  • und am Ende wird applaudiert.“

Auch ein schöner Aphorismus!

Alle deine Kolleginnen erkennen in den Romanen schulische Situationen aus dem Konferenzzimmer wieder. Die Kolleginnen unterhalten sich dann darüber in der Lehrerküche. Und sie haben nach den ersten beiden Bänden kritisiert, dass in deinen Gasperlmaier-Romanen zu viel Busen-Schauen vorkommt. Du hast versprochen, dass du den Gasperlmaier in Therapie schickst. Aber darauf warten deine ehemaligen Kolleginnen immer noch.

Ich soll übrigens die Namen der Kollegen bei der Laudatio nicht erwähnen, darum haben sie mir auch nicht verraten, wie sie heißen … Aber! Aber es war ja „Tag der offenen Tür“, als ich dort war, und die hatten alle Planketten und Namensschilder an der Kleidung. Wir Autoren sind ja halbe investigative Journalisten. Also wenn du wieder einmal nach Vöcklabruck kommen solltest, verrate ich dir, wen du aller auf ein Achterl einladen musst. Ich soll jedenfalls ganz liebe Grüße von allen ausrichten.

So, wir haben noch fünf Minuten Zeit, schauen wir rein, was in der Laudatio steht:

Die Gasperlmaier Krimis …

Mag sein, dass Inspektor Franz Gasperlmaier unter Höhenangst und Flugangst leidet, ein Ermittler ist, der sich von einem Fettnäpfchen zum nächsten rettet, und der lieber bei einem Bier oder Obstler und einer Leberkäsesemmel beim Kirtag sitzt, und lieber den üppigen Damen nachschaut, als einen Mordfall zu ermitteln – aber genau deshalb gibt es ja die kluge und toughe Frau Dr. Kohlross vom Bezirks-Polizeikommando Liezen, selbstsicher und elegant in Highheels, die die Ermittlungen forciert, wodurch die beiden ein humorvolles Team bilden. Wenn Dr. Kohlross ein Porsche ist, dann ist Gasperlmaier ein VW-Käfer – aber manchmal braucht man beides, um vorwärts zu kommen.

Außerdem ist Gasperlmaier mit der intelligenten und scharfsinnigen Christine, die übrigens auch Lehrerin und Schulleiterin im Ort ist, verheiratet. Dann gibt es auch noch seine kluge und engagierte, aber manchmal auch zickige Tochter Katharina, die später auch noch eine Lebensgefährtin bekommt. In Gasperlmaiers Welt dominieren also die starken Frauenfiguren. Und er selbst ist ein normaler und warmherziger Mensch, der versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Die Figuren entwickeln sich in Dutzlers Reihe weiter – Gasperlmaier wird Postenkommandant, er bekommt eine neue junge Kollegin, Kohlross bekommt ein Baby, seine Tochter eine Lebensgefährtin, Sohn Christoph wohnt in Kanada, Gasperlmaiers Frau nimmt ein Sabbatical und besucht ihn … so ist immer was los in den Büchern.

Sein Können beweist Dutzler u.a. auch im Zeichnen schräger Nebenfiguren, wie dem Gerichtsmediziner, dem das Fingerspitzengefühl fehlt, dem Dorfpfarrer, der ein Verhältnis mit einer Lehrerin hat oder einer lästigen Reporterin. Er schaut den Menschen aufs Maul und schreibt die Dialoge so, wie die Menschen reden. Natürlich leben die Romane vom Lokalkolorit, aber es fehlt auch nicht an scharfer, bissiger Kritik an der so scheinbaren dörflichen Idylle, ohne dass Dutzler jemals belehrend wirkt.

Würde man Herbert Dutzler aber nur auf seine Gasperlmaier-Romane reduzieren – die zwar den Großteil seines Schaffens ausmachen, aber eben nicht alles sind – würde man ihm keinesfalls gerecht werden. Es steckt noch viel mehr in diesem brillanten Erzähler.

InDie Einsamkeit des Bösen

beschreibt Dutzler die schreckliche Kindheit von Alexandra, die auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, was fast einem Martyrium gleicht. Viele Zeit später, als erwachsene Frau, nach Jahren der Hin- und Her-Gerissenheit zwischen Gewalt und Schuldgefühlen, beginnt ihre Fassade langsam zu bröckeln und die Wut ihrer Kindheit bricht hervor.

Am Ende bist du still

In diesem psychologischen Krimi nimmt uns Herbert Dutzler mit in den Kopf und in die Gedanken einer jungen Frau, die unter der großen omnipräsenten Liebe ihrer Mutter, einer kontrollsüchtigen Herrscherin, leidet, sodass sie beschließt, sich zu befreien und diese zu töten.

InDie Welt war eine Murmel

nimmt uns Herbert Dutzler, ausgehend von einer Rahmenhandlung, die in der Gegenwart spielt, mit auf eine Zeitreise in das Jahr 1968, als der zehnjährige Sigi – im selben Jahr geboren wie Dutzler selbst –, mit dem Zug in die Schule fährt, Karl May liest, am Bach hinter dem Haus spielt und die Welt entdeckt. Sigi erinnert sich an die Aufnahmeprüfung aufs Gymnasium und an die Zeit, wo er von seinen Mitschülern verdroschen wurde. Höchstwahrscheinlich sehr autobiografisch – doch letztendlich steckt in uns allen, die diese Zeit miterlebt haben, ein wenig von Sigi.

In der Schlinge des Hasses

… ist der beklemmende Blick in den Kopf des kleinen Jungen Leo, der durch seine Erziehung und sein äußeres Umfeld zu einem hasserfüllten, rechtsradikalen Mörder wird. Fazit des Romans: Faschisten werden nicht geboren, sondern gemacht.

Dadurch dass Herbert Dutzler Lehrer im Ruhestand ist, war er fast 40 Jahre mit dem Thema konfrontiert, wie Menschen sich entwickeln, und wodurch Menschen sich entwickeln. Wie man diese Entwicklung prägen und manipulieren kann. Das zwischenmenschliche Spiel zwischen Jugendlichen und zwischen Kindern und Erwachsenen ist eines der großen Themen in seinen Romanen abseits der Gasperlmaier-Krimis. Er ist ein Beobachter der menschlichen Psyche und entdeckt und beschreibt Ursachen der Welt, wie sie ist und warum sie so ist.

Wie entsteht Hass? Wie wird man zu Psychopathen? Wie wird man zur Mörderin?

Die Antworten darauf findet man in Herbert Dutzlers Romanen, in denen er facettenreich die Emotionen seiner Figuren auslotet.

Dutzler erzählt in vielen Rückblenden, Erinnerungen, Rahmenhandlungen, zeitlich verschobenen Handlungssträngen oder kursiven Einschüben, teils in Ich-Form, teils in der dritten Person. Und es bleibt dabei immer spannend, interessant und lehrreich. Die Romane sind dadurch nicht nur inhaltlich, sondern auch formal abwechslungsreich.

Lieber Herbert, ich wünsche dir, dass du dir deine Neugierde, deine Beobachtungsgabe, dein Interesse am Menschen, deine Faszination für Sprache, Text und Geschichten, deinen Erfindergeist, deine Inspiration, Kreativität und Schaffensfreude noch lange beibehältst, und du – obwohl du den Krimi-Preis gewonnen hast, wie du selbst sagst – noch nicht am Ende deiner literarischen Großglockner-Tour angekommen bist. Mögen noch viele Jahre ins Land ziehen, bis du am „Letzten Gipfel“ angekommen bist und dein „Letztes Kapitel“ geschrieben hast.

Danke!