Autor: Linda

Zwischen Beatles-Frisuren, Flower-Power und der Sehnsucht nach der großen Welt: Mach dich bereit für eine Zeitreise in die 70er! Herbert Dutzlers Roman „Wenn die Welt nach Sommer riecht“ in 5 Songs + Leseprobe

Siegfried ist 13 – ein Alter, in dem Abenteuerromane und das Spielen draußen auf den Feldern in den Hintergrund rücken, etwas anderes dafür immer interessanter wird: Mädchen. Was zuerst lästiges Geschnatter war, hört sich plötzlich an wie engelsgleicher Gesang. Außerdem locken der erste Schluck Alkohol, der erste Zug an der Zigarette – die Kindheit ist vorbei, die Ära der Pubertät ist eingeläutet! Herbert Dutzler verwebt meisterhaft Siegfrieds persönliche Erlebnisse mit den gesellschaftlichen Umwälzungen der 1970er-Jahre. Ein Buch, das uns mit auf eine fesselnde Reise nimmt – in eine Zeit, in der sich für Sigi alles nach Sommer anfühlt, in eine Zeit voller erster Male.

1 Zimmer mit Fließwasser, warm und kalt

(…)
„Morgen kommen die Engländer!“, seufzt Tante Hermi und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Hoffentlich geht das gut. Ich meine, mein Englisch … ich hab ja nur zwei Jahre gelernt, und das ist lang her.“ „Aber ich kann Englisch! Ich hab im Zeugnis einen Einser, einen lupenreinen! Ich kann ja mit denen reden!“ Die Tante zieht die Stirn in Falten. „How do you do mit die Gummischuh!“, schmettert Onkel Fredi fröhlich, geht zum Fernseher hin und dreht am Einschaltknopf. „Hau i di a mit die Goisara!“ Das ist ein beliebter Scherz, den er sehr oft anbringt. Onkel Fredi wartet auf die „Zeit im Bild“, die Nachrichtensendung um halb acht, und ich wende mich wieder meinem Buch zu.
„Ja, du! How do you do! Du hast ja nicht einmal eine Ahnung, was das bedeutet!“, sagt Tante Hermi. „Natürlich!“, erwidert Onkel Fredi. „So grüßt man sich in Amerika!“ Ich klappe mein Buch zu, denn nun muss ich mich einmischen. „Also, wir haben gelernt, dass man bis Mittag ‚Good morning‘ sagt. Danach ‚Good afternoon‘ und am Abend ‚Good evening‘. Wenn man ganz höflich ist, sagt man noch ‚Pleased to meet you‘.“
Die Tante verzieht ihr Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse. „Sigi, das war mir jetzt schon zu viel. Wie war das noch einmal? Das muss ich mir aufschreiben!“ Sie läuft zu ihrem Schreibtisch und greift nach einem Notizblock. Ich sage ihr die Grußformeln noch einmal an. „Ich schreib mir’s einfach so auf, wie es sich anhört!“, sagt sie. „Weil wenn ich’s englisch aufschreibe, weiß ich dann nicht mehr, wie man’s ausspricht!“ „Es ist doch ganz einfach!“, prahle ich. „Das lernt man schon in der ersten Klasse! Sogar die Uschi kann das!“ „How do you do mit die Gummischuh, hau i di a mit die Goisara!“, wiederholt Onkel Fredi grölend. Er hat nicht zugehört und schon reichlich Bier getrunken. Gott sei Dank wird er dann immer zuerst lustig und dann schläfrig, während mein Papa gern zu fluchen und zu schimpfen anfängt, wenn er zu viel getrunken hat.
„Habt ihr denn noch nie Gäste aus England gehabt?“, frage ich die Tante. Sie schüttelt den Kopf, während Uschi den Kopf zur Tür hereinsteckt. „England?“, fragt sie. „Was ist mit England?“ Die Tante erklärt es ihr. „Ich muss aber nicht mit denen reden, oder?“, fragt sie. Uschi ist nämlich ein wenig schüchtern und hat überhaupt nicht gern mit fremden Leuten zu tun. Sie mag nicht einmal einkaufen gehen, hier in St. Edelgund, weil sie da die Leute im Geschäft nicht kennt.
„Natürlich nicht“, beruhigt sie die Tante. „Der Sigi wird dolmetschen. Hat er versprochen!“ Es klopft an der Wohnzimmertür, und die Tante öffnet. Draußen steht der Herr, der mit seiner Frau im zweiten Kinderzimmer wohnt. „Hätten Se wohl noch ’n Bierchen für uns, liebe Frau Wirtin?“ Er ist ein Deutscher, die sprechen so. Natürlich hat Tante Hermi, obwohl sie eigentlich keine Gastgewerbekonzession hat und kein Bier verkaufen darf. Im Geschäft kostet eine Flasche Bier zwei Schilling, und die Tante verkauft sie für vier Schilling weiter. „Das deckt mir grad die Schlepperei ab!“, sagt sie. „Ich muss ja schließlich auch die leeren Flaschen wieder zurückbringen. Und billiger als im Gasthaus ist es bei mir immer noch.“

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„Wie bist du denn überhaupt zu den Engländern gekommen?“, frage ich Tante Hermi. „Die Kurverwaltung hat sie mir vermittelt“, sagt sie. „Seit neuestem heißt unser Fremdenverkehrsbüro so. Wir sind nämlich jetzt ein Kurort. Wegen dem Wasser.“ „Das so stinkt!“, mischt sich Uschi ein. „Das würd ich nie trinken! Bäh!“ Sie streckt die Zunge heraus. „Wenn du so Kreuzweh hast wie ich“, ächzt der Onkel Fredi und hievt seine Füße auf den Couchtisch, „dann würdest alles trinken, wenn sie dir nur versprechen, dass es besser wird!“ „Ja, aber von den Füßen auf dem Tisch wird’s sicher nicht besser!“, schimpft Tante Hermi. „Was bist denn du für ein Vorbild für die Kinder! Runter mit den Flossen!“ Stöhnend gehorcht der Onkel. Es ist mir schon aufgefallen, dass hier im Haus die Tante den Ton angibt, noch mehr als bei uns zu Hause, wo Papa wenigstens meistens aufbegehrt, wenn Mama irgendwas entscheidet, ohne ihn zu fragen.
„Und die haben mich halt gefragt“, fährt die Tante fort, „ob ich auch Engländer nehmen täte, ob ich mir das zutraue. Und mit den Franzosen, da ist es ja auch gut gegangen, da haben wir uns halt mit Händen und Füßen …“ „Franzosen waren auch schon da?“, staune ich. „Wie sind denn die hierhergekommen?“ Die Tante zuckt mit den Schultern. „Genauso wie die Engländer, nehme ich an. Mit dem Auto halt.“

Ich bin verblüfft. Dass man so weite Reisen mit dem Auto unternehmen kann! Wir haben zwar seit ein paar Jahren einen VW Käfer, den Papa günstig von einer Nachbarin gekauft hat, deren Mann an Lungenkrebs gestorben ist. Der VW steht aber meistens im Heustadel und Papa muss ständig daran herumschrauben oder -schweißen. Mama schimpft dann immer und erinnert Papa daran, dass sie lieber noch ein wenig gespart und dann einen Ford Cortina gekauft hätte. Weil der hätte wenigstens einen ordentlichen Kofferraum, und außerdem hat der Mann von einer ihrer Freundinnen einen Ford Cortina, und da ist nie etwas kaputt. Ich kenne die Streitereien meiner Eltern praktisch auswendig, weil sie sich immer um die gleichen Dinge drehen und immer gleich ablaufen. Enden tun sie meistens damit, dass Papa die Tür hinter sich zuschlägt, zum Kirchenwirt geht und spät nachts die Stiege hinaufpoltert.

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Ich hab schon den ganzen Tag gebettelt, dass ich heute Abend die Sondersendung über Apollo 15 sehen darf. Diesmal haben die Astronauten ein Mondauto mit an Bord gehabt und sind auf dem Mond herumgefahren. Sie sind zwar gestern schon wieder zurück zur Erde gestartet, aber heute soll es eben eine Sondersendung geben, mit Filmmaterial, das bisher noch nicht gesendet worden ist. Leider bin ich der Einzige, den die Mondlandungen noch interessieren, sie sind inzwischen zum Alltag geworden und bei weitem keine Sensationen mehr. Mit 15 km/h sind die da oben herumgefahren, und auf manchen Aufnahmen kann man sehen, dass das Mondauto richtig über die Hügel hüpft. Es ist ja auch viel leichter, als es auf der Erde wäre. Auf dem Rückflug wird es noch einen spannenden Moment geben, denn der Kommandant der Kapsel muss aussteigen, um Datenkassetten einzusammeln. Es wird der erste Raumspaziergang in Mondnähe sein. Ich erkläre das alles der Tante und dem Onkel, aber die gähnen leider nur. Es ist eine Tragödie, dass sich so wenige Leute bei uns für den Fortschritt in der Wissenschaft interessieren. In zehn Jahren, das versprechen die Wissenschaftler, wird es eine ständig bewohnte Mondbasis geben, und in 20 Jahren wird man als Tourist dorthin fliegen und dabei zuschauen können, wie die Marsrakete auf dem Mond zusammengeschraubt wird.

Später im Bett lese ich noch in meinem Thor Heyerdahl und staune über so viel Mut. Mit einem aus Schilfstengeln zusammengebundenen Boot nach Amerika zu fahren, das ist eine ganz unglaubliche Geschichte. Amerika, das ist überhaupt ein Zauberwort für mich. Die ganzen Wildwestgeschichten von Karl May spielen dort, und die Raketen zum Mond, die starten auch in Amerika. Ob ich einmal auf dem höchsten Wolkenkratzer der Welt, auf dem Empire State Building, stehen werde? Das wird wohl ein Traum bleiben, fürchte ich. Denn gegen Ende der Ferien fahren wir wieder nach Caorle, mit dem Bus, weil unser Käfer für eine so weite Reise nicht taugt, sagt Mama. Weiter bin ich in meinem Leben bisher nicht gekommen.
Den nächsten Tag verbringe ich in großer Anspannung, denn wir erwarten die Engländer. Ich halte mich meist auf der Terrasse auf, damit ich sie nicht übersehe. Leider vertreibt mich zu Mittag der Regen, und ich muss mit meinem Buch unter dem Balkon Schutz suchen. Aber ich will trotzdem der Erste sein, der sie begrüßt.

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Endlich, gegen halb vier am Nachmittag, taucht ein seltsames Auto in unserer Einfahrt auf. Es ist ziemlich groß, grün und von einer Marke, die ich nicht kenne. Das Kennzeichen hat viel dickere Buchstaben als unsere und endet mit einem „G“. Ein österreichisches Auto kann es also nicht sein. „Tante Hermi!“, schreie ich und stürme durch die Terrassentür in die Küche. „Sie sind da! Die Engländer sind da!“ „Mein Gott!“ Die Tante springt auf und streicht ihre Schürze glatt. „Hoffentlich geht das alles gut!“ „Welches Zimmer kriegen sie denn?“, frage ich. „Die Nummer drei! Das mit dem Eckbalkon!“ Die Tante rennt zur Haustür, ich in ihrem Schlepptau. Die Engländer stehen hinter dem geöffneten Kofferraumdeckel und haben Schirme aufgespannt. „Sag ‚Good afternoon‘“, flüstere ich Tante Hermi noch zu. Sie schüttelt schon Hände. „Good afternoon, Missis Langdon!“, sagt sie. Und „Good afternoon, Mister Langdon!“. Es werden Hände geschüttelt, die Ankömmlinge lächeln. Er hat rötliches Haar und einen ebenso rötlichen Vollbart, während die Frau dunkelhaarig ist und in einem recht eleganten grünen Kleid steckt, das ungefähr dieselbe Farbe wie das Auto hat.
„I am Sigi!“, dränge ich mich vor, weil die Tante vergessen hat, mich vorzustellen. „And I can speak English!“ Die beiden lachen. „Wonderful!“, sagt Mrs. Langdon. Ich hab mir natürlich schon zurechtgelegt, was ich sagen werde. „May I carry your suitcase?“, frage ich und greife nacheinem Koffer, der schon auf dem Boden steht. Er ist auch grün, genauso wie Auto und Kleid. Damit er nicht nass wird, schnappe ich ihn gleich, um ihn aufs Zimmer zu tragen. Mrs. Langdon duftet auch ganz wunderbar, was mich erstaunt, weil sie doch sicher stundenlang im Auto unterwegs waren.
Mr. Langdon wuchtet einen noch größeren braunen Koffer aus dem Auto. Hinten auf dem Auto steht „Rover P6“, und es ist auch ein internationales Kennzeichen angebracht, auf dem „GB“ steht. „You have room number three!“, erkläre ich und gehe voran. Den Engländern scheint das Zimmer zu gefallen, sie loben die Aussicht auf den Zwölferkogel und hinunter ins Dorf bis zur Kirche. „Marvellous!“, zwitschert Mrs. Langdon und schiebt den Vorhang zur Seite. Mr. Langdon kramt in seiner Hosentasche und drückt mir schließlich einen Zehner in die Hand. Zehn Schilling! Dafür muss ich normal Tante Hermi zehnmal beim Abtrocknen helfen! So viel Trinkgeld habe ich noch nie bekommen! „Aber das wäre doch gar nicht nötig!“, beeilt sich Tante Hermi, die ein bisschen rot geworden ist, weil sie außer Nicken und Mit-den-Händen-Deuten noch nichts gesagt hat, nachdem sie die Langdons begrüßt hat.

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„And now“, sagt Mrs. Langdon, „I’d like to take a bath. After that long drive.“ Ich verstehe jedes Wort, sie spricht sehr deutlich und fast genauso wie unser Englischlehrer. Oje, denke ich mir, da wird die Tante nicht so erfreut sein. Denn wenn zwei Leute baden, dann wird bei uns das warme Wasser knapp, und weil der Boiler bloß mit Nachtstrom aufheizt, der viel billiger ist, haben dann die anderen Gäste möglicherweise kein warmes Wasser mehr für ihre Waschbecken. „Sie möchte baden!“, erkläre ich der Tante. „Selbstverständlich!“, nickt sie. „I show you the bath!“ Leider sagt sie „Bass“, ohne das „th“. Aber immerhin hat sie sich getraut. Sie geht auf den Gang hinaus und zeigt Mrs. Langdon den Weg.
„Oje“, seufzt die Tante, als wir wieder unten in der Küche sind. „Wenn die womöglich jeden Tag baden wollen, dann gute Nacht!“ „Vielleicht können wir ihnen das mit dem Boiler erklären?“, schlage ich vor. Die Tante schüttelt den Kopf. „Jetzt schauen wir einmal. Man darf die Gäste schließlich nicht vergrämen. Vielleicht geht es sich ja eh aus mit dem Warmwasser. Müssen wir halt sparen, ich mach mir zum Abwaschen was auf dem Herd heiß.“ „Schließlich“, erinnere ich sie, „steht auf dem Schild auch ‚Warmwasser‘.“ Die Tante verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. „Schilder sind geduldig!“, sagt sie. „Die müssen Geld haben wie Heu!“, fügt sie hinzu. „Das Kleid, das Auto, zehn Schilling Trinkgeld … warum die nicht in ein Hotel gegangen sind?“, fragt sie mehr sich selbst als mich. „Vielleicht, weil’s ihnen mit Familienanschluss besser gefällt!“ Die Tante wiegt zweifelnd den Kopf.
Familienanschluss bedeutet, dass sich manche Gäste am Abend zu uns ins Wohnzimmer setzen und mit der Tante und dem Onkel Wein und Bier trinken. Manchmal spielt Onkel Fredi dann auf der Ziehharmonika und alle singen dazu. Der Fernseher bleibt natürlich ausgeschaltet. Ich selber halte nicht so viel vom Familienanschluss, ich lese lieber.
Ich schleiche mich noch einmal in die Pension hinüber. Vielleicht brauchen die Engländer ja was, und ich bekomme noch einmal ein Trinkgeld. Im ersten Stock höre ich es dann kichern und platschen. Anscheinend hat Mrs. Langdon schon ihr Bad einlaufen lassen. Aber hört man da nicht zwei Stimmen aus dem Bad? Natürlich! Ein gekichertes „No, Jim!“ verstehe ich, und dann höre ich auch Mr. Langdon grummeln. Sind die beiden miteinander in die Badewanne gestiegen? Davon habe ich überhaupt noch nie gehört, dass ein Mann und eine Frau sich eine Badewanne teilen. Und wahrscheinlich ist es sogar ein bisschen unanständig. Andererseits wird es die Tante freuen, wenn ich es ihr erzähle, denn so sparen die beiden wenigstens warmes Wasser. Ich verziehe mich, bevor mich noch jemand sieht und womöglich denkt, dass ich an der Badezimmertür lausche.
Weil es noch immer regnet, gehe ich in unser Zimmer, wo Uschi gerade damit beschäftigt ist, ihrer Puppe die Haare zu kämmen. „Ich hab schon Englisch geredet!“, prahle ich. „Und die beiden Engländer, die sitzen gerade miteinander in der Badewanne!“ Uschi klappt die Kinnlade hinunter. „In der Badewanne? Miteinander?“ Ich nicke. „Wahrscheinlich seifen sie sich gegenseitig ein.“ Meine Fantasie spielt mir gerade wilde Streiche. Mrs. Langdon ist eine sehr hübsche Frau. „Aber … darf man denn das?“, fragt Uschi. Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht macht man das in England so. Und vielleicht haben sie ja auch eine Badehose an, und einen Badeanzug.“ „Aber das … der Mitzi-Oma darfst du das nicht erzählen!“, flüstert Uschi. „Die schmeißt die zwei dann nämlich gleich hinaus!“

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Zum Weiterhören: Sigis Hitparade

Danyel Gérard Butterfly
Michael Nesmith Silver Moon
John Lennon / Plastic Ono Band Power to the People
Georgie Fame & Alan Price Rosetta
T. Rex Get It On
Giorgio Son of my Father
Wolfgang Ambros Da Hofa
Rod Stewart Maggie May
Slade Coz I Luv You
The Cats One Way Wind
Can Spoon
The Beatles Lady Madonna
The Beatles All You Need Is Love
The Beatles Penny Lane
The Beatles Lucy in the Sky with Diamonds

 


Über die Kontrolle von Emotionen und die Emanzipation unserer Gefühle: Leseprobe aus „Chaos“ von Yassamin-Sophia Boussaoud

Je weniger man in gesellschaftliche Normen passt, desto größer ist es: das äußere und innere Chaos. Als Kind eines tunesischen Vaters und einer deutschen Mutter wird Yassamin-Sophia Boussaoud in Prien am Chiemsee geboren und spürt die Unterschiede der beiden Kulturen bereits früh auf sich einwirken. Yassamin-Sophia wird aufgrund des Aussehens anders behandelt, sieht sich mit Erwartungen und Konventionen konfrontiert, denen man kaum gerecht werden kann. Was folgt: Elternschaft im Teenageralter, ein von Ablehnung geprägtes Körperbild, das Unterdrücken der eigenen Gefühle. In „Chaos“ wird deutlich, welches Machtgefüge unserem System zugrunde liegt – und dass die Kontrolle von Emotionen ein Teil davon ist. Doch was geschieht, wenn wir uns diese Emotionen zurückholen? Mit dieser Leseprobe bekommst du einen Einblick in Yassamin-Sophia Boussaouds Buch, das mit einer literarischen und eindringlichen Stimme genau dort ansetzt, wo es wehtut, und uns aufhorchen lässt – Essays, die wir brauchen!

Epilog

Eine meiner merkwürdigsten Eigenschaften ist sicherlich die, dass ich bei jedem Buch das Ende zuerst lese. Ich kann einfach nicht anders. Schlage ich ein Buch auf, so überkommt mich die unbändige Sehnsucht, das Ende zu kennen.
Manch eine*r würde dies auf meine Ängste und meinen Hang zur Kontrolle schieben.
Ich hege diese Eigenschaft aber lieber als Besonderheit. Als wesentlichen Teil meiner Eigenheiten, von denen ich eine ganze Menge habe.
Das hier, das ist mein Buch.
Und ich wäre nicht ich, würde dieses Buch, diese Geschichte nicht mit dem Ende beginnen.

Ich schrieb dieses Buch im Frühling 2024 zu Ende – in einem für mich sehr aufregenden Jahr. Es ist das erste Jahr in meinem Leben, in dem die Sicherheit überwiegt. Ich bin 33 Jahre alt, verheiratet, lebe in finanziell einigermaßen sicheren Umständen und erwarte mein drittes Kind. Mein Leben ist gerade sehr simpel. Ich habe Armut und Wohnungslosigkeit überstanden, bin darüber hinweg, dass ich mein Studium abbrechen musste, und Heilung ist mittlerweile mehr als ein Ziel in weiter, weiter Ferne. Ich glaube, es ist das allererste Mal in meinem Leben, dass ich mit meinen vielen Gefühlen nicht mehr überfordert bin. Dass ich weiß, warum ich so fühle, so viel fühle. Und warum das in Ordnung ist.

Vor vielen Jahren, als ich ganz frisch begann, mich von meiner Herkunftsfamilie zu lösen und meine Traumata aufzuarbeiten, schrieb ich folgende Sätze:

“Ich bin zuweilen eine wirklich unmögliche Person! Ich halte mich selber für etwas ‚Besonderes‘, gehe davon aus, die Gefühlswelt anderer genau erfassen zu können und bade nur allzu gerne in Selbstmitleid und Melancholie. Von Kindesbeinen an hatte ich das Gefühl ‚Ich bin anders‘. Ich war neidisch, ohne es zu bemerken. Ich war eine Träumerin. Das Abwesende erschien mir so viel angenehmer als die Realität. Ich bin kleiner als diese Welt, ich verneige mich in Demut vor ihr und ihrer vollkommenen Schöpfung. Vollkommen bin ich wahrlich nicht. Davon war ich überzeugt.”

Wenn ich das heute lese, dann muss ich einerseits schmunzeln, andererseits habe ich Mitleid mit meiner jüngeren Version. Ich war früher schier besessen davon, mein Leben und meine Gefühle zu ordnen und „ein guter Mensch“ zu sein. Ich dachte, ich müsse meine Existenz rechtfertigen und „wieder gutmachen“.

Dabei war ich einfach ein sehr junger Mensch, dem in der Kindheit und im Jugendalter Gewalt angetan wurde. Der mit 16 plötzlich erwachsen werden musste.

Über die Jahre habe ich gelernt, dass meine Gefühle valide sind – die daraus folgenden Handlungen jedoch nicht immer.

Ich habe gelernt, dass der Schlüssel nicht darin liegt, das Chaos in mir aufzulösen, sondern es zu verstehen. Mich verstehen zu lernen. Und dass Selbstliebe keine Bedingung ist.

Ich würde heute nicht mehr behaupten, dass ich mich selbst liebe. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob dies jemals so sein wird. Aber ich bin mir heutzutage ein*e Freund*in. Was bedeutet, dass ich manchmal sanft zu mir bin und manchmal hart zu mir sein muss. Dass ich keine Ausreden wie „Nicht alle müssen mich mögen“ oder „Solange ich selbst weiß, was richtig ist“ nutze, sondern mich mitunter auch zwinge, zuzuhören, zu lernen und Veränderung zuzulassen. Denn ich bin nur ein einziger, letztendlich unbedeutender Mensch in diesem unendlich großen Universum. Und ich glaube, dass es mehr als genug Menschen gibt, die auf sich schauen. Ich möchte mich bewusst dazu entscheiden, auf andere zu schauen. Zusammenhalt, Care Arbeit und der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen den höchsten Stellenwert in meinem Leben zu geben. Ich möchte eine*r von Vielen sein. Mich selbst nicht zu wichtig nehmen und mir gleichzeitig meinen Raum nehmen und zugestehen. Das ist nicht einfach, und es ist nichts, was man einmal lernt und dann kann.

Ich glaube, es ist meine größte Erkenntnis, dass es kein Ende, kein Ankommen, keinen Zustand gibt, in dem wir als Menschen fertig sind. Dass unsere Gefühle keinen Anfang und kein Ende haben. Dass wir nicht allgemeingültig lernen können, wie wir zu welchem Zeitpunkt mit unseren Gefühlen umgehen. Dass Gefühle nicht linear sind, keine Einbahnstraße.

Ich und wir sind Wesen aus Sternenstaub. Wir sind alles, was gewesen ist, ist und sein wird.  Wir sind besonders und gewöhnlich zugleich. Wir sind Menschen. Nicht mehr und nicht weniger.

Von der Unruhe

Als ich noch nicht wusste, wie diese Welt sein kann,
da war es so viel einfacher zu sein.
Ohne nachzudenken.
Nur ich selbst. Getragen von Füßen,
die keine Angst davor hatten, Unbegangenes zu begehen.
Geleitet von Gedanken, die nicht davor zurückscheuen,
meine zu sein.

Als ich noch nicht wusste, wie viel Schmerz möglich ist,
da war es so viel einfacher zu lieben.
Ohne nachzudenken.
Einfach zu fühlen.
Geleitet von einem Herzen, das keine Angst kennt,
das zu erkunden, was man* Leben nennt.

Als ich noch nicht wusste, wie unschön es sein kann,
sich zu erinnern, da war es noch wichtig,
immer alles zu erleben. Nichts auszulassen.
Um jeden Preis dabei zu sein.

Als ich noch nicht wusste, wer ich bin, war ich traurig.

Ich wusste nicht, dass der Kummer die Freude umarmen kann.

Und dass sie für immer verbunden meinen Weg mir weisen.

Vielleicht weiß ich manches.
Vielleicht weiß ich nichts.
Aber doch, dass meine Füße mich auch tragen, wenn die Angst mich überkommt.
Dass mein Herz so vieles verstehen und vergeben kann, aber nicht muss.
Ich weiß, dass all meine Fehler mir zeigen, dass es das ist, was wir Leben nennen.
Dieses Chaos aus Versuchen, Fehlern und Gefühlen.

Unter dem Begriff Unruhe verstehen wir einen Zustand, in dem Ruhe fehlt oder auch ein Zustand ständiger Bewegung. Unruhe kann innerlich stattfinden oder äußerlich sichtbar sein.

Die Unruhe, die ich meine, ist jene, die sicherlich viele Menschen mit Migrationshintergrund kennen und ebenso wie viele marginalisierte Menschen, Menschen, die in der Gesellschaft Diskriminierung erfahren, sie kennen. Die unruhige Suche nach Antworten, nach einem Zuhause. Die Sehnsucht danach, Boden unter den Füßen spüren zu können.

Kantaoui, Osttunesien, 1. August 2022

Die Sonne ist vor wenigen Minuten erst aufgegangen, die Hitze jedoch bereits deutlich zu spüren. Ich laufe die wenigen Meter von meinem Zimmer zum Strand. Da liegt es vor mir. Das glänzende Mittelmeer: sanft, regelmäßig atmend. Der salzige Duft neckt mich.
Ich schlüpfe aus meiner Jibba, lege meine Chleka ab und gehe ins Wasser. Es empfängt mich, umhüllt mich, trägt mich. Ich muss aufpassen, denn hier in der Bucht gibt es jede Menge dieser kleinen, durchsichtigen, harmlos wirkenden Quallen, deren Stiche so brennen. Seit ich hier bin, hat mich die ein oder andere schon erwischt. Ich schwimme ein Stück weiter hinaus, wo es weniger werden. Wie lange ich nicht mehr hier war, kann ich kaum fassen. Mehr als 15 Jahre. So viele heimatlose Jahre. Ich versuche, nicht so viel nachzudenken. Nur zu fühlen. Das salzige Wasser auf meinen Lippen, den angenehmen Druck auf meiner Haut, die Morgensonne auf meinen raspelkurzen Haaren. Mein Atem in meinen Lungen. Meine Schwimmbewegungen. Das hier, ja, das ist der Ort, an dem ich gerade sein soll.
Das letzte halbe Jahr war ein Auf und Ab, wie ich es noch nie erlebt habe.
Ich musste mein Studium abbrechen. Meine Kinder mussten zu ihrem Vater ziehen. Ich war wohnungslos.
Wir hören sehr häufig, dass wir alles schaffen können – wenn wir es nur wirklich wollen. Und daran habe ich geglaubt. An dieses grausame Märchen. Ich war sehr ehrgeizig, machte mit 25 mein Abi nach und wollte mit zwei Kindern, alleinerziehend, in eine neue Stadt ziehen und studieren. Zu Beginn schien alles gut zu funktionieren. Wir hatten eine bezahlbare, kleine Wohnung in einem Studierendenwohnheim, mein Studium lief gut an, wir fanden schnell Anschluss. Nach einigen Monaten begannen die Schwierigkeiten. Ein BAföG-Antrag, dessen Bearbeitung sich über acht Monate zog und nicht voran ging, keine Unterstützung von meiner Herkunftsfamilie, keine Ersparnisse. Ich musste während des Studiums bis zu 35 Stunden die Woche in meinem alten Beruf als Kinderpfleger*in arbeiten, wenig später die Pandemie. Ich wollte all das schaffen. Denn weder wollte ich den Rest meines Lebens unter den schlechten Bedingungen und unterbezahlt als pädagogische Hilfskraft arbeiten, noch wollte ich die Person sein, die so früh Kinder bekommen hatte und es dann nicht geschafft hat. Ich wollte es unbedingt schaffen.
Aber in dieser Gesellschaft schaffen es nur jene mit ausreichenden und vor allem den richtigen Privilegien. Dazu gehörte ich auf jeden Fall nicht.

Ich will nicht zu viel darüber nachdenken. Die Angst nicht zu viel Raum einnehmen lassen. Denn diese Gedanken machen mich unruhig, rufen die Rastlosigkeit in mir hervor, der ich versuche zu entkommen. Nicht zu viel darüber nachdenken. Einfach schwimmen. Hier, an diesem Ort, den ich nicht kenne, der aber meine Heimat ist. Mehr als jeder andere Ort auf der Welt vielleicht. Langsam füllt sich der Strand. Menschen nutzen hier die Morgen- und Abendstunden zum Schwimmen, tagsüber ist es zu heiß. Daran lassen sich Tourist*innen erkennen. Wenn sie in der Tageshitze am Strand liegen, dann gehören sie eigentlich nicht hierher.
Ich schwimme zurück, gehe aus dem Wasser und ziehe meine Jibba wieder an, schlüpfe in meine Chleka und wünsche ein paar bekannten Gesichtern einen guten Morgen: „Sbeh el – khair“.
Diese Sprache, die irgendwo in meinem Kopf wohnt. Ich konnte sie sprechen, sie ist Teil von mir, aber ich kann sie nicht greifen. Alles was ich heute noch hinbekomme, sind ein paar einfache Floskeln, simple Sätze. Wie ein kleines Kind, das gerade sprechen lernt. Ich hasse das. Zurück am Haus wasche ich meine Füße in den Eimern, die hier vor jedem Eingang stehen. So halten sich die Menschen den Sand aus ihren Häusern. Ich bin darin aber ziemlich schlecht. In meinem Bett findet sich stets Sand. Nach einer kurzen, kalten Dusche hänge ich meine Sachen zum Trocknen auf, ziehe mir ein Kleid über und mache mir etwas zu essen. Ich röste Baguette über der Gasflamme, dazu gibt es Chamia – eine Paste aus Sesam, Zucker, Mandeln und Pistazien – und Feigenmarmelade. Es gibt hier noch keinen Kaffee in dieser Ferienwohnung. Ich schenke mir ein Glas Birnensaft ein und nehme eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Als Kind habe ich Wasser aus der Leitung getrunken. Nun geht das hier nicht mehr. Ich setze mich auf die hölzerne Couch, ziehe den Fliesentisch zu mir hin und frühstücke. Die Süße macht mich glücklich. Es schmeckt besser als in meiner Erinnerung. Erinnerungen. Sie schießen hier aus dem Boden wie kleine Pilze. Und ich kann sie nicht alle einordnen. Zu lange ist es her. Zu viel ist geschehen. Ich versuche mich auf mein Frühstück zu konzentrieren. Aber es geht nicht. Meine Gedanken wandern in eine Welt, die ich so lange verdrängt habe…

Der Duft von heißen Steinen und Brot umhüllt das kleine Haus, in dem meine Familie lebt. Es gibt ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eines für die Kinder, ein spärlich ausgestattetes Bad und eine Küche. Im Hinterhof steht eine Tabouna. Dort wird das Brot gebacken, das ich so gerne zum Frühstück esse. Meine Tante nimmt dicke Teigkugeln aus einer metallenen Schüssel, zieht sie in gleichmäßigen Bewegungen auseinander und wirft sie gegen die Wände des rundlichen Lehmofens. Es duftet so gut – nach Zuhause.
Wir Kinder sitzen alle um den weißen Plastiktisch in der Küche. Es gibt Saft, Fladenbrot, Chamia und Feigenmarmelade. Abends liegen wir alle zusammen im Wohnzimmer auf dünnen Matten, in bunte Decken gekuschelt. Ich darf neben meiner Ommi schlafen. Sie riecht nach Henna und Weihrauch, Knoblauch und Tomaten. Niemand muss alleine schlafen. Die Nächte sind kalt, aber hier in diesem Zimmer ist es warm. Ich kenne viele der Familienmitglieder nicht gut. Die meisten über Jahre nur vom Telefon. Meine Ommi kenne ich einerseits so gut und andererseits kaum. Mein Baba hat mir von klein auf all die Geschichten aus seiner Familie erzählt. Sie alle lebten, bis ich sie dann besuchen konnte, in dieser Utopie in meinem Kopf. Eine Familie, in der alle so aussehen wie ich. Mit brauner Haut, dunklen Augen und Locken. Eine Familie, in der ich einfach nur ich sein kann.
Mein Baba holt mich ab. Wir fahren nach Sidi Bou Saïd. Das ist die Stadt mit den blauen Fenstern und dem Café, das meinen Namen trägt. Yassamin. Überall blüht Jasmin. Die kleinen weißen Blüten zieren die Gassen und Gehwege. Die salzige Meeresluft kitzelt meine Nase. Ich war das Kind, das mein Baba immer in Cafés mitgenommen hat. Vielleicht, weil er meine Gesellschaft genoss. Vielleicht, weil ich in der Hinsicht recht unkompliziert war. In meiner Kindheit verbrachte ich viele Stunden mit meinem Baba in Cafés, lauschte seinen Gesprächen mit Freunden, beobachtete Menschen um uns herum und trank Pago Säfte aus kleinen, grünen Flaschen oder aß ein Mickey-Maus-Eis mit zwei kreisrunden Waffelblättern als Mäuseohren. Ich mag diese Erinnerungen. In Sidi Bou Saïd saßen wir in diesem Café, in das man nur über viele Treppen kam und von dem aus man das Meer sehen konnte. Ich trank dort Citronnade, die typisch tunesische Zitronenlimonade und Minztee mit Mandeln. Mein Baba trank wie immer Espresso. Manchmal rauchte er. Manchmal nicht. Manchmal redeten wir. Manchmal war die Stille zwischen uns der sicherste Ort auf dieser Welt.

Ich nehme einen kräftigen Schluck kalten Birnensaft.
Diese Erinnerungen schmerzen.
Sie erinnern mich an das, was ich so lange vermisste. Wärme. Diese Art von Wärme, die mir in Deutschland stets verwehrt blieb.



Gespräch mit Alexander Graeff von der Queer Media Society: „Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig.“

Die Queer Media Society, kurz QMS,  ist eine ehrenamtlich organisierte Initiative von Medienschaffenden, die sich gegen Diskriminierung von queeren Personen in allen Mediensparten einsetzt und sich für eine offene Gesellschaft engagiert. Es ist bisher das einzige Netzwerk dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum – und womöglich darüber hinaus. Wir haben uns mit Alexander Graeff, Leiter der Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ über die Notwendigkeit queerer Initiativen und Bücher unterhalten. 

Lieber Alexander, fangen wir am besten am Anfang an: Wer und was ist die QMS, wie ist sie organisiert?
Die QMS ist mehr eine soziale Bewegung, als eine Organisation im engeren Sinne. Wir sind keine NGO oder ein Verein, haben keine Rechtsform. Die QMS existiert allein durch das individuelle und kollektive Engagement unserer ehrenamtlichen Mitstreiter*innen. Jenseits dieser selbst verwalteten Gruppenstruktur gibt es keine übergeordneten Gremien, keinen Vorstand oder Ähnliches. Es gibt Aktive und Menschen, die durch ihre Stimme dem Kollektiv eher passiv Gewicht geben.

Welche Veränderungen hat die QMS bisher vorangetrieben? Wo tritt die QMS auf und mischt sich ein?
Wir versuchen, branchenpolitisch auf die unzureichende Repräsentation queerer Medienschaffender und ganz allgemein auf queere Sichtbarkeit im Hinblick auf produzierte und rezipierte Medien aufmerksam zu machen. Dabei verfallen wir nicht in den binären Modus, dass wir als marginalisierte Personen moralin auf die Mehrheitsgesellschaft zeigen. Wir kooperieren mit den Brancheninstitutionen, mit Verbänden, Produktionsfirmen, Verlagen, um gemeinsam mit den Machtzentren im Medienbereich über Machtverhältnisse und -strukturen zu sprechen. Ergebnisse sind zum einen Aufklärungsarbeit und Beratung, etwa durch Trainings zu relevanten Themen der Diversität, zum anderen möglichst pressewirksame Aktionen, Diskussionspanels, Debatten- und Diskursbeiträge sowie Veranstaltungen, die möglichst hohe queere Sichtbarkeit und Öffentlichkeit im Medienbereich generieren.

Eine große erfolgreiche Aktion der Vergangenheit war z. B. die Vorbereitung der #ActOut-Kampagne 2021 innerhalb der Film-Sektion. Allerdings hölt auch hier steter Tropfen den Stein. Ich denke, kontinuierliche Angebote sind wirksamer, weil sie regelmäßig und dauerhaft an die Schieflagen innerhalb unserer Kultur erinnern, und so die Effekte nicht nach einem Aktionsjahr wieder verpuffen. Nur so viel: Trotz #ActOut ist für 2023 ein Rückgang queerer Figuren in deutschen Filmproduktionen zu verzeichnen.
Mit der Literatur-Sektion veranstalten wir außerdem jährlich zur Buchmesse in Leipzig ein Panel zu relevanten Themen. Der Haymon Verlag ist ja unser Kooperationspartner bei diesem Projekt. Ebenso kooperieren wir auch jährlich mit dem Börsenverein des deutschen Buchhandels für die #PrideBuch-Social-Media-Aktion im Pridemonth Juni.

Alexander Graeff ist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler. Er schreibt Lyrik, Prosa sowie biografisch-philosophische Essays – und mischt die Gattungen ganz gern. Er ist Leiter des Programmbereichs Literatur im Berliner Kunst- und Kulturzentrum Brotfabrik sowie Initiator der Lesereihe „Schreiben gegen die Norm(en)?“. In der Queer Media Society setzt er sich für mehr Sichtbarkeit queerer Personen und Stoffe im deutschsprachigen Literaturbetrieb ein. Graeff engagiert sich kulturpolitisch, u. a. in der Berliner Literaturkonferenz (BLK), im Netzwerk Freie Literaturszene Berlin (NFLB) und im PEN Berlin.

Foto: Sarah Berger

Johannes Kram, Autor, Blogger und QMS-Mitstreiter sagte in seinem Vortrag bei der Kick-Off-Veranstaltung der QMS im Februar 2019 in Berlin, es sei wichtig, dass sich mehr queere Medienschaffende outen würden. Gleichzeitig räumte er ein, dass das Coming-Out insbesondere für Schauspieler*innen eine Belastungsprobe für die Karriere sei. Hieraus ergeben sich gleich mehrere Fragen: Was denkst du, warum halten sich ausgerechnet in der Kulturszene solch starre Strukturen so hartnäckig? Und: Wie schätzt du den Stellenwert des Outings ein für das übergeordnete Ziel, eine offenere und bessere Kreativlandschaft zu erreichen? Sollten sich in einer gerechteren Welt nicht alle Menschen outen müssen – oder niemand? Anders ausgedrückt: Ist diese Erwartungshaltung an ein Outing nicht eine weitere Zumutung für queere Personen, die Ungerechtigkeit zementiert?
Wir wissen ja aus der Geschichtswissenschaft, dass Kunst und Kultur zentrale Parameter einer Aktualisierung gesellschaftlicher Normen waren und sind. Romane, Theaterstücke, Gemälde, Opern usw. waren immer schon Sprachrohre mehrheitsgesellschaftlicher Lebensideale. Die frühe bürgerliche Gesellschaft wäre ohne die Ideologisierung ihrer Werte nicht ausgekommen, Stichwort: Dialektik der Aufklärung. Die Kunst half genauso mit wie die Erziehung. Ein prominentes Beispiel ist die Romantik als Kunstströmung um 1800. Ohne sie hätte sich die heteronormative Matrix mit binärer Geschlechterhierarchie, romantischer Zweierbeziehung und Reproduktionszwang nie so nachhaltig in unsere Hirne und Herzen einpflanzen können.
Die Notwendigkeit eines Outings ist in sozialwissenschaftlich-kritischer Perspektive natürlich immer ein Problem. In lebensweltlicher Hinsicht oft auch. Ich muss mir das Coming-out als notwendigen Entwicklungsschritt schönreden. Emanzipation innerhalb einer Gesellschaft ist nie erreicht, wenn die Markierung von Personen, Perspektiven und Identitäten als Erwartungshaltung existiert. Einfach, weil die Abweichung von der Norm die hegemoniale Norm bestätigt. Nur in einer idealen Gesellschaft braucht es kein Coming-out. Wir leben aber leider nicht im Wolkenkuckucksheim, sondern in einer durch und durch hierarchischen, patriarchalen und von Machtinteressen gesteuerten Kultur mit problematischer, meist unreflektierter Geschichte. In der realistischen Perspektive also ist das Outing immer noch wichtig, um den ersten Schritt der Markierung abweichender Positionen zu machen. Die traditionell nicht markierte Norm folgt dann im Prozess der historischen Emanzipation. Das hat auch viel mit Sprachfindung zu tun, denn Markierung heißt ja nichts anderes als Zustände via Sprache bezeichnen zu können. Zur Erinnerung, das Wort „trans“ ist älter als das Wort „cis“.

Im Oktober 2021 veröffentlichte die Universität Rostock die Fortschrittsstudie „Sichtbarkeit und Vielfalt“. Die Leiterin der Studie, Prof. Dr. Elizabeth Prommer, bilanzierte: „Die Ergebnisse zeigen, dass unser Fernsehprogramm noch nicht die Vielfalt der Bevölkerung abbildet.“ Bei queerer Repräsentation wird festgestellt, dass „nur rund 2 Prozent der im Beobachtungszeitraum erfassten Personen nicht heterosexuell waren.“ Sichtbar wurden nur homosexuelle (0,9%) und bisexuelle (1,3%) Charaktere. Bei 27,4% war die sexuelle Orientierung „nicht erkennbar“.
Weiterführende Erhebungen und repräsentative Zahlen für alle anderen Medienbereiche im deutschsprachigen Raum gibt es bisher nicht. Das möchte die Queer Media Society unter anderem ändern.

Du selbst bist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler – und du leitest die Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ bei der QMS. Kannst du uns ein bisschen was darüber erzählen, wie du zur QMS gekommen bist und wie deine Netzwerk-Arbeit aussieht?
Ich war 2019 beim Kick-Off der Film-Sektion dabei. Dort lernte ich den QMS-Initiator und Regisseur Kai S. Pieck kennen. Gemeinsam mit einer Gruppe von ungefähr zwölf Autor*innen und Comic-Zeichner*innen baute ich dann die Literatur-Sektion auf. Es gab regelmäßige Treffen, bei denen wir über mögliche Aktionen brainstormten. Daraus sind dann die aktuellen Dynamiken erwachsen. Leider hatte uns die Corona-Krise stark getroffen und in Sachen Engagement sehr viel Wind aus den Segeln genommen. Viele ehemals Aktive sind dadurch leider in der Versenkung verschwunden.

Heute koordiniere ich die Aktionen, die wiederum andere, neue Aktive realisieren. Dazu zählen die Panels im Rahmen der Leipziger Buchmesse und die #PrideBuch-Kampagne. Wir arbeiten so, dass jede*r das macht, was sie*er machen kann. Unsere Arbeit ist immer ehrenamtlich, d. h. angesichts der prekären beruflichen Situation vieler Autor*innen und anderer Personen, die im Literaturbetrieb arbeiten, muss die aktivistische Mehrarbeit gut geplant und effizient realisiert werden.

Welche persönlichen Beweggründe gab und gibt es für dein Engagement für die QMS? 
Für mich ist mein Engagement für die QMS bis heute eine Konsequenz meiner eigenen Politisierung seit 2014. In dieser Zeit wurde mein Schreiben insgesamt politischer, und ich auch mutiger. Das war der innere Beweggrund. Es gab auch einen äußeren. Die gesellschaftlichen und wenig später parlamentarischen Veränderungen in Deutschland machten für mich die Sache dringlich. Soviel wusste ich nämlich aus der Geschichte dieses Landes: Die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Tendenz, abweichende Teile des sozialen Miteinanders unsichtbar zu machen, ermöglichte erst den Aufstieg rechtsnationalistischer und faschistischer Projekte und Parteien. Es war fast so, als ob der immer dringlicher werdende Kampf gegen die politischen Unsäglichkeiten der letzten zehn Jahre in meine Literatur und in mein Handeln innerhalb der Branche drängte.

Was würdest du dir für die Zukunft der Buchbranche wünschen? Wo siehst du besonderen Handlungsbedarf?
Handlungsbedarf sehe ich vor allem da, wo unter Diversität ein eigenartiges Neben- und Herausstellen von vermeintlichen Werten betrieben wird. Verlage etwa, für die Queerness bloß ein mehr oder minder abstraktes Thema ist und dieses breitenwirksam verkaufen wollen, beschädigen die Emanzipationsbewegung. Queere Sichtbarkeit ist auf jeden Fall nicht, dass im selben Verlagsprogramm rechtspopulistische Propaganda neben dem Coming-of-Age-Roman eines trans Autors steht, nur weil sich damit mittlerweile auch Geld verdienen lässt. Einige konservative Verlage gehen immer noch so vor. Sie verändern ihr Programm nicht, weil sie sich ihrer Verantwortung als Kulturinstitution und gegenüber einer Gesellschaft, die sich emanzipiert, bewusst werden, sondern weil sie neue Marktanteile gewinnen wollen. Noch enttäuschender finde ich es allerdings, wenn vermeintlich progressive Autor*innen in exakt diesen paternalistischen und konservativen Institutionen ihre Bücher veröffentlichen.

Woran liegt es deiner Meinung nach, dass echte Diversität und Stimmenvielfalt am Buchmarkt scheinbar so schwer zu erreichen sind?
Ich traue Echtheit nicht über den Weg. Wann ist Echtheit erreicht? Wann ist Diversität echt? Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig. Diesen Sachverhalt durch Literatur in die Hirne und Herzen zu bringen, ist mir wichtiger, als Begriffe exakt definieren zu können.

Aber zum Inhalt deiner Frage: Es liegt an einem insgesamt prekären Betrieb, in dem sich bildungsbürgerliche Ideale verknoten mit einem beruflich bedingten Konkurrenzkampf um Honorare, Preise, Kritiken, Programmplätze usw. All das ist begrenzt und unsere Branche ist finanziell schlecht ausgestattet. Der Druck, Literatur als hehres demokratisches Instrument sehen zu wollen bei gleichzeitig unauskömmlicher Finanzierung der Sparte, macht etwas mit seinen Akteur*innen. Offenheit für Diversität jenseits des oben erwähnten Tokenismus ist also nach wie vor schwer herzustellen. Der Literaturbetrieb hat ganz grundlegend ein Verteilungs- und ein Solidaritätsproblem.

Als abschließende Frage: Wer kann Teil des QMS-Netzwerks werden und wie geht das?
Jede*r, die*der professionell im Medienbereich tätig ist, kann mitmachen. Um sich der sozialen Bewegung anzuschließen und einem wachsenden Kollektiv Nachdruck zu verleihen, sind zwei Dinge nötig: Gesicht zeigen und Stimme erheben. Auf der Internetseite der QMS kann man sich mit seinem persönlichen Foto-Statement anmelden.

 

Du arbeitest im Medienbereich und hast Lust, Teil der Queer Media Society zu werden?
Hier findest du alle Infos, die du brauchst!

Ein Essay, der die Dämmerung unserer Zeit durchbricht: Leseprobe aus „Über das Helle“ von Stefanie Jaksch

Krisen, Kriege, Klimawandel – sie haben die Welt fest im Griff, das wird uns Tag für Tag vor Augen gehalten. Beim Scrollen durch Social-Media-Feeds, in den Abendnachrichten, im Podcast, der uns eigentlich Zerstreuung versprach. Wenn wir ehrlich sind, faszinieren und beschäftigen uns Katastrophenmeldungen mehr als die guten Neuigkeiten – so funktioniert die Aufmerksamkeitsökonomie. Und wir haben uns in gewisser Weise an das apokalyptische Dauerfeuer und die alltäglichen Untergangsfantasien gewöhnt. So sehr, dass wir auf das Helle in unserem Leben vergessen. Tatsächlich ist unsere Gegenwart nicht dazu angetan, uns Mut zu machen und den Optimismus nicht zu verlieren. Doch die Autorin Stefanie Jaksch begibt sich auf die Suche: nach dem Licht in dunklen Zeiten.

Mit dieser Leseprobe bekommst du einen Einblick in Stefanie Jakschs „Über das Helle“,  ein Buch, das uns Hoffnung gibt und den Widerstand in uns erweckt.

Notizen aus dem Dunkeln

Out of the dark
And into the light
I give up and you
Waste your tears
To the night
Falco

Nur ein bisschen noch. Fünf Minuten. Drei Minuten. Eine vielleicht? Vorbei, seufze ich in die Kissen und kneife meine Augenlider noch einmal trotzig wie ein Kind zusammen, bevor ich aufgebe. Ich starre in die Nacht, in den lichtlosen Raum über mir, nichts ist zu hören außer dem leisen Luftholen und unrhythmischen Schnarchen des Wolfs, mit dem ich seit einigen Jahren zusammenlebe. In unserem Schlafzimmer gibt es keine Uhr, aber mein Körper braucht auch keine, um zu wissen, dass es eigentlich zu früh ist, um aufzustehen. Was ich ebenfalls weiß: Dass ich, einmal wach, nicht mehr in den Schlaf finden werde, dass mein Gehirn nun anspringt, dass es mich geweckt hat, weil seit gestern Abend zu viele unterschiedliche Baustellen in mir arbeiten. Weil ich wieder einmal nicht dafür gesorgt habe, vor dem zu Bett gehen ein bisschen Ruhe einzuplanen, zu lange noch erst auf meinen Laptop gestarrt habe, dann doch noch schnell einen Blick aufs Smartphone gewagt habe – und natürlich prompt hängengeblieben bin an einigen Desaster-News, die sich etwas unscharf in meine Träume geschlichen haben. Schemenhaft erinnere ich mich daran, dass ich durch eine wirre Abfolge von Actionszenen gejagt wurde und ich dabei penibel darauf achten musste, eine neon-orange Aktentasche nicht zu verlieren und mir das sogar gelang, nur um am Ende auf den billigsten Taschenspielertrick hereinzufallen, mich kurz von einer Frage ablenken ließ und mir das kostbare Gut entwendet wurde, als ich mich zu der Person umdrehte, die die Frage an mich gerichtet hatte. Der Stich in der Magengrube, als mir mein Fehler bewusst wurde, und der leere Fleck, an dem die Tasche gestanden hatte, den ich nun anstarrte, sind mir im Aufwachen realer als der Rest der Welt, der nur unscharf und in Graustufen an mich heranschwappt. Keinen Schlaf finden zu können, verdunkelt alles, besonders aber das Gemüt und ist, hält der Zustand länger als ein paar Tage an, mit einer eigenartigen Versagensangst verbunden. Warum ich? Warum fällt mir das vermeintlich Einfachste zurzeit nicht leichter? Wut gesellt sich dazu, Ungerechtigkeit, eine der dunkelsten Empfindungen, auch und vor allem dem Wolf an meiner Seite gegenüber. Was erlaubt er sich eigentlich, so ohne Probleme in den Schlaf zu finden, einen eigenen Rhythmus zu haben, der ihm erlaubt, sich hinzulegen und sofort in tiefen Schlummer zu finden? Als wäre Schlaf ein Hochleistungssport.

Die längste Zeit, die ein Mensch offiziell dokumentiert ohne Schlaf verbracht hat, beträgt 264 Stunden, das sind elf Tage, und bis heute hält diesen zweifelhaften Rekord aus dem Jahr 1964 der damals 17-jährige Randy Gardner aus San Diego, USA. Aus einem Grund, der sich mir nicht erschließt, zumindest nicht in meinem leicht angeschlagenen Zustand, hat ein Brite aus Penzance im Jahr 2007 einen weiteren Weltrekordversuch gestartet, den er per Video dokumentierte. Er überbot Gardners Leistung um zwei Stunden, darf sich aber bis heute nicht über die Nennung als Rekordhalter freuen, da die Kategorie „Längste Zeit ohne Schlaf“ schon längst nicht mehr existierte im Guinness Buch der Rekorde: „aus gesundheitlichen Bedenken“.1 Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen: In Laborversuchen, bei denen man Mäuse wachhielt und weckte, sobald sie einschliefen, starben die Versuchstiere nach durchschnittlich sieben Tagen. Grund dafür: vermutlich multiples Organversagen.2

Wie ich da so liege, frage ich mich, wie lange ich es wohl aushalten könnte ohne Schlaf, vermutlich keine 48 Stunden, und mir läuft bei dem Gedanken ein Schauer über den Rücken. Ich kenne mich, innerhalb weniger Tage ohne meine normale Dosis Schlaf von sieben bis acht Stunden werde ich zu einem kränklichen, weinerlichen Etwas, bin unkonzentriert, breche schnell in Tränen aus und glaube, dass die Welt dem Untergang nahe ist. Ich finde mich selbst lächerlich, wie ich mir das so überlege, im Warmen, in der Sicherheit meiner Wohnung, in einem insgesamt recht aufgeräumten Leben. Ja, ich habe eine Phase des beruflichen Komplettumbruchs hinter mir, habe mir manche Sicherheiten selbst unter den Füßen weggezogen in einem Mix aus Vertrauen und Wagemut, und sicher, die letzten Jahre mit Pandemie, näher rückenden Kriegen und sich immer mehr radikalisierender Weltpolitik sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen, wie auch, wenn erstmals Menschen rund um den Globus gleichzeitig in eine grundlegende Verunsicherung geworfen waren, die man nicht mehr von sich weghalten konnte, sich eben nicht mehr sicher fühlen konnte, sich nicht mehr zurückziehen konnte auf ein „Ach, zu uns kommt das schon nicht“. Es ist alles zu uns gekommen: das Virus, die Krankheit, die Angst, die Einsamkeit, die Verletzlichkeit, der Tod. Und auch die Erkenntnis: Wir Menschen sind nur bedingt solidarisch, ich erinnere an die allwöchentlichen Demonstrationen der „Querdenker:innen“, eine Petrischale für das Anmischen einer reaktionären, von Wut und Hass getriebenen Soße, in der es sich besorgte Bürger:innen nicht nehmen ließen, mit Rechtsradikalen zu marschieren. Ich erinnere mich an meinen Unglauben, an meinen mir ebenfalls gerecht vorkommenden Zorn auf Menschen, die ich nicht mehr verstand und die mich wohl umgekehrt auch nicht verstanden. Und auch der Krieg steht wieder vor unseren Toren. Ich lebe in Wien, das sind gerade einmal 1.000 Kilometer entfernt von Kiew, für jeden Sommerurlaub nehmen wir gern größere Entfernungen in Kauf, und während ich also hier liege und nachdenke, kämpfen Menschen in der Ukraine um ihr Leben. In vielen Teilen der Welt leiden Menschen Hunger, werden ihre Grundrechte mit Füßen getreten, müssen Frauen, queere Personen, Personen mit anderer Hautfarbe oder anderem Glauben sowie viele andere marginalisierte Gruppen um ihre Unversehrtheit fürchten, sitzen Journalist:innen und unliebsame Regimegegner:innen für kritische Berichterstattung in Isolationshaft oder werden dort „weißer Folter“ unterzogen, der Schlafdeprivation, rund um die Uhr dem Licht ausgesetzt.

Ich setze mich auf und bin wütend, auf mich, weil ich mir wieder selbst auf den Leim gegangen bin. Weil ich mein Gedankenkarussell nicht rechtzeitig gestoppt habe, und noch viel mehr, weil ich klein beigegeben habe und mich in die Negativspirale, die wir alle kennen, hineingedreht habe. Ich bin wütend, weil es so viel schwerer scheint, so viel mehr Energie braucht, sich dem Hellen zuzuwenden, als sich von Negativität fressen zu lassen. Es reicht, und ich steige vorsichtig aus dem Bett, der Wolf grummelt undeutlich, bevor er sich umdreht und weiterschläft, während ich auf Zehenspitzen ins Arbeitszimmer schleiche, die dunklen Gedanken abzuschütteln versuche und mich auf das Jetzt zu besinnen.

Seit ich denken kann, bin ich eine Frühaufsteherin. Meine produktivste Zeit des Tages ist sein Anbruch, wenn (fast) alles noch schläft, vor dem Fenster sich noch keine Auto­lawinen durch die Stadt wälzen, wenn die meisten Woh­nungen noch nicht von Lichterschein erhellt sind, wenn die Nacht noch ihre letzten Ausläufer verteidigt. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, im Dunkeln zu sitzen und einfach nur zu schauen, dabei den einen oder ande­ren Gedanken kommen und gehen zu lassen: Gedanken zum sich anbahnenden Tag, Gedanken zu alten und neuen unbeantworteten Fragen, Gedanken, die mich manchmal schrecken und manchmal ermutigen. Für die erste vor­sichtige Phase der Wachheit schalte ich keine Lampe ein, lasse mich von der Dunkelheit umhüllen und empfinde das als erstaunlich tröstlich, imaginiere sie mir als eine Decke, die mich wärmt mit vorläufiger Gleichgültigkeit gegenüber allen Bemühungen, die wir mit einem erfolg­reichen Tag verbinden. Die Abwesenheit von Licht signa­lisiert mir in diesen Stunden: Du musst nichts, nimm dir noch Zeit, bleib noch ein Weilchen, die meisten sind noch nicht wach, das Zeichen, das Tagwerk zu beginnen, ist noch nicht gekommen (oder ich habe es übersehen).

Dieser paradiesische Zustand ändert sich schlagartig, sobald sich – je nach Jahreszeit früher oder später – der erste Silberstreif am Horizont erblicken lässt. Nichts verheißt uns Geschäftigkeit oder ist uns so sehr Gebot, endlich mit dem Tun zu beginnen, den Müßiggang sau­sen zu lassen, wie der Anfang eines neuen Tages. Carpe diem!, schallt es uns, die wir unsere eigenen gelernten Motivationstrainer:innen sind, immer wieder entgegen, sitze nicht auf der faulen Haut, mach etwas aus dem Tag, aus dem Monat, dem Jahr, deinem Leben! Daran lässt sich grundsätzlich nichts ändern, Lebewesen sind so gepolt, Pflanzen recken sich gottergeben dem Licht entgegen. In Ländern, die dem Polarkreis näherliegen, tut man sich im Sommer mitunter schwer, Schlaf zu finden, wenn die Sonne nicht untergeht, und es muss zu fast gewaltsamen Verdunkelungsmethoden gegriffen werden. Am Ende einer durchtanzten Nacht unter Stroboskoplicht erntet meist eine überrascht hochgezogene Augenbraue, wer sich verabschiedet, bevor die Party zu Ende ist und die letzten Scheinwerfer im Club gelöscht sind. Solange Licht ist, gehen wir nicht heim!

„Mehr Licht!“, so will es die Legende, war Goethes letzte Forderung auf dem Sterbebett, und auch wenn ich bezweifle, dass es ausgerechnet diese zwei Worte waren, die dem Dichtergenie entfuhren, bevor er sein Lebens­licht aushauchte, so verstehe ich doch den Zweck ihrer mythischen Überhöhung: Auch wenn wir noch so viel geschafft haben, auch wenn wir noch so erfolgreich sind, es gibt wohl keinen Menschen, der trotz aller Mühsal die Möglichkeit, einen weiteren Tag zu erleben, ausschlagen würde. Mehr Licht, mehr Möglichkeiten, mehr Beweise für die eigene Existenz und ihre Gewichtigkeit, ihre Rele­vanz, ihre Wirkmächtigkeit. Denn die im Dunkeln sieht man nicht; gesehen werden wollen wir aber alle.

Zugegeben, das klingt ein wenig, als sei ich auf der dunklen Seite der Macht zuhause oder zumindest deren Sympathisantin, als verstünde ich einen Text über das Helle als ein Vehikel, um eine Lanze für das Dunkle zu brechen. Mitnichten. Dass ich mich im lichtlosen Raum ab und an sehr wohl fühle, heißt nicht, dass ich dies generell vorzöge oder frei von Geltungsdrang wäre, der das Aus­leuchten der eigenen, sonst verborgen bleibenden Winkel zulässt; wir alle streben letztendlich dem Hellen entge­gen, und ich möchte glauben, das ist gut so.

1 Vgl. https://www.derstandard.at/story/2000082079528/wie-lange-ueberlebt-ein-mensch-ohne-schlaf

2 https://www.spektrum.de/frage/wie-lange-kann-man-wach-bleiben/1321562

„Es mag Sie irritieren, Herr Inspektor, dass weibliche Gehirne manchmal dem männlichen überlegen sind, doch Sie müssen sich nun leider damit abfinden.“

Dieses Zitat stammt von Miss Marple, mit der Agatha Christie schon in den 90ern zeigte, dass Frauen* das Krimigenre meisterhaft beherrschen. Trotzdem blieben die ermittelnden Figuren oft Cis-Männer: alternde, allmächtige Polizisten oder Detektive mit Genieanwandlungen; eine einzelne, mächtige Figur, die mehr oder weniger im Alleingang ihre Fälle löst, „die Bösen“ bekämpft und für die Sicherheit aller verantwortlich ist. Heute kommen uns aus Krimis dagegen Figuren mit vielen Facetten entgegen, mit denen wir nicht nur deshalb mitfiebern können, weil uns ihr aktueller Fall in Atem hält, sondern auch, weil ihre Haltungen, ihre alltäglichen Probleme und ihr Privatleben uns einen direkten Blick in eine andere Lebenswelt ermöglichen. Sie reflektieren autoritäre Strukturen, sie haben Team- und Kampfgeist, sie haben eine Meinung, die sie uns auch wissen lassen, sie nehmen sich selbst nicht so ernst. Und häufig sind sie: Frauen*. Ein guter Krimi ist immer mehr als ein spannender Plot: Er ist Sprachkunst, Gesellschaftssatire, Systemkritik, Empowerment – oder alles gleichzeitig. Deshalb stellen wir euch nun die Protagonistinnen unserer Krimi-Autor*innen vor.

 

Astrid findet heraus, dass ihr Partner sie betrügt, und will ihren Herzschmerz in Venedig kurieren, einem Sehnsuchtsort auf ihrer Bucketlist. Nichts lenkt besser von einer traumatischen Trennung ab als die wunderschöne Serenissima. Denkt Astrid. Aber: Statt romantischem Dolce Vita und köstlichem Vino findet sie in der Stadt der Gondeln und Kanäle vor allem Hitze. Und Leichen. Jede Menge Leichen. Astrid gerät unversehens in mafiöse Verstrickungen. Entführungsversuche, Verfolgungsjagden in Motorbooten, Schläger und Schmuggler – immerhin wird Astrid dadurch von ihren privaten Kümmernissen abgelenkt. Aber wird sie diese ungeplanten Abenteuer auch überleben?

 

Ellen Dunne und ihre Patsy Logan sind ein kriminalliterarisches Dreamteam. Patsy, Kriminalhauptkommissarin aus München, steht ein paar Monate vor ihrem 40er und ist frisch getrennt, in Dublin, während einer beruflichen sowie privaten Auszeit. Sie hat sich den Kopf an der gläsernen Decke gestoßen – und hat damit zu kämpfen. Doch nicht nur beruflich, sondern auch privat geht es drunter und drüber, ihr Mann hat sich eine Ältere gesucht, und was das mit dem Liebhaber werden soll … das weiß Patsy selbst auch nicht so genau. Wie gut, dass Patsy von ihrer Schöpferin Ellen Dunne jede Menge Entschlossenheit, Selbstironie und schwarzen Humor mitbekommen hat, sodass sie sich dennoch mit voller Energie in die Suche nach der verschwundenen Stella stürzen kann.

 

Auch im Vorgängerband „Boom Town Blues“, mit dem Ellen Dunne den Glauser-Preis gewonnen hat, braucht Patsy Logan schwarzen Humor und Selbstironie, um den Herausforderungen zu begegnen, die das Leben ihr entgegenwirft. Ihre Ehe kriselt, der unerfüllte Kinderwunsch belastet sie schwer und der verdiente Karrieresprung wird ihr zugunsten eines männlichen Kollegen verwehrt. Doch Patsy will in Irland nicht nur Abstand von ihrem Alltag gewinnen. Sie möchte auch Hinweisen von Menschen nachgehen, die ihren Vater lebend in Dublin gesehen haben wollen. Das ist einigermaßen verwirrend, denn: Patsys Vater ist seit vielen Jahren tot. Wir fiebern mit Patsy mit, als deren private Situation sich zuspitzt und die Vergangenheit beängstigend lebendig wird.

 

Nach einem Gefängnisaufenthalt versucht Kiki, zurück in ein geregeltes Leben zu finden. Als ihre unheilbar kranke Freundin Olga rund um die Uhr Pflege benötigt, zieht sie zu ihr und kümmert sich aufopfernd. Das neuartige Viennese Weed, ausnahmslos tödlich, ist für Olga eine Möglichkeit zur Flucht, die sie ergreifen möchte. Kiki ist bereit, für ihre Freundin die tödlichen Blätter zu beschaffen, selbst wenn sie weiß, dass das für sie den ultimativen Abschied von Olga bedeuten wird. Auch die dreizehnjährige Jasse treibt es in den Wald. Sie möchte ihrem Leben ein Ende setzen. Als plötzlich Aufseher auftauchen, fliehen Kiki und Jasse zusammen – und knüpfen eine vorsichtige Verbindung, eine Freundschaft, die sich aus Unglück speist. Das hält Jasse nicht davon ab, den Bärlauch, den sie gesammelt hat, zum Einsatz zu bringen – allerdings nicht an sich selbst …

 

Börnie, gewesene (und jetzt verwesende) Marketingexpertin bei Schön Cosmetics, wacht auf dem Büroboden auf und merkt, dass sie ermordet wurde. Wer zum Aasgeier hat ihr das angetan? Weil die Polizei keinen leichenblassen Schimmer hat, muss frau selber ran. Sterben ist eben auch nicht mehr das, was es mal war! Als Geist Ermittlungen aufzunehmen, ist aber leichter gesagt als getan. Stell dir vor, du bist tot und keiner hört zu. Weil dich überhaupt keiner hören kann! Naja, fast: Auf die kürzlich bei Schön wegrationalisierte Reinigungskraft Jenny und Medium Kai-Uwe ist immerhin Verlass. Wird es dem etwas anderen Ermittlertrio gelingen, Börnies Mörder dingfest zu machen, ehe der gesamte Personalstamm von Schön Cosmetics ein unschönes Ende nimmt?

 

Marias Mutter stirbt und sie genießt die Ruhe, endlich nicht mehr gebraucht zu werden, endlich einen Moment für sich selbst zu haben. Sie fährt los, gönnt sich zuerst ein Sektfrühstück, dann eine Nacht mit einem Fremden im Hotel. Als sie am nächsten Morgen in die Einfahrt biegt, steht die Polizei vor ihrem Haus. Maria bekommt Panik – und verschwindet. Sie wechselt ihre Identitäten und immer wieder wird ihre prekäre Situation schamlos ausgenutzt. Sie sucht den Weg des geringsten Widerstandes, fügt sich und passt sich ihrer Umwelt geschmeidig an … so lange, bis es ihr reicht. Die Flucht vor ihrer eigenen Identität hinterlässt blutige Spuren. Marias Wechselspiel aus Passivität und radikalen Befreiungsschlägen lässt sie dich spüren: die Hilflosigkeit und den lodernden Zorn, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entstehen.

 

Toni Lorenz, Schauspielschülerin am Konservatorium in Wien, ist offen, mutig und mit ihrem persönlichen Rucksack voller negativer Erfahrungen beladen. Während der Sommerferien arbeitet sie mit Privatdetektiv Edgar Brehm. Ein junger Mann verschwindet und Toni und Edgar merken, dass es ganz schön schwierig wird, alle Beziehungswirren, die den Vermissten und seine Familie verbinden, im Blick zu behalten. Wenn zumindest das Privatleben von Toni super unkompliziert wäre, aber nix da: Neben ihren Ermittlungen versucht Toni auch noch einen Sommerkurs an der Schauspielschule zu absolvieren. Blöd nur, dass ihr Dozent ein junger Filmstar ist (und sie ziemlich ablenkt). Toni hat wirklich schon genug miserable Erfahrungen mit Männern gemacht und versucht, vorsichtig zu bleiben – so gut das eben geht …

 

Philomena Schimmer liebt ihre beiden Schwestern, die ihr aber zuweilen auch ganz schön auf die Nerven gehen – vor allem der Nachwuchs. Sie hassliebt ihren Exfreund, von dem sie sich nicht lösen kann, obwohl er längst eine Neue hat. Sie hat Ideale, die sie auch verkündet, selbst wenn sie dafür zur Spraydose greifen muss. Als Polizistin sieht sie Dinge, die sonst niemand sieht: Sie sucht vermisste Personen und entdeckt selbst kleinste Hinweise und unscheinbarste Spuren. Und: Philomena sieht Menschen, die sonst niemand wahrnimmt. Seit einer traumatischen Erfahrung schickt Philomenas Unterbewusstsein ihr regelmäßig mysteriöse „Besucher“. Auf der Suche nach der jugendlichen Karina fällt es ihr immer schwerer, die professionelle Distanz zu wahren, je länger das Mädchen verschwunden bleibt.

 

Laura Mars wird aus ihrem Leben in Wien gerissen, als ein Notar aus Kroatien ihr mitteilt, dass sie die Alleinerbin ihrer gerade verstorbenen Großmutter ist – obwohl Laura schon vor Jahren deren Sterbeanzeige bekommen hat. Und damit nicht genug: Als Laura im Notariat in Pula ankommt, findet sie dort den Notar ermordet vor. Vom Testament fehlt jede Spur. Dafür entdeckt sie das Tagebuch ihrer Großmutter und erfährt mit jeder Seite mehr über die vertrackte und düstere Vergangenheit ihrer Familie. Eines hat sich Laura aber fest vorgenommen: keine komplizierten Männergeschichten mehr. Doch der ermittelnde Kommissar macht es ihr immer schwerer, an ihrem Vorsatz festzuhalten … Und die Zeit drängt: Während Lauras Nachforschungen immer mehr Fragen aufwerfen, taucht ein weiteres Mordopfer auf.

 

Miss Marple heißt jetzt Madame Beaumarie. Florence Beaumarie war Zeit ihres Berufslebens die Seele eines Pariser Kommissariats – jetzt möchte sie eigentlich entspannen. Doch das Verbrechen scheint ihr selbst im Ruhestand an den Fersen zu kleben. Das örtliche Kommissariat freut sich über die Unterstützung durch Madame Beaumarie, denn sie hat sich als findige Ermittlungshelferin weit über Paris hinaus einen Namen gemacht. Abgelenkt wird sie allerdings durch einen besonders charmanten Galan: Charles Florentin, ein attraktiver Antiquar, bringt Florence mit seiner liebevollen Aufmerksamkeit ein wenig durcheinander …

Begleite Astrid auf ihrem ungeplantem Abenteuer nach Venedig, Laura Mars in die düstere Vergangenheit ihrer Familie und Börnie in die Nachwelt. Fliehe mit Kiki und Jasse sowie mit Maria vor den Behörden und der unangenehmen Realität. Patsy Logan und Toni Lorenz nehmen dich mit auf ihre Ermittlungen und Philomena Schimmer sowie Madame Beaumarie kommen von den Verbrechen nicht los. Lies dich rein in die Geschichten unserer Ermittlerinnen!

Historische Erbschaften – Interview mit Hannes Leidinger und Lenz Mosbacher

Wie ging die Geschichte des k.u.k.-Doppelstaates und der Entwicklungen nach 1918, die im Grunde bis heute andauern, weiter? Wie betrachten wir das habsburgische Erbe? Wie steht es um seine Relevanz, nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa? Hannes Leidinger, Historiker und Autor, und Lenz Mosbacher, Illustrator von „Habsburgs langes Sterben“ erzählen vom Ausverkauf der österreichischen Identität, von der Romantisierung und den hartnäckigen Mythen der Geschichte und von den Schlüsselmomenten der Habsburgerzeit.

Offiziell endete die Zeit der Habsburger 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Trotzdem sind die Habsburger noch tief im nationalen Gedächtnis der Österreicher*innen verwurzelt, sie leben weiter „in den Köpfen und Herzen, in den Empfindungen und Vorlieben, in den Sitten und Normen seiner ehemaligen Bewohner“, wie Sie in Ihrem neuen Buch erklären. Hat sich das nationale Selbst- und Fremdbild in den letzten Jahren gewandelt und wenn ja, wie?

Hannes Leidinger: Entscheidend ist nach 1918 das Lagerdenken, das sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Grob gesagt geht es vor allem um die Stellung der Kirche, um den Kampf zwischen antiklerikalen und klerikalen Kräften. Letztere tendieren – vereinfacht gesagt – schon aus weltanschaulichen bzw. konfessionellen Gründen zum katholischen „Erzhaus“. Hinzu kommt eine eigene Mentalität, die dem Herrscher verpflichtet war, auch ohne religiöse Gefühle. Beamte, städtisches Bürgertum oder „mittelständische Gruppen“ gehören hier dazu. Ein klar republikanisches Bekenntnis legt die organisierte Arbeiterbewegung. Der Nationalsozialismus wird darüber hinaus zu einer eigenen antihabsburgischen Kraft, vor allem im Laufe der 1930er Jahre. Politisch haben Monarchisten bzw. Legitimisten keine Massenbasis. Sympathien beschränken sich vor allem auf eine prohabsburgische Geschichtspolitik und entsprechende (erinnerungs-)kulturelle Initiativen, insbesondere während des „Austrofaschismus“ bzw. des sogenannten „Ständestaates“.
Diese durchaus einflussreiche Strömung hat aber keine Chance, zur Restaurationsbewegung zu werden. Die Wiedererrichtung einer Monarchie ist auch aufgrund internationaler Kräfteverhältnisse kein Thema, trotz gelegentlicher Tendenzen innerhalb konservativer österreichischer Eliten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösen sich dann nach und nach die älteren Gesellschaftsstrukturen auf. Ideologische Lager, traditionelle Berufsgruppen und soziale Milieus erodieren, in den 1980ern ändert sich auch die Geschichtsbetrachtung. Die dunklen Kapitel der Vergangenheit rücken in den Mittelpunkt der Betrachtung, tendenziell auch eine kritische Betrachtung der k.u.k.-Monarchie. Österreich rückt mehrheitlich, wenn auch nicht vollständig, von seinem bisherigen Selbstbild ab, von älteren Stereotypen und Geschichtsklitterungen. Eine über Dekaden anhaltende Liberalisierungstendenz drängt hierarchische Denkweisen teilweise zurück, der fortgesetzte Säkularisierungsprozess trennt die Gegenwart von der Religiosität früherer Epochen. Das alles kann sich mit autoritären Trends und neuen Glaubensvorstellungen auch wieder ändern. Im Augenblick aber ist das Thema Habsburg vor allem ein klischeebesetztes Stück Kultur und vor allem Tourismus – und in diesem Sinne mehr nach außen als nach innen, also auf das Fremdbild und nicht auf das Selbstbild, gerichtet.

Weshalb ist ein besseres Verständnis der Habsburger wichtig für ein besseres Verständnis der Gegenwart?

Hannes Leidinger: Wer Geschichte als Erklärung zum besseren Verständnis der Gegenwart begreift, wird die heutige Alpenrepublik nicht zuletzt auch aus der Perspektive der jahrhundertelangen Habsburgerherrschaft betrachten. Die Prägung durch Gegenreformation, Administration, Kultur, Gesellschaftsstrukturen, Feindbilder, Geschlechter- und Eigentumsverhältnisse, beginnende Demokratisierung bei gleichzeitiger Autoritätsgläubigkeit und hierarchischem Denken erfolgt in hohem Maße unter dem „Doppeladler“, ist in gewisser Weise also eine „lange Zeitgeschichte“.

Die Habsburgerfamilie und monarchische Strukturen allgemein sind häufig Gegenstand von Romantisierung und Kommerzialisierung. Welche Probleme können durch diese Verklärung oder Idealisierung entstehen?

Hannes Leidinger: Die Auseinandersetzung mit einer Romantisierung der Geschichte könnte man als eher „akademisches Geschäft“ der HistorikerInnen verstehen. Eine Verklärung monarchischer Strukturen steht aber oft der kritischen Beurteilung von Verantwortlichkeiten und Machtfragen generell im Weg.
Mit Gegenwartsbezug geht es dabei etwa um den Umgang mit Schwächeren und Minderheiten, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Entscheidung über Krieg und Frieden. Die Imagebildung der Monarchie geht auch gerne über das Thema Privilegien und Geburtsrechte hinweg. Sie widersprechen demokratischen Prinzipien, die sich letztlich nur in einer Republik zur Gänze verwirklichen können.

Und wie sehen Sie den Ausverkauf der Identität, der durch Tourismus und Souvenirs nicht nur in Österreich gang und gäbe ist?

Hannes Leidinger: Gewiss hat der Tourismus gerade die österreichische Republik sowohl mit Blick auf Fremd- als auch auf Selbstbilder sehr stark geprägt. Der „Doppeladler“ hat da oft für Ausblendungen herhalten müssen, Kriege der Habsburger waren eher kein Thema. Eine Art Eskapismus, die Flucht in idyllische Phantasiewelten der Könige, Kaiser, Prinzessinnen, Reichen und Schönen, ist gerade nach dem Zweiten Weltkrieg ein Instrument der Geschichtsvergessenheit und der Verdrängung von Schuld und Traumata gewesen. Das war ein internationales Phänomen, ebenso wie die spätere kritische Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und den NS-Verbrechen.
Seit der Waldheim-Affäre hat sich die Wahrnehmung Österreichs im Ausland stark geändert, parallel zu den internen Transformationen. Ebenso grenzüberschreitend bleibt aber auch das Bedürfnis nach harmonischen Scheinwelten bestehen. Wenngleich mit Augenzwinkern, konsumieren doch viele die Produkte einer Art Sisi-Industrie weiterhin gerne. Persönliche Nöte und Beschwerden der HerrscherInnen werden dabei gelegentlich als Hinweise auf die Schattenseiten der „guten alten Zeit“ präsentiert und empfunden.

Kann eine nationale und kulturelle Identität der Österreicher*innen getrennt von den Habsburgern existieren?

Hannes Leidinger: Habsburg war das „(Erz)Haus Österreich“. Für viele MitteleuropäerInnen gab es lange keinen anderen Österreich-Begriff. Ansonsten definierte man sich über Nation und Sprachgemeinschaft, Religion, Berufe, Gesellschaftsschicht, Regionen und Kronländer. Habsburg, der Kaiser, war die gemeinsame Klammer. Das Übrige waren „Trümmer“, würde die verklärende Literatur sagen. Es dauerte lange, bis sich gerade die Menschen in der Alpenrepublik vom großen Reich verabschiedeten. Über den tragischen und schuldbeladenen Umweg des Nationalsozialismus, des „völkischen Ungeistes“ und der gewaltsamen Expansion gelangte man zur Kleinstaatsidentität und damit zu einem neuen, weithin anerkannten Österreich-Begriff. Dieser verliert allerdings im Rahmen der Europäischen Union, der Globalisierung, internationaler Militärbündnisse und einer schwelenden Neutralitätsdebatte bereits wieder an Strahlkraft und wirkt gelegentlich außerdem chauvinistisch und realitätsfremd.

Hannes Leidinger erzählt in seinem neuen Buch „Habsburgs langes Sterben – Eine kurze Geschichte vom schleichenden Untergang der Donaumonarchie“ vom habsburgischen Erbe und dessen Relevanz für Österreich und Europa. Die Publikation dient als Portal, als Eintritt in die Welt der Habsburger lange nach dem Einläuten der Republik. Mit Illustrationen von Lenz Mosbacher.

Sie sind ein langjähriger Experte auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie. Haben Sie bei Ihren Recherchen für dieses Buch vielleicht doch etwas Überraschendes entdeckt?

Hannes Leidinger: Wenn man sich schwerpunktmäßig mit dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang Österreich-Ungarns befasst, stößt man erwartungsgemäß auf Zeichen des Zerfalls, auf Zentrifugalkräfte, Erklärungen für das Auseinanderbrechen der Doppelmonarchie – sowohl international als auch innerhalb der Grenzen des Habsburgerreiches. Bekannt war seit Langem, dass sich die Großmächte eine „Desintegration“ des Donauraumes nur bedingt oder gar nicht wünschten. Daher gab es selbst bei den feindlichen Mächten noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Befürworter des k.u.k.-Doppelstaates. Überraschend war die Haltung der Menschen in der Monarchie, der habsburgischen „Untertanen“, das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der Zustimmung und der Loyalität gegenüber dem Herrscherhaus. Der Einfluss mehr oder minder nationaler und nationalistischer Geschichtsinterpretationen hat dieses Phänomen oft wirkmächtig marginalisiert oder verschwiegen. Da habe auch ich gängige Darstellungen hinterfragen und revidieren müssen.

Es gibt viele weitverbreitete Fehlannahmen über die Habsburger. Welche hartnäckigen Mythen sind falsch, lassen sich aber einfach nicht abschütteln?

Hannes Leidinger: Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II. werden gerne als fortschrittliche Maßnahmen gesehen, gerade wenn es sich um Maßnahmen im Justiz- und Bildungswesen oder um Lockerungen von feudalen Bindungen handelte. Das ist zumindest nur die halbe Wahrheit. Erstens wirkten sich viele Regelungen nicht auf sämtliche Reichsteile aus und zweitens ging es vielfach um die Schaffung eines Machtstaates, der effizientere Verwaltungsstrukturen und eine schlagkräftige Armee mit besser ausgebildeten „Untertanen“ brauchte. Die starke, homogene „Monarchia Austriaca“ blieb jedoch eher ein Wunschgebilde. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Meinungen darüber in der Forschung auseinandergehen.

Dass das „Haus Österreich“ eher eine friedliebende Heiratspolitik betrieben hat und Kriege eher vermeiden wollte, ist sicher ein weitverbreitetes Klischee. Vor allem wird außer Acht gelassen, dass dynastische Ehen und militärische Auseinandersetzungen einander vielfach bedingten und miteinander verbunden waren. Überdies suchte gerade Kaiser Franz Joseph die Entscheidung im Konfliktfall mehrmals auf dem Schlachtfeld. Das passt freilich nicht so ganz zu den Verniedlichungsversuchen einer prohabsburgischen Historiographie. Franz Joseph muss eher als Wiederholungstäter unter widrigen politischen und militärischen Rahmenbedingungen angesehen werden, mit einem gerade selbstmörderischen Prestigedenken. In „Ehren unterzugehen“ hieß dann auch, die Welt oder wenigstens Europa mit in den Abgrund zu reißen. Auch unter HistorikerInnen wird immer wieder betont, dass er keinen „Flächenbrand“ auslösen wollte und nur auf eine Abrechnung mit Serbien abzielte. Durch die Bündnissysteme bis 1914 wurde eine Eingrenzung des Konflikts aber unmöglich. Franz Joseph und seine engsten Berater wussten nachweislich von den Gefahren, die mit ihren Entscheidungen verbunden waren.

Die Illustrationen öffnen einen weiteren Gedankenraum zu Hannes Leidingers Einordnungen. Wie drücken Sie, als Illustrator, die Gefühle einer Zeit, die Sie nicht persönlich erlebt haben, in Ihren Bildern aus?

Lenz Mosbacher: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es eine anwachsende Fülle an Zeitungen und Zeitschriften, die vielzählig in Archiven erhalten sind. Um ein Gefühl für eine Zeit zu bekommen, lassen sich Tageszeitungen – mit Vorsicht genossen – als gesellschaftliches Barometer verwenden. Für mich als Zeichner war zusätzlich noch interessant, dass bis in den Ersten Weltkrieg hinein der Großteil an Nachrichten illustriert war. Hierbei handelt es sich teils um idealisierte oder verzerrte Illustrationen von Tagesthemen oder um politische Cartoons und Karikaturen. Im Buch bemühte ich mich daher um einen Stil, der über das Dargestellte hinausweist, aber im Gegensatz zu den historischen Zeitungsillustrationen keine idealisierten Szenen darstellt.
Mir war deshalb wichtig, einen sinnlichen Zugang zur Zeit und den jeweiligen Situationen zu bekommen. Wie fühlt es sich an? Wie riecht die Luft? Welche Geräusche hört man auf der Straße? Auch wenn ich um die Jahrhundertwende nicht am Leben war, suchte ich nach Parallelen zu meinem eigenen Erfahrungsschatz. Erst dann konnte ich Zeichnungen machen, die sich (für mich) anfühlen, als wäre ich vor Ort gewesen.

War hierfür eine besondere Recherche notwendig oder ist die Ikonografie der Zeit ohnehin sehr präsent in unserem kollektiven Gedächtnis? Ist das vielleicht sogar eine besondere Herausforderung an der Arbeit mit einer Epoche, deren Bildsprache in unseren Köpfen so allgegenwärtig scheint?

Lenz Mosbacher: Eine ausgedehnte Recherche und Beschäftigung mit der Zeit war notwendig, um mich vom Kitsch des Heimatfilms zu befreien, der das kollektive Bild der Habsburgermonarchie seit den 1950ern stark verfärbt. Meine Recherche beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Bildsprache. In einer Zeit, in der visuelle Medien noch nicht so allgegenwärtig verbreitet waren wie heute, kam der Sprache mehr Bedeutung zu. Einige Monate las ich intensiv Literatur um die Jahrhundertwende herum. In ihr konnte ich die Aufbruchs- und Umbruchstendenzen, die sich durch die Gesellschaft zogen, weit besser nachvollziehen und auch emotional in meinen Zeichnungen verbildlichen.

Im Laufe Ihrer Zusammenarbeit musste eine Auswahl der Motive getroffen werden, die Sie ausdrucksvoll illustriert haben. Wie haben Sie diese Wahl getroffen? Wie haben sich diese Schlüsselmomente herauskristallisiert?

Lenz Mosbacher: Der Niedergang der Habsburgermonarchie lässt sich kaum in einen dramatischen Handlungsbogen pressen – diese Vereinfachung wird dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht und steht auch quer zum Inhalt des Buchs. Trotzdem sollten die Zeichnungen einen Strang durch das Buch bilden, entlang dessen man sich hanteln kann. Unterstützend sind die Bildtexte, die ich gemeinsam mit Hannes geschrieben habe und die sozusagen das Bindeglied zwischen Buchtext und Zeichnungen sind. Idealerweise soll das Lesevergnügen so sein, dass die Zeichnungen den Text mit Emotion und der Text die Zeichnungen mit Information auflädt. Zusammen ergibt sich dann ein Bild.

Noch eine kleine Frage zum Schluss an Sie beide: Haben Sie einen Lieblingshabsburger?

Hannes Leidinger: Hagiographien sind grundsätzlich meine Sache nicht. Es darf als Gemeinplatz gelten, dass Menschen nicht selten zu widersprüchlichen Handlungen neigen und sehr verschiedene Charaktereigenschaften entwickeln. Lassen wir einmal unbeantwortet, was darunter wiederum genau zu verstehen ist und wie die Beurteilungskategorien für diverse Wesenszüge festgelegt werden. Es gibt immerhin Momente, in denen mir überlieferte Verhaltensweisen, wenn sie denn so stimmen, sympathisch erscheinen. Im Augenblick des Reichszerfalls und drohender gewaltsamer Konfrontationen will Karl, der letzte Kaiser und König, kein Blut mehr vergießen. Das darf nicht unerwähnt bleiben. Auch die eher moderate Denkweise Leopolds II. nach dem Reformeifer seines stürmischen Bruders Joseph ist von tieferen Einsichten geprägt. Kronprinz Rudolf hätte vielleicht das Potenzial zu zeitgemäßen Liberalisierungen und einer offeneren Politik gegenüber maßgeblichen europäischen Mächten gehabt, wäre er nicht Opfer seiner psychischen Leiden geworden.
In Summe geht es wohl um System- und Gesellschaftsanalysen, weniger um persönliche Vorlieben. Lediglich bei besonderen Machtpositionen und größeren Handlungsspielräumen stellt sich in einem gewissen Maße die Frage der individuellen Verantwortung mehr als sonst.
„Habsburg-Kannibalismus“ ist jedenfalls ebenso wenig am Platz wie die Idealisierung oder die kollektive Be- und Aburteilung einer Familie, die unter den Herrschaftsverhältnissen gelegentlich selbst gelitten hat und manchmal auch daran zerbrochen ist. Nicht nur die Tragödie von Mayerling und der Thronfolger Rudolf erinnern uns daran.

Lenz Mosbacher: Der Hof der Habsburgermonarchie war schrecklich repressiv und starr. ZeitzeugenInnen berichten etwa immer wieder, wie stinklangweilig es im engeren Familienkreis um Franz Joseph gewesen sei: Betretenes Schweigen, niemand traut sich, offen miteinander zu reden. Da halte ich zu den AußenseiterInnen des Hofs, wie etwa Kaiserin Sisi oder Kronprinz Rudolf, die wenigstens versuchten, auszubrechen – und daran leider schlussendlich zerbrachen.

Eine literarische Auflehnung gegen die vorherrschende Klassenpolitik: Leseprobe aus „Von der namenlosen Menge“ von Olivier David

Geschichten von der unteren Klasse, Literatur über soziale Herkunft – meist sind das Erzählungen von Aufbruch und Aufstieg. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die unten geblieben sind. Die mit den schmerzenden Körpern, die Nachtarbeitenden, die Vergessenen – und um ihn selbst. Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit den Wohlstand höherer Klassen zu bezahlen? Wie selbstbestimmt kann die Entscheidung, allein zu bleiben, sein, wenn soziale Beziehungen durch Vereinzelung, Geldmangel und eingeschränkte Teilhabe unter Druck stehen? Wie soll Geschichte weitergegeben werden, wenn es kein kollektives Gedächtnis armer Menschen gibt? Mit dieser Leseprobe bekommst du einen Einblick in Olivier Davids „Von der namenlosen Menge“,  das unsere Gesellschaft in ein anderes, oft ausgeblendetes Licht rückt.

Innere Migration

In ihrer sozialen Identität, in ihrem Selbstbild zutiefst infrage gestellt durch ein Schulsystem und eine Gesellschaft, von diesen mit leeren Worten abgespeist, bleibt ihnen zur Wiederherstellung ihrer persönlichen und sozialen Integrität kein anderer Ausweg, als jenen Verdikten ihre globale Verweigerung entgegenzusetzen.
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede

Ein später Nachmittag am letzten Tag des alten Jahrtausends. Um dem Gefühl des Alleinseins zu entfliehen, schnüre ich meine Schuhe, ich rufe meiner Mutter ein paar Worte zu und verlasse die Wohnung. Raus aus dem Haus, vorbei an dem Fenster meines ghanaischen Nachbarn, aus dem Gelächter und Musik dringen, durch das Tor, das verschlossen aussieht, aber nur angelehnt ist und das eines Tages eingebaut wurde, um zu verhindern, dass Drogensüchtige ihre Spritzen in unserer Sandkiste liegen lassen. Meine Stimmung passt zu diesem nasskalten Dezembertag, sie passt zum taubengrauen Himmel, sie passt nicht zum Tag der Tage, für den ich zu wenig enge Freunde habe, zu pleite und zu hobbylos bin. Ich bin elf Jahre alt, ich bin draußen auf der Straße unterwegs, streife durch die Stadt, mit einer Handvoll Böller. Auch, wenn wir für richtige Partys eigentlich zu jung sind, meine Mitschüler und ich, weiß ich, dass manche von ihnen mit ihren Familien ins neue Jahrtausend hineinfeiern und andere die Jahrtausendwende bei ihren Freunden verbringen.
Die Dämmerung bricht langsam herein, als ich beschließe, mich auf den Rückweg zu machen. Vorbei an den sechs oder acht Stufen, die an die Außenmauer des Karstadtgebäudes angrenzen, vorbei an der Post nahe der großen Bergstraße. Am Schaufenster des Klamottenladens Hundertmark bleibt mein Blick an der dunkelbraunen Lederjacke für 699 Mark kleben. Kurz hellt sich meine Stimmung auf, als ich mir vorstelle, diese schwere, edle Lederjacke eines Tages zu besitzen. Nach ein paar Sekunden reiße ich mich los. Es gibt die Welt hinter der Auslage, und es gibt meine Welt, und dazwischen gibt es die Sicherheitsscheibe, die unüberwindbar zwischen meinen Tagträumen und der Realität steht. Das hinter der Scheibe, das bin nicht ich, das werde ich nie sein.
Die Kälte zieht mich wie an einer Schnur zurück nach Hause. Allein Böller auf die Straße zu werfen, so wie ich es bis vor wenigen Minuten gemacht habe, erzeugt keine Freude in mir, es ist eher etwas, das ich pflichtbewusst erledige, weil alle Jungs in meinem Umfeld vernarrt darin sind, etwas in die Luft zu jagen. Die letzten zwei D-Böller stecke ich zurück in die Tasche. Am Ende der großen Bergstraße explodiert plötzlich etwas unmittelbar vor meinen Füßen. Die Detonation ist heftig, sie reißt mich aus meiner Lethargie. Ich sehe ein paar übermütige Jugendliche, die sich mit Böllern beschmeißen, und hoffe, dass sie nicht auf mich zielen. Der Schock, den die Explosion in mir auslöst, wird verstärkt durch die empfundene Isolation von der Welt, die mich schon umgeben hat, lange bevor ich das Haus verlassen habe. Eine Isolation, die genau genommen ein Teil von mir ist. Eine Isolation, die gleichzeitig auch ein Trugschluss ist, denn ich bin nicht allein, meine Mutter wartet zu Hause, auch ihr geht es nicht gut, auch sie ist allein. Genau genommen ist es kein isoliertes Alleinsein, wir sind jeder für sich nebeneinander allein. Es ist das Alleinsein des versprengten Rests einer Familie aus der unteren Klasse.

Vor einiger Zeit habe ich online einer Podiumsdiskussion über soziale Herkunft und Klassenwechsel zugesehen, und in den Wochen und Monaten danach ploppte der Titel der Veranstaltung immer wieder in meinem Inneren auf: Die Klasse, die es nicht gibt. Die Formulierung zeigte mir eine Realität auf, die sich meinem Bewusstsein bisher entzogen hatte, obgleich ich ihre Wahrheit körperlich spürte. Schon seit meiner Kindheit existieren für mich parallel zwei Realitäten, die sich zu widersprechen scheinen.

Die eine besagt, dass es nur mich gibt, nur ich allein kann mir meiner selbst sicher sein. Klar, da sind noch meine Mutter, meine Schwester, mein Vater, aber es ist wichtig, dass ich mich auf niemanden verlasse. Keine Freunde werden bleiben, keine Frau. Es ist eine Art innerer Kern, der nicht durch das Vertrauen in andere Menschen kontaminiert werden darf, denn im Außen wartet der Verrat. Hoffnung nur dann, wenn ich bereit bin, die der Hoffnung auf dem Fuß folgende Enttäuschung zu akzeptieren, die zum Gefühl, verlassen zu werden, dazugehört. Gefühle dieser Art haben mit dem Pathos nichts gemein, das der unteren
Klasse zugeschrieben wird. Teile der Gesellschaft haben es sich angewöhnt, mit unversöhnlichem Blick auf die Empfindungen der Menschen aus der Unterklasse zu schauen. Den Problemanalysen und Schlüssen der Menschen von unten wird misstraut. Der Entzug der Deutungshoheit über die eigene Situation funktioniert als nachgelagertes Herrschaftsinstrument, als Enteignung nach der Enteignung. Erst nimmt die herrschende Klasse einem die Mittel zu einem würdevollen Leben, dann diskreditiert die kulturelle Fraktion derselben Klasse die Intensität der Gefühle, die ob des Verlustes aufsteigen.

Diese Gefühle, über die ich hier zu sprechen versuche, sind Teil eines verkörperten Wissens. In ihnen liegt keine Trauer und auch keine Überhöhung, dafür ist ihnen eine Desillusionierung eigen. Mir kommt kein Gefühl in den Sinn, das gleichzeitig ehrlicher und ernüchternder zugleich ist als jenes, das beim Vorgang spürbar wird, sich der Realität zu stellen, in der es für die meisten so wenig zu gewinnen gibt. Dieselbe Wahrheit besagt, dass ich alleine von dieser Erde gehen werde. Eine Wahrheit, in der geschrieben steht, dass ich in Einsamkeit und Armut sterben muss, zu früh sterben muss, weil diese Phänomene einer Gesetzmäßigkeit folgen.

Die zweite Realität meiner Kindheit ist die eines Miteinanders, das sich durch Mitgefühl zeigte. Zu Hause waren die Herzen so offen, wie sie nur sein konnten, wenn einem die Ungerechtigkeiten (und manchmal auch das erlernte Wissen, es nicht besser verdient zu haben) in den Lebenslauf eingeschrieben worden sind. Neben dem Mitgefühl war da Platz für Diskussionen am Küchentisch, da gab es die Freude meiner Mutter, wenn anderen kleinen Leuten ein bisschen Gerechtigkeit widerfuhr. Da wurde der Glaube verteidigt, dass ihre Kinder den eigenen Weg finden würden. Trotz allem – oder gerade deswegen.
Wie gehen diese beiden Wissensstände zusammen? Wie kann die eine Wahrheit stimmen – die Wahrheit um das Wissen einer kollektiven Betroffenheit und eine damit verbundene Empathie für viele, deren Leben den Gesetzen dieser selektierenden Welt unterworfen sind – , während das Wissen darüber, dass das Leben in der Unterklasse vereinzelt, sich jeden Tag mit kalter Präzision in mein Bewusstsein eingeschrieben hat?

Für mich beschreibt der Begriff der inneren Migration am treffendsten den Mechanismus der Vereinzelung, der nicht nur, aber insbesondere ein Phänomen der unteren Klasse ist. In Deutschland wird vor allem im Kontext des Nationalsozialismus von innerer Migration gesprochen. Der Begriff beschreibt in diesem Zusammenhang eine innere Haltung, die einige Schriftsteller und Künstler nach der Machtergreifung der Nazis 1933 bis zum Kriegsende 1945 für sich beanspruchten. Aus Furcht vor Berufsverboten und Konzentrationslager produzierten viele Künstler gefällige oder seichte Kunst, Kritik an der NS-Diktatur wurde zurückgehalten oder auf ein Minimum reduziert. Der Widerstand der Künstler fand nur vereinzelt und im Geheimen statt, in den allermeisten Fällen bestand er aus einem bloßen Rückzug ins Innere.
Im Sammelband Zwischen innerer Emigration und Exil zeigt die Autorin und Herausgeberin Leonore Krenzlin auf, dass der Begriff nicht, wie oft fälschlich behauptet, von Frank Thiess begründet wurde, der ihn auf die Zeit des Nationalsozialismus angewendet hat. Schon in den 1920er-Jahren fand die innere Migration in Leo Trotzkis Literatur und Revolution Erwähnung. Für Krenzlin behauptet die Formulierung innere (E-)Migration, dass es „eine Abwesenheit ohne eine reale körperliche Auswanderung gebe, eine Absetzbewegung in irgendeiner indirekten Bedeutung: als Nichtübereinstimmung mit den Zuständen des
Landes, als ein Sichausgliedern aus den Anforderungen des Staates, als Weigerung, ihn zu unterstützen – oder sogar auf einer ganz unkörperlichen Ebene als ein Rückzug in das Innere des Geistes oder der Seele.“

Wichtiger erscheint es mir, den Begriff von historischen Kontexten losgelöst auf soziale Fragen im Hier und Jetzt zu übertragen. Denn wenn wir uns die Lage der unteren Klasse ansehen, ist Krenzlins Definition die Zustandsbeschreibung der Gegenwart vieler armer Menschen. Fast jeder vierte Wahlberechtigte gab 2021 bei der Bundestagswahl keine Stimme ab. Politikverdrossenheit, Populismus und der Glaube an Verschwörungserzählungen sind in der unteren Klasse überproportional vertreten.

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Ich muss an mein Aufwachsen in Altona denken, einem Viertel von Hamburg, in dem Arbeiterinnen neben Künstlern und arme Menschen neben Bildungsbürgern wohnten. Ein Viertel, in dem Gewalt in manchen Wohnblöcken, Straßen und Häusern Teil des Alltags war. Wie viele Jugendliche und Erwachsene sind hier dem Alkohol, Gras oder harten Drogen verfallen? Wie viele sind eingefahren, ins Gefängnis?
Ein alter Freund, mit dem ich gemeinsam Musik gemacht und bei dem ich Songs aufgenommen habe, wurde vor ein paar Monaten zu zwei Jahren auf Bewährung und einer hohen Geldstrafe verurteilt.
Vor einem Jahr traf ich in Hamburg durch Zufall einen Bekannten wieder. Er erzählte mir, dass sein Prozess wegen des Handelns mit Kokain anstand. Erst vor ein paar Tagen erfuhr ich, dass er nun im Gefängnis sitzt.

Es gibt bis heute alte Bekannte, die mich, wenn ich sie treffe, mit dem Pseudonym ansprechen, unter dem ich früher gerappt habe. Einer von ihnen ist B. „Soma, digga, ich habe gehört, du hast ein Buch geschrieben!“, ruft er, als ich einem Kamerateam mein altes Viertel zeige. „Ich wusste gar nicht, dass es früher bei dir auch so schlimm war. Bei uns ist ja auch richtig heftig gewesen, aber uff, wenn du Buch schreibst darüber, dann …“ Er hört auf zu reden, sein Blick erstarrt auf eine Weise, die ich kenne, weil mein eigener Blick zuvor oft genauso erstarrt ist. Man kann sehen, wie es in ihm rattert: Wie schlimm musste eine Form der Armut sein, die es nötig machte, ein Buch über sie zu schreiben?

Eine weitere Erinnerung. Ich bin mit ein paar alten Freunden in Altona an dem Platz unserer Jugend auf ein Bier verabredet. Wir alle wurden schon über diesen Platz gejagt, mal von anderen Jugendlichen oder Erwachsenen, mal von der Polizei. Ich wurde auf dem Platz geschlagen, habe mich erbrochen, habe ein paarmal Gras verkauft, öfter aber Gras gekauft. Ich habe an Wände gepinkelt, Mauern und Mülleimer angemalt und mit Stickern beklebt. Ein Bekannter von früher stößt dazu, er will ebenfalls über mein Buch sprechen und nimmt mich zur Seite. Er wolle es mir persönlich sagen und nicht hinter meinem Rücken
reden. Er habe Respekt davor, dass ich ein Buch geschrieben habe, aber ganz ehrlich und ohne mir zu nahe treten zu wollen, so wie ich seien doch viele aufgewachsen, das sei doch gar nicht so krass. Er erzählt mir die Geschichte seiner Familie.

Zu erkennen, dass der eigene Lebenslauf, die Hautfarbe, der Nachname oder die Straße, in der man lebt, Türen verschließt, ist für die meisten Menschen nicht leicht zu ertragen. Ich weiß von einigen Beispielen, in denen junge Erwachsene, Männer öfter als Frauen, auf diese Zuschreibungen affirmativ reagieren. Meine Mutter putzt Toiletten, mein Vater ist abgehauen, die Gesellschaft traut mir nichts zu, die Initiative, die ich zeige, um vom Fleck zu kommen, wird zurückgewiesen – dann soll es so sein. Dann mache ich euch den Gangster, den Dealer, den Alkoholiker, den Taugenichts, die Depressive, bitte schön. Das sind Zeichen innerer Migration. Ein Verstummen; sich den Zuständen und Spielregeln ergeben, die Rolle annehmen. Seinen Platz kennen. Nicht aufsteigen können und also auch nicht wollen, den Mächtigen die Zustimmung verwehren. Merkmale innerer Migration weisen auch die oben beschriebenen Situationen auf, in denen es nur dann möglich erscheint, ein Buch über die sozialen Bedingungen des Aufwachsens zu schreiben, wenn die Zustände wüster sind als Hartz 4, als die Intervention des Jugendamtes in der Familie, als Drogenprobleme, Vorstrafen, Ärger um den Duldungsstatus und das Über-die-Runden-Kommen durch Kleinkriminalität. Umgekehrt gesprochen: Was sagt es aus, wenn das alles als eine Form der Normalität empfunden wird, über die man nicht zu sprechen braucht? Was sagt es über eine Gesellschaft aus, in der ein Teil glaubt, dass ihm kein würdevolles Leben zusteht?

Eine Krimireise um die Welt: Leseprobe aus „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ von Edith Kneifl

Edith Kneifl entführt mit „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ ihre Leser*innen aus dem Alltag und nimmt sie mit auf 18 literarische Reisen zu verschiedensten Traum-Urlaubsorten zwischen Wüstenglut, Meeresbrise und Großstadtdschungel. Die Grande Dame des österreichischen Krimis weiß, was das Sommerlektüreherz begehrt: Liebe und Hass, Sehnsucht und Vergeltung, fatale Beziehungen und einen ordentlichen Schuss Humor. So genießt man Krimis aus aller Welt bequem von Balkonien aus und bekommt vielleicht sogar die eine oder andere Idee für den nächsten Urlaub. Tauch ein in eine Welt voller Spannung und hol dir einen ersten Eindruck mit dieser Leseprobe.

 

Das Haus am Fluss

Das einstöckige Haus an der Themse stand seit langem leer. Hin und wieder sah man Harry im Garten die Hecken stutzen. Er war nicht mehr der Jüngste. Sein Haar war ergraut und spärlich geworden, aber er hatte sich sein kindliches Lächeln bewahrt. Harry kam jeden Tag hierher, so wie früher, als Miss Guinney noch hier wohnte. Er war ihr Mädchen für alles gewesen.
Eines Nachts war sie von einem Ausflug nach London nicht mehr zurückgekehrt.
Nach ihrem Verschwinden tauchten zwei Polizisten auf und stellten Harry Fragen, die er nicht beantworten konnte. Er beteuerte nur immer wieder, nicht zu wissen, wo sich seine Herrin aufhielt.
Nach dem Besuch der Polizei machten viele böse Geschichten die Runde. Harry hörte den Männern im Pub aufmerksam zu, äußerte sich aber nicht dazu, obwohl er Miss Guinney als Einziger näher gekannt hatte. Selbst wenn es stimmte, was die Leute erzählten, seine Miss würde schon ihre Gründe gehabt haben.
Miss Guinney war eine attraktive Frau, groß und schlank und mit breiten Schultern wie ein Mann. Das Schönste an ihr waren ihre langen blonden Haare. Sie trug sie nie offen, sondern immer straff nach hinten gekämmt und hochgesteckt, was sie sehr streng aussehen ließ. Man konnte sich jedoch vorstellen, wie prachtvoll es sein musste, wenn sie über ihren muskulösen Rücken flossen. Harry hätte zu gerne ihr Haar einmal offen gesehen, aber er wagte es nicht, sie heimlich beim Kämmen zu beobachten.
All ihre Zimmer lagen im Obergeschoss, ein Schlafzimmer, ein Kabinett, das ihr als Ankleideraum diente, ein Bad und noch ein Raum, der immer versperrt war. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche, ein Esszimmer und ein geräumiger Salon, der einer überdimensionalen Rumpelkammer glich. Sosehr Harry sich auch bemühte, Ordnung zu schaffen, Miss Guinney gelang es immer wieder in kürzester Zeit, ein Chaos zu hinterlassen. Jeden Vormittag fand er schmutzige Gläser, leere Tonic- und Gin-Flaschen und überquellende Aschenbecher im Salon. Auf dem Orientteppich lagen die Kleider, die sie am Vortag getragen hatte. Er ließ sie jede Woche reinigen, obwohl er wusste, dass Miss Guinney sie ohnehin kein zweites Mal mehr anziehen würde.
Die Fenster des Salons gingen zum Fluss hinaus. Der Blick auf das liebliche Themse-Tal war fantastisch. Der Fluss schlängelte sich durch zwei steinerne Brücken, die von Trauerweiden umrahmt wurden. Die prächtigen Herrenhäuser am anderen Ufer ließen sich allerdings nur erahnen. Sie versteckten sich in verwunschenen Parkanlagen. Aus der Ferne grüßte ein Kirchturm. Dahinter erhoben sich sanfte grüne Hügel. Ins nächste Dorf brauchte man zu Fuß eine Viertelstunde. Doch Miss Guinney pflegte nicht oft zu Fuß zu gehen. Sie stand nie vor Mittag auf. Nachmittags saß sie dann meist draußen auf der überdachten Veranda und gab sich dem Müßiggang hin. Den prächtigen Garten, der bis zur Themse hinunterreichte, betrat sie nur selten, er war Harrys Reich.
Liebevoll kümmerte er sich um die Rosen, Hortensien und Rhododendronsträucher. Er hatte nur Blumen in Miss Guinneys Lieblingsfarben Pink und Violett gepflanzt. Verirrte sich hin und wieder ein andersfarbiges Gewächs hierher, wurde es sofort von ihm entfernt.
Während ihrer Mußestunden durfte er sich im Garten nicht blicken lassen. Als er es einmal wagte, nachmittags den Rasen zu mähen, erhob sie ihre Stimme. Es war das einzige Mal in all den Jahren, dass er ein scharfes Wort zu hören bekam. Daraufhin ließ er sich zwei Tage nicht bei ihr blicken.
Sonst sprach sie immer mit leiser Stimme, in der ein gewisses Gähnen lag. Es schien, als würde sie das Sprechen langweilen. Harry sprach auch nicht gern, nicht nur weil die meisten Leute lachten, wenn er den Mund aufmachte, sondern weil er nichts zu sagen hatte. Anfangs dachten die Dorfbewohner, Miss Guinney müsse immens reich sein oder irgendwo einen reichen Ehemann versteckt halten, denn sie besaß Unmengen von Schmuck und teuren Kleidern. Sie zog sich nicht nur täglich zweimal um, sondern trug auch jeden Tag etwas anderes. Man sah sie nie zweimal im selben Kleid. Sie hatte das Haus vor nunmehr sieben Jahren relativ günstig erstanden, weil es sehr nahe am Fluss lag, feucht war und schon halb verfallen, als sie einzog. Früher hatten Überschwemmungen Haus und Garten übel mitgespielt, doch seit flussaufwärts ein Staudamm errichtet worden war, gab es keine Probleme mehr mit dem Hochwasser. Die Grundstückspreise waren mittlerweile stark gestiegen.
Das romantische Thames Valley war eine begehrte Wohngegend, nicht nur wegen der Nähe zu Schloss Windsor und der Universitätsstadt Oxford, sondern auch, weil die Hauptstadt des Britischen Empires mit dem Auto in einer guten Stunde erreichbar war.

 

 

Das entzückende Cottage stammte aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Es war umgeben von üppiger Vegetation und sah sehr hübsch aus, nachdem Harry es renoviert hatte. Doch in letzter Zeit ließ Miss Guinney es wieder verkommen. Sie wollte ihre Ruhe haben und erlaubte Harry weder das undichte Dach zu reparieren noch die verrostete Gartenpforte zu erneuern. Die Gerüchte über ihr sagenhaftes Vermögen verstummten. Eine Frau mit Geld würde doch so ein schmuckes Häuschen nicht verwahrlosen lassen, sagten sich die Nachbarn, und die Neider wurden weniger. Miss Guinneys Alter ließ sich schwer schätzen. Sie hatte sich in den sieben Jahren, die sie hier lebte, kaum verändert. Die Meinungen über ihre Schönheit waren jedoch geteilt. Manche fanden sie früher hübscher, andere wieder behaupteten, sie würde von Jahr zu Jahr schöner. Auffällig war, dass sie keinen Mann hatte. Sie ließ sich nicht nur Miss nennen, sondern man sah sie auch nie mit einem männlichen Wesen. Außer mit Harry natürlich, aber der war ein armer Narr. Böse Zungen unterstellten ihr, dass sie nur so viel Sorgfalt auf ihr Aussehen verwendete, um sich einen Mann zu angeln. Im Dorf lebte ein Mann, der es besser wusste. Er hatte sich ein Jahr lang vergeblich um ihre Gunst bemüht. Obwohl er nicht übel aussah und sogar über das nötige Kleingeld verfügte, um einer anspruchsvollen Frau fast jeden Wunsch erfüllen zu können, hatte sie ihn ebenso abgewiesen wie alle anderen, die es bei ihr versucht hatten.

Miss Guinney war nicht unfreundlich zu ihren Verehrern, sie behandelte alle gleich oder, besser gesagt, gleichgültig. Sie war nicht arrogant, sondern einfach nur desinteressiert an anderen.
Kein Mensch, außer Harry, überschritt je die Schwelle ihrer Haustür. Sie empfing keine Gäste, hatte keine Freunde, nicht einmal Bekannte. Den Nachbarn schenkte sie ein kurzes Nicken, wenn sie ihnen zufällig auf der Straße begegnete. Da sie selten ausging, brauchte sie auch nicht oft zu nicken. Direkte Nachbarn hatte sie sowieso keine. Das nächste Haus lag mindestens hundert Meter entfernt. Ohne komplizierte Ausreden zu erfinden, lehnte sie jede Einladung ab. Während der letzten Jahre belästigte man sie nur mehr selten mit Einladungen. Das Interesse an ihr flaute ab.
Miss Guinney besaß selbst ein altes Boot mit einem Außenbordmotor. An besonders heißen Tagen fuhr sie hinaus und ließ sich von der Strömung flussabwärts treiben. Sie war dann oft stundenlang unterwegs, da die Rückfahrt mit dem schwachen Motor mühselig war. Auch während dieser Bootsfahrten war sie immer elegant gekleidet. Harry hatte sie noch nie in Shorts oder gar in einem Badeanzug gesehen.
Er genoss vor allem die Ruhe in ihrem Haus. Es gab nicht viel zu tun. Nur selten trug sie ihm Besorgungen auf. Sie war auch nicht anspruchsvoll, was das Essen betraf, sondern begnügte sich meistens mit Salat, Sandwiches oder Fish & Chips.
Wenn es draußen kühl wurde, begab sie sich in ihre Zimmer im ersten Stock und erschien erst zum Abendessen wieder, entsprechend gekleidet und noch schöner als am Tag. Harry servierte ihr das Dinner im Esszimmer. Er aß in der Küche, bekam aber das Gleiche wie sie. Nach dem Essen ging er nach Hause. Er wohnte unten am Fluss in einem vermoderten Bootshaus, das ebenfalls zum Cottage gehörte. In den Wintermonaten ließ ihn der Wirt in einem Abstellraum des Pubs schlafen. Harry war in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, Miss Guinney zu fragen, ob er nicht in der Küche auf der Bank des riesigen Kachelofens schlafen dürfe. Was sie an den langen Abenden allein zu Hause machte, wusste er nicht. Vielleicht sah sie fern? Es brannte immer sehr lange Licht im ersten Stock, aber die dunklen Vorhänge waren zugezogen, in dem einen verschlossenen Raum auch tagsüber.
An den Wochenenden hatte Harry frei. Anfangs war er auch samstags erschienen. Sie hatte ihm jedoch freundlich, aber bestimmt zu verstehen gegeben, dass sie ihn bis Montagmittag nicht zu sehen wünschte. Harry hasste die Wochenenden. Er vertrieb sich die Tage mit Fischen und hing abends meistens im Pub herum.
Die Leute waren bald dahintergekommen, dass Miss Guinney jeden Samstag das Dorf verließ. Nachmittags, immer um die gleiche Zeit, stieg sie in ihren alten pinkfarbenen Bentley und raste die Landstraße hinunter. Einer ihrer Verehrer hatte einmal versucht, ihr nachzufahren. Bis nach London war er ihr gefolgt. Am Stadtrand hatte sie ihn abgeschüttelt. Auch bei seinem zweiten Versuch war sie ihm entwischt.
Anfangs munkelte man allerlei über diese regelmäßigen Ausflüge von Miss Guinney. Dann einigte man sich darauf, dass sie schließlich irgendwann ihre Einkäufe erledigen musste. Ab diesem Zeitpunkt galt der Samstag als Miss Guinneys Einkaufstag. Allerdings kehrte sie oft erst in den frühen Morgenstunden aus London zurück. Manchmal war es bereits hell, wenn Harry den Motor ihres Wagens hörte. Den Bentley parkte sie immer neben dem Cottage unter einer alten Esche.
Der Garten war umgeben von hohen Hecken und nur von der Themse aus einsehbar. Ein besonders hartnäckiger Bewunderer hatte eine Zeitlang versucht, sich ihr vom Fluss her zu nähern. Doch sie hatte sich sofort in ihr Haus zurückgezogen, wenn sein Boot aufgetaucht war. Schließlich gab er auf. Ebenso wie die gefürchteten anglikanischen Frauenvereine bald aufgaben, Miss Guinney als Mitglied gewinnen zu wollen. Sie wurde für verrückt erklärt, nicht so verrückt wie Harry, aber auch sie schien eben nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Die Damen verloren das Interesse an ihr und ihren Ausflügen nach London.
Bis sie eines Tages nicht mehr zurückkam. Man wartete einen Tag, zwei Tage, nahm an, sie wäre verreist. Aber Harry schien nichts von einer Reise zu wissen. Als sie nach zwei Wochen noch immer nicht aufgetaucht war, begann die Polizei erneut Nachforschungen anzustellen. Sie brachen die Haustür auf, da Harry behauptete, keinen Schlüssel mehr zu haben. Miss Guinney hatte ihm alle Schlüssel abgenommen, als sie ihn hinausgeworfen hatte. Nach ihrer letzten London-Tour hatte sie Harry in ihrem Bett vorgefunden und kurzerhand vor die Tür gesetzt.
Die Polizisten machten selbst vor dem ersten Stock nicht halt. Harry versuchte, die Police officers daran zu hindern, Miss Guinneys Schlafzimmer zu betreten, denn sie hätte niemals geduldet, dass diese wildgewordene Horde in ihr kleines privates Reich eindrang. Nicht einmal er hatte den ersten Stock betreten dürfen. Aber gegen diese Meute von Scotland Yard hatte er keine Chance. Verzweifelt klammerte er sich an die Beine eines Inspektors. Dieser versetzte ihm einen heftigen Stoß und Harry stürzte die Treppe hinunter. In dem mysteriösen Zimmer im ersten Stock entdeckten die Männer von Scotland Yard dann Anzüge in allen Größen, Maßhemden, Lederschuhe, goldene Uhren und leere Brieftaschen.
Miss Guinney hatte sich ein sonderbares Museum eingerichtet. Zuerst dachte die Polizei, sie hätte diese Sachen nur gestohlen. Später stellte sich heraus, dass die Besitzer dieser hübschen Sachen als vermisst gemeldet waren, verschollen in der fernen Großstadt, manche schon vor Jahren.
Die Gerüchte überstürzten sich. Die schöne Miss Guinney musste sehr wählerisch gewesen sein.
Anscheinend hatte sie sich nur mit wohlhabenden Männern eingelassen.
Der Londoner Nobelstrich wirkte verwaist ohne sie, „die Lady im Bentley“, wie sie von ihren Kolleginnen respektvoll genannt worden war, da sie ihren Kunden immer in ihrem schönen Wagen zu einem letzten Genuss verholfen hatte.
Als Harry abends aus dem Pub in das Bootshaus zurückkehrte, erzählte er Miss Guinney, dass die Polizei heute nicht nur die Leichen von drei ihrer ehemaligen Kunden, sondern auch ihren alten pinkfarbenen Bentley im Stausee gefunden hatte.
Miss Guinney antwortete ihm nicht. Sie konnte nicht, lag sie doch unter den morschen Brettern des Bootshauses, friedlich schlummernd im Schlammbett des Flusses. In ihrem weißen langen Hals steckte eine Heckenschere. Der Knoten in ihrem Haar hatte sich gelöst. Die langen blonden Strähnen breiteten sich auf den sanften Wellen der Themse aus. Harry entfernte zwei Bretter. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem wundervollen Haar, das sie endlich offen trug.

Interview mit Anja Frers über vererbte Gewalt und transgenerationale Traumata

Transgenerationales Trauma – das klingt in erster Linie nach komplizierten psychologischen Vorgängen, die eine entsprechend fachliche Auseinandersetzung verlangen. Anja Frers beweist das Gegenteil: Sie geht dem Thema auf künstlerische Weise nach und ermöglicht damit einen zugänglichen Diskurs. Denn: Das Thema ist sehr viel enger mit uns verbunden, als wir vielleicht meinen. Im Gespräch mit der Künstlerin und Therapeutin erfahren wir aus psychologischer und psychotherapeutischer, künstlerischer und menschlicher Sicht, wie tief diese Dynamiken in uns und der Welt verankert sind und wie damit umgegangen werden kann.
Wer sich vor, während oder nach dem Lesen ein Bild von Anja Frers Kunst machen möchte, findet sie hier.

In Ihrer aktuellen Ausstellung „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, die am 21. Februar 2024 in der Pasinger Fabrik eröffnet wurde, gehen Sie gemeinsam mit Nana Dix und Uschi Siebauer der Frage auf den Grund, wie sehr euch drei Künstlerinnen der Zweite Weltkrieg, die NS-Ideologie und die autoritären Erziehungsideale der Eltern und Großeltern geprägt haben. Dabei habt ihr euch natürlich intensiv mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt und euch vielleicht auch das eine oder andere Mal gefragt: Ist das noch normal oder zählt das schon als Trauma? Dabei ist das ja eine ganz grundlegende Frage, mit der wir vielleicht direkt starten: Was ist eigentlich ein Trauma und was fällt alles darunter?

Der Begriff Trauma (altgriechisch: Wunde) bedeutet psychische Ausnahmesituation (Psychotrauma). Es kann ausgelöst werden durch überwältigende Erlebnisse (z.B. Gewalt, Krieg oder andere Katastrophen), die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellt. Oder auch durch frühkindliche Erfahrungen, wenn z.B. die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen wurden, durch Erziehungsmaßnahmen wie schreien lassen oder „kalt“ stellen etc. Diese negativen Erfahrungen zerstören das Vertrauen in Bindungspersonen nachhaltig und haben enorme Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Es fällt den Betroffenen schwer, Nähe zu zulassen, weil sie als gefährlich empfunden wird und zugleich ist ein starkes Bedürfnis nach Nähe gegeben. Diese Art der Traumatisierung wird auch komplexe Posttraumatische Belastungsstörung genannt und wurde aktuell auch in das ICD11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) aufgenommen. Es existiert somit ein breites Traumaspektrum mit unterschiedlichen Auswirkungen.

 

©Anja Frers

Anja Frers arbeitet als Künstlerin und Fotografin. Zusätzlich ist sie ganzheitliche Traumatherapeutin und hat eine eigene Praxis. Das Gemeinschaftsprojekt mit Nana Dix und Uschi Siebauer, „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, kann, neben der Ausstellung in der Pasinger Fabrik, auch in Buchform entdeckt werden.

Wenn wir uns an den Biologie-Unterricht zurückerinnern, war in Sachen Vererbung immer nur die Rede von Genen. Dass auch Erfahrungen und traumatische Begebenheit von Generation zu Generation weitergegeben werden können, ist aber eine Tatsache, die neu scheint. Jetzt also die Frage, die sich viele wohl als allererstes stellen: Wie geht das überhaupt mit den vererbten Traumata?

Die epigenetische Forschung hat gezeigt, dass es bestimmte Faktoren gibt, die die Aktivierung und Expression der DNA beeinflussen können. Dazu gehören z.B. Umwelteinflüsse, Krieg, Hunger, Gewalterfahrungen etc. Diese Einflüsse können zu epigenetischen Veränderungen in den Zellen führen, so dass die nächste Generation besser auf bestimmte Situationen reagieren kann, auch wenn sie diese nicht selbst erlebt hat. Dies kann sich z.B. in einem dauerhaft übererregten Nervensystem äußern. Wenn die Elterngeneration vor Bombenangriffen fliehen musste, konnte sie sich nur schwer entspannen. Diese Unfähigkeit, sich zu entspannen, und das Gefühl, ständig etwas tun zu müssen, obwohl in der eigenen Gegenwart keine Lebensbedrohung besteht, kann ein Hinweis auf die Weitergabe von Traumata sein. Ein weiterer Punkt, der für die Vererbung von Traumata spricht, ist die Tatsache, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen einen Einfluss auf das Epigenom und damit auf das spätere Leben und die Gesundheit haben können. Ein Säugling, der nicht genügend Zuwendung, Liebe und Geborgenheit erfährt, wird im späteren Leben Bindungsprobleme entwickeln. Aber nicht nur das, auch Störungen im Stresshormonsystem lassen sich biologisch nachweisen, so dass die Epigenetik ein großes und interessantes Forschungsfeld ist, das einen wichtigen Baustein zum Verständnis von Traumata liefert.

Kriegserlebnisse oder sexuelle Übergriffe sind oft die Schlagwörter, die in Verbindung mit dem Wort „Trauma“ fallen. Dabei geht dieses Thema viel weiter. Emotionaler Missbrauch oder Diskriminierungserfahrungen können ebenso Traumata auslösen, ist das richtig?

Das ist richtig. Diese Art von Traumata werden Komplexe Traumatisierung genannt. Dazu gehören z.B. emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung, die über einen längeren Zeitraum stattgefunden hat oder stattfindet.

Angehängt an die vorherige Frage und dem Aspekt, wie mit dem Begriff umgegangen wird: Immer wieder hört man die Aussage: „Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen“. Ist das eine weitere Floskel der Küchenpsychologie oder ist an dem Statement etwas Wahres dran?

Ich würde sagen, da ist auf jeden Fall etwas Wahres dran. Natürlich traumatisiert nicht jede*r einen anderen Menschen im gleichen Ausmaß und auf die gleiche Art und Weise, wie sie*er selbst traumatisiert wurde. Aber ich glaube, dass fast jede*r von uns einen Rucksack emotionaler Altlasten mit sich herumträgt. Einen Rucksack, der sich zusammensetzt aus Glaubenssätzen (z.B. „Ohne Fleiß kein Preis”), aus Persönlichkeitsstrukturen, die zum Überleben ausgebildet wurden (z.B. ein Leistungsanteil, um bei dem Beispiel „Ohne Fleiß kein Preis” zu bleiben). Viele unserer Persönlichkeitsanteile sind auf das Überleben ausgerichtet und nicht z.B. darauf, das Leben zu genießen. Bei all dem besteht die Gefahr der Übertragung auf andere Menschen, vor allem auf die eigenen Kinder. Deshalb ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, an sich selbst zu arbeiten und die eigenen Traumata zu transformieren und zu integrieren. Ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir viele Glaubenssätze und Überlebensstrategien an die nächsten Generationen weitergeben.

„Ja, das mag es alles geben, aber mich betrifft das nicht.“ Das sehen nicht wenige Menschen so. Doch Symptome wie Angstzustände, depressive Episoden, Anpassungsstörungen oder ungesunde Coping-Mechanismen scheinen immer mehr Menschen zu betreffen. Ganz oft scheint es Betroffenen unerklärlich, worauf das zurückgeht. Wenn man seine mentale Gesundheit also nicht auf akute Belastungssituationen zurückführen kann, sollte man sich dann die Frage nach transgenerationalem Trauma stellen?

Ich würde sagen, dass sehr viel in der Kindheit und in der Erziehung begraben liegt. Die Erziehungsmethoden im Nationalsozialismus waren darauf ausgerichtet, zur Bindungslosigkeit zu erziehen, um Menschen zu züchten, die dem Staat dienen und, böswillig ausgedrückt, als Kanonenfutter für den Zweiten Weltkrieg missbraucht werden konnten. Besonders einflussreich war damals das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Harrer. Schreien lassen, kalt stellen, zur Sauberkeit erziehen und das Kind mehr oder weniger als Feind betrachten, den man sich gefügig zu machen hat, wirkte sich in dieser Generation zerstörerisch auf die Entwicklung und Bindungsfähigkeit der Kinder aus. Die Kinder wurden nicht gesehen, nicht gehört, wenig berührt und oft sich selbst überlassen. Sie mussten zu früh erwachsen werden und wurden auch so behandelt. Diese sogenannte Kriegskindergeneration hat wiederum Kinder bekommen, die Kriegsenkel, zu deren Generation ich gehöre. Die Mütter waren damals oft schwer traumatisiert durch die Kriegserlebnisse und zusätzlich durch die nationalsozialistischen Erziehungsmethoden. Sie hatten auf Grund ihrer Traumatisierungen eine geringe Stresstoleranzgrenze und waren durch ihre Kinder schnell triggerbar. Allein das Schreien ihres Kindes konnte sie völlig überfordern. Viele wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten und griffen auf die ihnen bekannten Erziehungsmethoden zurück, die wiederum für unsere Generation traumatisierend waren. Es ist also wieder ein transgenerationales Thema. Wenn Menschen glauben, dass es sie nichts angeht, kann es auch eine Überlebensstrategie sein. Manche haben einen Persönlichkeitsanteil ausgebildet, der gelernt hat, alles schönzureden und die Augen zu verschließen. Das kann auch aus der Großelterngeneration kommen, die nach Kriegsende versucht hat, so zu tun, als wäre nichts passiert und alles halb so schlimm.

Problem erkannt, Gefahr gebannt – in diesem Fall gilt das ja leider nicht. Natürlich ist es der erste wichtige Schritt, aber sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und vererbter Gewalt auf die Schliche zu kommen, bedeutet harte Arbeit. Wenn man sich also dazu entschlossen hat, ganz nach dem Motto „break the cycle“, gibt es bestimmt einiges, das unterstützen kann. Wann hole ich mir am besten Hilfe und wie kann die aussehen?

Problem erkannt, Gefahr gebannt funktioniert bei Trauma leider nicht so einfach. Viele haben sehr viel kognitiv verstanden, sich mit der Kindheit analytisch auseinandergesetzt und wissen ganz genau, wie sie sich verhalten sollten. Nur leider reicht das nicht. Ein Trauma ist im Körper abgespeichert, in unserem autonomen Nervensystem. Ich würde empfehlen, eine Traumatherapie anzufangen. Da hier mit Körper, Geist und Seele gearbeitet wird, um abgespaltene Emotionen wieder zu transformieren und zu integrieren. Es wird auch mit den Überlebensstrategien gearbeitet, um das Nervensystem zu regulieren, um Sicherheit zu empfinden und Verbundenheit. Zum Glück können wir neue Nervenbahnen erschaffen, um alte Muster und Reaktionsketten zu verlassen. Das dauert natürlich seine Zeit, aber es lohnt sich. Oft kann man erst im Prozess erkennen, wie viel Anstrengungen es einen gekostet hat, sein Leben im Überlebensmodus zu leben.

Transgenerationales Trauma ist ja geprägt davon, dass es einen nicht nur als Individuum, sondern auch als Teil eines familiären beziehungsweise verwandtschaftlichen Systems betrifft. Wie kann man damit umgehen, wenn man auf seinem Weg der Auseinandersetzung auf Widerstand vonseiten der Familie oder Verwandtschaft, auf defensives Verhalten oder fehlende Unterstützung stößt?

Das ist ein großes Problem. Viele Menschen suchen Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Traumata in ihrer Familie. Verständnis und Hilfe für die Ursache des Problems zu bekommen, ist oft schwer möglich und diese Erkenntnis kann sehr schmerzhaft sein. Wichtig ist aber immer, dass es nicht um Schuld geht. Die Elterngeneration hat das Beste gegeben, was sie geben konnte. Deshalb ist es an uns, uns selbst das zu geben, was wir gebraucht hätten, um zu heilen. Der Weg in der Traumatherapie ist ein Weg nach innen. Die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, die eigenen Grenzen zu setzen, sich mit sich selbst zu verbinden und sich in sich selbst sicher und zu Hause zu fühlen, das ist das Ziel. Das geht oftmals am besten ohne die Familie, die ihre eigene, oft völlig andere Wahrnehmung und Geschichte hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine innere Entwicklung auch im Außen viel verändert. Natürlich ist das auch für die Familie manchmal eine Herausforderung, aber es bringt Veränderung und Entwicklung mit sich.

Viele dieser Fragen haben Sie nun hauptsächlich mit therapeutischem Know-How beantwortet. Doch wie auch schon ganz am Anfang erwähnt, befassen Sie sich auch künstlerisch auf ganz spannende Weise mit diesem Thema. Wie gehen Sie also als Künstlerin mit dieser Thematik um? Was hat Sie dazu bewogen, dieses Thema überhaupt erst künstlerisch aufzugreifen? Und was möchten Sie mit Ihren Werken bei den Menschen auslösen?

Eigentlich begann meine ganze Geschichte zu diesem Thema vor etwa 14 Jahren. Mit dem Tod meiner Mutter. Da sie mich mit vielen Fragezeichen zurückgelassen hatte, versuchte ich meine Geschichte anhand der Fotos, die sie mir hinterlassen hatte, zu rekonstruieren. Es waren über 1500 Dias, die meine gesamte Kindheit dokumentierten. Erst, als ich die Schwarz-Weiß-Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus einfügte, spiegelten die Fotos das wider, was ich damals fühlte. Da meine Großeltern im selben Haus wohnten, habe ich den Generationenkonflikt hautnah miterlebt. Es war immer eine gewisse Schwere in unserem Haus, etwas Unausgesprochenes, das nicht da sein durfte, aber immer da war. Um mich herum wurde mit aller Gewalt versucht, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Was es aber nicht war. Meine Mutter und meine Großmutter waren beide Alkoholikerinnen, mein Großvater noch traumatisiert von der Kriegsgefangenschaft in Russland und mein Vater war nie da, weil er arbeiten musste. Nach und nach verstand ich, dass das transgenerationale Trauma in unserer Familie einen festen Platz hatte. Das hat mich erleichtert, weil ich mir endlich erklären konnte, was die Ursache für all das war, was ich erlebt habe. Dieses Wissen möchte ich weitergeben. Denn es erklärt vieles und es sind keine Einzelschicksale. Durch das Reden darüber und die Auseinandersetzung entsteht eine Verbundenheit, die auch mir lange gefehlt hat. Das tut gut und ist heilsam, für mich und für die Menschen, die wir als Künstlergruppe damit erreichen.

Zum Abschluss würde uns noch interessieren, wie Sie ganz persönlich mit dem Thema umgehen. Als Künstlerin, Frau und Mutter. Denn wenn man sich so intensiv damit beschäftigt, stellt man sich bestimmt auch die Frage, wie viel Verantwortung man für sich und seine Familiengeschichte übernehmen kann und muss. Wo zieht man die Grenze, und wie schafft man es, zwischen den belastenden und schwierigen Themen noch genügend Zeit für Selbstfürsorge zu schaffen?

Seitdem ich mich mit dem Thema Trauma beschäftige, vor allem als Traumatherapeutin, geht es mir besser als vorher. Da ich selbst viel durchgearbeitet habe, ist mein Rucksack wesentlich leichter geworden, meine Glaubenssätze haben sich zum Positiven verändert, meine Anteile, die meine Überlebensstrategien verkörpern, haben sich entspannt und mein Stresstoleranzfenster ist viel größer geworden. Mein Minenfeld an Auslösern hat sich stark dezimiert und deshalb brauche ich nicht mehr so viel Selbstfürsorge wie vielleicht früher. Das spüren auch meine beiden Kinder und deshalb glaube ich, dass sie, was mich betrifft, nicht mehr so viel tragen und ertragen müssen. Es reicht jeder Schritt in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte, um der nächsten Generation zu helfen, freier zu leben. Da sie auch den Ursprung nicht mehr so direkt verorten können wie ich, ist es für meine Generation besonders wichtig, diese Verantwortung ernst zu nehmen, sonst leiden unsere Kinder unter diffusen Ängsten, ADHS, Depressionen usw. und können in ihrem Leben nicht mehr herleiten, warum sie diese Symptome entwickelt haben. Denn die transgenerationale Weitergabe kann nur abgeschwächt oder unterbrochen werden, wenn jede Generation Verantwortung übernimmt und aktiv etwas dagegen tut.

Macht canceln Kultur? – Interview mit Kulturjournalist Johannes Franzen

Cancel Culture – ein Begriff, der Schlagzeilen macht und nicht allzu oft missverständlich Verwendung findet. Während ihn viele als moralische Überlegenheit begreifen, stellen andere ihn als linke Diktatur an den Pranger oder läuten gar das Ende der Demokratie ein. Doch was genau verbirgt sich hinter der stark emotional aufgeladenen Debatte zu moralisch korrektem oder inkorrektem Verhalten? Wie spiegeln sich unterschiedliche Wahrnehmungen in unserer Gesellschaft wider? Und wie sinnvoll ist es überhaupt, von Cancel Culture zu sprechen? Wir wollen es genauer wissen und haben Literaturwissenschaftler und Kulturjournalisten Johannes Franzen befragt.

Johannes Franzen, Cancel Culture oder Political Correctness – der Mythos hat viele Namen, deshalb fällt es auch so schwer, eine konkrete Definition dafür zu finden. In einem Ihrer X-Einträge (ehemaliges Twitter) beschreiben Sie Cancel Culture als „Selbsterzählung von Menschen mit Macht, die die Funktion hat, sich selbst als machtlos zu begreifen“. Wie genau kann man das verstehen? Und inwiefern hängt Cancel Culture mit Macht zusammen?

Zunächst muss man in aller Deutlichkeit sagen, dass es Cancel Culture gar nicht gibt. Man hat es, wie Osita Nwanevu schon 2019 in einem brillanten Artikel beschrieben hat, mit einem Schwindel („Con“) zu tun. Bei Cancel Culture handelt sich um eine kulturkritische Erzählung, die davon ausgeht, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen des öffentlichen Lebens von einem progressiven Mob vernichtet werden, weil sie gegen ein angeblich herrschendes Regelwerk (Rassismus, Sexismus) verstoßen haben. Diese „Kultur“ tritt in der paranoiden Fantasie ihrer Kritiker:innen oft als äußerst vager digitaler Mob auf. Diese Erzählung hat den Vorteil, dass sich Menschen, die nach allen soziologischen Kriterien zur Elite des Landes gehören (Professoren, Chefredakteure, Politiker) als Opfer und Außenseiter begreifen können – ein Symptom für die peinliche Machtvergessenheit liberaler Gesellschaften.

Können Cancel Culture und Political Correctness gleichgesetzt werden? Wer bedient sich dieser Begriffe?

Es gibt, wie man in Adrian Daubs Buch Cancel Culture Transfer nachlesen kann, eine Tradition solcher Begriffe, die im Wesentlichen die Funktion haben, progressive Anliegen abzuwehren. Es ist natürlich wirkungsvoller zu sagen: Der Kampf gegen Rassismus oder die Gleichberechtigung der Geschlechter geht zu weit, als offen zuzugeben, dass man ein Problem mit diesen Prozessen hat. So kann man in eine Viktimisierungskonkurrenz zu Menschen eintreten, die tatsächlich diskriminiert werden. Die Begriffe lösen sich dabei gegenseitig ab, immer dann, wenn die Gesellschaft dem Schwindel auf die Schliche kommt. Zuletzt wurde Cancel Culture durch den Kampfbegriff „woke“ ersetzt, der aus der Schwarzen Aktivistenkultur kommt und von rechten Aktivisten zu einem Schimpfwort umgedeutet wird. Es ist eigentlich ziemlich transparent, worum es hier geht.

 

© Katharina Stahlofen

Johannes Franzen ist Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Er arbeitet für Medien wie die F.A.Z.tazZeit Online oder den Deutschlandfunk. Er ist Mitgründer, Herausgeber und Redakteur des Online-Feuilletons 54books und betreut die Seite POP Online. Seit April 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Siegen.

Das Phänomen wird auch in der Literaturbranche immer wieder heftig diskutiert. Vor einiger Zeit löste Salman Rushdie eine Debatte über die Bearbeitung von Roald Dahls Kinderbüchern aus. Der britische Verlag Puffin Books ließ dabei diskriminierende Wörter, wie „fett“ oder „hässlich“ streichen und ersetzte sie durch angemessenere Adjektive. Rushdie empörte sich darüber und bezeichnete das Vorgehen als „absurde Zensur“. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie darüber gelesen haben?

Mein erster Gedanke bei solchen Nachrichten ist inzwischen eigentlich immer ein gewisses Grauen vor der Debatte, die das jetzt erzeugen wird. Diese Debatten laufen ja immer nach dem gleichen Muster ab und haben so gut wie keinen intellektuellen Mehrwert. Die neue Zensurdebatte ist dermaßen politisiert, dass ein Denken außerhalb der unmittelbaren Aufregung nicht mehr möglich ist. Dabei lassen sich eigentlich ein paar interessante Fragen stellen. Die Retromanie der Gegenwart – jeder Stoff muss zu einem Remake oder Reboot verwurstet werden – führt natürlich dazu, dass Menschen erst recht mit den Problemen ihrer geliebten ästhetischen Jugenderfahrungen konfrontiert werden. Wenn man Roald Dahl oder James Bond einfach in Ruhe lassen und sich einmal etwas Neues überlegen würde, dann hätte man diese Probleme nicht. Im Endeffekt ist es aber vor allem eine ökonomische Frage. Es ist eine lächerliche Vorstellung, ein Großverlag oder Netflix würden tatsächlich aus politischer Rücksicht irgendwelche Bücher zensieren. Diese Unternehmen haben aber einen gesunden rezeptionstheoretischen Realismus, der davon ausgeht, dass Menschen Bücher einfach nicht kaufen, wenn sie ständig mit der Nase auf politisch ekelerregende Dinge gestoßen werden.

Eine andere Richtung schlägt dagegen eine Debatte aus Amerika ein: In einem Ihrer Artikel von Kultur & Kontroverse berichten Sie von einer Situation an amerikanischen Schulen, an denen Eltern dazu aufrufen, Geschichtslehrende zu verklagen, wenn diese Themen wie Rassismus und Sexismus im Unterricht behandeln. Kann das Canceln eine politische Richtung für sich beanspruchen oder trägt es, abhängig vom Kontext, einfach nur andere Namen?

Ich würde den Begriff wirklich gar nicht verwenden. Canceln hat auch in diesem Fall die Funktion, eine ganze Reihe hochgradig unterschiedlicher politischer Praktiken zusammenzuwürfeln, vor allem um machttheoretische Unterschiede zu nivellieren. So kann dann eine Gruppe von Studierenden, die – wie im Fall der „Avenidas“-Debatte – ein bestimmtes Gedicht nicht mehr an der Fassade ihrer Universität lesen wollte, als genauso schlimm gewertet werden, wie wenn der Gesetzgeber offen die Meinungs- und Redefreiheit einschränkt, wie es in den USA ja schon länger geschieht und sich in Deutschland (Stichwort „Genderverbot“) auch abzeichnet. Das läuft dann alles unter dem vagen semantischen Schirm des Canceln. So können sich dann eben auch die Mitglieder der Elite, mächtige Millionäre wie Dave Chappelle oder Louis C.K. etwa als Opfer von Cancel Culture inszenieren, weil der Begriff einfach nicht mitbedenkt, wer hier mit wem spricht. Klar, es gibt Zensur und ständige Versuche, die Meinung und Kunst anderer Menschen zu verdrängen. Aber das muss mit anderen Begriffen analysiert werden. Ein Ausdruck wie Cancel Culture macht uns in Bezug auf diese Phänomene nicht klüger, sondern dümmer.

Kommen wir nochmals zurück zum oben erwähnten Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Dieser sieht in der Diskussion eine „aufmerksamkeitsökonomische Funktion“, die in der weltweit massiven Nutzung der Sozialen Medien ein Ventil findet. Stimmen Sie dem zu? Und könnte man davon ableiten, dass die Debatte darüber (stellenweise) gezielt von den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft abzulenken versucht?

Ja, das finde ich plausibel. Im Wesentlichen geht es um eine ungeheuer erfolgreiche Form der konservativen Kulturpolitik, die die großen politischen Kämpfe der Gegenwart (ökonomische Ungleichheit, Klimawandel) ständig auf Nebenkriegsschauplätze verschiebt, die für die Lebensrealität der meisten Menschen unerheblich sind, allerdings sehr schnell heftige politische Ressentiments freisetzen. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westerheuser haben in ihrem Buch Triggerpunkte gerade gezeigt, dass die Gesellschaft in vielen Bereichen gar nicht so gespalten ist, dass es aber Bereiche gibt, die unmittelbar zu affektpolitischen Explosionen führen können. Und der ganze Bereich der Cancel Culture gehört dazu. Ob der Ravensburger Verlag zwei Begleitbücher zum neuen Winnetou-Film zurückzieht oder nicht, dürfte für die meisten Menschen komplett egal sein, aber es trifft eben einen Triggerpunkt, der dann von politischen Akteuren ausgenutzt werden kann. Mau, Lux und Westerheuser nennen solche Menschen „Polarisierungsunternehmer“.

Nicht selten hört oder liest man im Zuge dieser Debatten, frei nach Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ Haben wir Menschen verlernt, sachliche und emotionsfreie Diskussionen zu führen?

Die Vorstellung, dass der Diskurs heute besonders verroht oder gespalten sein soll, beruht auf einer seltsamen diskursgeschichtlichen Nostalgie. Man denkt, dass es früher zivilisierter zuging im öffentlichen Leben. Da wurden Debatten noch mit echten Argumenten ausgetragen von intellektuellen Gentlemen! Da gab es noch nicht das Geschrei der digitalen Massen! Das entspricht natürlich keiner historischen Wirklichkeit. Öffentlichkeit war schon immer eine Hölle der kommunikativen Aggression, weil es auch hier um Macht geht und den Kampf um Macht. Wenn die Geschichte eines zeigt, dann, dass die Wahrheit dem Menschen überhaupt nicht zumutbar ist – mir bitte auch nicht. Der ganze Cancel Culture-Komplex beruht auch auf einer naiven liberalen Fantasie, dass die Gesellschaft sich schon wieder beruhigen wird, wenn wir nur alle etwas netter zueinander sind, etwas weniger polarisiert etc. Ich würde mir in dieser Hinsicht mehr politischen Realismus wünschen. Das bedeutet nicht, dass man netter streitet, sondern besser. Statt z.B. der immergleichen händeringenden Artikel über die Gefährdung der Kunstfreiheit, könnte man ja wirklich mal zu den interessanten und schweren Fragen vordringen, die durch diese Debatten aufgeworfen werden.