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Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert: Interview mit Anja Bachl

© Theresa Wey

Leise Töne, zarte Erschütterungen, aber auch Selbstbewusstes, das mutig in die Welt schreit. Anja Bachl wird weich, lässt uns weich werden, verortet sich selbst und stellt gleichzeitig fest, dass wir uns nicht verorten lassen. Mit ihren Texten verstehen wir, wer wir sind und was uns als Menschen ausmacht.

Wir haben mit der Autorin und Kunsttherapeutin über ihr Leben und ihren Gedichtband „weich werden“ gesprochen. Im Interview betont Anja Bachl, wie wichtig es ist, einfühlsam zu sein. Sie spricht über ihre Erfahrungen mit dem Mental Load als getrennt Erziehende und welche Dinge im Arbeitsalltag wirklich wichtig sind.

 

Deine Gedichte sind sehr eindringlich, treffen uns genau dort, wo wir uns oft nicht trauen, hinzuhören. Wie entstand die Idee zum Gedichtband?

Erst einmal Dankeschön für das feine Feedback! Das ist tatsächlich etwas, das mir am Herzen liegt – das Thematisieren und mich nicht scheuen, in Thematiken einzutauchen und diese dann in Formen zu legen.

Die Idee entstand aus zwei Motivationen heraus. Zum einen habe ich eines Abends angefangen, meinen vollen Kopf zu entleeren, indem ich dieses Erleben, die Gleichzeitigkeit der Dinge, dieses viele Fühlen und Denken und das an Grenzen Stoßen zu versprachlichen. Die Gedichte waren mir ein Ventil, um mich zu orientieren oder mich auszuschütten, mich zu positionieren.

Zum anderen wollte ich es bei „weich werden“ einfach wissen: Wo stehe ich mit meinem Können ungefähr, was schaffe ich wie anzuwenden, welche Bögen sind spannbar? Ich hatte Lust, an etwas länger zu feilen und diese fancy Disziplin anzuwenden, von der alle reden. Zumindest meine eigene Version davon, die so geht: Ich schäle alle möglichen Schichten an Bewertungsstrukturen und deute und erstelle mich, abseits von starren und kurzsichtigen Mustern. Bleibe dran, ohne mich anzuleinen.

 

„If they cannot love and resist at the same time, they probably will not survive.” – Audre Lorde*
Dieses Zitat hast du für dein neues Buch gewählt. Warum genau dieses? Welche Verknüpfungspunkte hast du dazu?

Dieser Satz, so wie ich ihn deute oder verstehe, definiert für mich etwas, das in „weich werden“ eine tragende Rolle spielt: lieben und Widerstand leisten als ein Gleichzeitigkeitsprinzip, das sich bedingt. Wir brauchen die Liebe, das Zarte, das Weiche, um über das Fühlen zu einer Kraft zu kommen, zu einer Wut, zu einer Stärke, die uns mobilisiert und antreibt, für ein Leben einzustehen, das nicht vorrangig für eine Mehrheitsgesellschaft und für weiße Männer mit Macht funktioniert.

Von Audre Lorde durfte und darf ich da viel lernen. Ich sehe dieses Zitat auch als Erinnerung, besonders an weiße Feminist*innen, also auch an mich, nicht stehen zu bleiben bei einem „das ist ein schönes Zitat“, etwas Performativem, sondern es als meine Verantwortung zu verstehen, aktiv zu werden und zu handeln.

 

Der Titel und die Gedichte deines Buches greifen ein Thema auf, das in der heutigen Gesellschaft oft ausgekapselt wird: Einfühlsamkeit, das weich werden von Menschen. Warum genau dieses Thema?

Verletzlichkeit, Offenheit und Fühlfähigkeit haben eine unglaubliche Kraft, Prozesse ins Rollen zu bringen und eigenes Involviertsein einerseits griffig zu machen und andererseits zu transformieren und zu kontextualisieren. Wenn du sagst, das Thema wird gesellschaftlich oft ausgekapselt, dann stimme ich dir insofern zu, als dass Sensibilität und Durchlässigkeit immer wieder als Eigenschaften interpretiert werden, die es von Stärke oder Resilienz zu überwachsen lassen gilt. Was ein Trugschluss ist. Denn Nahbarkeit, sich selbst und seiner Umwelt gegenüber, ist eine wilde Ressource, die es uns ermöglicht, eine emphatische Sicht zu etablieren und so Verständnis zu lernen. Und dieses Verständnis und Wissen über Vorgänge ist wiederum ein sperrender Schlüssel in Bezug auf Diversität und wie viel Sinn es macht, Menschen ihre Facetten, ihre Unterschiedlichkeit zu lassen. Das Aufmachen verkrusteter Denkdynamiken macht uns nahbarer und so empfänglicher für Entwicklung. Widerstandskraft ist nicht das Fernbleiben von Emotion, das sofort wieder Aufstehen oder das Hartwerden, im Gegenteil. Sie ist die Fähigkeit Zusammenhänge herzustellen und sanft mit sich zu sein, hinzuhorchen und an Situationen zu wachsen. Das tun wir nicht, wenn wir spalten, da verschieben und verdrängen wir nur. Weich zu werden meint eben auch die Überzeugung, sich als Ganzes zu verstehen und uns verletzlich zu zeigen – wider diesen absurden Duktus einer objektifizierenden Gesellschaft und dem immerwährenden Appell an Funktionsfähigkeit zum Trotz. Mensch kann es als einen revolutionären Akt verstehen, weil sich für Verwundbarkeit und Spüren zu entscheiden etwas mit Entgegensetzen und Solidarität zu tun hat.

 

Du bist Autorin und Kunsttherapeutin. Wie sieht dein Alltag momentan aus? Was ist dir in deiner Arbeit besonders wichtig? Was bedeutet Schreiben für dich?

Gerade versuche ich mein Berufsleben noch mehr entlang meiner Fähigkeiten und meiner Passion zu formen, das bedeutet, ich schreibe viel, suche mir Aufträge und lasse mich für Aufträge finden. In der Arbeit als Kunsttherapeutin spezialisiere ich mich auf Mental Load, Care-Arbeit und alternative Familienmodelle. Das heißt, mein Alltag ist gerade ein arbeitsreicher, ein emsiger, einer voller Ideen, eigener Struktur und bewegt Sein.

Die Frage nach Dingen, die mir in meiner Arbeit besonders wichtig sind, hat auch viel mit Wünschen, Möglichkeiten und Privilegien zu tun. Ich weiß sehr genau, was mich mit Freude erfüllt, was ich gut kann oder worin ich aufgehe. Dem kann ich mal mehr, mal weniger nachgehen. Ich habe viele Jahre wenig geschlafen und unzählige Stunden gearbeitet, an verschiedenen Stellen. So entlang der Bedürfnispyramide Vorstellungen wachsen lassen. Als Erstes muss halt einfach Einkommen gesichert sein, die Fixkosten bezahlt werden können. Das ist mir primär wichtig, meine Miete bezahlen zu können und meinem Sohn eine Winterjacke. Es ist eine Illusion zu glauben, Mensch kommt als getrennt Erziehende, Studierende, pflegende Angehörige mit ausreichend Schmalz und Power und Willen, oder wie all diese toxic heuchlerischen Positiv-Mantren heißen, als Konsequenz des Fleißes an einen Punkt, wo man richtig gestalten kann. Es ist eine Systemschwierigkeit, die es manchen Menschen schlichtweg nicht ermöglicht, sich die Frage stellen zu können, wie sie wo und wieviel arbeiten wollen. Ich betone das, weil ich mir diese Frage, also das „Was ist mir besonders wichtig?“ zwar schon lange stelle und auch beantworten kann, es für die Durchführung aber nochmal mehr als die reine ausgeklügelte Theorie braucht. Das heißt, nach Miete und Jacke gehe ich auf in einer Arbeit, wo ich in Resonanz gehen kann, mit Menschen und ihren Themen. Bestmöglich biete ich also etwas an, das da draußen widerhallt, nachhallt und weitergesponnen wird. Des Weiteren ist es für mich wichtig, mich weiterzubilden und nicht unflexibel zu werden, mich einzusetzen und Freude zu haben an dem, was ich tue. Wenn ich nämlich Freude habe und die Möglichkeit, auf meine Grenzen zu achten, dann kann ich intensiv und effektiv arbeiten, ohne am Ende des Tages nur mehr eine Hülle zu sein.

Schreiben bedeutet für mich atmen und mich neu erfinden und mich wieder fassen und aus den Winkeln hervorzukramen und schreiben bedeutet für mich, mich ordnen und die Zügel zu verräumen. Schreiben ist mein Ventil und mein Werkzeug, der Versuch, über das Konkretisieren zu verstehen und die Gelegenheit, das Spiel und die Leichtigkeit nicht zu verlernen. An manchen Tagen sage ich „Schreiben, das kann ich halt!“ und an manchen Tagen sage ich „Kann ich überhaupt schreiben?“. Aber eines ist sicher. Ich muss.

 

Deine Gedichte legen einen Teil von dir selbst offen. Wie findest du die Kraft, dich immer wieder mit dem auseinanderzusetzen, was vielleicht auch schmerzhaft sein kann/ist? Wie bleibst du dabei in Kontakt mit dir selbst?

Das Ziehende, das Zerschmetternde und das Zerrüttende ist zwar nicht das lässigste Life, das stimmt, es schmerzt sich auf die Bruchstellen und die mürben Tage einzulassen, beziehungsweise sie einfach sein zu lassen. Aber schlussendlich bleibt uns nichts anderes übrig. Denn das ist es nun mal, dieses Leben. Ein Sammelwerk aus all the feels. Zum einen habe ich für mich überhaupt keine andere Wahl, denn ich kann nicht erfolgreich verdrängen, ohne, dass es dann an einer anderen Stelle herausquillt. Also. Themen finden schon ihren Weg durch das Gestrüpp. Mensch kann vielleicht vertagen oder in Dosen Dingen ins Gesicht schauen. Aber wegschieben, das geht nur temporär. Andererseits bin ich ein Fan einer Idee von Menschsein, die nicht ausklammert, sondern integriert und bindet. Das bedeutet nicht, alles muss Sinn ergeben oder solche Trugschlüsse. Nicht jeder Schmerz macht uns widerstandsfähiger, das ist eine Mär und eine nette Masche von irgendwelchen Esoteriken. Was wir lernen können, ist, Strategien und Mechanismen zu finden und zu etablieren, ganz individuelle, die uns helfen, mit Dingen umzugehen. Vielleicht, damit sie weniger kratzen oder offene Stellen hinterlassen. Damit nicht Erfahrungen und die Gefühle dazu uns herumreißen, sondern wir selbst verstehen, was vor sich geht, und so über Wasser bleiben. Kunst und Kreativität hat sich für mich da auch bewährt als Kitt, als Verständnismaschine, als Übersetzerin und als Methode, zu realisieren, zuzulassen, gehen zu lassen oder mich ins Jetzt zu holen. Mich kostet es viel mehr Kraft, mich nicht auseinanderzusetzen mit der Welt, der inneren und der äußeren. Es ist viel schmerzhafter für mich, Augen zu kneifen, als Augen zu öffnen.

Ich bleibe durch pragmatische Komponenten in Kontakt mit mir selbst, ich brauche ausreichend Schlaf, genügend Frischluft, Zeit für mich, Zeit für meine Liebsten, Austausch und Rückzug, Sonne und Humor. Um mich nicht zu verlieren, brauche ich finanzielle Sicherheit, Leichtigkeitsinseln, Liebe und Verständnis. Ich achte sehr bewusst darauf, diesen Kontakt zu mir erstens zu sichern, oder ihm möglichst nahe zu kommen, und zweitens ist es kein starres System, sondern etwas Bewegliches, Fluides, Organisches, das ich immer wieder neu hinterfrage und dem ich immer wieder neu begegne.

Liebe Anja, herzlichen Dank für das Gespräch und den sehr persönlichen Einblick in dein Denken.

*Audre Lorde war eine US-amerikanische Dichterin und Aktivistin und beschrieb sich mit folgenden Worten: „Ich bin schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter“. Durch ihre das Leben beobachtenden Gedichte und Essays wurde sie zu einer der wichtigsten Theoretikerinnen der Frauenbewegung.

In memoriam Joseph Zoderer (1935–2022)

Joachim Leitner sprach in seiner Gedenkrede bei der Verabschiedung von Joseph Zoderer am 11. Juni 2022 in Terenten/Südtirol über Komplizen, Kopfheimaten, Auswege und Irrwege.

Joseph Zoderer

Der Schriftsteller Joseph Zoderer;
© Tito Bertoni, 2019

Vor einer Woche überfiel mich Norbert Gstrein mit der Frage, ob ich heute etwas über Joseph sagen könnte. Aus dem Bauch heraus habe ich zugesagt.

Seither zweifle ich.

Ganz ohne Zweifel gibt es Berufenere, um von Joseph zu erzählen. Ganz ohne Zweifel gibt es Geübtere um „den Zoderer“ zu erzählen:

Forschende, die sich in die Wirklichkeiten seines Werkes eingearbeitet haben;

Fraglos auch solche, die sich daran, an Werk und Wirklichkeiten, an den Werkwirklichkeiten und den Welten dahinter, abgearbeitet haben.

Weggefährten. Joseph würde – vielleicht – von Komplizen sprechen.

Von Komplizen, die Etappen seines Weges mitgegangen sind – und die Zeugnis davon ablegen könnten, was war, was einmal wahr war, was wahrscheinlich ist und was höchstwahrscheinlich erfunden ist.

Diese Komplizen könnten vielleicht vom Bock erzählen, den Josephs Vater einst schoss, oder vom „Haus der Regeln“, oder wie man in 30 Tagen maturataugliches Italienisch lernt.

Den politischen Zoderer könnten sie erzählen.

Vom „Roten Peppin“ reden, von RAI und „Roter Zeitung“, von den Wiener Jahren, von den Auf- und Ausbruchsversuchen, von den Ausbrüchen. Davon, wie eng es hier und anderswo sein kann – und davon wie beklemmend es ist, wenn das Lob plötzlich von der vermeintlich falschen Seite kommt.

Sie könnten erzählen, wie man sich an den Rand des Schweigens schreibt;

Und vom Trotzdem-Weiterschreiben, vom trotzigen Weiterschreiben, vom Weiterschreiben aus Trotz, von Zorn und Zauberei, von Sprachartistik, von der Frage „Wozu schreiben“ und davon, dass es auch und gerade in Südtirol, Themen und Zustände gab und gibt, die Literatur werden wollen.

Nicht weil Literatur Probleme lösen könnte, nicht weil sie Antworten anbieten könnte. Angebote kann sie machen; Möglichkeitsräume auftun – „Kopfheimaten“, hätte Joseph hier wohl eingeworfen;

Und wahrscheinlich hätte Joseph sowieso schon viel früher protestiert. Weil ich hier nicht von mir reden soll. Und weil ich davor so leichtfertig von Erfindung geredet habe.

Auch im Erfundenen steckt Wahrheit. Auch Erfundenes lässt sich in eine Wahrhaftigkeit hinein verdichten. Auch Wahrhaftigkeit ist, nicht nur wenn von Literatur die Rede ist, Konstruktion und Komposition.

 

„Der, der hier so herzlich und feierlich gelobt wird, bin gar nicht ich. Dieses ‚Ich‘ ist eine Erfindung“. Das hat Joseph 2010 gesagt, als sein 75. Geburtstag groß gefeiert wurde.

Kurz davor habe ich Joseph kennengelernt.

Ich habe diese Sätze so beiläufig notiert, wie Joseph sie damals – nach einer für beinahe alle Anwesenden viel zu kurzen Nacht – gesagt hat.

„Dieses ‚Ich‘ ist eine Erfindung.“

 

Inzwischen scheint mir dieser Satz ein möglicher Schlüssel zu Josephs Literatur zu sein.

Kein ganz legitimer Schlüssel.

Ein Dietrich vielleicht. Oder eher ein Stemmeisen, das etwas aufmachen könnte.

Und vielleicht erlaubt dieses „Etwas“, das von mir behauptete Projekt einer „Ich-Erfindung“, tatsächlich auch Rückschlüsse auf den Autor hinter dem Werk, der sich irgendwann aus der „falsch verstandenen Fiktionalitäts-Zwangsjacke“ befreite.

„Man kann es sich auch einfach machen, indem man die Dinge verkompliziert“, würde Joseph spätestens jetzt sagen. Er würde vielleicht sogar laut werden. Und er hätte natürlich recht.

Eine unausgegorene Theorie ist weder Schlüssel noch Stemmeisen. Eintritt verschafft man sich damit nicht.

Aber vielleicht lässt sich damit ein Ausweg öffnen.

Wenn ich aus der Lektüre von Joseph Zoderers Büchern etwas ganz sicher gelernt habe, dann, dass jeder Ausweg auch zum Irrweg werden kann.

In „Lontano“ (1984) zum Beispiel, dem Buch nach dem Erfolg der „Walschen“, sucht einer in Amerika nicht nur die Ferne, sondern das Weite.

„Hinter mir ist Ferne und vor mir ist Ferne, ich freue mich, weil ich mich freuen muss“, sagt er sich.

Und er irrt: Ferne mag Freiheit versprechen, aber „Lontano“ ist eine Fluchtgeschichte. Sie erzählt von der Flucht, vor dem was war, vor dem was droht, vor sich selbst.

Da stiehlt sich einer davon – und wird sich doch nicht los.

Er wähnt sich „mitten in der Welt“ – und kriegt von dieser Welt wenig mit.

„Ich könnte, sagt er, genausogut tagelang, nächtelang von Island nach Sizilien fahren. In Wirklichkeit war für ihn nur das Fahren wichtig, fahrend wurde ihm bewusst, dass er diese Fahrt, die möglichst lange dauern und weit weg von zu Hause ablaufen musste, hinter sich zu bringen hatte, er wünschte nichts so sehr wie das Ende dieser Fahrt.“

Dass Literatur nicht antwortet, sondern Gewissheiten in Frage stellt, ist eine Binsenweisheit.

Wie alle Binsen ist sie vielleicht wichtig, aber nie ganz richtig: Literatur sucht eine Form. Sie formt das Ungewisse. Sie deutet das Uneindeutige aus.

Sie macht die, die sich ihr aussetzen, die, die sich zu ihr ins Verhältnis setzen nicht wirklich klüger, aber im besten Fall ein bisschen aufmerksamer und vielleicht auch ein bisschen vorsichtiger.

Josephs Texte verlangen nach genauer Lektüre. Wenn man nur der Handlung folgt – nur das, was erzählt wird, verfolgt, bleibt ihr Geheimnis Geheimnis. Auch dafür ist „Lontano“ ein gutes Beispiel: Die Komposition, der Perspektivwechsel in einem Satz; die indirekte Rede; Erzählung, Schilderung, Reflexion. Nur durch einen Beistrich getrennt.

Aber auch davon müssten Josephs Komplizen erzählen.

 

„Das nützlichste Unnütze, das ist Literatur“, hat Joseph in einem Gespräch mit Sigurd Paul Scheichl einmal gesagt – und „was die Menschheit rettet, ist letzten Endes das wichtige Unnützliche“.

Das war um 2010.

Gut 40 Jahre davor tönte das nützlich Unnütze noch in dialektaler Wucht:

„Uamol tat i gern inibelfern
Nit long Kopf n
Schnölln losen
A wenn mir di mufln geht
Uamol tat i gern in ganzn pichel
Aulupfn“

 

„Inigebelfert“ hat Joseph nicht nur einmal. Manchmal weil er musste. Manchmal weil er nicht anders konnte. Manchmal weil und manchmal, obwohl er es besser wusste. Manchmal lupfte er den ganzn Pichl. Mitunter hat er sich überlupft. Nicht immer war es leicht mit ihm. Auch für solche Geschichten gibt es Berufenere.

Langweilig war es nie.

 

Zum ersten Mal gesehen habe ich „den Zoderer“ an einem furchtbar heißen Sommertag am Bahnhof von Bozen. Da hatte ich noch keine Zeile Zoderer gelesen, weil – so hielt ich es damals –, wenn man schon Südtiroler ist, muss man nicht auch noch das lesen, was als „Südtiroler Literatur“ wegestempelt wurde.

Erkannt habe ich ihn natürlich trotzdem. So wie man einen Landeshauptmann erkennt oder den Bischof.

Jahre später, man hatte mich nach einer gemeinsamen Veranstaltung in der Tessmann-Bibliothek in Bahnhofsnähe einquartiert, habe ich Joseph davon erzählt – und versucht mich etwas ungelenk für was auch immer zu entschuldigen.

„Warum sollte es dir anders gehen“, hat er gesagt.

Präsentiert haben wir damals in Bozen, am 17. August 2012 – in der Erinnerung ist es wieder furchtbar heiß – Josephs Erzählungen „Konrad“ und „Mein Bruder schiebt sein Ende auf“.

Zwei Texte, die für mich zum Besten zählen, das Joseph geschrieben hat. Zwei zarte Texte. Makellos. Kein Wort zu viel. Alles da. Nichts darf eins zu eins genommen werden. Gerade deshalb sind sie so wahrhaftig, vielleicht sogar wahr.

Zwei Texte, die auf den, der darin „Ich“ sagt, aber eben nicht der Protagonist und schon gar kein Held ist, keine Rücksicht nehmen. „Rückschau ohne Rücksicht“, sagt der Überschriftenschreiber in mir.

Bei einem unserer letzten Telefonate, haben wir lose vereinbart, möglichst bald ein paar Schritte miteinander zu gehen.

„Vielleicht ist Ankommen
Auch Abschied“

 

Das schreibst Du in Deinem erst vor kurzem erschienen Gedichtband „Bäume im Zimmer“.

Vielleicht.

 

Joachim Leitner
– Terenten, 11. Juni 2022