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„Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.“ – Interview mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser

Bist du schon einmal alleine unterwegs gewesen – nur du und die Angst, dir könnte genau jetzt etwas passieren? Etwas Schreckliches, angetan von einem anderen Menschen? Wenn du eine Frau bist oder einer in dieser Hinsicht vulnerablen Gruppe, wie zum Beispiel queeren Menschen, angehörst, kennst du dieses Gefühl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Dabei ist das Gewaltrisiko in den eigenen vier Wänden statistisch gesehen am größten. Aktuelle Untersuchungen ergeben: Jede dritte Frau in Österreich ist von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen betroffen. Was wird dagegen unternommen? Wir haben uns mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser darüber unterhalten.

Eure Arbeit erstreckt sich von der Frauenhelpline über Aufklärungsarbeit in verschiedensten Formen bis hin zur Umsetzung von EU-weiten Projekten und Kampagnen. All dies eint das Ziel, über das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Diese angesprochene Gewalt ist dabei sehr vielschichtig und komplex und wirkt sich auf das ganze Leben der Betroffenen aus. Könnt ihr uns erklären, was es für Frauen und auch Kinder bedeutet, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein?

Frauen sind vielen verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt: körperlicher, sexueller, psychischer und ökonomischer Gewalt sowie Gewalt im Internet, die natürlich auch in vielen Fällen ineinandergreifen. Sich in einer gewalttätigen Beziehung wiederzufinden ist ein schleichender Prozess, die Gewalt nimmt oft mit der Zeit an Häufigkeit und Schwere zu. In dieser Gewaltspirale wechseln sich Phasen der Kontrolle, Einschüchterung, emotionaler Erpressung/Missbrauch und Aggression mit Phasen von Entschuldigungen und Versprechung von Wiedergutmachung seitens des Täters ab. Den Betroffenen wird auch durch teilweise subtile Manipulationen des Täters die Schuld an seinem Verhalten zugeschoben. Besonderer Gefahr sind Frauen in der Trennungsphase ausgesetzt, in dieser Zeit finden besonders häufig auch Femizide und Fälle von schwerer Gewalt statt. Betroffene Frauen befinden sich oftmals in prekären Abhängigkeitsverhältnissen, vor allem auch, wenn gemeinsame Kinder da sind und es kaum Zugang zu leistbarem Wohnen gibt. All das lässt die Aussage, sich doch „einfach zu trennen“, nicht legitimieren, die schmerzhafte Realität gewaltbetroffener Frauen wird dadurch verharmlost. Die Trennung von einem gewalttätigen Partner ist ein langwieriger, belastender Prozess, sowohl in ökonomischer, juristischer, emotionaler und psychischer Hinsicht. Darüber hinaus ist die Trennung die gefährlichste Phase für eine gewaltbetroffene Frau – zu diesem Zeitpunkt werden die meisten Morde an Frauen durch einen gewalttätigen Partner begangen. Kinder sind bei häuslicher Gewalt immer mit betroffen – entweder direkt, indem sie selbst Misshandlungen ausgesetzt sind, oder indirekt, weil sie die Gewalt, die ihre Mutter erleiden muss, hautnah mitbekommen.

Häufig wird betont, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist, bei dem gerade auch staatliche Institutionen nicht genug sensibilisiert sind oder sogar an der Reproduktion von Strukturen beteiligt sind, in denen diese Gewalt möglich ist. Welche strukturellen und politischen Veränderungen müssen stattfinden, um Frauen vor Gewalt zu schützen? 

Eigentlich haben wir in Österreich gute Gesetze zum Schutz vor Gewalt, jedoch werden diese oft nicht wirksam angewendet oder ausgeschöpft, z.B. werden gefährliche und polizeibekannte Gewalttäter oft nur auf freiem Fuß angezeigt oder sogar freigesprochen, was oft zu schwereren Gewalttaten bis zu Femiziden führt. Obwohl immer mehr Frauen den Mut aufbringen, Anzeige gegen ihre Misshandler zu erstatten, bleibt die Tat für die Gewaltausübenden leider nach wie vor oft ohne ernsthafte Konsequenzen.
Für eine echte Gleichstellungs- und Gewaltschutzpolitik wäre das Wichtigste eine langfristige und gesicherte Finanzierung. Das Budget des Frauenministeriums und spezifisch der Bereich für Gewaltprävention ist grundsätzlich (auch im Vergleich zu anderen Ressorts und Ministerien) viel zu niedrig. Angesichts der immens hohen Folgekosten von Gewalt braucht es eine Erhöhung der Mittel für das Frauenministerium. Dringend finanziert werden müsste z.B. auch eine langfristige österreichweite Bewusstseinskampagne gegen Gewalt an Frauen, besonders auch für die breitere Bekanntwerdung der Nummer der Frauenhelpline (0800 222 555). Darüber hinaus benötigt es 3000 neue Vollzeitstellen im Gewaltschutzbereich und für Betreuung und Begleitung der betroffenen Frauen und ihrer Kinder.
Frauen werden in unserer Gesellschaft strukturell abgewertet – frauenspezifische Tätigkeiten wie Care-Arbeit, also Kindererziehung, Haushalt oder die Pflege kranker oder älterer Angehöriger, werden schlecht bis gar nicht entlohnt. Oft sind diese Tätigkeiten unsichtbar und werden als selbstverständlich hingenommen. Es findet eine Ausbeutung dieser reproduktiven Tätigkeiten statt, die oft rund um die Uhr geleistet werden. An diesen Ausbeutungsverhältnissen gilt es anzusetzen, es muss eine gerechte Entlohnung, z.B. in Pflegeberufen, gewährleistet werden und eine gesellschaftliche Aufwertung dieser Tätigkeiten stattfinden.

Um betroffenen Frauen wirkungsvoll helfen zu können, braucht es Wissen – Wissen um diese strukturellen Probleme und um die Faktoren, die Gewalt gegen Frauen begünstigen. Wann sind Frauen, wann bin ich selbst besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden?

Gewalt an Frauen passiert überall auf der Welt und ist ein weltweites Problem. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und hängt weder mit Einkommen oder Bildung, noch mit der Herkunft oder Staatszugehörigkeit zusammen – Frauen bzw. Migrantinnen aus anderen Herkunftsländern sind also generell nicht häufiger von Gewalt betroffen, jedoch haben es gewaltbetroffene Migrantinnen aufgrund von prekären Lebensumständen (Flucht, etc.) besonders schwer, sich aus einer Situation häuslicher Gewalt zu befreien. Diese Faktoren bzw. Hindernisse machen die Situation von gewaltbetroffenen Migrantinnen im Vergleich zu betroffenen Österreicherinnen schwieriger.

Ein besonders wichtiger Faktor, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken bzw. sie zu verhindern, ist die Prävention gegen Gewaltbereitschaft. Was sind eurer Meinung nach sinnvolle Präventionsmaßnahmen?

Wie in anderen Ländern leben wir auch in der österreichischen Gesellschaft in einem Patriarchat. Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.
Es fehlen langanhaltende, flächendeckende und umfassende Kampagnen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, um das Bewusstsein und das Wissen in der breiten Bevölkerung zu erhöhen. Eine gute und effektive Maßnahme, um patriarchalen und frauenverachtenden Einstellungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sind möglichst flächendeckende Präventionsworkshops und Seminare in Schulen zu häuslicher Gewalt und Geschlechtergerechtigkeit, besonders auch für Burschen zu den Themen toxische Männlichkeit und stereotypische Frauen- und Männerbilder, um Gewalt schon im Vorhinein zu verhindern.

Viele betroffene Frauen schämen sich für das, was ihnen passiert, oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr und sie sind gesellschaftlichen Verurteilungen ausgesetzt. Wie kommt es zu den vielen Vorurteilen, mit denen dieses Thema behaftet ist, und wo muss hier ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden? Wie kann das am besten gelingen?

Trotz aller Fortschritte seit den 1970er Jahren ist das Thema geschlechtsspezifische Gewalt leider immer noch mit Scham assoziiert. Es wird selten darüber gesprochen und oft bekommen die Betroffenen vom Umfeld keinen Rückhalt, sie werden noch immer für die Tat des Mannes verantwortlich gemacht (sogenanntes victim blaming). Das hat leider oft zur Folge, dass sich gewaltbetroffene Frauen keine Hilfe holen.
Patriarchale Vorstellungen von Geschlecht spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Wir haben in Österreich seit Jahren Regierungen mit Beteiligung (rechts-)konservativer Parteien – im rechten bzw. konservativen politischen Spektrum wird Gewalt an Frauen verharmlost und oft als ein „importiertes Problem“ dargestellt. Gewalt von Männern gegenüber Frauen wird immer noch viel zu oft im Sinne eines patriarchalen Männlichkeitsbildes mit „Männer sind halt so“ abgetan und verharmlost und diese Männer werden auf diese Weise nicht zur Verantwortung für ihr eigenes Verhalten gezogen.
Auch verbale Gewalt an Frauen wird oft gesellschaftlich toleriert und Hass im Netz hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Hierbei hat die Verrohung der Sprache im Umgang und Diskurs deutlich zugenommen. Gewalt durch Worte ist auch psychische Gewalt und der Weg von der psychischen Gewalt zur körperlichen Gewalt ist oft ein kurzer.
In der Berichterstattung der Medien über Gewalt an Frauen, besonders im Boulevard, werden leider nach wie vor immer wieder patriarchale Klischees reproduziert. Immer noch werden Fälle von Gewalt von Männern an Frauen als „Familientragödie“, „Beziehungsdrama“ oder „Einzelfall“ verharmlost sowie der Täter entschuldigt. Von den Medien wünschen wir uns, dass Journalist*innen sich über verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung zum Thema Gewalt an Frauen und Kindern informieren – z.B. über den vom Verein AÖF erstellten Leitfaden zu verantwortungsvoller Berichterstattung – und diese auch anwenden.

Gemeinsam mit diesem Umdenken muss auch das Gespür dafür geschärft werden, wo jede*r einzelne aktiv werden kann. Wie übernimmt man als Einzelperson Verantwortung und kann betroffenen Frauen am besten helfen?

Um gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen, braucht es flächendeckende langfristige Bewusstseinsarbeit. Das kann u.a. durch Projekte, wie das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ erreicht werden, das der Verein AÖF aktuell in mehreren Wiener Bezirken und an insgesamt 25 Standorten in ganz Österreich durchführt.
„StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ ist ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes Gesamtpaket in der Gewaltprävention, das alle Menschen, insbesondere Nachbar*innen einlädt und befähigt, sich aktiv gegen Femizide und gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern zu engagieren. Es richtet sich explizit und direkt an die Zivilgesellschaft, bindet diese aktiv ein und weist ihnen konkrete und anwendbare Handlungsmöglichkeiten auf, um sie zu involvieren und zu zeigen, was jede*r Einzelne*r beitragen kann. Durch das Aufzeigen von Unterstützungsmöglichkeiten klärt StoP auf, was bei Verdacht auf Partnergewalt zu tun ist, wie sich Nachbar*innen selbst schützen und wie sie Gewalt verhindern können. Nachbar*innen können z.B. die Gewalthandlung unterbrechen, indem sie anläuten und nach etwas Unverfänglichem fragen (z.B. Zucker ausleihen). Auf diese Weise wird dem Täter signalisiert, dass die Nachbarschaft mithört und der Betroffenen wird signalisiert, dass sie nicht allein ist. Nachbar*innen verbünden sich mit anderen Personen, wie Familie und Freund*innen, informieren sich und überlegen, wie sie helfen können. Zudem können Nachbar*innen betroffene Frauen und Kinder niederschwellig über wichtige Notrufnummern, wie z.B. die Frauenhelpline 0800 222 555, Anlaufstellen, etc. informieren. StoP ermutigt Personen, eine klare Haltung gegen (häusliche) Gewalt/Partnergewalt einzunehmen, genau hinzuschauen und zivilcouragiert zu handeln. Entsprechend ist StoP auch ein Appell an die österreichische Zivilgesellschaft, sich aktiv einzusetzen und sich eindeutig und klar gegen Gewalt an Frauen und Kindern zu positionieren. Mehr Informationen auf stop-partnergewalt.at.

 

Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.

In Deutschland:

Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

Hier können Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in ganz Deutschland gesucht werden.

In Österreich:

Frauenhelpline gegen Gewalt, rund um die Uhr, anonym, kostenlos und mehrsprachig: 0800 222 555 www.frauenhelpline.at

Onlineberatung für Mädchen und Frauen im HelpChat, täglich 18-22 Uhr und jeden Freitag von 9-23 Uhr, mehrsprachig: www.haltdergewalt.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

Das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ setzt da an, wo häusliche Gewalt passiert, am Wohnort, in der Nachbarschaft, und hilft, häusliche Gewalt früh zu erkennen und zu unterbrechen.

BAKHTI – EmPOWERmentzentrum für gewaltbetroffene Mädchen* mit einem Zusatzangebot für mitbetroffene Burschen*: www.bakhti.at  und www.burschen.bakhti.at

Infowebsite für Kinder und Jugendliche: www.gewalt-ist-nie-ok.at

„Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal“ – Sabine Gruber im Interview

Über Lesen als Yoga, Schreiben als Bedürfnis, Recherche als diffuses Schnüffeln und was es eigentlich bedeutet, den Nachlass einer Autorin zu betreuen. Über diese Dinge haben wir mit der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Sabine Gruber gesprochen, die gerade ihren 60. Geburtstag gefeiert und ihren neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ veröffentlicht hat. Im folgenden Interview gibt sie uns einen spannenden Einblick in ihre literarische Arbeit, ihre Inspirationen und ihren kreativen Prozess.

Wir gratulieren Ihnen  ganz herzlich zu Ihrem 60. Geburtstag dieses Jahr. Im Laufe Ihres erfolgreichen literarischen Schaffens haben Sie Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Essays veröffentlicht und waren zudem als Universitätslektorin tätig. Gab es gewisse Meilensteine oder Herausforderungen, die Sie als Schriftstellerin besonders geprägt haben? Und: Was hat Sie ursprünglich zu dieser Berufswahl inspiriert?

Vielen Dank für die Glückwünsche!

Mit Sicherheit war der RAI-Kurzgeschichten-Preis 1985 eine Ermunterung weiterzuschreiben. Und als ich nach dem Studium als Lektorin an der Universität Venedig tätig war, stellte mir mein ehemaliger Diplomarbeit-Betreuer, Professor Sigurd Paul Scheichl, die richtigen Fragen, ob ich denn die Universitätslaufbahn einschlagen oder doch lieber schreiben wolle. Er verstand früher als ich, daß beides gleichzeitig nicht möglich ist.

An einem der ersten Schultage im Gymnasium wurden wir gefragt, warum wir uns für das Humanistische Gymnasium (mit Latein und Altgriechisch) entschieden hätten. Meine Antwort war damals schon, im Alter von 14 Jahren, ich wolle Journalistin oder Schriftstellerin werden. Es gab keine „Inspiration“ zu dieser Berufswahl, es war auch keine „Wahl“, es war vielmehr ein Bedürfnis, ein Verlangen, mich auszudrücken, zu lesen, die eine Welt, aus der ich kam, zu überwinden, neue auszudenken, mich in anderen, mir fremden Bücher-Welten aufzuhalten.

Welche Bücher oder Autor*innen haben Sie in den Anfängen Ihres Schreibens besonders fasziniert? Welche tun es heute? (Wie) Hat sich Ihre Einstellung zum Schreiben verändert?

Ich komme aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ich las, was ich zwischen die Finger bekam: Bücher aus der Schulbibliothek und Pfarrbücherei, Bücher von meinem Vater (Karl May, Ernst Hemingway, Joseph von Eichendorff usw.), Zeitschriften und Magazine, auch die Regenbogenpresse, da meine Großmutter einen Zeitungsladen besaß und bei uns von der Illustrierten Quick (gibt es seit 1992 nicht mehr) bis zu den Comic-Heften alles herumlag. Heute lese ich nur mehr Bücher, die literarisch wertvoll sind. Sobald ich sprachliche und/oder formale Mängel bemerke, lege ich ein Buch weg. Mit 60 gilt es keine Zeit zu verlieren. Zuletzt hatte ich fast alle Bücher von Anne Carson und Maggie Nelson gelesen, aber auch die Essays von Lukas Bärfuss, der sich den radikalen Blick „von unten“ bewahrt hat.

 

Foto von Till Raether

© privat

Trauer, Verlust und Schmerz sind zentrale Motive in Ihrer Lyrik. Finden Sie, die Lyrik eignet sich besonders gut dafür, mit diesen Themen umzugehen und diese Emotionen zu verarbeiten? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Stärken (oder auch Schwächen) der Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen?

Vor allem der vorletzte Lyrikband war eine Art Requiem auf meinen verstorbenen Lebensgefährten Karl-Heinz Ströhle. Der letzte Band „Am besten lebe ich ausgedacht“ besteht auch aus Reisegedichten, die sich mit bestimmten Orten, Bauten etc. auseinandersetzen.  Ob ich Lyrik oder Prosa schreibe, hat meist profane Gründe: Für die Romane bedarf es eines langen Atems, der Konzentration, der ökonomischen Sicherheit – Lyrik entsteht meist zwischen größeren Projekten. Ich möchte die Gattungen gar nicht gegeneinander ausspielen. Die Themen der Literatur ändern sich nicht, es gilt neue Formen zu finden, sowohl in der Lyrik, wo ich für mich zuletzt die Zwischenform „Journalgedicht“ gefunden habe, als auch in der Prosa, in der ich mich schon lange vom chronologischen, auktorialen Erzählen entfernt habe.

Unterscheiden sich Ihr kreativer Prozess, Ihre Herangehensweise oder Ihre Schreibroutine, je nachdem, ob Sie Gedichte oder Romane verfassen?

Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal, das ist eine gute Einübung ins Schreiben, ich werde beim Lesen mit dem Wesentlichen konfrontiert. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit ist, Konzentration zu üben. Dieses Ritual bleibt gleich, egal ob ich Lyrik oder Prosa schreibe. Und sowohl der Prosa, aber auch einigen Gedichten, gehen Recherchen voraus.

Gemeinsam mit Renate Mumelter verwalten Sie den literarischen Nachlass der Meraner Schriftstellerin Anita Pichler, zu deren Werk Sie auch Anthologien und Bücher herausgegeben haben. Welche Bedeutung hat das Konservieren und Aufbewahren von Erinnerungen bzw. das Erinnern in Ihrer literarischen Arbeit und für Sie selbst?

Nachlassarbeit bedeutet vor allem, die Bücher lieferbar zu halten. Eine Autorin existiert nur, wenn ihr Werk vorhanden ist. Deswegen ist es für Autorinnen und Künstlerinnen wichtig, dass sie zu Lebzeiten entscheiden, wer sich darum kümmern soll, dass sie die entsprechenden Personen gesetzlich dazu berechtigen.

Ich notiere viel, sammle Dokumente, Bücher, nutze Fotos als Erinnerungsspeicher. W.G. Sebald sagte einmal in einem Interview, man müsse auf eine diffuse Weise recherchieren, so wie ein Hund sucht, also in alle Richtungen, rauf und runter, langsam, schnell. Meine abgelegten Notizen und Bilder können zu einem späteren Zeitpunkt alte Erinnerungen freisetzen, sie enthalten Reste von Geschichten, die sich neu formulieren lassen. Den eigenen Erinnerungen ist nicht zu trauen, aber das spielt für die Literatur keine Rolle, denn es gilt ohnehin, das Eigene zu verfremden und sich das Fremde einzuverleiben.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Ich sammle Material für einen neuen Roman, aber darüber detailliert zu sprechen,  ist noch zu früh. Mein Großonkel Luis Gruber (1919-1944) hat ein interessantes Tagebuch hinterlassen, das er vom Tag der Einberufung durch die Deutsche Wehrmacht bis wenige Tage vor seinem Tod in der Nähe von Witebsk/Belarus geführt hat, das wird möglicherweise eine Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Mehr Lyrik für die Welt

„Gedichte sind Wort gewordene Lieder der Seele”,

befand die österreichische Philosophin und Künstlerin Lisz Hirn und versuchte damit, eine geeignete Metapher für das zu finden, was Lyriker*innen erschaffen. Ihre Worte verschmelzen zu einer Melodie, die uns zum Tanzen bringt, wo wir gar nicht anders können, als lautstark einzustimmen und den Groove zu spüren. Reime, gepaart mit Rhythmus und Sprachtönen werden zu Symphonien, denen wir gebannt lauschen.

Wirf einen Blick durch sieben Fenster, die dich in die Lyrik-Klang-Welten unserer Autor*innen entführen:

Nachts wird mir wetter – Andreas Neeser


Wettermachen

Unverhofft

finde ich manchmal den eigenen Namen: Ich
rede mich rückwärts zum Anfang des Tages
und Silbe für Silbe verschluck ich den Hochnebel
Schauer, Gewitter und Graupel
verworte ich farbig
ins heitere Blau aber
sprech ich mich
frei
von Gespinst und Gehudel
und mache das Wetter zuinnerst
im Wortlaut
ganz luft.

Nachts wird mir wetter“ – Andreas Neeser schreibt von Sinnlichkeit, Zerfall, Augenzwinkerndem und Ungeheurem: Der Autor schafft eine schier unglaubliche Verflechtung literarischer Vielseitigkeiten; schafft Gedichte, die uns mit dem Außen verbinden, unser Innerstes zusammenbringen mit all dem, das um uns geschieht, das vorbeizieht, sich windet und erblasst.

 

weich werden – Anja Bachl

 

 

ich schaffe Webstücke aus Fetzen und nenne das Liebhaberinnen
nie nervenendende Linien und darauf slacklinen
glaube an Wiedergeburt nach acht Stunden Schlaf
zünde Fackeln an um Schlangen zu locken die sich als meine Schwestern verkleiden
ich habe Schlupflöcher gesammelt und Blickwinkel und heimlich auch Berechnungen
und deshalb werde ich anstatt Stufen zu steigen Almwiesen bewandern

weich werden“ – Anja Bachl: Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert – darüber, wie wir uns Narben körpereigen machen, welche Spuren wir nicht hinterlassen und die Gespenster, die bleiben. Der Rausch einer Sprache, wie wir ihn selten erreichen: Anja Bachls Gedichte fangen uns ein, pflanzen ihre Gedanken dort, wo wir schon längst das Saatbeet vorbereitet, aber keine Worte gefunden haben. Tief im Innersten schürfend, trägt sie ins Bild, was Menschwerdung, Menschsein bedeutet. Ein Gedichtband, der Verletzlichkeit als widerständigen Fluss im eigenen Ich freilegt.

STRAND DER VERSE LAUF – Ferdinand Schmatz

 

das, da

das
seichte,
wärmend ohne rand
umspielt es fuss wie auge
ausgelaugt die poren es sich traut
an zu tupfen, ein zu sickern sachte
im brand von oben scheu zu hauten
und zurück sich pfropfend
tropfen weise, um zu spülen
nahes weg zu weitendem hinaus

STRAND DER VERSE LAUF“ – Ferdinand Schmatz: Wo stehen wir, mittendrin im Drumherum? Wie fühlt sich der Sand unter unseren Füßen an, wie die feuchte Luft auf unserer Haut? Seine Lyrik lässt innehalten im alltäglichen Treiben, schärft unsere Sinne, lässt sie weich werden für die Feinheiten unserer Wahrnehmung. Ferdinand Schmatz’ Verse sind eine Aufforderung, stehenzubleiben und trotzdem weiterzugehen; die Augen zu öffnen und die unerwarteten Tiefen dessen zu beforschen, was Sprache vermag uns bewusst werden zu lassen.

birthmarks – Precious Chiebonam Nnebedum

 

it is
in the crushing and the breaking,
the uprooting and the shaking,
the pressing and the stressing,
that wine is made.
believe it or not, you are
a vineyard.

es passiert
im zerstampfen und im brechen
im entwurzeln und im schütteln
im drücken und im belasten,
dass wein gemacht wird.
glaube es oder nicht, du bist
ein weingarten.

birthmarks“ – Precious Chiebonam Nnebedum beweist: Sie ist die Kraft, mit der zu rechnen ist.
Wer sind wir, wenn uns die Worte fehlen?
 Wer, wenn wir sie kaum aufhalten können? Wenn wir in verschiedenen Sprachen leben, uns nicht nur aus ihnen bedienen wollen, sondern sie für uns selbst finden. Uns durch Sprache ermächtigen und gleichzeitig durch sie ermächtigt werden. Precious Chiebonam Nnebedums Gedichte sind eindringlich, schimmernd. Sie begibt sich mit ihrer Lyrik auf eine Suche: Nach einer Antwort auf die Frage, was wir uns nehmen dürfen und müssen, was wir für uns fordern.

[ anich.atmosphären.atlas ] – Barbara Hundegger

 

äquator zodiacus circulus horarius primum
mobile: sobald der äußerste himmels-kreis
bewegt wird trägt er alle anderen sanft mit
sich | am horizont das uhrwerk: es führt die
kugel | am nordpol: 8 zahnräder im stundenrund
| innen 3 zeiger: für die verschiedenheit
von zeit | miniatur-gemälde die 76 gestirne:
aus winzigsten punkten ergeben sie ihr bild |
von den sternen: nicht einer der nicht richtig
wär’ | mit der feder gerissen | gestochen auf
6 tafeln | dein werk-stück: tadellos | aus sich
selber zeigt es: welches meister-werk es ist

[ anich. atmosphären. atlas ]“ – Preisgekrönte Dichtkunst: Barbara Hundegger bietet einen einzigartigen Einblick in das Tirol des 18. Jahrhunderts. In ihrem Gedichtband zeichnet sie gleichermaßen poetisch wie gesellschaftspolitisch die inneren Konflikte einer zerrissenen Existenz nach. Sie erschafft einen Gedichte-Atlas über das Aufeinanderprallen verschiedener Welten und Wortlandschaften: eine poetische Topografie von Peter Anichs Leben und Werk.

an den hunden erkennst du die zeiten – Christoph W. Bauer

auf grauer straßen rand
was traten wir doch in die pedale
bloß weg von den kopfnüssen
dreißig jahre ist das her unsere
lehrer alt aber nicht alle von ihnen
nazis auch die linken pfiffen wie
finke uns hunde herbei zogen
uns an den ohren aus den bänken
wir verstanden die warnung
nicht lernten für die schule selbst
die lieder die wir sangen und
trauten auf den droben
an weihnachten waren wir noch
ein wenig andächtiger als sonst
und dankten dem christkind
im voraus für den osterhasen

an den hunden erkennst du die zeiten“ – Der Dichter kommt uns auf die Schliche.
Von Fußstapfen und Hundeleben, Spinnenblut und Frömmigkeit, faulem Zauber und Odysseen, von der Sehnsucht nach und der Furcht vor sprachlosen Momenten: Christoph W. Bauer setzt zu Zeit- und Raumsprüngen an, wittert und nimmt Fährte auf, sucht das Weite und die Zerstreuung. Macht sich ein Bild, liest in den Geschichten, die auf der Straße liegen, und findet mit Sätzen Schlupflöcher aus der Enge. Genussvoll gibt er sich den Widersprüchen hin. Enthüllt das alles mit Worten, trägt es mit Humor und fasst es in widerständige und schelmische Verse.

Am besten lebe ich ausgedacht – Sabine Gruber


Anfang März

Wien

In China sitzen die Schlangenzüchter
Auf ihrer Ware, als seien ihnen die
Diebe ausgegangen. Dantes Höllen
Verdammte können von gebratenem
Schlangenfleisch nur träumen. Die
Hände hat man den Nackten noch
Gelassen, sie kriegen aber nichts zu
Fassen, tragen sie doch Natterfesseln
Und Handschleichen, schreien und
Gellen im offenen Graben. Ich sehe
Den Erben an so viel Recht verderben
Den Erben in der Schlangengrube mit
Fremden Werken werben. Es gehörte
Ihm nichts.

Am besten lebe ich ausgedacht“ – Über Sehnsuchts- und Erinnerungsorte, die von Brüchen und wiedergewonnener Lebensfreude zeugen
In dem ihr eigenen, verblüffend lebensnahen Ton entlockt Sabine Gruber den Augenblicken des Alltags ihre poetische Kraft. In ihrem Gedichtband verknüpft sie Liebessterben und LiebeswerbenGelebtes und ErdachtesHistorisches und Eigenes zu einem faszinierenden poetischen Kalendarium.

Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert: Interview mit Anja Bachl

© Theresa Wey

Leise Töne, zarte Erschütterungen, aber auch Selbstbewusstes, das mutig in die Welt schreit. Anja Bachl wird weich, lässt uns weich werden, verortet sich selbst und stellt gleichzeitig fest, dass wir uns nicht verorten lassen. Mit ihren Texten verstehen wir, wer wir sind und was uns als Menschen ausmacht.

Wir haben mit der Autorin und Kunsttherapeutin über ihr Leben und ihren Gedichtband „weich werden“ gesprochen. Im Interview betont Anja Bachl, wie wichtig es ist, einfühlsam zu sein. Sie spricht über ihre Erfahrungen mit dem Mental Load als getrennt Erziehende und welche Dinge im Arbeitsalltag wirklich wichtig sind.

 

Deine Gedichte sind sehr eindringlich, treffen uns genau dort, wo wir uns oft nicht trauen, hinzuhören. Wie entstand die Idee zum Gedichtband?

Erst einmal Dankeschön für das feine Feedback! Das ist tatsächlich etwas, das mir am Herzen liegt – das Thematisieren und mich nicht scheuen, in Thematiken einzutauchen und diese dann in Formen zu legen.

Die Idee entstand aus zwei Motivationen heraus. Zum einen habe ich eines Abends angefangen, meinen vollen Kopf zu entleeren, indem ich dieses Erleben, die Gleichzeitigkeit der Dinge, dieses viele Fühlen und Denken und das an Grenzen Stoßen zu versprachlichen. Die Gedichte waren mir ein Ventil, um mich zu orientieren oder mich auszuschütten, mich zu positionieren.

Zum anderen wollte ich es bei „weich werden“ einfach wissen: Wo stehe ich mit meinem Können ungefähr, was schaffe ich wie anzuwenden, welche Bögen sind spannbar? Ich hatte Lust, an etwas länger zu feilen und diese fancy Disziplin anzuwenden, von der alle reden. Zumindest meine eigene Version davon, die so geht: Ich schäle alle möglichen Schichten an Bewertungsstrukturen und deute und erstelle mich, abseits von starren und kurzsichtigen Mustern. Bleibe dran, ohne mich anzuleinen.

 

„If they cannot love and resist at the same time, they probably will not survive.” – Audre Lorde*
Dieses Zitat hast du für dein neues Buch gewählt. Warum genau dieses? Welche Verknüpfungspunkte hast du dazu?

Dieser Satz, so wie ich ihn deute oder verstehe, definiert für mich etwas, das in „weich werden“ eine tragende Rolle spielt: lieben und Widerstand leisten als ein Gleichzeitigkeitsprinzip, das sich bedingt. Wir brauchen die Liebe, das Zarte, das Weiche, um über das Fühlen zu einer Kraft zu kommen, zu einer Wut, zu einer Stärke, die uns mobilisiert und antreibt, für ein Leben einzustehen, das nicht vorrangig für eine Mehrheitsgesellschaft und für weiße Männer mit Macht funktioniert.

Von Audre Lorde durfte und darf ich da viel lernen. Ich sehe dieses Zitat auch als Erinnerung, besonders an weiße Feminist*innen, also auch an mich, nicht stehen zu bleiben bei einem „das ist ein schönes Zitat“, etwas Performativem, sondern es als meine Verantwortung zu verstehen, aktiv zu werden und zu handeln.

 

Der Titel und die Gedichte deines Buches greifen ein Thema auf, das in der heutigen Gesellschaft oft ausgekapselt wird: Einfühlsamkeit, das weich werden von Menschen. Warum genau dieses Thema?

Verletzlichkeit, Offenheit und Fühlfähigkeit haben eine unglaubliche Kraft, Prozesse ins Rollen zu bringen und eigenes Involviertsein einerseits griffig zu machen und andererseits zu transformieren und zu kontextualisieren. Wenn du sagst, das Thema wird gesellschaftlich oft ausgekapselt, dann stimme ich dir insofern zu, als dass Sensibilität und Durchlässigkeit immer wieder als Eigenschaften interpretiert werden, die es von Stärke oder Resilienz zu überwachsen lassen gilt. Was ein Trugschluss ist. Denn Nahbarkeit, sich selbst und seiner Umwelt gegenüber, ist eine wilde Ressource, die es uns ermöglicht, eine emphatische Sicht zu etablieren und so Verständnis zu lernen. Und dieses Verständnis und Wissen über Vorgänge ist wiederum ein sperrender Schlüssel in Bezug auf Diversität und wie viel Sinn es macht, Menschen ihre Facetten, ihre Unterschiedlichkeit zu lassen. Das Aufmachen verkrusteter Denkdynamiken macht uns nahbarer und so empfänglicher für Entwicklung. Widerstandskraft ist nicht das Fernbleiben von Emotion, das sofort wieder Aufstehen oder das Hartwerden, im Gegenteil. Sie ist die Fähigkeit Zusammenhänge herzustellen und sanft mit sich zu sein, hinzuhorchen und an Situationen zu wachsen. Das tun wir nicht, wenn wir spalten, da verschieben und verdrängen wir nur. Weich zu werden meint eben auch die Überzeugung, sich als Ganzes zu verstehen und uns verletzlich zu zeigen – wider diesen absurden Duktus einer objektifizierenden Gesellschaft und dem immerwährenden Appell an Funktionsfähigkeit zum Trotz. Mensch kann es als einen revolutionären Akt verstehen, weil sich für Verwundbarkeit und Spüren zu entscheiden etwas mit Entgegensetzen und Solidarität zu tun hat.

 

Du bist Autorin und Kunsttherapeutin. Wie sieht dein Alltag momentan aus? Was ist dir in deiner Arbeit besonders wichtig? Was bedeutet Schreiben für dich?

Gerade versuche ich mein Berufsleben noch mehr entlang meiner Fähigkeiten und meiner Passion zu formen, das bedeutet, ich schreibe viel, suche mir Aufträge und lasse mich für Aufträge finden. In der Arbeit als Kunsttherapeutin spezialisiere ich mich auf Mental Load, Care-Arbeit und alternative Familienmodelle. Das heißt, mein Alltag ist gerade ein arbeitsreicher, ein emsiger, einer voller Ideen, eigener Struktur und bewegt Sein.

Die Frage nach Dingen, die mir in meiner Arbeit besonders wichtig sind, hat auch viel mit Wünschen, Möglichkeiten und Privilegien zu tun. Ich weiß sehr genau, was mich mit Freude erfüllt, was ich gut kann oder worin ich aufgehe. Dem kann ich mal mehr, mal weniger nachgehen. Ich habe viele Jahre wenig geschlafen und unzählige Stunden gearbeitet, an verschiedenen Stellen. So entlang der Bedürfnispyramide Vorstellungen wachsen lassen. Als Erstes muss halt einfach Einkommen gesichert sein, die Fixkosten bezahlt werden können. Das ist mir primär wichtig, meine Miete bezahlen zu können und meinem Sohn eine Winterjacke. Es ist eine Illusion zu glauben, Mensch kommt als getrennt Erziehende, Studierende, pflegende Angehörige mit ausreichend Schmalz und Power und Willen, oder wie all diese toxic heuchlerischen Positiv-Mantren heißen, als Konsequenz des Fleißes an einen Punkt, wo man richtig gestalten kann. Es ist eine Systemschwierigkeit, die es manchen Menschen schlichtweg nicht ermöglicht, sich die Frage stellen zu können, wie sie wo und wieviel arbeiten wollen. Ich betone das, weil ich mir diese Frage, also das „Was ist mir besonders wichtig?“ zwar schon lange stelle und auch beantworten kann, es für die Durchführung aber nochmal mehr als die reine ausgeklügelte Theorie braucht. Das heißt, nach Miete und Jacke gehe ich auf in einer Arbeit, wo ich in Resonanz gehen kann, mit Menschen und ihren Themen. Bestmöglich biete ich also etwas an, das da draußen widerhallt, nachhallt und weitergesponnen wird. Des Weiteren ist es für mich wichtig, mich weiterzubilden und nicht unflexibel zu werden, mich einzusetzen und Freude zu haben an dem, was ich tue. Wenn ich nämlich Freude habe und die Möglichkeit, auf meine Grenzen zu achten, dann kann ich intensiv und effektiv arbeiten, ohne am Ende des Tages nur mehr eine Hülle zu sein.

Schreiben bedeutet für mich atmen und mich neu erfinden und mich wieder fassen und aus den Winkeln hervorzukramen und schreiben bedeutet für mich, mich ordnen und die Zügel zu verräumen. Schreiben ist mein Ventil und mein Werkzeug, der Versuch, über das Konkretisieren zu verstehen und die Gelegenheit, das Spiel und die Leichtigkeit nicht zu verlernen. An manchen Tagen sage ich „Schreiben, das kann ich halt!“ und an manchen Tagen sage ich „Kann ich überhaupt schreiben?“. Aber eines ist sicher. Ich muss.

 

Deine Gedichte legen einen Teil von dir selbst offen. Wie findest du die Kraft, dich immer wieder mit dem auseinanderzusetzen, was vielleicht auch schmerzhaft sein kann/ist? Wie bleibst du dabei in Kontakt mit dir selbst?

Das Ziehende, das Zerschmetternde und das Zerrüttende ist zwar nicht das lässigste Life, das stimmt, es schmerzt sich auf die Bruchstellen und die mürben Tage einzulassen, beziehungsweise sie einfach sein zu lassen. Aber schlussendlich bleibt uns nichts anderes übrig. Denn das ist es nun mal, dieses Leben. Ein Sammelwerk aus all the feels. Zum einen habe ich für mich überhaupt keine andere Wahl, denn ich kann nicht erfolgreich verdrängen, ohne, dass es dann an einer anderen Stelle herausquillt. Also. Themen finden schon ihren Weg durch das Gestrüpp. Mensch kann vielleicht vertagen oder in Dosen Dingen ins Gesicht schauen. Aber wegschieben, das geht nur temporär. Andererseits bin ich ein Fan einer Idee von Menschsein, die nicht ausklammert, sondern integriert und bindet. Das bedeutet nicht, alles muss Sinn ergeben oder solche Trugschlüsse. Nicht jeder Schmerz macht uns widerstandsfähiger, das ist eine Mär und eine nette Masche von irgendwelchen Esoteriken. Was wir lernen können, ist, Strategien und Mechanismen zu finden und zu etablieren, ganz individuelle, die uns helfen, mit Dingen umzugehen. Vielleicht, damit sie weniger kratzen oder offene Stellen hinterlassen. Damit nicht Erfahrungen und die Gefühle dazu uns herumreißen, sondern wir selbst verstehen, was vor sich geht, und so über Wasser bleiben. Kunst und Kreativität hat sich für mich da auch bewährt als Kitt, als Verständnismaschine, als Übersetzerin und als Methode, zu realisieren, zuzulassen, gehen zu lassen oder mich ins Jetzt zu holen. Mich kostet es viel mehr Kraft, mich nicht auseinanderzusetzen mit der Welt, der inneren und der äußeren. Es ist viel schmerzhafter für mich, Augen zu kneifen, als Augen zu öffnen.

Ich bleibe durch pragmatische Komponenten in Kontakt mit mir selbst, ich brauche ausreichend Schlaf, genügend Frischluft, Zeit für mich, Zeit für meine Liebsten, Austausch und Rückzug, Sonne und Humor. Um mich nicht zu verlieren, brauche ich finanzielle Sicherheit, Leichtigkeitsinseln, Liebe und Verständnis. Ich achte sehr bewusst darauf, diesen Kontakt zu mir erstens zu sichern, oder ihm möglichst nahe zu kommen, und zweitens ist es kein starres System, sondern etwas Bewegliches, Fluides, Organisches, das ich immer wieder neu hinterfrage und dem ich immer wieder neu begegne.

Liebe Anja, herzlichen Dank für das Gespräch und den sehr persönlichen Einblick in dein Denken.

*Audre Lorde war eine US-amerikanische Dichterin und Aktivistin und beschrieb sich mit folgenden Worten: „Ich bin schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter“. Durch ihre das Leben beobachtenden Gedichte und Essays wurde sie zu einer der wichtigsten Theoretikerinnen der Frauenbewegung.

In memoriam Joseph Zoderer (1935–2022)

Joachim Leitner sprach in seiner Gedenkrede bei der Verabschiedung von Joseph Zoderer am 11. Juni 2022 in Terenten/Südtirol über Komplizen, Kopfheimaten, Auswege und Irrwege.

Joseph Zoderer

Der Schriftsteller Joseph Zoderer;
© Tito Bertoni, 2019

Vor einer Woche überfiel mich Norbert Gstrein mit der Frage, ob ich heute etwas über Joseph sagen könnte. Aus dem Bauch heraus habe ich zugesagt.

Seither zweifle ich.

Ganz ohne Zweifel gibt es Berufenere, um von Joseph zu erzählen. Ganz ohne Zweifel gibt es Geübtere um „den Zoderer“ zu erzählen:

Forschende, die sich in die Wirklichkeiten seines Werkes eingearbeitet haben;

Fraglos auch solche, die sich daran, an Werk und Wirklichkeiten, an den Werkwirklichkeiten und den Welten dahinter, abgearbeitet haben.

Weggefährten. Joseph würde – vielleicht – von Komplizen sprechen.

Von Komplizen, die Etappen seines Weges mitgegangen sind – und die Zeugnis davon ablegen könnten, was war, was einmal wahr war, was wahrscheinlich ist und was höchstwahrscheinlich erfunden ist.

Diese Komplizen könnten vielleicht vom Bock erzählen, den Josephs Vater einst schoss, oder vom „Haus der Regeln“, oder wie man in 30 Tagen maturataugliches Italienisch lernt.

Den politischen Zoderer könnten sie erzählen.

Vom „Roten Peppin“ reden, von RAI und „Roter Zeitung“, von den Wiener Jahren, von den Auf- und Ausbruchsversuchen, von den Ausbrüchen. Davon, wie eng es hier und anderswo sein kann – und davon wie beklemmend es ist, wenn das Lob plötzlich von der vermeintlich falschen Seite kommt.

Sie könnten erzählen, wie man sich an den Rand des Schweigens schreibt;

Und vom Trotzdem-Weiterschreiben, vom trotzigen Weiterschreiben, vom Weiterschreiben aus Trotz, von Zorn und Zauberei, von Sprachartistik, von der Frage „Wozu schreiben“ und davon, dass es auch und gerade in Südtirol, Themen und Zustände gab und gibt, die Literatur werden wollen.

Nicht weil Literatur Probleme lösen könnte, nicht weil sie Antworten anbieten könnte. Angebote kann sie machen; Möglichkeitsräume auftun – „Kopfheimaten“, hätte Joseph hier wohl eingeworfen;

Und wahrscheinlich hätte Joseph sowieso schon viel früher protestiert. Weil ich hier nicht von mir reden soll. Und weil ich davor so leichtfertig von Erfindung geredet habe.

Auch im Erfundenen steckt Wahrheit. Auch Erfundenes lässt sich in eine Wahrhaftigkeit hinein verdichten. Auch Wahrhaftigkeit ist, nicht nur wenn von Literatur die Rede ist, Konstruktion und Komposition.

 

„Der, der hier so herzlich und feierlich gelobt wird, bin gar nicht ich. Dieses ‚Ich‘ ist eine Erfindung“. Das hat Joseph 2010 gesagt, als sein 75. Geburtstag groß gefeiert wurde.

Kurz davor habe ich Joseph kennengelernt.

Ich habe diese Sätze so beiläufig notiert, wie Joseph sie damals – nach einer für beinahe alle Anwesenden viel zu kurzen Nacht – gesagt hat.

„Dieses ‚Ich‘ ist eine Erfindung.“

 

Inzwischen scheint mir dieser Satz ein möglicher Schlüssel zu Josephs Literatur zu sein.

Kein ganz legitimer Schlüssel.

Ein Dietrich vielleicht. Oder eher ein Stemmeisen, das etwas aufmachen könnte.

Und vielleicht erlaubt dieses „Etwas“, das von mir behauptete Projekt einer „Ich-Erfindung“, tatsächlich auch Rückschlüsse auf den Autor hinter dem Werk, der sich irgendwann aus der „falsch verstandenen Fiktionalitäts-Zwangsjacke“ befreite.

„Man kann es sich auch einfach machen, indem man die Dinge verkompliziert“, würde Joseph spätestens jetzt sagen. Er würde vielleicht sogar laut werden. Und er hätte natürlich recht.

Eine unausgegorene Theorie ist weder Schlüssel noch Stemmeisen. Eintritt verschafft man sich damit nicht.

Aber vielleicht lässt sich damit ein Ausweg öffnen.

Wenn ich aus der Lektüre von Joseph Zoderers Büchern etwas ganz sicher gelernt habe, dann, dass jeder Ausweg auch zum Irrweg werden kann.

In „Lontano“ (1984) zum Beispiel, dem Buch nach dem Erfolg der „Walschen“, sucht einer in Amerika nicht nur die Ferne, sondern das Weite.

„Hinter mir ist Ferne und vor mir ist Ferne, ich freue mich, weil ich mich freuen muss“, sagt er sich.

Und er irrt: Ferne mag Freiheit versprechen, aber „Lontano“ ist eine Fluchtgeschichte. Sie erzählt von der Flucht, vor dem was war, vor dem was droht, vor sich selbst.

Da stiehlt sich einer davon – und wird sich doch nicht los.

Er wähnt sich „mitten in der Welt“ – und kriegt von dieser Welt wenig mit.

„Ich könnte, sagt er, genausogut tagelang, nächtelang von Island nach Sizilien fahren. In Wirklichkeit war für ihn nur das Fahren wichtig, fahrend wurde ihm bewusst, dass er diese Fahrt, die möglichst lange dauern und weit weg von zu Hause ablaufen musste, hinter sich zu bringen hatte, er wünschte nichts so sehr wie das Ende dieser Fahrt.“

Dass Literatur nicht antwortet, sondern Gewissheiten in Frage stellt, ist eine Binsenweisheit.

Wie alle Binsen ist sie vielleicht wichtig, aber nie ganz richtig: Literatur sucht eine Form. Sie formt das Ungewisse. Sie deutet das Uneindeutige aus.

Sie macht die, die sich ihr aussetzen, die, die sich zu ihr ins Verhältnis setzen nicht wirklich klüger, aber im besten Fall ein bisschen aufmerksamer und vielleicht auch ein bisschen vorsichtiger.

Josephs Texte verlangen nach genauer Lektüre. Wenn man nur der Handlung folgt – nur das, was erzählt wird, verfolgt, bleibt ihr Geheimnis Geheimnis. Auch dafür ist „Lontano“ ein gutes Beispiel: Die Komposition, der Perspektivwechsel in einem Satz; die indirekte Rede; Erzählung, Schilderung, Reflexion. Nur durch einen Beistrich getrennt.

Aber auch davon müssten Josephs Komplizen erzählen.

 

„Das nützlichste Unnütze, das ist Literatur“, hat Joseph in einem Gespräch mit Sigurd Paul Scheichl einmal gesagt – und „was die Menschheit rettet, ist letzten Endes das wichtige Unnützliche“.

Das war um 2010.

Gut 40 Jahre davor tönte das nützlich Unnütze noch in dialektaler Wucht:

„Uamol tat i gern inibelfern
Nit long Kopf n
Schnölln losen
A wenn mir di mufln geht
Uamol tat i gern in ganzn pichel
Aulupfn“

 

„Inigebelfert“ hat Joseph nicht nur einmal. Manchmal weil er musste. Manchmal weil er nicht anders konnte. Manchmal weil und manchmal, obwohl er es besser wusste. Manchmal lupfte er den ganzn Pichl. Mitunter hat er sich überlupft. Nicht immer war es leicht mit ihm. Auch für solche Geschichten gibt es Berufenere.

Langweilig war es nie.

 

Zum ersten Mal gesehen habe ich „den Zoderer“ an einem furchtbar heißen Sommertag am Bahnhof von Bozen. Da hatte ich noch keine Zeile Zoderer gelesen, weil – so hielt ich es damals –, wenn man schon Südtiroler ist, muss man nicht auch noch das lesen, was als „Südtiroler Literatur“ wegestempelt wurde.

Erkannt habe ich ihn natürlich trotzdem. So wie man einen Landeshauptmann erkennt oder den Bischof.

Jahre später, man hatte mich nach einer gemeinsamen Veranstaltung in der Tessmann-Bibliothek in Bahnhofsnähe einquartiert, habe ich Joseph davon erzählt – und versucht mich etwas ungelenk für was auch immer zu entschuldigen.

„Warum sollte es dir anders gehen“, hat er gesagt.

Präsentiert haben wir damals in Bozen, am 17. August 2012 – in der Erinnerung ist es wieder furchtbar heiß – Josephs Erzählungen „Konrad“ und „Mein Bruder schiebt sein Ende auf“.

Zwei Texte, die für mich zum Besten zählen, das Joseph geschrieben hat. Zwei zarte Texte. Makellos. Kein Wort zu viel. Alles da. Nichts darf eins zu eins genommen werden. Gerade deshalb sind sie so wahrhaftig, vielleicht sogar wahr.

Zwei Texte, die auf den, der darin „Ich“ sagt, aber eben nicht der Protagonist und schon gar kein Held ist, keine Rücksicht nehmen. „Rückschau ohne Rücksicht“, sagt der Überschriftenschreiber in mir.

Bei einem unserer letzten Telefonate, haben wir lose vereinbart, möglichst bald ein paar Schritte miteinander zu gehen.

„Vielleicht ist Ankommen
Auch Abschied“

 

Das schreibst Du in Deinem erst vor kurzem erschienen Gedichtband „Bäume im Zimmer“.

Vielleicht.

 

Joachim Leitner
– Terenten, 11. Juni 2022