Autor: Linda

„Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.“ Christoph W. Bauer zur Erinnerungskultur

Der größte noch bestehende NS-Bau in Tirol ist das Neue Landhaus in Innsbruck, das 1938/39 als Gauhaus für Parteidienststellen errichtet wurde. In diesem Machtzentrum wurde der menschenverachtende NS-Terror in Tirol und Vorarlberg geplant und bürokratisch in die Wege geleitet. 1955 zog die Tiroler Landesregierung in das Gebäude ein. Die historischen Hintergründe des Baus wurden lange verleugnet und verdrängt. Im Herbst 2023 startet die erste öffentlich zugängliche Ausstellung im Landhaus, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in diesem Gebäude anstoßen soll. Der Schriftsteller Christoph W. Bauer hielt anlässlich der Ausstellungseröffnung eine Rede, die zum Nachdenken anregt. 

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich gestehe es, es ist ein ungewöhnlicher Rahmen für mich, ein wenig mulmig zumute ist mir, und wenn ich heute diese Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung Vom Gauhaus zum Landhaus halten darf, ist mir das Würdigung meiner Arbeit wie Last zugleich. Denn dieses Haus ist von der allergrößten Bedeutung für die jüngere Geschichte Tirols, es polarisiert, es löste zahlreiche Debatten aus und wird für weitere sorgen, was unser Demokratieverständnis betreffend nur zu befürworten ist. Ich bin kein Historiker, ich bin Schriftsteller und als solcher gestalte ich meine kurze Rede, ohne dabei im Detail auf Inhalte der Ausstellung einzugehen, das werden Hilde Strobl und Christian Mathies später tun.

Im Jahr 1975 wurde ich schulpflichtig, auf vier Jahre Volksschule in Kirchberg in Tirol, folgte das Gymnasium in St. Johann im Tiroler Unterland. Ich hatte auch gute Lehrerinnen und Lehrer, das muss hier gesagt werden, vor allem im Fach Geschichte, ich lernte viel über die Historie Tirols, über Margarete Maultasch, über Friedl mit der leeren Tasche, über die Schatzkammer im Schloss Ambras, über die Habsburger, über den Kampf gegen Napoleon, ich lernte über einen Hofer alles, über einen anderen nichts, nicht einmal namentlich wurde Franz Hofer im Geschichtsunterricht erwähnt.

Freilich, ich erfuhr viel über den Nationalsozialismus, aber die Darstellung in den Geschichtsbüchern und Reden meiner Lehrerinnen und Lehrer rückten ihn in eine weite Ferne. Als hätte sich der ganze Schrecken nicht auch hier bei uns, vor der eigenen Haustür zugetragen. Ich hörte von den Novemberpogromen in Wien, in Berlin, in München, in Nürnberg und in anderen deutschen Städten, ich erfuhr nichts von der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Innsbruck und in Tirol. Ich erfuhr von Dachau, Mauthausen, Buchenwald, von Auschwitz und Treblinka, ich hörte nichts vom Lager in der Reichenau, und von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen war überhaupt nie die Rede. Auch nicht von jenen Menschen, die in den Baracken hausen mussten, an denen mein täglicher Weg in die Volksschule vorbeiführte, Zigeuner hat man sie despektierlich genannt, auch noch in meiner Kindheit und Jugend. Zunächst nach Innsbruck abgeschoben, wurden sie später nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Oder um Ihnen noch ein anderes Beispiel zu geben, wie mein Unterricht aussah:

Ein Verkehrsknotenpunkt ist Wörgl, das lernte ich in der Schule, ich erfuhr von der Giselabahn, die durchs Brixental führt, wo ich aufgewachsen bin. Namenspatronin der Bahn ist Erzherzogin Gisela Louise Marie von Österreich, die zweite Tochter von Franz Joseph I. Mit Fertigstellung der Bahntrasse im Jahr 1875 begann Wörgls Aufschwung, zuvor war der Ort ein Bauerndorf gewesen, an einer alten Durchzugsstraße im Inntal gelegen. Auch das war Schulstoff.

Christoph W. Bauer, geboren 1968 in Kärnten, wuchs in Tirol auf, wo er heute noch lebt. Er verfasst Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele, Übersetzungen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen dafür, u.a. den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2002), Outstanding Artist Award und Tiroler Landespreis für Kunst (beide 2015) sowie zuletzt den Anton-Wildgans-Preis (2023).

Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Begleiten Sie mich, sehr geehrte Damen und Herren, ein Stück durch die Bahnhofsstraße von Wörgl, wir bleiben stehen vorm Haus Nr. 21. Dort also gingen die Heimischen in den 1920er-Jahren ein und aus, um einzukaufen „beim Jud“, wie das Geschäft im Volksmund genannt wurde. Besitzer des Geschäfts war Rudolf Gottlieb, der sich mit seiner Frau Elisabeth 1906 in Wörgl niedergelassen hatte, die Stadt war in wenigen Jahren zu einem Handels- und Gewerbezentrum geworden. Reaktionen auf den ersten Zuzug eines jüdischen Ehepaars sind nicht bekannt, die beiden mieteten zunächst eine Wohnung in besagtem Haus. Gut zwei Jahre später bekamen sie mit der Familie Ostermann neue Nachbarn, was den Wörgler Pfarrer offensichtlich erzürnte, vorwurfsvoll wandte er sich an den Vermieter: „Z’erst nimmst an Juden, und iatz gar no an Protestanten.“

Gleichwohl begann das Ehepaar Gottlieb mit dem Aufbau eines Textilgeschäfts, das regen Zuspruch fand und bald den Kauf des Hauses in der Bahnhofstraße ermöglichte. 1916 erhielt die Familie Gottlieb, mittlerweile um die drei Kinder Otto, Erwin und Irma angewachsen, das Heimatrecht in Wörgl – von größter Bedeutung für die Erringung der Staatsbürgerschaft nach Kriegsende. Diese feite sie freilich nicht vor den aggressiven Verbal-Attacken des „Tiroler Antisemitenbundes“, der 1919 gegründet wurde.

Zu tätlichen Übergriffen kam es in der Zwischenkriegszeit nicht, auch nicht in den Tagen nach dem sogenannten „Anschluss“. Das Geschäft wurde indes umgehend „arisiert“ und den Gottliebs eine Frist gesetzt, Wörgl zu verlassen. Dies geschah im März 1939, die Familie wurde nach Wien ausgewiesen. Von dort konnten die Söhne Otto und Erwin nach Shanghai flüchten, Irma und ihr Mann versuchten, mit einem illegalen Schiffstransport über die Donau ins Schwarze Meer und weiter nach Palästina zu gelangen. Das Zufrieren der Donau nötigte sie jedoch, den Winter 1939 in einer kleinen jugoslawischen Hafenstadt zu verbringen; sie durften nicht von Bord. Im Sommer 1940 wurden sie mit anderen Vertriebenen in die Nähe von Belgrad verlegt, eine Weiterreise scheiterte. Im Zug des Balkanfeldzugs 1941 holte die Wehrmacht die Flüchtlinge ein und internierte sie in Baracken am Ufer der Save.

Sondereinheiten erschossen in einer „Sühneaktion“ im Oktober 1941 alle Männer unter den Gefangenen, darunter auch Irmas Ehemann Karl Rosenberg. Frauen und Kinder wurden in ein KZ in Belgrad gebracht, wo man ihnen eine „Umsiedlung“ vorgaukelte, täglich kamen zwei Lastwägen ins Lager. Und so stieg auch das jüngste Kind von Rudolf und Elisabeth Gottlieb im Frühjahr 1942 in den Laderaum und wurde während der Fahrt durch eingeleitete Abgase ermordet. Irmas Leiche verscharrte man in Alava bei Belgrad.

In Anbetracht ihres Alters hatten die in Wien zurückgeblieben Eltern kaum noch eine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Mit Ausbruch des Kriegs verschlechterte sich ihre Situation drastisch. Zuletzt lebte das Ehepaar Gottlieb im II. Bezirk in der Großen Mohrengasse 14. Im Oktober 1942 wurde es nach Theresienstadt verschickt und überlebte die katastrophalen Zustände dort nur um wenige Monate.

Davon erfuhr ich in der Schule nichts. Man mag einwenden, dass die Aktenlage damals noch eine andere war und die Archive für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschlossen waren, das stimmt zweifelsohne. Aber mittlerweile hat sich die Lage geändert, Dank der Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck wurde vieles sichtbar gemacht, wie auch durch Künstlerinnen und Künstler und andere kritische Geister in diesem Land. Das Schicksal der Familie Gottlieb ist bekannt und sollte Schulstoff sein. Wie auch die Geschichte dieses Hauses, in dem wir uns befinden, Schulstoff sein sollte, denn was in diesem Haus damals beschlossen und angeordnet wurde, hatte weitreichende und verheerende Folgen. Wer in diesem Haus seit seiner Errichtung und bis Kriegsende ein und aus ging, wer hier Dekrete diktierte, wer sie unterschrieb und weiterleitete, hat sich mitschuldig gemacht. Da gibt es nichts zu beschönigen, das muss sichtbar gemacht werden. Und darum geht es in dieser Ausstellung: um Sichtbarmachung von Geschichte. Um Sichtbarmachung, so hoffe ich, vor allem auch für junge Menschen.

Aber warum denn das alles, kann man diese Geschichte nicht endlich ruhen lassen? Nein, das kann man nicht, mehr noch: das darf man nicht! Und die Frage ist ja nicht neu, ich hörte sie bereits in meiner Kindheit und Jugend, ich hörte sie als Schriftsteller, als ich über das Schicksal der Familie Graubart schrieb und über weitere jüdische Familien, die aus Tirol vertrieben wurden. Über die Familien Bauer und Schwarz, über die Familie Pasch, über Hans und Felix Heimer, über Abraham Gafni und Peter Gewitsch, Menschen, die ich in Israel und England aufsuchte, mit denen ich Gespräche führte, Gespräche führen wollte und musste, ehe es dafür zu spät ist. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben mir ihre Geschichten anvertraut, Geschichten, die ihre Schicksale am Leben erhalten über ihren Tod hinaus. Meine Arbeit verstehe ich in diesem Sinn auch als ein Anschreiben gegen das Vergessen.

Und ich will und werde nicht lockerlassen, im Auftrag des Tiroler Landestheaters habe ich in den vergangenen Monaten ein Stück geschrieben, das bald Premiere haben wird. Kein herkömmliches Stück, nein, ein Klassenzimmerstück, das von Flucht und Vertreibung in der Zeit des Nationalsozialismus spricht und Jugendlichen die Thematik näherbringen soll. Mobiles Theater in ganz Tirol, von einer Klasse in die nächste, ein Stück für Jugendliche, das Geschichte sichtbar machen und ihr ein Gesicht geben soll. Von Verantwortung ist in dem Stück die Rede, von der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, oder um es mit dem bildendenden Künstler Franz Wassermann zu sagen: Wir haften für unsere Geschichte. Aber nichts ist falscher, fataler als Jugendlichen gegenüber heute von Schuld zu sprechen, das greift zu kurz und darüber hinaus längst nicht mehr, damit erreichen wir junge Menschen nicht. Abgesehen davon, sie haben selbstredend keine Schuld, wie auch ich in meiner Schulzeit keine hatte, die drei Jahrzehnte nach Kriegsende begann.

Aber haben Jugendliche heute nicht andere Probleme? Haben sie. Und mir ist klar, dass auch der Unterrichtstoff inzwischen enorm angewachsen ist. Mit einem befreundeten Lehrer, der Geschichte an einer Hauptschule unterrichtet, habe ich oft darüber gesprochen. Der Fall der Mauer, der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege, 9/11 all das ist mittlerweile Lehrstoff. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus von immenser Wichtigkeit ist, da sie den Blick schärft und in der Folge über den eigenen Tellerrand schauen lässt.

Und dieser Teil der regionalen Geschichte beginnt ja nicht am 11. März 1938 und endet im Mai 1945, er beinhaltet auch die Jahre des Austrofaschismus und die Nachkriegszeit, in der sich viele Menschen in diesem Land der Verantwortung entledigten wie eines abgetragenen, zerfledderten Anzugs. Oder ihre Gesinnung weiterhin ohne jegliches Schuldbewusstsein schamlos zur Schau stellten.

Während der Arbeit an dieser Rede, kam mir ein alter Mann im Dorf meiner Kindheit in den Sinn. Meine Freunde und ich spielten oft auf einem Feld nahe dem Haus des Alten Fußball und jedes Mal stapfte er wütend auf uns zu, wild mit seinem Gehstock fuchtelnd und bellte uns an auf gut Brixentoierisch: I drah enk s Gas ob. Auf seiner Oberlippe ein Hitlerbart.

Und ich erinnerte mich an die Landsergrauen Gestalten, die ich bei jedem Kirchgang beim Kriegerdenkmal stehen sah, sie gingen ja lieber ins Wirtshaus, Gottgläubige eben durch und durch. Hoben sie das Glas auf ihn, den Gauleiter, als der im Jahr meiner Einschulung 1975 in Mühlheim an der Ruhr eines natürlichen Todes starb, ohne je für seine Schandtaten zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Der hier in diesem Haus bis 1943 ein und ausging, ehe er von Bozen aus seine menschenverachtende Politik weiter betrieb. Der hier in diesem Haus die Fäden in der Hand hatte; der hier in diesem Haus sich rühmte, den Gau „judenrein“ gemacht zu haben, ehe er in eine Bar ging, um sich zu treffen mit Seinesgleichen, in die Hiebl-Bar eines Totenkopf-SSlers in der Maria-Theresien-Straße, ein arisiertes Lokal, das man der Familie Schindler gestohlen hatte. Alles ging über seinen Tisch im Gauleiterzimmer, dessen Einrichtung Bände spricht vom Geschmack des ehemaligen Radioverkäufers und Briefmarkendiebs.

Und ich erinnerte mich an das Raunen, das jedes Mal anhob, wenn die Rede – etliche Jahre später, ich lebte bereits in Innsbruck und recherchierte für ein Buch, dessen Inhalt die Stadt Innsbruck selbst ist – wenn also die Rede auf das Gauleiterzimmer kam oder auf den Gauleitertresor, als würde es sich um Mysterien handeln, die viele Jahrzehnte durch Köpfe spukten – und denen diese Ausstellung Abhilfe schafft.

Dieses Haus ist ein Unikum, es findet keinerlei Entsprechung in anderen Gauhäusern der damaligen Gauhauptstädte. Es wurde geplant als Zeichen der Macht und ist dem Baustil jener Zeit geschuldet, darüber werden Sie später mehr hören. Schaue ich mir alte Ansichten von Innsbruck an, wirkt das Haus noch wuchtiger und ich bekomme ein Gespür dafür, wie das Haus damals auf die Menschen gewirkt haben muss, ein beinahe angsteinflößender Bau, der Ansitz uneingeschränkter Macht. Aus heutiger Sicht bietet das Haus die Gelegenheit zur direkten Konfrontation mit der Vergangenheit. Und ich selbst lerne durch die Ausstellung und das Buch Vom Gauhaus zum Landhaus von Hilde Strobl und Christian Mathies neues hinzu.

Vor fünfzehn Jahren erschien mein Buch Graubart Boulevard. Es handelt von der Familie Graubart, die einst aus Galizien über Wien nach Innsbruck kommt. Simon Graubart eröffnet hier im Jahr 1888 ein Schuhgeschäft, das Schuhhaus Graubart, das sich zuletzt in der Museumstraße 8 befindet. Simon Graubart ist zweimal verheiratet, er hat drei Söhne – Siegfried, Alfred und Richard – die alle in Innsbruck geboren werden, hier die Schule besuchen und später zu arbeiten beginnen. Die Familie ist – wie die meisten anderen jüdischen Familien in Innsbruck auch – nicht sehr religiös, sie will nicht auffallen, sie will einfach, was auch andere Menschen in der Stadt wollen, ein gutes Leben führen, sommers auf Berge kraxeln, im Winter Schifahren oder Rodeln gehen.

Als Simon Graubart 1936 stirbt, ist die Bestürzung über seinen Tod in der Stadt groß, was eine Todesanzeige in den Innsbrucker Nachrichten bezeugt, dem Vorläuferblatt der heutigen Tiroler Tageszeitung. Zwei Jahre nach Simon Graubarts Tod wird sein jüngster Sohn Richard in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in seiner Villa in der Gänsbacherstraße Nummer 5 von einem Rollkommando der SS ermordet, eines von vier Todesopfern jener Schreckensnacht. Graubarts Frau Margarethe und seine damals vierjährige Tochter Vera werden nach Wien abgeschoben, von dort gelingt ihnen die Flucht nach England.

Was ich damals, als ich an dem Buch schrieb, noch nicht wusste – und das bringt mich jetzt auf das Gauhaus zurück, dass zu dessen Errichtung andere Gebäude auf dem Areal geschleift werden mussten. Das Problem aber war, dass diese Häuser bewohnt waren und man für die Bewohnerinnen und Bewohner neue Unterkünfte auftreiben musste. Die Saggener Villa der Graubarts mit zwei Wohnungen war bereits vergeben, dort lebten der Bürgermeister von Innsbruck und der Direktor der Stadtwerke, aber es gab ja noch die drei Wohnungen über dem arisierten Schuhgeschäft in der Museumstraße, die auch der Familie Graubart gehörten. Also bot man unter anderen auch diese Wohnungen an. Was ich damit sagen will: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kommt nie an ein Ende, sie liefert immer wieder neue Einsichten.

Was reitet der Bauer bloß immer auf der Vergangenheit herum, wir leben im Hier und Jetzt! So ist es, sehr geehrte Damen und Herren, wir leben im Hier und Jetzt, und gerade deshalb scheint eine Beschäftigung mit der Vergangenheit aufs Äußerste geboten zu sein. Wir leben in einer Zeit, in der antisemitische Stereotypen wieder durch die Hintertür hereinkommen, in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden erneut Übergriffe fürchten müssen. Und wie erklären wir einem Kind oder Jugendlichen, warum Polizei vor der Synagoge in der Sillgasse Aufstellung nimmt, um das Gebetshaus und jene, die es betreten oder verlassen, zu schützen. Wer also behauptet, mit der Vergangenheit haben wir nichts mehr am Hut, der oder die irren ganz gewaltig. Auf diese Art und Weise wird unsere Demokratie aufs Spiel gesetzt.

Wir leben in einer Zeit der Islamophobie, der Homophobie, in einer Zeit des Populismus, ob der nun von rechts oder links kommt, spielt keine Rolle. Wir leben in einer Zeit, in der ein Begriff wie Faschismus inflationär verwendet wird, was darauf schließen lässt, dass jene, die das Wort im Mund führen, einfach nichts wissen, ja, wir leben in einer Zeit des Unwissens. Was daraus resultiert, ist offensichtlich, wir leben in einer Zeit des Fremdmachens, was nicht hierher passt, wird fremdgemacht, es wird diskriminiert, es muss weg. Auf diese Methode verstanden sich schon die Nationalsozialisten, wohin das geführt hat, ist wohl jeder und jedem hier bekannt.

Wir müssen uns der Vergangenheit stellen, wenn wir nicht wollen, dass sie uns zur Gegenwart wird. Wir dürfen Kindern, Jugendlichen, wir dürfen Menschen nicht nehmen, worauf sie ein Recht haben: ein Recht auf Wissen.

Diese Ausstellung sorgt für Wissenserweiterung. Aber die Ausstellung darf nicht nur ein Punkt auf der Tagesordnung bleiben, eröffnet, rasch abgehakt und weiter geht’s. Die Inhalte der Ausstellung müssen ins Bewusstsein der Menschen übergehen. Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.

Es ist nie zu spät, Verantwortung zu übernehmen, wenngleich es selbstverständlich längst an der Zeit gewesen ist, die Geschichte dieses Hauses sichtbar zu machen. In diesem Sinne danke ich jenen, die dies ermöglicht haben, so wie ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit danke. Herzlichen Dank.

 

Christoph W. Bauer am 4. Oktober 2023

Leseprobe aus „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh

Coming of Age – zwischen Wiener Gemeindebau und rigiden Rollenbildern:
Nada Chekh wuchs zwischen den moralischen Vorstellungen und Werten ihrer Eltern, dem wachsamen Blick „ihrer Community“ und jenen, zu denen sie gehören will und eigentlich auch gehört, auf. Aber Zugehörigkeit ist so viel mehr als nur ein Wort. Und schwer zu finden, wenn man in mehreren Welten lebt. Dann sind da noch die eigenen Wünsche und die Bedürfnisse, das Leben selbst zu gestalten. Mit viel Einfühlungsvermögen und Humor reflektiert Nada Chekh über das Erwachsenwerden in verschiedenen Kulturen. In eindringlichen Anekdoten lässt sie uns ganz nah an sich heran, nimmt uns mit in das Daheim ihrer Kindheit und Jugend. Nimmt uns an der Hand und zeigt uns, wie Selbstermächtigung aussehen kann. Sie schreibt über das Aufstehen im Religionsunterricht, über die Komplikationen, die für eine junge Frau wie sie bei Dates oder Student*innen-Parties lauern. Sie erzählt von der selbstverständlichen Bewertung von Mädchen und Frauen, vom Risiko, eigene Entscheidungen zu treffen, und vom Risiko, es nicht zu tun. Es geht aber auch um das Zusammenfinden, immer und immer wieder, das aufeinander Zugehen, Stück für Stück. Denn manchmal ist es gerade der Abstand, der zu einer neuen Nähe – und zu sich selbst – führen kann.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die Nacherzählung einer Geschichte, die ich selbst nicht glauben würde, hätte ich sie nicht durchlebt. Womöglich ist „Geschichte“ auch nicht der passende Begriff für diese langwierige Reise zu meinem heutigen Leben, das sich so stark von jenem unterscheidet, das mir vorgelebt wurde.

Als Tochter arabisch-muslimischer Migranten, die in den 90ern und frühen 2000ern in einem Gemeindebau, wie die in Wien typischen sozialen Wohnbauten genannt werden, in Wien-Favoriten aufwuchs und dort zur Schule ging, habe ich nie Frauen aus der Community gesehen, die so waren, wie ich es heute bin. Weltoffenheit und Toleranz, zum Beispiel gegenüber der LGBTQ+-Community, weibliche Unabhängigkeit oder Freizügigkeit sind keine erstrebenswerten Dinge in der Community, in der ich, gemeinsam mit meinen Geschwistern, in erster Generation unserer Familie in Österreich aufwuchs. Dieses Aufwachsen, diese Reise erstreckt sich über viele Etappen und birgt auch einige dunkle Abschnitte, mit denen ich mich bis zu dem Moment, in dem ich sie für dieses Buch aufarbeitete, nicht beschäftigen wollte – oder konnte.

Dieses Buch handelt von der Erfahrung, in einer Welt zu leben, in der es ein „Wir“ und ein „die Anderen“ gibt, und reicht bis zu der Erkenntnis, dass selbst, wenn ich mich zu den „Anderen“ zugehörig fühlen würde, diese mich niemals als eine von „ihnen“ sehen würden. Es geht um einen Kampf um Privatsphäre, um das Recht, über meinen Körper und mein Leben verfügen zu können, den ich zuerst mit mir selbst führen musste, bevor ich mich außenstehenden Gegnerinnen und Gegnern stellen konnte. Eine große Stütze beim Schreiben über diese Vergangenheit waren meine persönlichen Tagebücher, die ich umso minutiöser führte, je einsamer ich mich auf diesem Weg fühlte. Bei all der Dramatik erlebte ich aber auch freudige Momente beim Schreiben dieses Buches, in denen sich unerwartete Verbindungen erschlossen oder auch schöne und skurrile Erinnerungen miteinflossen.

Für manch einen Leser oder eine Leserin mag es eine gewöhnliche, wenn nicht sogar banale Sache sein, sich gegen die eigene Familie aufzulehnen, und, wenn nötig, auch einen Bruch mit ihr in Kauf zu nehmen. Doch aus einer Community kommend, in der Familie über allem steht, waren meine Entscheidungen, die ich damals treffen musste, kein leichtes Unterfangen. Ich weiß, dass es gerade sehr viele junge Frauen gibt, die auf eine Geschichte wie meine warten – egal, ob sie ebenso aus muslimischen Familien stammen oder auch anders kulturell geprägt sind, oder ob sie einfach wissen, wie sich religiös-konservative und patriarchale Strukturen am eigenen Leib nun einmal anfühlen.

Nicht nur im Zuge meiner Tätigkeit als Journalistin bei dem transkulturellen Magazin biber, sondern auch als Speakerin an Wiener Schulen begegne ich immer wieder Mädchen und jungen Frauen, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich, von denen manche sagen: „Du hattest einfach Glück mit deiner Familie, dass du dein Leben selbst in die Hand nehmen konntest.“ In Wahrheit ist dies jedoch das Ergebnis eines phasenweise endlos scheinenden, oft auch schmerzhaften Prozesses – wie man hier nachlesen wird –, den ich ohne jene wunderbaren und ermutigenden Menschen, die ich kennenlernen durfte, nicht hätte durchstehen können.

Auch wenn ich selbst ohne Vorbilder aufgewachsen bin, mit denen ich mich identifizieren hätte können, bin ich mir ihrer Wichtigkeit bewusst. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: „Was bedeutet es, den Mut aufzubringen, sich von konservativen und religiösen Vorstellungen zu lösen?“ Die ehrliche Antwort sieht so aus: Ich bin keine „mutige“ Frau. Im Gegenteil, in meinem bisherigen Leben war ich in vielerlei Hinsicht von tiefer Angst getrieben. Die Angst davor, ein Leben führen zu müssen, das nicht meinen eigenen Überzeugungen entspricht, wurde jedoch an einem bestimmten Punkt noch größer als die Angst, von meiner Familie verstoßen zu werden, weil sich unsere Weltansichten nicht vereinbaren ließen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich viele Dinge auch aus Notwendigkeit tun musste, um meine Integrität und Eigenständigkeit überhaupt installieren zu können. Es ist denkbar schwer, seine persönlichen Grenzen festzusetzen und Privatsphäre einzufordern, wenn man nie vermittelt bekommen hat, dass man – gerade als Frau – eine schützenswerte Privatsphäre hat.

Bevor wir uns nun gemeinsam in meine Geschichte stürzen, möchte ich noch einige wichtige Anmerkungen vorweg anführen: Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Namen in diesem Buch zum Schutz der Identität der realen Personen geändert. Zudem möchte ich noch erwähnen, dass ich genderinklusive Sprache in diesem Buch aus Gründen der Einfachheit und zum Erhalt des Leseflusses nach eigenem Ermessen verwendet habe. Mit dem generischen Maskulinum sind selbstverständlich alle Menschen, unabhängig von ihrer persönlichen Identifikation oder Nicht-Identifikation mit dem männlichen Geschlecht mitgemeint, sofern sie sich mitgemeint fühlen.

Dieses Buch soll keine Anleitung zum Ausbruch aus konservativen Familien darstellen, sondern gibt meine individuelle Erfahrung in dieser Sache wieder. Sollte Dich das Lesen von Szenen über Krieg, Gewalt, Depression, Selbstverletzung und ähnlich „triggernde“ Themen verstören, so möchte ich hier davor warnen.

Nachdem wir das alles nun geklärt haben und Du immer noch weiterlesen möchtest: Wollen wir auf eine Reise gehen?

 

Aus dem Buch „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh, ab 31. Oktober 2023 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich. 

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. Interkulturelle Konflikte, die tief in den persönlichen Lebensalltag und die engsten Beziehungen eindringen, hat sie hautnah erlebt. Ihre Erfahrungen prägen, was sie heute tut: Als Journalistin, die ihre Anfänge unter dem Namen Nada El-Azar bei „biber“ machte, schreibt sie darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt, rüttelt an den Missständen in unserer Gesellschaft, fordert Debatten heraus und spricht über Langzeittabus, aber auch Potenziale, die ein Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen bereit halten kann.

„Jeder Roman ist ein Versuch, die Welt zu begreifen.“ Ein Blick in die Werkstatt von Gudrun Lerchbaum

Gudrun Lerchbaums Sprache fesselt, rüttelt wach, zeichnet und verwischt Konturen von Protagonist*innen, die uns auch nach dem Lesen noch lange begleiten. In ihrem neuen Roman „Zwischen euch verschwinden“  folgt sie der Spur einer Frau, die viele Frauen ist. Doch woher kommt die Idee zu Maria, was hat die Autorin bewegt, inspiriert, getrieben? Ein Gastbeitrag von Gudrun Lerchbaum.

Immer geradeaus marschiere ich durch geisterstille Straßen auf den Stadtrand von Wien zu, die Sonne im Rücken. Rot-weiße Plastikgirlanden verhängen den Zugang zum Park. Eine Frau wechselt die Straßenseite, sobald sie mich sieht. Fremder Atem kann tödlich sein.

Aufwärts denkt es sich leichter

Gudrun Lerchbaum, fotografiert von Teresa Wagenhofer.

Es war im Mai 2020 während des Lockdowns, als ich überraschend ein Mail von der Dramaturgin eines deutschen Radiosenders bekam: Ob ich ihr ein Konzept für ein Krimihörspiel schicken wolle. Ein Lichtblick – mein erstes Hörspiel!

Erst wenige Wochen zuvor hatte mir die Verlegerin meines letzten Buches eröffnet, dass mein in Arbeit befindlicher Roman nicht ins Programm passe: zu phantasievoll, zu wenig hart. Nun gehört Verlagssuche nicht gerade zu den angenehmen Seiten des Schriftstellerinnendaseins. Jedes meiner bis dahin drei Bücher war in einem anderen Verlag erschienen, weil ich mich auf der Suche nach der besten Geschichte nicht gern von Genregrenzen einhegen lasse. Mit anderen Worten: Ich war auch ohne Pandemie mies drauf.

Und weil ich immer raus muss, irgendwo rauf muss, wenn ich nicht weiß, wie ich weitermachen soll, hastete ich damals den Wilhelminenberg hinauf. Ich erreichte die Weinberge und fühlte, wie sich mit dem Blick auch meine Gedanken weiteten.

Die Sorge um andere als Fundament der Gesellschaft

Ich hatte Glück. Ich musste die Pandemie nicht mehr als Alleinerzieherin in einer kleinen Wohnung durchstehen. Meine Familie kam mit den Belastungen einigermaßen zurecht und die 24-Stunden-Pflegerin der Schwiegermutter hatte sich nicht in ihre Heimat geflüchtet, sondern hielt nun schon den dritten Monat die Stellung, weil ihre Ablöse nicht einreisen durfte.

Trotz meiner beruflichen Probleme kreisten meine Gedanken um Fürsorge. Für mich ist das normal, doch vielen Menschen war erst unter dem Druck der Pandemie klargeworden, dass die Sorge um andere im Zentrum einer funktionierende Gesellschaft steht. Und schon sind sie dabei, es wieder zu vergessen.

In der Wiese auf der Hügelkuppe sitzend, erdachte ich eine Frau, die ungesehen für andere sorgt: Maria. Ihre Patientin ist in der Nacht verstorben, erstickt, ohne dass sie hätte helfen können. Verstört von dieser Erfahrung verlässt sie das Haus, um kurz Luft zu schnappen, und wünscht sich plötzlich nichts sehnlicher als – was? Ein üppiges Frühstück, das sie nicht selbst zubereiten muss. Als sie zurückkommt, steht die Polizei vor dem Haus.

Ein Anfang, eine Versuchsanordnung, wie sie jeder meiner Geschichten zugrunde liegt. Jetzt hieß es herauszufinden, was geschehen war. Hatte Maria aus Mitleid nachgeholfen? Warum sonst sollte sie nun Hals über Kopf fliehen? Ja, natürlich: Sie wusste selbst nicht, ob sie Schuld trug. Ihr Alltag verlief so eintönig, dass ihr manchmal Zeit und Realität entglitten.

Wenn die Figuren der Autorin das Heft aus der Hand nehmen

Okay, Maria ist um die vierzig, unauffällig, hat sich selbst nie wichtig genommen. Eine schweigende Antiheldin …

Halt! Ich springe auf, mache mich auf den Weg ins Tal. Bitte nicht! Eine Schweigende in einem Hörspiel? Unmöglich!

Aber was soll ich machen? Maria kriegt nun mal den Mund nicht auf. Andere müssten über sie reden. Doch bevor ich Ermittler:innen und eine empörte Öffentlichkeit über sie urteilen lasse, muss ich ihr Gelegenheit geben, die Geschehnisse aus ihrer Perspektive zu erzählen. Das klingt eher nach dem nächsten Roman, quasi als Vorarbeit zum Hörspiel. Eine spannende Story über eine auf den ersten Blick höchst langweilige Frau. Ob ich dieser Herausforderung gewachsen bin? Es gab nur eine Art, das herauszufinden!

Wie Marias Schicksal wohl mit dem der rumänischen Pflegerin zusammenhing, die ich beim Öffnen der Haustür plötzlich ganz deutlich spürte, energisch und redselig, mit rauchiger Stimme und brutal zerschlagenem Gesicht? Ich lud sie auf einen Kaffee ein, um herauszufinden, was sie mit Maria ausheckt. Gibt es noch andere Tote? Kann Maria dennoch unschuldig sein?

Aufwühlend und augenöffnend:  „Zwischen euch verschwinden“.

Von der Inspiration an den Schreibtisch getrieben

Doch bevor ich diesen Roman schreiben durfte, musste ich erst den anderen fertigstellen, den kürzlich abgelehnten. Story und Charaktere waren zu aufregend, um sie fallenzulassen. Das fand wenig später zum Glück auch Linda Müller vom Haymon Verlag. Meine Lieblingskollegin Ellen Dunne, inzwischen Glauser-Preisträgerin, hatte mich mit ihr in Verbindung gebracht. 2022 erschien dieser Roman bei Haymon unter dem Titel „Das giftige Glück“.

Endlich durfte ich mich Maria widmen, sie auf ihrer Flucht vor sich selbst und zu sich selbst begleiten. Eine weibliche Odyssee, ein spannender Entwicklungsroman. Mit Blut. Es sammelt sich am Boden zwischen den Stühlen von Krimi und Roman.

Ich glaube nicht an die oft kolportierte Regel, dass ein Buch zu 10 % aus Inspiration und zu 90 % aus Transpiration, also harter Arbeit, besteht. Für mich macht die Inspiration mindestens 51 % aus, denn ohne sie beginne ich kein Buch. Und nichts treibt mich so schnell an den Schreibtisch wie eine neue Idee, die darauf drängt, mit Leben gefüllt zu werden, sobald das aktuelle Projekt abgeschlossen ist. Ob etwas ins Genre oder ins Verlagsprogramm passt, in diese oder jene Schublade, darauf kann ich dabei keine Rücksicht nehmen.

Meine Arbeit ist es, Geschichten zu schreiben und die neueste heißt: „Zwischen euch verschwinden“.

Gudrun Lerchbaum nimmt uns mit auf eine rasante Reise entlang der Schicksale jener Frauen, die ungesehen bleiben: da ist die pflegende Angehörige schwerkranker Eltern, da ist die Kellnerin in Schwarzarbeit, die ausgebeutet und erpresst wird, da ist die Ehefrau, die sich vor ihrem prügelnden Mann ins Frauenhaus rettet, und die 24-Stunden-Pflegekraft, von der viel mehr als nur Pflege erwartet wird.
Marias Wechselspiel aus Passivität und radikalen Befreiungsschlägen lässt sie dich spüren: die Hilflosigkeit und den lodernden Zorn, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entstehen.

Mehr Infos zum Buch gibt es hier!

„Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.“ – Interview mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser

Bist du schon einmal alleine unterwegs gewesen – nur du und die Angst, dir könnte genau jetzt etwas passieren? Etwas Schreckliches, angetan von einem anderen Menschen? Wenn du eine Frau bist oder einer in dieser Hinsicht vulnerablen Gruppe, wie zum Beispiel queeren Menschen, angehörst, kennst du dieses Gefühl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Dabei ist das Gewaltrisiko in den eigenen vier Wänden statistisch gesehen am größten. Aktuelle Untersuchungen ergeben: Jede dritte Frau in Österreich ist von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen betroffen. Was wird dagegen unternommen? Wir haben uns mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser darüber unterhalten.

Eure Arbeit erstreckt sich von der Frauenhelpline über Aufklärungsarbeit in verschiedensten Formen bis hin zur Umsetzung von EU-weiten Projekten und Kampagnen. All dies eint das Ziel, über das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Diese angesprochene Gewalt ist dabei sehr vielschichtig und komplex und wirkt sich auf das ganze Leben der Betroffenen aus. Könnt ihr uns erklären, was es für Frauen und auch Kinder bedeutet, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein?

Frauen sind vielen verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt: körperlicher, sexueller, psychischer und ökonomischer Gewalt sowie Gewalt im Internet, die natürlich auch in vielen Fällen ineinandergreifen. Sich in einer gewalttätigen Beziehung wiederzufinden ist ein schleichender Prozess, die Gewalt nimmt oft mit der Zeit an Häufigkeit und Schwere zu. In dieser Gewaltspirale wechseln sich Phasen der Kontrolle, Einschüchterung, emotionaler Erpressung/Missbrauch und Aggression mit Phasen von Entschuldigungen und Versprechung von Wiedergutmachung seitens des Täters ab. Den Betroffenen wird auch durch teilweise subtile Manipulationen des Täters die Schuld an seinem Verhalten zugeschoben. Besonderer Gefahr sind Frauen in der Trennungsphase ausgesetzt, in dieser Zeit finden besonders häufig auch Femizide und Fälle von schwerer Gewalt statt. Betroffene Frauen befinden sich oftmals in prekären Abhängigkeitsverhältnissen, vor allem auch, wenn gemeinsame Kinder da sind und es kaum Zugang zu leistbarem Wohnen gibt. All das lässt die Aussage, sich doch „einfach zu trennen“, nicht legitimieren, die schmerzhafte Realität gewaltbetroffener Frauen wird dadurch verharmlost. Die Trennung von einem gewalttätigen Partner ist ein langwieriger, belastender Prozess, sowohl in ökonomischer, juristischer, emotionaler und psychischer Hinsicht. Darüber hinaus ist die Trennung die gefährlichste Phase für eine gewaltbetroffene Frau – zu diesem Zeitpunkt werden die meisten Morde an Frauen durch einen gewalttätigen Partner begangen. Kinder sind bei häuslicher Gewalt immer mit betroffen – entweder direkt, indem sie selbst Misshandlungen ausgesetzt sind, oder indirekt, weil sie die Gewalt, die ihre Mutter erleiden muss, hautnah mitbekommen.

Häufig wird betont, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist, bei dem gerade auch staatliche Institutionen nicht genug sensibilisiert sind oder sogar an der Reproduktion von Strukturen beteiligt sind, in denen diese Gewalt möglich ist. Welche strukturellen und politischen Veränderungen müssen stattfinden, um Frauen vor Gewalt zu schützen? 

Eigentlich haben wir in Österreich gute Gesetze zum Schutz vor Gewalt, jedoch werden diese oft nicht wirksam angewendet oder ausgeschöpft, z.B. werden gefährliche und polizeibekannte Gewalttäter oft nur auf freiem Fuß angezeigt oder sogar freigesprochen, was oft zu schwereren Gewalttaten bis zu Femiziden führt. Obwohl immer mehr Frauen den Mut aufbringen, Anzeige gegen ihre Misshandler zu erstatten, bleibt die Tat für die Gewaltausübenden leider nach wie vor oft ohne ernsthafte Konsequenzen.
Für eine echte Gleichstellungs- und Gewaltschutzpolitik wäre das Wichtigste eine langfristige und gesicherte Finanzierung. Das Budget des Frauenministeriums und spezifisch der Bereich für Gewaltprävention ist grundsätzlich (auch im Vergleich zu anderen Ressorts und Ministerien) viel zu niedrig. Angesichts der immens hohen Folgekosten von Gewalt braucht es eine Erhöhung der Mittel für das Frauenministerium. Dringend finanziert werden müsste z.B. auch eine langfristige österreichweite Bewusstseinskampagne gegen Gewalt an Frauen, besonders auch für die breitere Bekanntwerdung der Nummer der Frauenhelpline (0800 222 555). Darüber hinaus benötigt es 3000 neue Vollzeitstellen im Gewaltschutzbereich und für Betreuung und Begleitung der betroffenen Frauen und ihrer Kinder.
Frauen werden in unserer Gesellschaft strukturell abgewertet – frauenspezifische Tätigkeiten wie Care-Arbeit, also Kindererziehung, Haushalt oder die Pflege kranker oder älterer Angehöriger, werden schlecht bis gar nicht entlohnt. Oft sind diese Tätigkeiten unsichtbar und werden als selbstverständlich hingenommen. Es findet eine Ausbeutung dieser reproduktiven Tätigkeiten statt, die oft rund um die Uhr geleistet werden. An diesen Ausbeutungsverhältnissen gilt es anzusetzen, es muss eine gerechte Entlohnung, z.B. in Pflegeberufen, gewährleistet werden und eine gesellschaftliche Aufwertung dieser Tätigkeiten stattfinden.

Um betroffenen Frauen wirkungsvoll helfen zu können, braucht es Wissen – Wissen um diese strukturellen Probleme und um die Faktoren, die Gewalt gegen Frauen begünstigen. Wann sind Frauen, wann bin ich selbst besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden?

Gewalt an Frauen passiert überall auf der Welt und ist ein weltweites Problem. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und hängt weder mit Einkommen oder Bildung, noch mit der Herkunft oder Staatszugehörigkeit zusammen – Frauen bzw. Migrantinnen aus anderen Herkunftsländern sind also generell nicht häufiger von Gewalt betroffen, jedoch haben es gewaltbetroffene Migrantinnen aufgrund von prekären Lebensumständen (Flucht, etc.) besonders schwer, sich aus einer Situation häuslicher Gewalt zu befreien. Diese Faktoren bzw. Hindernisse machen die Situation von gewaltbetroffenen Migrantinnen im Vergleich zu betroffenen Österreicherinnen schwieriger.

Ein besonders wichtiger Faktor, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken bzw. sie zu verhindern, ist die Prävention gegen Gewaltbereitschaft. Was sind eurer Meinung nach sinnvolle Präventionsmaßnahmen?

Wie in anderen Ländern leben wir auch in der österreichischen Gesellschaft in einem Patriarchat. Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.
Es fehlen langanhaltende, flächendeckende und umfassende Kampagnen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, um das Bewusstsein und das Wissen in der breiten Bevölkerung zu erhöhen. Eine gute und effektive Maßnahme, um patriarchalen und frauenverachtenden Einstellungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sind möglichst flächendeckende Präventionsworkshops und Seminare in Schulen zu häuslicher Gewalt und Geschlechtergerechtigkeit, besonders auch für Burschen zu den Themen toxische Männlichkeit und stereotypische Frauen- und Männerbilder, um Gewalt schon im Vorhinein zu verhindern.

Viele betroffene Frauen schämen sich für das, was ihnen passiert, oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr und sie sind gesellschaftlichen Verurteilungen ausgesetzt. Wie kommt es zu den vielen Vorurteilen, mit denen dieses Thema behaftet ist, und wo muss hier ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden? Wie kann das am besten gelingen?

Trotz aller Fortschritte seit den 1970er Jahren ist das Thema geschlechtsspezifische Gewalt leider immer noch mit Scham assoziiert. Es wird selten darüber gesprochen und oft bekommen die Betroffenen vom Umfeld keinen Rückhalt, sie werden noch immer für die Tat des Mannes verantwortlich gemacht (sogenanntes victim blaming). Das hat leider oft zur Folge, dass sich gewaltbetroffene Frauen keine Hilfe holen.
Patriarchale Vorstellungen von Geschlecht spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Wir haben in Österreich seit Jahren Regierungen mit Beteiligung (rechts-)konservativer Parteien – im rechten bzw. konservativen politischen Spektrum wird Gewalt an Frauen verharmlost und oft als ein „importiertes Problem“ dargestellt. Gewalt von Männern gegenüber Frauen wird immer noch viel zu oft im Sinne eines patriarchalen Männlichkeitsbildes mit „Männer sind halt so“ abgetan und verharmlost und diese Männer werden auf diese Weise nicht zur Verantwortung für ihr eigenes Verhalten gezogen.
Auch verbale Gewalt an Frauen wird oft gesellschaftlich toleriert und Hass im Netz hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Hierbei hat die Verrohung der Sprache im Umgang und Diskurs deutlich zugenommen. Gewalt durch Worte ist auch psychische Gewalt und der Weg von der psychischen Gewalt zur körperlichen Gewalt ist oft ein kurzer.
In der Berichterstattung der Medien über Gewalt an Frauen, besonders im Boulevard, werden leider nach wie vor immer wieder patriarchale Klischees reproduziert. Immer noch werden Fälle von Gewalt von Männern an Frauen als „Familientragödie“, „Beziehungsdrama“ oder „Einzelfall“ verharmlost sowie der Täter entschuldigt. Von den Medien wünschen wir uns, dass Journalist*innen sich über verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung zum Thema Gewalt an Frauen und Kindern informieren – z.B. über den vom Verein AÖF erstellten Leitfaden zu verantwortungsvoller Berichterstattung – und diese auch anwenden.

Gemeinsam mit diesem Umdenken muss auch das Gespür dafür geschärft werden, wo jede*r einzelne aktiv werden kann. Wie übernimmt man als Einzelperson Verantwortung und kann betroffenen Frauen am besten helfen?

Um gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen, braucht es flächendeckende langfristige Bewusstseinsarbeit. Das kann u.a. durch Projekte, wie das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ erreicht werden, das der Verein AÖF aktuell in mehreren Wiener Bezirken und an insgesamt 25 Standorten in ganz Österreich durchführt.
„StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ ist ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes Gesamtpaket in der Gewaltprävention, das alle Menschen, insbesondere Nachbar*innen einlädt und befähigt, sich aktiv gegen Femizide und gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern zu engagieren. Es richtet sich explizit und direkt an die Zivilgesellschaft, bindet diese aktiv ein und weist ihnen konkrete und anwendbare Handlungsmöglichkeiten auf, um sie zu involvieren und zu zeigen, was jede*r Einzelne*r beitragen kann. Durch das Aufzeigen von Unterstützungsmöglichkeiten klärt StoP auf, was bei Verdacht auf Partnergewalt zu tun ist, wie sich Nachbar*innen selbst schützen und wie sie Gewalt verhindern können. Nachbar*innen können z.B. die Gewalthandlung unterbrechen, indem sie anläuten und nach etwas Unverfänglichem fragen (z.B. Zucker ausleihen). Auf diese Weise wird dem Täter signalisiert, dass die Nachbarschaft mithört und der Betroffenen wird signalisiert, dass sie nicht allein ist. Nachbar*innen verbünden sich mit anderen Personen, wie Familie und Freund*innen, informieren sich und überlegen, wie sie helfen können. Zudem können Nachbar*innen betroffene Frauen und Kinder niederschwellig über wichtige Notrufnummern, wie z.B. die Frauenhelpline 0800 222 555, Anlaufstellen, etc. informieren. StoP ermutigt Personen, eine klare Haltung gegen (häusliche) Gewalt/Partnergewalt einzunehmen, genau hinzuschauen und zivilcouragiert zu handeln. Entsprechend ist StoP auch ein Appell an die österreichische Zivilgesellschaft, sich aktiv einzusetzen und sich eindeutig und klar gegen Gewalt an Frauen und Kindern zu positionieren. Mehr Informationen auf stop-partnergewalt.at.

 

Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.

In Deutschland:

Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

Hier können Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in ganz Deutschland gesucht werden.

In Österreich:

Frauenhelpline gegen Gewalt, rund um die Uhr, anonym, kostenlos und mehrsprachig: 0800 222 555 www.frauenhelpline.at

Onlineberatung für Mädchen und Frauen im HelpChat, täglich 18-22 Uhr und jeden Freitag von 9-23 Uhr, mehrsprachig: www.haltdergewalt.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

Das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ setzt da an, wo häusliche Gewalt passiert, am Wohnort, in der Nachbarschaft, und hilft, häusliche Gewalt früh zu erkennen und zu unterbrechen.

BAKHTI – EmPOWERmentzentrum für gewaltbetroffene Mädchen* mit einem Zusatzangebot für mitbetroffene Burschen*: www.bakhti.at  und www.burschen.bakhti.at

Infowebsite für Kinder und Jugendliche: www.gewalt-ist-nie-ok.at

„In der Literatur herrschen immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen“ – Veronika Schuchter im Interview

Auch die Literatur(branche) braucht nachhaltige, strukturelle Veränderungen und eine Perspektivenerweiterung. Denn: patriarchale Machtstrukturen beeinflussen immer noch was wir lesen und wie darüber gesprochen wird. Wie sich das äußert und auch was wir dagegen tun können haben wir mit Veronika Schuchter besprochen. Sie ist Germanistin, Genderforscherin, Literaturkritikerin und freie Lektorin. Im folgenden Interview gibt sie einen Überblick über die Auswirkungen von Ungleichheit und schiefen Machtverhältnissen im Literaturbetrieb, außerdem spricht sie über Kanonkritik sowie literarische Identitätspolitik.

 

In deinem Forschungsprojekt „Literaturkritik als Gender-Diskurs“ hast du dich mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Kategorie Gender auf die Literaturkritik auswirkt. Herrschen im Literaturbetrieb unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen* bzw. werden Autorinnen und Autoren unterschiedlich bewertet und welche Faktoren spielen hier eine Rolle? Und was lässt sich hier im Hinblick auf nicht-binäre Autor*innen beobachten?

Es herrschen leider immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen, das beginnt beim Verdienst, bei Vorschüssen und es hört damit auf, wie über Autorinnen gesprochen wird. Autoren werden meist zu ihrem Werk befragt, Autorinnen zu ihrer Person, oder wie es ist im Literaturbetrieb als Frau. Es ist wichtig auch darüber zu sprechen, doch das Werk sollte im Mittelpunkt stehen. Hier sind immer noch althergebrachte Rollenmuster am Werk, die oft gar nicht bemerkt werden, aber nur schwer zu überwinden sind. Nicht-binäre Autor*innen werden häufig auf diese Eigenschaft reduziert, das war etwa bei Kim de l’Horizon der Fall. Der Roman „Blutbuch“, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, wurde aus der identitätspolitischen Perspektive gelesen, dabei ist er viel mehr als das, etwa ein sehr berührender Text über die Mutter der erzählenden Figur.

In ihrem Roman „Das Licht ist hier viel heller“ thematisierte Mareike Fallwickl bereits 2019 die toxischen patriarchalen Strukturen in der Kulturbranche. Ihre Erzählung handelt von einem Schriftsteller, der sich die traumatische Geschichte einer Frau aneignet und damit sein literarisches Comeback feiert. Der Umgang mit Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ erinnert die Autorin stark an den Plot ihres Romans: „Wie mein Protagonist Wenger steht Stuckrad-Barre vor allem selbst im Rampenlicht. Beide legen männerdominierte Machtstrukturen offen – und profitieren dabei von ebendiesen Strukturen. Die geschädigten Frauen haben diese Stimme nicht“, führt sie in einem Interview aus. Wie wichtig ist deiner Meinung nach die Perspektive und Biografie der Schreibenden? Inwiefern spielt es für die Vermittlung von feministischen, queeren, antirassistischen und dekolonialen Inhalten bzw. Lebensrealitäten von intersektional diskriminierten Menschen eine Rolle, wer über wen erzählt und welche Realitäten dadurch vermittelt werden?

Das ist eine sehr komplexe Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Durch die identitätspolitische Sensibilisierung der letzten Jahre neigen momentan viele dazu, dass sie literarische Texte durch die Biografie der Autorin/des Autors beglaubigt haben wollen. Das ist verständlich, aber das Schöne an Literatur ist ja, dass man sich in andere hineinversetzen kann. Wenn jeder nur noch über die eigenen Erfahrungen schreibt, würde das die Literatur sehr arm machen. Sonst kann ich genauso gut nur dokumentarische Texte lesen, die auf Fakten basieren. Natürlich gibt es Themen, die mehr Sensibilität erfordern. Wir sollten aber nicht anfangen, Autor*innen vorschreiben zu wollen, welche Perspektiven sie einnehmen dürfen. Wir müssen woanders ansetzen: Ich plädiere stark dafür, wieder stärker auf die Texte einzugehen. Die Lesekompetenz muss gefördert werden, der Literaturbetrieb muss diverser werden und die Literaturkritik bzw. Literaturvermittlung muss der Aufgabe nachkommen, Texte besser einzuordnen. Stuckrad-Barre ist dafür ein gutes Beispiel: Kann ein Mann einen Me-Too-Roman schreiben? Natürlich. Aber das hat Stuckrad-Barre nicht gemacht, sondern er hat einen Schlüsselroman über sich selbst geschrieben. Die Literaturkritik sollte genug Kompetenz haben, um dem Marketing hier nicht auf den Leim zu gehen. Es geht also mehr darum, welche Bücher bekommen Aufmerksamkeit? Dann können die Leser*innen selbst entscheiden, wie wichtig ihnen die Biografien der Autor*innen sind.

Das Patriarchat prägt nicht nur unsere Gesellschaft und unseren Alltag, sondern es beeinflusst auch, was und wie wir lesen. Wo äußern sich deiner Meinung nach patriarchale Machtverhältnisse in der Literaturforschung und -vermittlung am deutlichsten und welche Möglichkeiten siehst du als Wissenschaftlerin und Lehrende, ihnen entgegenzuwirken ? 

Patriarchale Verhältnisse äußern sich in der Forschung und Literaturvermittlung vielfältig, besonders deutlich bei den Untersuchungs- bzw. Vermittlungsgegenständen. Wem Aufmerksamkeit gewidmet wird und wie über Literatur von Frauen und andere marginalisierte Gruppen gesprochen wird, ist noch deutlich androzentrisch und patriarchal geprägt, was auch durch die Unterrepräsentation dieser Gruppen in führenden Positionen bedingt ist. Über Literatur von Frauen wird beispielsweise deutlich weniger berichtet, in Interviews fragt man sie dann danach, wie sie sich als Frau im Literaturbetrieb fühlen, statt sich mit ihrem Text zu beschäftigen.

Ein erster, wichtiger Schritt ist es, Bewusstsein zu schaffen. Momentan tut sich da viel. Verlagsprogramme werden unter die Lupe genommen, quantitative Untersuchungen zu Geschlechterverhältnissen in verschiedenen Kulturbereichen erstellt usw. Mir persönlich ist es auf der einen Seite wichtig, Schieflagen zu belegen und herauszufinden, wie sie entstehen. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch Vielfalt aufzeigen. Es ist ja nicht so, als hätte es keine Texte von Frauen, Texte in denen LGBTIQ+-Themen zentral sind, gegeben, sie sind nur oft nicht bekannt. Die lasse ich in meine Lehre miteinfließen.

Gibt es bestimmte Kriterien, nach denen du die Leselisten für deine Seminare zusammenstellst? Ist das Bedürfnis von Studierenden spürbar, sich diversitätskritischer mit Lektürelisten auseinanderzusetzen?

Das kommt ganz drauf an, worum es in meinem Seminar geht. Dieses Semester unterrichte ich ein Seminar zu Diversität und Gender, dementsprechend divers sieht die Literaturliste aus. Es geht auch nicht immer darum, von wem ein Text geschrieben wurde, sondern wie wir ihn heute behandeln, ob er noch anschlussfähig ist. Da kann man etwa von Grillparzers „Medea“ einiges lernen, obwohl er ein vermutlich heterosexueller cis-Mann war. Das Bedürfnis von Studierenden nach diverseren Lektürelisten und einem anderen Blick auf die Literatur hat in den letzten Jahren stark zugenommen und viele Lehrende kommen dem auch erfreulicherweise nach. Gerade auch für die Lehramtsstudierenden ist es wichtig, dass sie gut an diese Thematiken herangeführt werden und auch Texte kennenlernen, mit denen sie in der Schule später gut arbeiten können.

Ganz allgemein gefragt: Braucht es überhaupt einen Kanon? Kann der nicht einfach abgeschafft oder verändert werden und wer kann etwas dazu beitragen?

Den Kanon gibt es nicht, es gibt viele Kanones, die nach ganz unterschiedlichen Kriterien aufgebaut sind. Gemeinhin wird damit so etwas wie ein Bildungskanon gemeint – was muss ich gelesen haben? Kanones sind essenziell, weil sie dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Austausch entspringen. Es ist wichtig, dass wir Texte haben, die viele Menschen kennen, damit wir uns darauf beziehen können, in Diskussion treten können. Wenn niemand weiß, was die anderen lesen, würde das den sozialen Faktor der Literatur empfindlich schwächen. Ich bin zwar beim Lesen allein, aber Literatur geht auf das mündliche Erzählen zurück. Unsere Märchen sind ein Kanon! Unsere ganze Kultur ist ein großer Kanon, wenn man so will. Und jeder kann etwas dazu beitragen, indem er über Texte spricht. Wichtig ist vor allem, dass die großen kanonbildenden Instanzen, die Literaturkritik, die Literaturwissenschaft, das Verlagswesen, diverser werden – dann wird auch „der“ Kanon diverser. Es geht also eher darum, den Kanon positiv aufzuladen und nicht als hierarchische, patriarchal geprägte Liste zu verstehen, sondern als bunten Fundus an Texten, über die wir sprechen können und der gefüllt werden muss mit Texten, die eben nicht mehr in erster Linie privilegierte Gruppen repräsentiert.

 

Leseprobe aus „ungeheuer“ von Lena Johanna Hödl

Das ist nicht normal, das hier. Oder doch?
Ein Kind, das versucht, die gekappte Mutter-Beziehung zu reparieren, indem es den Knopf, der einst die Verbindung darstellte, malträtiert: den Nabel. Ein Mann beteuert beim ersten Date, sie nicht vergewaltigen zu wollen – und tut es unter dem Schauer der Perseiden dann doch. Hitler und Churchill liegen sich reumütig und weinend in den Armen. Lena Johanna Hödl gießt das Ungeheure, das Bedrohliche, aber auch das Alltägliche, die Gefühle im Menschen in literarische Texte und erzeugt ein berauschendes Kondensat.

Zwei zerfleischen #157: Desmond Doe

Hallo, Anna-Sophie!

Hallöchen Sophie-Anna! Wie geht’s dir, meine Liebe?

Ach, ich muss sagen, wirklich toll in letzter Zeit. Ich liebe den Herbst ja. Die Blätter fallen von den Bäumen, es wird kälter, bei mir in Attnang-Puchheim ist es gerade ganz neblig seit ein paar Tagen, und ich find das so toll! Das ist so richtig schaurig-schön, man fühlt sich direkt, als würde Ted Bundy gleich bei der Tür reinspazieren. Und wie geht’s dir?

Oh, das klingt wirklich super! Ich bin ja auch schon voll im Herbstmodus. Sich einfach mal richtig schön cosy aufs Sofa kuscheln mit den Hunden und meinem Mann und sich die neue Dahmer-Serie reinziehen. Also bei uns zu Hause, da zelebrieren wir den Spooktober auch schon total.
Also, herzlich willkommen zu einer neuen Folge Zwei zerfleischen, deinem internationalen True-Crime-Podcast. Hier präsentieren wir euch jede Woche einen internationalen, wahren Kriminalfall und tratschen ein bisschen miteinander. Perfekt zum Entspannen nach einem harten Tag im Büro, mit der Schwiegermutter oder anderen menschlichen Monstern!

Wow, Anna-Sophie, okay! Wobei ich deine kenne, und so schlimm wie Ed Gein oder Jürgen Bartsch der Kirmesmörder aus unserer letzten Folge ist sie dann doch nicht, oder?

Na ja, so schlimm wie die nicht. Aileen Wuornos höchstens. War nur ein Witz, Waltraud, liebe Grüße!

Haha, na dann, gut zu wissen. Ihr wisst ja, bei uns geht es auch mal etwas lockerer zu. Das ist aber nicht respektlos gemeint. Bei so schrecklichen Verbrechen brauchen wir das einfach zwischendurch.

Genau!

Diese Woche hast du einen Fall mitgebracht, auf den ich schon total gespannt bin. Davor lesen wir aber noch ein paar liebe Zuschriften vor, die uns erreicht haben.

Juhu, Fanpost!

(Feuerwerk- und Applaus-Soundeffekte)

Also, die liebe Kathi aus Klagenfurt hat geschrieben: „Hallo ihr Lieben! Ich bin von Anfang an ZZ-Fan und habe alle eure Folgen schon mehrmals gehört. Tagtäglich versüßt ihr mir mit eurer charmant-lustigen und doch professionellen Art den Weg zur Arbeit. Sophie-Annas Anekdoten aus ihrem verrückten Alltag und Anna-Sophies minutiöse Recherchen machen euch für mich zum besten True-Crime-Podcast der Welt. Macht weiter so, ihr zwei!“ Oooh, vielen Dank, Kathi! Wir freuen uns immer sehr über Feedback, denn ohne unsere Zuhörerinnen und Zuhörer gäbe es uns schließlich gar nicht.

Genau, im Endeffekt seid ihr der Grund, dass wir unsere Jobs bei der Versicherung aufgeben und unserem Traum folgen konnten, nämlich Wein zu trinken und die Abgründe der menschlichen Seele zu erforschen. Und hey, falls ihr auch mal hier erwähnt werden wollt, schreibt doch an hilfeschrei@zweizerfleischen. at. Eine kleine Auswahl aus den Hunderten Nachrichten, die uns jede Woche erreichen, stellen wir dann im Podcast vor.
Ich habe eine ganz liebe Nachricht vom Stefan über Instagram bekommen: „Hallo Sophie-Anna, hallo Anna-Sophie! Meine Verlobte hat mir vor einer Woche euren Podcast empfohlen und seitdem bin ich süchtig! Keine Sekunde vergeht mehr für mich ohne eure angenehmen Stimmen im Ohr. Meine Verlobte ist mittlerweile schon etwas eifersüchtig, wie könnte sie auch nicht, bei solcher Konkurrenz. 😉 Das Pfingst-Special mit Florian Fabian von Guten Morg(d)en hat mir besonders gut gefallen, und auch die Halloween- Folge über paranormale Verbrechen. Sophie-Annas laszive Darstellung des Slender Man hat ganz neue Gefühle in mir entfacht. Für mich seid ihr die schönsten, klügsten, charmantesten und lustigsten Frauen der Welt und ich frage mich oft, was ihr eigentlich nicht könnt. Bleibt, wie ihr seid!“ Und dann schickt Stefan noch ein ganz liebes Foto von seinem Hund mit!

Zeig mal. Urlieb! … Oh, ich glaub, das ist sein Penis.

Mein Fehler. Vielen Dank, Stefan. – Wow, er hat dich lasziv genannt!

Na ja, da ist er nicht der Erste, muss ich sagen …

Das glaub ich dir gerne!

Ich les noch die Mail von Olga aus Oer-Erkenschwick vor. Also: „Na, ihr zwei Frauen fürs Grobe, alles gut bei euch? Ich nehme mir schon ewig vor, euch mal zu schreiben, um euch einfach mal ein Riesenlob für eure Arbeit auszusprechen. Auch ernsthafte Themen und das eine oder andere klare politische Statement so locker-flockig und unterhaltsam zu vermitteln, gelingt keinem Duo so gut wie euch. Jeden Sonntagabend warte ich sehnsüchtig auf Mitternacht, damit ich die neue Folge gleich zum Einschlafen hören kann. Mit euch starte ich einfach am besten in die Woche! Am liebsten hätte ich jeden Tag eine neue Folge.“
Tja, liebe Olga, da kann ich dir nur unser Patreon-Abo empfehlen. Ab zwei Euro bekommt ihr dort monatlich eine kleine Bonusfolge, ab fünf Euro zusätzlich noch ein Interview mit einem Experten oder einer Expertin und die restliche von uns vorgelesene Hörerpost, und ab zwanzig Euro zusätzlich noch den Hoodie aus unserer neuen Merch-Kollektion mit der Aufschrift „Mordsjunge“ oder „Killerbraut“. Den gibt’s in fünf verschiedenen coolen Pastelltönen, ich trag meinen lavendelfarbenen zum Beispiel total gern beim Pilates.

Mir hat es ja der in Mauve angetan. So wirke ich auf alle immer erst ganz normal und unauffällig, und wenn sie mir dann näherkommen und lesen, was oben steht …

Dann wissen sie, dass du eigentlich ein Psycho bist, haha! Aber das ist mir und unseren Zuhörerinnen und Zuhörern eh schon lange klar.

Für zweihundert Euro überraschen wir euch ohne Vorwarnung mit einem realistisch wirkenden Mordanschlag, einem signierten Hoodie, und die exklusive ZZ-Trinkflasche gibt’s natürlich noch obendrauf.
Aber was schreibt Olga denn weiter?

Jetzt waren wir so begeistert von der neuen Merch-Kollektion, dass wir ganz darauf vergessen haben! Die Hoodies sind aber auch zuuuu kuschelig!
Also, Olga schreibt weiter: „Was euch aber zu den wahren Heldinnen der True-Crime-Podcast-Szene macht, ist euer kontinuierliches Engagement für Feminismus und gegen jede Art von Diskriminierung. Wie wichtig das ist, zeigen ja die vielen Femizide, über die ihr leider immer wieder sprechen müsst. Es braucht starke Frauen wie euch, die sich gegen jede Art von Gewalt aussprechen und ein klares Zeichen setzen! Ihr beiden seid meine großen Vorbilder – einfach nur super!“ Die Olga war so lieb und hat uns gleich noch eine zuckersüße Überraschung mitgeschickt: selbst gemachte Lebkuchen nach dem Rezept ihrer Uroma! Tausend Dank dafür, Olga, die sind einfach köstlich.

Oooh, wie lieb! So was lesen wir wirklich nur OL-zu GA-rne. Haha.

Achtung, der kommt tief!

Haha. Wir sind schon echt zwei verrückte Hühner. Aber jetzt ernsthaft, es ist so schön zu wissen, dass Menschen wie Olga hinter uns stehen. Wir bekommen ja leider auch viele nicht so nette Nachrichten. Aber es ist uns wichtig, zu unserer Meinung zu stehen.

Genau. Es ist 2022 und Frauen haben die gleichen Rechte verdient. Und eine Vergewaltigung ist nie okay, egal, was die Frau anhatte.

Absolut. Und Rassismus und Homophobie sind ebenfalls nie okay. Wenn du so wütend bist, dass du denkst, du musst wen umbringen, mach einfach hundert Hampelmänner. Das hilft mir immer. Oder iss ein großes Stück Schokolade.

Oder mal ein Schaumbad! Geh mit dem Hund spazieren! Jedenfalls ist das hier ein feministischer Podcast und das soll auch so bleiben. Jede Art von Diskriminierung hat hier nichts verloren und wir sprechen uns für eine bunte, vielfältige Gesellschaft aus. Mord oder Gewalt gehen halt wirklich gar nicht, und das muss man auch aussprechen und ein Zeichen damit setzen. Und, weil jetzt schon viele Nachrichten dazu gekommen sind, wie wir dazu stehen: Wir sprechen den Frauen im Iran unsere volle Solidarität aus! Wirklich toll, was die Mädels da leisten.

Absolut.

(Pause)

Puh, das war jetzt kurz nicht so lustig, aber darüber muss man auch reden. Politisches Engagement gehört für uns einfach dazu.

Genau, wir haben jetzt auch mal eine kurze Pipipause eingelegt, uns mit lecker Glühwein und Schokomandeln versorgt und jetzt, endlich, können wir loslegen. Was hast du mir denn heute mitgebracht?

Also, Anna-Sophie, nach den letzten paar Folgen, in denen es ja eher um nicht so blutige Verbrechen ging wie Betrug, oder auch die Folge mit der Bankraub-Barbie, hast du dir ja heute mal wieder so was richtig Deftiges gewünscht.

Yes, super!

Und das führt uns zu einer Geschichte voller Blut, Hass und Ungerechtigkeit, die Triggerwarnungen findet ihr in der Folgenbeschreibung. Die Geschichte, die ich euch heute erzählen will, beginnt im Jahr 1957 in New Orleans, Louisiana. Hier wird an einem warmen Sommermorgen Desmond Doe geboren. Von Anfang an ist klar, dass der kleine Desmond, dieses unschuldige, süße Baby, es nicht leicht haben wird. Denn Desmond ist Schwarz, und in den USA herrscht noch strenge Rassentrennung.

Oh nein. Typisch Amis, die sind ja echt verrückt, auch mit ihren Waffen und so.

Voll. Desmonds Familie genießt in dem heruntergekommenen Viertel, in dem das Häuschen der Does steht, ohnehin schon einen zweifelhaften Ruf, ist seine Mutter doch Sexarbeiterin und schon seit ihrer Jugend schwer heroinabhängig. Ja, also ich denke, die haben’s halt wirklich nicht leicht gehabt.

Ja, voll. Also, Sexarbeit ist Arbeit, das ist ganz wichtig, aber damals ist man ja wirklich nicht gut mit solchen Frauen umgegangen.

Genau. Also ich konnte in meinen Recherchen nichts Genaues dazu finden, aber ich kann mir schon vorstellen, dass Dana, Desmonds Mutter, auf der Straße oft ganz, ganz schlimme Dinge zu hören bekommen hat. Also so was wie „Du Hure, verpiss dich von hier, du eklige Junkiesau!“ vielleicht.

Schrecklich, einfach schrecklich. Sucht ist eine Krankheit, das muss die Gesellschaft endlich verstehen. Die Leute können da ja nichts dafür, und ob du Drogen nimmst oder für Geld mit jemandem schläfst, ändert nichts an deinem Wert als Mensch! Aber klar, das war damals wohl für sie Alltag. Ich habe total viel Respekt vor solchen Frauen, aber für die Nachbarschaft war Dana halt nichts anderes als eine abgefuckte, wertlose Nutte. Damals war man halt noch nicht so aufgeklärt wie heute. Ich persönlich würde jemanden nie so nennen.

Das gehört sich einfach nicht. Respekt ist oberstes Gebot, auch wenn ich selbst so was nie könnte.

Für die Menschen damals war sie eben nur eine dumme, gschissene, nach Fisch stinkende Funzn, die ihre ausgeleierte Mietmöse fremden Männern zur Verfügung stellt. Schlimm war das damals.

Genau. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass man sie als „ekelerregende Taschenfotze, die es gar nicht verdient hat, zu leben, und die man am besten stundenlang durchnehmen und dann leblos im Straßengraben liegen lassen sollte“ bezeichnet hat.

Ganz bestimmt. Wirklich schockierend, was die Leute zu ihr gesagt, also wahrscheinlich gesagt haben. Das geht halt echt gar nicht. Dagegen sprechen wir uns klar aus. Also das kam noch zusätzlich zu der rassistischen Gesellschaft dazu. Für die weiße Mehrheitsgesellschaft waren Schwarze Menschen sowieso nichts weiter als *****, *** *** ** ****** ************, ***** *** **** ** ****** ****** **********.

Ja, so war das damals leider. Ich versteh das nicht, wir sind doch alle nur Menschen!

Und einigen mag es jetzt vielleicht krass erscheinen, dass wir solche Worte aussprechen, aber das müssen wir eben tun, damit ihr begreift, wie rassistisch die Gesellschaft damals war.

Darum geht es schließlich in einem True-Crime-Podcast: die Fakten ungeschönt darzustellen. Solche, also verzeih jetzt den Ausdruck, Arschlöcher, die Desmond und seine Familie so behandelt haben.

Um Verzeihung brauchst du bei mir nicht zu bitten, wir sind ja beide erwachsen und du hast voll recht. Black Lives Matter. Die Nachbarn mögen die Does damals für Abschaum gehalten haben und für Gesindel, das man am besten direkt vom Antlitz dieser Erde tilgen sollte, aber wir teilen diese Ansicht definitiv nicht. Darüber reden wir übrigens auch nächste Woche beim Welser Podcast-Festival, den Ticket-Link findet ihr in den Shownotes. Für uns gilt: Mensch ist Mensch!

(Jingle, Stimme: Werbung)

Wenn man sich, so wie wir, regelmäßig mit dem ultimativen Bösen beschäftigt, kann das schon mal auch psychisch belastend werden. Depression kann jeden treffen, aber was die wenigsten wissen, ist, dass Depressionen unter anderem durch Nährstoffmängel begünstigt werden.

Und da kommt unser Partner Nutri3000 ins Spiel. Nutri3000 ist ein Nahrungsergänzungsmittel aus echtem Gemüse und mit dem Besten aus der Amalfi-Alge. Schon ein Esslöffel des köstlichen Pulvers pro Tag deckt all eure Bedürfnisse ab und ihr könnt jeden Tag mit dem Elan beginnen, den ihr braucht. Schon ab neunundvierzig Euro neunundneunzig pro Monat.

Und mit dem Code ZERFLEISCHEN schenkt Nutri3000 allen Hörerinnen und Hörern dieses Podcasts minus fünf Prozent auf die erste Bestellung. Nutri3000: Elan für den Alltag!

Und wie geht es jetzt mit den Does weiter?

Nun, am 27. September 1963, da ist Desmond gerade mal neun Jahre alt, wird eine stark verstümmelte Frauenleiche nur fünfhundert Meter Luftlinie vom Haus der Does gefunden. Was jetzt kommt, ist sehr grafisch, aber ihr habt es verdient, die Details zu erfahren. Man muss sich ja vorstellen, das waren damals alles echte Menschen. Und wir sind es ihnen schuldig, ihre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und unseren Hörerinnen und Hörern alles darüber zu erzählen. Also, die Leiche konnte schon bald als die fünfzehnjährige Laura Parsonski identifiziert werden. Laut ihren Eltern wollte Laura an diesem Abend mit einer Schulfreundin spazieren gehen, kam aber niemals zurück. Ihre Mutter beschrieb Laura der Polizei gegenüber als ein aufgewecktes, hilfsbereites und einfühlsames Mädchen, das später Kindergärtnerin werden wollte. „Wenn Laura einen Raum betrat, dann war es, als würde die Sonne aufgehen. Alle Köpfe drehten sich nach ihr um. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich sie an diesem Abend nicht gebeten habe, zu bleiben.“

Die Mutter muss das ja komplett zerstört haben. Entsetzlich.

Ja, gerade bei so einem lieben, jungen Mädchen. Laura wurde übrigens auch als außergewöhnlich hübsch beschrieben, mit langen, blonden Locken und strahlend blauen Augen.

Also versteht uns nicht falsch, ein Todesfall ist natürlich immer tragisch, aber wenn sie wenigstens schiach gewesen wäre oder eine extrem nervige Stimme gehabt hätte …

Oder dumm gewesen wäre! Es hat ja auch einen Grund, dass die Kronenzeitung bei solchen Fällen immer ein Foto der Betroffenen abdruckt und betont, einen dann doch mehr, als wenn ein fettes Mädchen mit Skoliose das Opfer ist.

Und das ist auch völlig okay, so sind wir Menschen nun mal.

So, und jetzt wird’s grauslich: Lauras Leichnam fehlten beide Augen sowie die Klitoris. Der gesamte Körper war von Verbrennungen fünften Grades überzogen, doch das Verstörendste: Vom Scheitel bis zum Schritt war Laura, dieses beliebte, nette, blonde Mädchen, mit einem einzelnen Schnitt sauber aufgeschnitten und ihr ganzer Körper auf links gedreht worden. Auch Kokain fand man in ihrem Körper.

Oh Gott.

Mhm.

Aber na ja, man kennt es: erstes Date, erst mal gemeinsam koksen und dann die andere Person auf links drehen! (lacht)

Haha, also mit Drogen und so komischem Zeug habe ich ja nichts am Hut, ich backe lieber mal einen Kuchen. Wirklich ein sehr skurriler Fall. Perfekt für nasskalte Herbsttage am Sofa!

Übrigens könnt ihr von diesem und zwölf anderen Fällen in unserem neu erschienenen Buch Hinterfotzig weggemeuchelt lesen. Die schamlosesten Schändungen der Antike, die furchtbarsten Foltermethoden der Achtziger und die turbulentesten Totschläge von heute! Wir haben zwar beide schon alle Hände voll zu tun mit Podcast, Tournee, Interviews und Auftritten in ganz Europa, aber wir wollen euch einfach noch mehr zum schaurig-schönen Gruseln anbieten. Das Buch erscheint in zwei Wochen, bestellt es am besten jetzt schon mal vor! Das perfekte Weihnachtsgeschenk für Familie, Freunde und alle anderen.

Wirklich entsetzlich, was Laura da zugestoßen ist, und ich bin schon gespannt, wann und wie jetzt der arme Desmond mit ins Spiel kommt. Aber ich tröste mich damit, dass die beiden bestimmt stolz wären, wenn sie diese spannende Folge hören könnten. Euer Schicksal war nicht umsonst!

Die Polizei jedenfalls begann sofort mit den Ermittlungen und befragte Zeuginnen und Zeugen in der ganzen Nachbarschaft. Dabei stellte sich schnell heraus, dass …

Aus dem Erzählband „ungeheuer“ von Lena Johanna Hödl

Leseprobe aus „Muss ich das gelesen haben?“ von Teresa Reichl

Was wir lesen, ist eben, was wir lesen. Oder? Falsch. Welcome to patriarchy! Ja, das Patriarchat hat überall Einfluss – auch auf das, was und wie wir lesen. Wie könnte es sonst sein, dass „gute“ und „wichtige“ Literatur praktisch nur von Männern geschrieben wird?! Genauer von weißen, christlichen, heterosexuellen Männern ohne Behinderung aus der „oberen Gesellschaftsschicht“. Und warum wird über andere Autor*innen behauptet, sie hätten nichts geschrieben, wenn das doch gar nicht stimmt? Teresa Reichl hat die Schnauze voll davon. Es ist an der Zeit für den nächsten logischen feministischen Schritt: Die Literatur und ihre Geschichte werden umgeschrieben. Werden divers. Werden endlich korrigiert. Wie? Mit Basics zur Literaturgeschichte, einem ausgewachsenen Alternativ-Kanon und geballtem Wissen: in verständlich und für alle!

Vorwort
Servus und willkommen in meinem Buch! Wie wild, das zu tippen. Ich bin Teresa und ich wollte dieses Buch richtig lange richtig dringend schreiben. In der Schule war ich der Deutsch-Nerd, der zum Spaß so Sachen wie Gustav Freytags Die Technik des Dramas gelesen hat. Später dann habe ich Deutsch und Englisch auf gymnasiales Lehramt studiert – und selbst da war ich noch manchmal die größte Streberin im Raum. Das muss man echt erstmal schaffen. Sosehr ich alles geliebt habe, was ich lernen durfte, so sehr habe ich mich immer schon geärgert über scheinbar unveränderliche Leselisten, immergleiche Vorgehensweisen und Blickwinkel bei der Analyse oder Interpretation und müdes Lächeln auf Fragen, die ich wohl nicht hätte stellen – oder noch besser, gar nicht erst haben sollen. Dann habe ich angefangen, mich im Internetz über literarische Klassiker aufzuregen, mich in YouTube-Videos, Instastories und TikToks über Literatur zu freuen, sie zusammenzufassen und zu versuchen, einen Kontakt zu den Leuten herzustellen, die am meisten (und unfreiwilligsten) damit zu tun haben: Jugendliche. Und sie haben geantwortet. Ihr habt geantwortet. Ihr habt mich gefragt, was ihr euch im Unterricht nicht getraut habt zu fragen. Ihr habt verstanden, was ihr zuvor im Unterricht nicht verstanden habt. Und ihr habt euch bestätigt gefühlt, weil ich die gleichen Werke wie ihr gelesen und auch verstanden habe, sie aber trotzdem teilweise scheiße finde. Das ist erlaubt, es ist sogar normal. Bücher können die größten Klassiker der Welt sein und trotzdem euren persönlichen Geschmack nicht treffen. Darüber ist ein richtiger Austausch entstanden. Viele von euch haben anschließend tatsächlich Bock bekommen, die Werke zu lesen, die für die Schule gelesen werden sollten. Was mich allerdings am meisten umgehauen hat: Ihr habt begonnen, ein Mitspracherecht einzufordern darüber, was ihr in der Schule lesen sollt.
Erwachsene sind leider gut darin, sich darüber aufzuregen, dass Jugendliche immer weniger lesen, immer weniger davon verstehen, sich immer weniger für literarische Klassiker interessieren. Die eigentlichen Fragen sind jedoch: Ist das wirklich so und, falls ja, warum? Wenn ein literarischer Klassiker ach so zeitlos ist, wieso interessieren sich dann immer weniger Leute für ihn? Wieso finden Jugendliche (sowie Erwachsene) den Zugang dazu nicht mehr? Müssen Jugendliche wirklich ohne Hilfestellung Goethe lesen können? Müssen sie sich denn unbedingt ausschließlich in die Lage von längst toten weißen Männern versetzen? Gibt es nicht vielleicht (klassische) Literatur, die einen persönlicheren Zugang ermöglicht? Was zur Hölle sind Klassiker in der Literatur überhaupt, wer entscheidet das denn? Sind die wirklich so komplett genial, wie wir glauben? Und was können wir, die Erwachsenen, Lehrkräfte und Menschen, die Literatur vermitteln, tun, um den Zugang zu Klassikern leichter und diverser zu machen?
Jetzt hat sie schon in der Einleitung „weiße Männer“ gesagt, holy shit! Wenn wir schon dabei sind, kann ich da gleich noch ein bisschen aufräumen: Das hier ist kein Männerhassbuch. Es ist auch kein Autorenhassbuch (mit einer Ausnahme, hehe). Es ist auch kein Weiße-, Christ*innenoder cis Menschenhassbuch. Das hier ist ein Patriarchat und White Supremacy-Hassbuch. Ich hasse nicht, dass weiße Männer Bücher geschrieben haben. Ich hasse, dass Frauen und alle FLINTA+-Personen (also Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre und agender Personen), Bi_PoC Autor*innen (also Black, Indigenous und People of Colour), queere Autor*innen und Autor*innen, die behindert, nicht christlich oder aus der „Oberschicht“ sind, vom Schreiben, Veröffentlichen und Gelesenwerden abgehalten wurden und werden. Und, sorry not sorry, das ist die kollektive Schuld der weißen cis Männer. Lässt sich aber alles ändern (in verschiedenen Ausmaßen natürlich) und genau das soll dieses Buch zeigen.
Was wird also hier passieren? Drei Dinge im Groben. Zuerst schauen wir uns an, wozu Literatur eigentlich gut ist: Wieso gibt’s die, was tut sie, was bringt sie mir und was will die Schule damit? Was nützt mir das Analysieren und Interpretieren von Literatur fürs Leben und wieso muss ich die Epochen auswendig wissen? Solche Fragen. Im zweiten Teil nehmen wir den Schulkanon unter die Lupe, den es offiziell gar nicht gibt. Von dem außerdem immer behauptet wird, er wäre total neutral, objektiv und nach Niveau der Literatur zusammengestellt (Spoiler: Quatsch). In diesem Teil hinterfragen wir, wieso die brains hinter diesen Texten alles Männer sind, wieso die alle weiß, gebildet sind und aus den „oberen Gesellschaftsschichten“ kommen und so weiter. Und wo da die Diskriminierung steckt. Im dritten Teil werde ich dann zeigen, wen und was es da noch so gibt. Welche Werke und Stimmen verdrängt und aus dem Kanon verbannt wurden, wo die Frauen sind, die (gender)queeren Menschen, die Bi_PoC, die behinderten Menschen und so weiter. Es soll dabei auch um die Frage gehen, wie wir es vielleicht hinkriegen, dass diese Bücher auch Jugendliche (wieder) interessieren – und zwar mehr als den einen Nerd in der Klasse.
Versteht mich bitte nicht falsch: Ich liebe Literatur. Vielleicht mehr, als gut für mich ist. Ich liebe auch klassische Literatur. Nur war ich damit vor zehn Jahren schon die Ausnahme im Klassenzimmer und das ist so, so schade. Wer also einen Blog hat und bereits die Clickbait-Schlagzeile „Influencerin cancelt im Rundumschlag die ganze deutschsprachige Literatur“ vorbereitet hat, soll bitte erstmal weiterlesen. Wir sind auf derselben Seite, ich versprech’s.
Dieses Buch hier ist übrigens mit Absicht nicht in wissenschaftlichem Sprachstil geschrieben. Bücher über Literatur sind fast immer von und für Literaturwissenschaftler*innen. Und wenn Teenager keinen Bock haben, Goethe zu lesen, haben sie auch keinen Bock, einen wissenschaftlichen Aufsatz über Goethe zu lesen, komplett verständlich. Da mein Buch für alle lesbar sein soll, besonders für Jugendliche, die sich mit Literatur befassen möchten (oder müssen), gebe ich mein Bestes, mich so einfach wie möglich auszudrücken – und so, wie ich mit 16 gewollt hätte, dass es mir jemand erklärt.
Trotz aller Einfachheit will ich so genau wie möglich sein. Deshalb werde ich nur von „Autoren“ schreiben, wenn ich nur Männer meine. Genauso wie ich „Autorinnen“ nutze, wenn ich nur Frauen meine, und Autor*innen, wenn ich alle Geschlechter meine (nicht beide, alle!). Und wo man über Diskriminierung spricht, muss man ganz klar über Rassismus sprechen. Deshalb wird von weißen Autor*innen, Black, indigenous und/oder Autor*innen of Colour die Rede sein (gesammelt abgekürzt Bi_PoC). Diese sprachliche Unterscheidung macht die strukturelle, unser gesamtes gesellschaftliches System betreffende Diskriminierung sichtbar, unter der negativ Betroffene täglich leiden. Dementsprechend schreibe ich auch weiß kursiv und Schwarz groß. Das waren jetzt viele Fach- und Fremdwörter auf einmal, ich weiß. Zum Schluss ergibt das allerdings alles Sinn, trust me.
Ich bin mir sehr bewusst darüber, dass ich dieses Buch als nicht-behinderte, weiße cis Frau schreibe, also aus einer sehr privilegierten Position heraus. Deshalb schreibe ich hier teilweise über Diskriminierung, die ich nie erfahren habe und nie erfahren werde, und das ist immer eine schwierige Gratwanderung. Weil ich einerseits den Raum, der mir hier gegeben wird, nutzen und möglichst viel beleuchten will – und nicht nur das, was mich persönlich betrifft. Weil ich den Raum und die Privilegien, die ich habe, auch als Verpflichtung sehe, meinen Beitrag zu leisten. Es kann schließlich nicht immer nur an negativ Betroffenen hängenbleiben, aufzuklären und auf strukturelle Diskriminierung hinzuweisen. Und das ist, was ich hier tun will. Auf der anderen Seite will ich natürlich keinen Raum einnehmen, der mir nicht gehört oder zusteht. Deshalb verlasse ich mich an vielen Stellen auf die Expertise negativ betroffener Personen.
Man könnte über jedes Kapitel in diesem Buch ein ganzes Buch schreiben – und über manche Kapitel gibt es bereits welche. Was ich hier tun will, ist: zusammenfassen und in Zusammenhang setzen. Denn Feminismus darf nicht nur darauf aus sein, weiße Frauen weißen Männern gleichzustellen, sondern er muss gegen alle strukturellen Diskriminierungen kämpfen. Wenn ich also „feministisch“ schreibe, meine ich intersektionalen Feminismus. Also einen Feminismus, der berücksichtigt und sichtbar macht, dass Menschen mehrfach marginalisiert und auch mehrfach privilegiert sein können. Nur dadurch wird eine bessere und gerechtere Zukunft für alle möglich. Vor diesem Hintergrund will ich zeigen, wer im literarischen Kanon alles nicht auftaucht, warum das so ist und dass es noch sehr viel mehr Werke gäbe, die in diesen Kanon gehören sollten. Müssen sogar. Okay? Cool.
Also, auf los geht’s los.
Los.

Der Kanon ist ein Gewohnheitstier
Ich verstehe also rein strukturell echt, wieso die meisten Werke, die man in der Schule liest, von weißen, christlichen, hetero cis Männern ohne Behinderung aus der „oberen Gesellschaftsschicht“ sind. Sie hatten in der Literatur immer schon die Oberhand, die Werke sind bekannt, die Autoren sind bekannt, und, ja, ich gebe es zu, die meisten Werke, die es gibt, sind von ihnen. Doch das ist eben nicht einfach so passiert, sondern liegt daran, dass alle anderen aktiv unterdrückt wurden. Ich kann ja aber nicht die Erste sein, der dieses Ungleichgewicht aufgefallen ist¹ – bin ich auch nicht! Bei weitem nicht. Es gibt schon so viele Bücher und Artikel und Projekte für einen diverseren Kanon. Kritik an kanonisierter Literatur gibt es also schon lange und sie wird immer lauter – nur leider kommt sie immer nur von Einzelnen und meist auch eher aus wissenschaftlichen Kreisen, wodurch sie nicht bis außerhalb dieser Grenzen dringt. Aber wieso wird denn immer noch das Gleiche gelesen, wenn man längst weiß, dass es viel mehr gibt? Der Grund, wie immer: das Patriarchat, White Supremacy und die Macht- und Diskriminierungsstrukturen, in denen wir leben. Die gibt es schon sehr lang und deswegen ist es super schwierig, sie aufzubrechen. Wir müssen aber. Vielleicht kann ich dafür ein paar Schrauben aufzeigen, an denen man drehen kann.
Ein Grund dafür, dass in der Schule immer das Gleiche gelesen wird, ist der damit verbundene Aufwand für die Lehrkräfte. Ist das Buch lieferbar? Wie teuer ist es? Gibt es Unterrichtsmaterial dazu? Gibt es Filme oder Inszenierungen online? Das alles muss man erst mal checken, bevor man ein Buch auf die Leseliste setzt. Da spielen Verlage, wie zum Beispiel der Reclam Verlag, eine große Rolle. Denn die meisten Bücher, die ich in der Schule gelesen habe, gab es als günstige Reclam-Ausgabe und das hat mir den Arsch gerettet. Sie sind klein und günstig und sie machen klassische Literatur leichter zugänglich. Und es gibt Lektüreschlüssel und Ausgaben für Schüler*innen, in denen Wörter oder Anspielungen erklärt werden. Ich besitze selbst über 100 von den Dingern² und liebe sie komplett. Natürlich gibt es noch die Hamburger Lesehefte oder andere Verlage, aber Reclam hat schon eine gewisse Oberhand – und damit auch eine große Verantwortung. Zum Beispiel gibt es beim Reclam Verlag Sonderausgaben für die größten Schulklassiker und da ist exakt eine Frau dabei: Annette von Droste-Hülshoff mit Die Judenbuche. Von den 23 Autor*innen sind auch nur fünf nicht christlich und das sind Sophokles, der im antiken Griechenland lebte, und Kafka, Schnitzler, Heine und Zweig, die Juden waren. Schwarze Menschen, indigene Menschen und Personen of Colour sind keine dabei. Genauso wenig eine (offen) queere Person, eine behinderte Person oder eine aus der „Arbeiter*innenklasse“, geschweige denn eine mehrfachmarginalisierte Person. Begründet hat Reclam das damit, dass sie sich mit ihren Programmen einfach nach den Lehrplänen richten – Ministerien aber sagen, sie orientieren sich am Reclam Verlag und damit daran, was günstig und lieferbar ist. Dabei hätten beide Seiten, also Verlage und Ministerien, die Macht, sich gegenseitig zu beeinflussen. Und entweder checken sie das nicht, oder sie wollen einfach nicht anders.
Wie ganz am Anfang des Buchs schon gesagt: Damit will ich überhaupt nicht die Lehrkräfte bashen, ich will nur betonen, dass die Verantwortung für den Schulkanon hin- und hergeschoben wird. Damit „neue“ Klassiker verlegt werden, braucht es Nachfrage. Es muss jemand anfangen – sei es eine übermotivierte Lehrkraft oder ein Kulturministerium. Auch die Verlage könnten bestimmt ein bisschen mehr Aufsehen für „neue“ Klassiker generieren, wenn sie wirklich wollen würden. Das Problem ist eben fehlendes Interesse. Der Kanon wird nicht hinterfragt, geschweige denn geändert. Viele Lehrkräfte wollen nichts lesen, bei dem es eventuell ein bisschen zu viel um Sexismus, Rassismus, Klassismus oder Ableismus geht oder einfach um marginalisierte Perspektiven. Weil das unbequem ist und Arbeit macht. Oder leider, weil immer noch viele Menschen denken, das gäbe es alles gar nicht und die jungen Leute wären alle „snowflakes“ – was natürlich kompletter Quatsch ist, wir fordern nur unsere Rechte ein. Ich versteh auch irgendwie, dass das ein bisschen viel ist alles, aber so geben wir diese Diskriminierungen halt Generation um Generation weiter anstatt sie zu bekämpfen und zu beenden. Und damit ist wirklich niemandem geholfen. Nicht den Autoren, die längst tot sind, nicht dem Unterricht oder den Lehrkräften und vor allem nicht den Kindern und Jugendlichen. Diskriminierung existiert nun mal, wir werden die nicht von heute auf morgen beseitigen können. Negativ Betroffenen zuhören und von ihnen lernen (und sie entsprechend entlohnen!), sich der eigenen Privilegien bewusst werden und sich selbst hinterfragen wären schon mal geile erste Schritte, find ich.
Ein weiterer Grund ist auch relativ simpel: fehlendes Interesse an der Sache insgesamt. Ich will der Literaturwissenschaft jetzt nicht zu nahetreten, doch für die meisten Leute ist das nicht das spannendste Feld der Welt, schon überhaupt nicht für Jugendliche. Die Diskussion darüber, was jetzt genau an Schulen gelesen werden sollte, ist eben sehr literaturwissenschaftlich. Heißt, es wird hauptsächlich an den Universitäten diskutiert, auch da mehr unter den Dozierenden als den Studierenden oder angehenden Lehrkräften. Wenn dann Artikel oder Sachbücher rauskommen, die sich mit dem Thema befassen, wer liest die? Leute, die sich eh schon sehr für Literaturwissenschaft interessieren. Und das sind nicht unbedingt die Deutschlehrkräfte (die haben wissen müssen) und auf keinen Fall die Schüler*innen. Das ist eigentlich genau, was ich mit diesem Buch will: das Thema an die Schüler*innen und jungen Menschen bringen. Weil genau ihr mir gezeigt habt, dass eine Veränderung so herum klappt.
Meine Videos im Internet hatten nie den konkreten Plan, relevant für den Deutschunterricht zu werden, wirklich nicht. Mein Konzept am Anfang, als das YouTube-Format noch „Drunk Classics“³ hieß, war, mir zwei Weinschorlen in den Kopfbahnhof zu schaffnern und über klassische Literatur zu ranten – weil ich das ein bisschen zu gern mache, weil es die Leute in meinem Privatleben herzlich wenig interessiert und auch einfach, weil halt Lockdown war und ich was zu tun brauchte. Was dann aber passiert ist, seid ihr Geilen. Ihr habt meine Videos Lehrkräften gezeigt und, noch viel krasser: Ihr habt angefangen, zu diskutieren, was ihr lesen wollt und was nicht. Meine Videos konnten so beispielsweise schon einige Klassen davor bewahren, Die Marquise von O. … zu lesen – weil ihr euch gewehrt habt! Wenn du also der eine Literaturnerd in deiner Klasse bist, der dieses Buch gelesen hat: Danke dir! Fang an, zu diskutieren! Der dritte Teil dieses Buches ist komplett voll mit Alternativen für (ich hoffe) jede Vorgabe im Literatur-Lehrplan. Niemand soll je wieder alternativlos Die Marquise von O. … oder Effi Briest lesen müssen.
In der klassischen Literatur haben wir also leider im Vergleich wirklich wenig, was nicht von weißen, christlichen cis Männern geschrieben wurde (oder wo zumindest ihr Name draufsteht). Das ist super schade, aber leider auch nicht mehr wirklich zu ändern. Es kann natürlich gut sein, dass noch ein paar Mal rauskommt, dass in Wirklichkeit die Frau des ach so großen Dichters und Denkers „genial“ war und er einfach seinen Namen auf ihr Werk draufgeklatscht hat. Oder dass noch ein paar verdrängte Werke auftauchen. Aber wir werden einfach damit arbeiten müssen, dass wir – zumindest wenn wir uns mit Klassikern beschäftigen – nicht immer eine andere Perspektive als diese haben. Da sollte es doch förderlich und wünschenswert sein, an den Stellen im Lehrplan, wo man Literatur von marginalisierten Menschen zur Verfügung hat, ebendie zu lesen. Gezielt und mit Absicht. Das heißt auch, dass man absichtlich etwas liest, was (noch) nicht zu 110 Prozent Klassiker ist wie das. Das wird sich aber erstens mit der Zeit ändern – weil was Klassiker sind, entscheiden wir, und was wir unaufhörlich lesen, wird zum Klassiker – und zweitens muss es uns das wirklich wert sein, finde ich. Wenn es sowieso Stellen im Lehrplan gibt, wo es beispielsweise um Frauen oder Menschen aus der „Arbeiter*innenklasse“ geht, dann sollten wir uns zumindest bemühen, Bücher zu lesen, die von negativ Betroffenen selber kommen. Damit nicht nur über sie gelesen und geredet wird, sondern wirklich ihre Perspektive gesehen und gelesen wird. Das wäre nicht nur schön, es ist einfach nötig.


¹ Ich find mich schon clever, aber so clever bin ich auch nicht.
² Das ist der nischigste Flex, den ich je gemacht habe, und ich bin komplett stolz drauf.
³ Das musste ich ändern, weil der Algorithmus das gehasst hat.

Leseprobe aus „Du Herbert“ von Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser

Eine Komposition männlicher Gewalt: Im Jahr 2020 gab es auf orf.at über 450 Berichte über Gewalt von Männern. Die Zahl scheint hoch, doch umfasst sie längst nicht alle Taten. 450 Screenshots, die als Ausgangspunkt für „Du Herbert“ dienen – eine Auseinandersetzung mit der Grausamkeit, die den gewalttätigen Handlungen zugrunde liegt: Männlichkeit. Bereits in der Einleitung zum Buch trifft uns die grausame Realität wie ein Schlag in die Magengrube. Einmal mehr. Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser haben die Normalität männlicher Gewalt in Kunst verwandelt, die nicht mehr loslässt. Literatur, Wissenschaft und Beweisführung vereinen sich und machen deutlich: Die Auswirkungen von Männlichkeit sind keine Minute länger erträglich.

Anleitung zur Grausamkeit!

Männliche Gewalt ist allgegenwärtig. Ob in Beziehungen, im Berufsleben, an öffentlichen Orten oder in dunklen Ecken: Es sind in der Regel Männer, die zerstören, verletzen, rauben, morden, über andere herfallen, Macht und Kontrolle ausüben und ihre langsam bröckelnde Vorherrschaft um jeden Willen verteidigen wollen. Sie stellen eine Bedrohung für sich selbst und ihre Umwelt dar, glauben sich dennoch stets im Recht und verstehen sich als Ma stab aller Dinge. So sind diese toxischen Verhaltensweisen auch Beweis dafür, dass unzählige Männer nie gelernt haben, mit Konflikten, Streit und Zurückweisung konstruktiv umzugehen und sich selbst sowie mit männlicher Sozialisation verbundene Privilegien einer kritischen Reflexion zu unterziehen.
Ein Jahr lang – 2020 – haben wir Screenshots der orf.at-Startseite (Chronik Österreich) gesammelt, um zu dokumentieren, in welcher Fülle und Rasanz die unterschiedlichsten Taten von Männern begangen werden. Sie liefern die Grundlage für die hier abgedruckte, vielschichtige Auseinandersetzung mit der Gewaltförmigkeit unterschiedlicher Männlichkeiten, die sich aus dokumentarischen, literarischen wie auch wissenschaftlichen Elementen speist und ein hybrides Text-Bild-Format entstehen ließ. Aus den Geschichten und Themen der Berichterstattung sowie der darin erwähnten Gewalttaten von Männern schuf Lydia Haider das hier vorliegende literarische Werk, das von Judith Goetz durch die Taten erklärende Fußnoten ergänzt wurde, während Marina Weitgasser die von ihr gesammelten Screenshots aufgearbeitet und im Text platziert hat.
Die rund 450 Berichte, die wir dabei zusammengetragen haben, stellen jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aller gewalttätigen Handlungen von Männern dar, da unsere Sammlung doppelt begrenzt wurde: einerseits dadurch, welche Taten – beispielsweise über Anzeigen, polizeiliche Meldungen oder politische Skandale – überhaupt Eingang in die öffentliche Wahrnehmung fanden, und andererseits dadurch, welche Ereignisse orf.at als so relevant eingestuft hat, dass sie es auf die Startseite schafften. Die sogenannte Dunkelziffer muss folglich noch deutlich höher eingeschätzt werden.
Die Informationen, die wir aus den Beiträgen zusammengetragen haben, sind oft selektiv und spärlich. Durch die Berichterstattung finden bereits erste Interpretationen statt, und bei vielen Einordnungen handelt es sich um Spekulationen, da ausreichende Informationen oftmals fehlen. Diese Herausforderungen haben an dieser Stelle jedoch keine Bedeutung, denn letztlich sind die konkreten Taten und Täter austauschbar, weil sich ähnliche Muster immer wieder wiederholen. Entsprechend kam es im Jahr 2020 nicht nur einmal dazu, dass Burschen oder Männer aus Langeweile mit verschiedenen Waffen aus ihren Wohnungen schossen oder im stark alkoholisierten Zustand sowie unter Drogeneinfluss (zu schnell) Auto fuhren und dadurch andere Menschen verletzten oder zumindest gefährdeten. Zigfach missbrauchten Männer in diesem Jahr Kinder, Mädchen wie Burschen und Frauen sexuell, bedrohten andere Menschen – häufig mit dem Umbringen – und/oder taten ihnen Gewalt an. 31 Mal wurden Frauen von Männern ermordet, in den allermeisten Fällen kannten sich Opfer und Täter und standen entweder in einer (Liebes-)Beziehung zueinander oder hatten sich gerade getrennt. Oft sind die den Taten zugrundeliegenden Motive (noch) unbekannt, und werden diese in der Berichterstattung genannt, stehen nicht selten verharmlosende, sexistische Deutungsmuster wie Eifersucht als Begründung der Taten im Mittelpunkt. So zeigt sich wiederholt, dass Trennungen und Scheidungen die gefährlichsten Phasen im Leben von Frauen darstellen, da zahlreiche Gewalttaten gegen Frauen – auch in diesem Jahr – genau zu ebendiesen Zeitpunkten verübt wurden.
Wenngleich die häufigsten Mittel der männlichen Gewaltanwendung 2020 (Küchen-)Messer und Schusswaffen sowie körperliche Gewalt darstellten, reichten sie von einem Fondue-Spie , einem Sparstrumpf über Schwerter, Schnitzelklopfer, Golfschläger, Pfefferspray, Schraubenzieher, Macheten bis hin zu Schuhlöffeln, Lattenroststangen oder Äxten und Hundeleinen. Ebenso unterschiedlich sind die beruflichen und sozialen Hintergründe der Täter, zu denen neben (hochrangigen) Polizisten oder (Polizei-)Ärzten u.a. auch Gastwirte, Köche, Lehrer, Bankmanager, Feuerwehrmänner, Politiker, Busfahrer oder (einfache) Jugendliche zählten. Entgegen hegemonialer Vorstellungen findet männliche Gewalt in allen Berufsgruppen statt und wird mit allen möglichen und vorhandenen Mitteln von Männern ausgeübt. Durch den Ausbruch von Covid-19 zeigte sich zudem spätestens ab Mitte März 2020, dass zahlreiche Taten in direktem Zusammenhang mit der Pandemie oder den Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung standen.
Wenn wir im Folgenden Bezug auf die in Österreich von Männern verübten Gewalttaten nehmen, verzichten wir darauf, diese im Konjunktiv zu beschreiben und von Unschuldsvermutungen oder ‚mutmaßlichen‘, ,vermeintlichen‘ oder ,angeblichen‘ Tätern zu schreiben – auch wenn entsprechende strafrechtliche Verurteilungen zumeist (noch) nicht gegeben waren oder bis heute nicht sind. Wir haben diese aus mehreren Gründen nicht weiterverfolgt oder recherchiert. Weder schenken wir der Berichterstattung, die unsere zentrale Informationsquelle darstellt, kritiklos Glauben, noch vertrauen wir der Polizei und Justiz, geschlechtsbezogene Gewalt als das zu erkennen, was sie ist, und sie innerhalb des bestehenden Rechtssystems adäquat bestrafen zu können. Nicht zuletzt wissen wir, dass Bestrafungen oder auch die Androhung selbiger Täter nicht davon abhält, anderen Menschen Gewalt anzutun, und entsprechend sehen wir den Handlungsbedarf auch und vor allem an anderer Stelle. Insofern ist es für unser Projekt irrelevant, ob und wer rechtlich belangt wurde oder nicht, und so werden Verurteilungen ebenso wie Freisprüche nur dann erwähnt, wenn sie Thema der gesammelten Berichte sind. Wir setzen die beschriebenen Taten als gegeben, denn selbst wenn sich eine dieser unzähligen ungeheuerlichen Geschichten als unwahr herausgestellt hätte oder ein Täter – aus welchen Gründen auch immer – freigesprochen worden wäre, können wir uns sicher sein, dass die erwähnten Taten auf ähnliche Art und Weise in anderen Kontexten von Männern verübt wurden (und lediglich von der Berichterstattung unerwähnt blieben). Sie fungieren somit als Ausgangspunkt unseres Texts, den wir mit der Intention verfasst haben, männliche Gewalt und patriarchale Verhältnisse sichtbar zu machen und zu benennen. Es geht uns dabei weniger um die individuellen Vorfälle, als darum, die hohe Frequenz, Brutalität und Systematik, mit der die Taten vollzogen werden, aufzuzeigen.
In unserem Text verzichten wir weitgehend darauf – wie in der österreichischen Berichterstattung zumeist üblich –, die in den Reisepässen angegebenen Staatsbürgerschaften oder sogenannten, ‚ursprünglichen Herkunftsländer‘ der Täter zu erwähnen, weil wir glauben, dass diese Informationen in erster Linie dazu dienen, Rassismus zu schüren und von den eigentlichen Problemen abzulenken. Alle in unserem Text erwähnten Täter teilen sich schließlich nicht den gleichen Geburtsort, sondern weisen eine andere, ganz zentrale Gemeinsamkeit auf: ihre Männlichkeit. Auch die hinter den Taten stehenden Legitimationsmuster wie die Vorstellung männlicher Überlegenheit, Dominanzansprüche, patriarchales Besitzdenken und Kontrollstreben, Selbstüberschätzung oder heteronormative Geschlechterrollen unterscheiden sich weniger im Hinblick auf Nationalitäten als auf gelebte und angestrebte Männlichkeitsbilder. So haben selbst Dschihadisten mit autochthonen Rechtsextremen mehr gemeinsam, als ihnen lieb ist.
Da die Berichterstattung, auf die wir Bezug nehmen, von einem binären Geschlechtersystem ausgeht und nur Männer und Frauen als geschlechtliche Identitäten anerkennt, haben wir diese Logik in unserem Text übernommen, auch wenn wir wissen, dass sich abseits dieser Positionen noch viele andere geschlechtliche Lebensentwürfe finden. Diesen Widerspruch, dass wir von den Gewalttaten aus jenen Medien erfahren, die geschlechtliche Vielfalt nicht berücksichtigen und es daher verunmöglichen, die jeweiligen Selbstbezeichnungen der Betroffenen adäquat wiederzugeben, konnten wir hier folglich nicht auflösen. Dennoch ist es nicht unsere Intention, dazu beizutragen, die Lebensrealitäten und insbesondere die Gewalterfahrungen von Lesben, intergeschlechtlichen, nichtbinären und trans* Personen unsichtbar zu machen. Vielmehr wollen wir dazu auffordern, beim Lesen des Texts immer mitzudenken, dass nicht alle von Gewalt Betroffenen sich in der Geschlechterdichotomie von Mann und Frau wiederfinden – auch wenn die jeweiligen Identitäten nicht immer explizit benannt werden (können).
Nicht nur die Gewalttaten selbst, sondern auch die Art und Weise, wie darüber auf orf.at berichtet wird, macht Teil unserer Auseinandersetzung aus. Neben den bekannten irreführenden und dadurch verharmlosenden Schlagwörtern wie ‚Bluttaten‘, die 26 Mal in der Berichterstattung vorkommen oder ‚Beziehungstaten‘, die fünf Mal erwähnt werden, ist die Häufigkeit, mit der orf.at von ‚Situationen‘ (34 Mal) oder ‚Streits‘ (145 Mal, davon zehn Familien- und vier Beziehungsstreits) schreibt, die ‚eskaliert‘ (39 Mal) seien, gelinde gesagt, auffallend. Gerade die Rede von ,Situationen‘ versucht vermutlich, Bewertungen und (vorschnelle) Einordnungen zu vermeiden, um dadurch vermeintliche (journalistische) Neutralität und Äquidistanz zu transportieren, die eine Teilschuld aller Beteiligten zumindest als möglich einräumt. Genau diese Darstellung blendet aber aus, dass diese ‚Situationen‘ nicht vom Himmel fallen oder ohne das Mitwirken bestimmter Personen entstehen. Dadurch wird schlichtweg verschwiegen, wer die eigentlichen Verursacher dieser Gewalttaten und -dynamiken sind, und unsichtbar gemacht, dass kein Verhalten oder Tun der Betroffenen es rechtfertigt, auf die in den gesammelten Beispielen veranschaulichte Art und Weise mit Gewalt zu reagieren. Dasselbe gilt auch für das in der Berichterstattung häufig wiederkehrende Erklärungsmuster, dass den Taten ein ‚Streit‘ vorausgegangen sei, obgleich auch Streitigkeiten keinen hinreichenden Grund darstellen, anderen Menschen Gewalt anzutun, sie zu verletzen, zu missbrauchen, zu bedrohen, zu demütigen oder im schlimmsten Fall zu ermorden. Nicht selten werden in der Berichterstattung den Perspektiven der Täter bzw. deren Erklärung ihrer Gefühle umfassend Raum gegeben, während die Perspektiven der Betroffenen oder ihrer Angehörigen ausgespart bleiben – und dadurch auch die zumeist fatalen Konsequenzen der Taten.
Sich selbst nicht als potentielle Betroffene dieser Gewalt zu sehen oder entsprechende Taten zu leugnen, kleinzureden und runterzuspielen, ermöglicht und erleichtert es vielen Menschen, sich zu distanzieren und nicht dort hinzusehen, wo es wehtut. Die hier in diesem Buch zusammengetragene Auswahl männlicher Gewalttaten übersteigt in vielerlei Hinsicht unsere Vorstellungskraft – in Hinblick auf die Grausamkeit, die Alltäglichkeit oder auch die Häufigkeit der Taten. Aber das ist gut so, denn nur, wo sich die Abstumpfung noch nicht gänzlich ausbreiten konnte und die Normalisierung noch nicht abgeschlossen wurde, besteht die Möglichkeit, in den Wunden dieser Gesellschaft zu bohren und die Unerträglichkeit in den Blick zu rücken.
In diesem Buch wollen wir daher nicht nur die männlichen Gewalttaten benennen und sichtbar machen, sondern auch (erklärende) Verbindungslinien zeichnen und zeigen, was Taten wie Täter mit Patriarchat, Sexismus, Misogynie und Männlichkeit zu tun haben.
Mit diesem Buch wollen wir aber auch zu einem oder mehreren Arschtritten ausholen, die die Perspektive hin zum Unerträglichen verschieben und längst überfällige Veränderungen dahingehend einleiten, (gewalttätigen) Männlichkeiten ihre konstitutiven Fundamente zu entreißen.

Wien, am Valentinstag 2022

 

Aus „Du Herbert“ von Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser

 

Leseprobe aus „Tagebuch einer Invasion“ von Andrej Kurkow

Seit 2014 herrscht Krieg in der Ostukraine. Die Menschen dort taumeln seit Jahren zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Trauer und Glaube an eine Zukunft in Freiheit. Mit dem Beginn des Angriffskrieges der russländischen Truppen im Februar 2022 verwandelten sich die schlimmsten Befürchtungen in Realität: Das Land, und damit seine Bewohner*innen und seine Unabhängigkeit stehen unter Beschuss. Was macht der Krieg mit den Menschen, über die er kommt? Wie geht es jenen, die Nächte in U-Bahn-Stationen verbringen, weil sie in ihren eigenen Wohnungen und Häusern nicht mehr sicher sind? Welches Vokabular eignen sie sich in Zeiten des Krieges an? Fragen wie diese haben Andrej Kurkow, den größten Schriftsteller der Ukraine, in den letzten Jahren dazu veranlasst, Tagebuch zu schreiben und damit jene Geschichten festzuhalten, die in den Kurzmeldungen keinen Platz finden.

23.2.2022
Anspannung, aber keine Panik
Seit drei Tagen klingelt mein Telefon ununterbrochen. Ein paar meiner alten Freunde, Ihor und Irina, riefen an, um mir zu sagen, dass sie mit dem Auto in die Karpaten unterwegs waren. Andere Anrufer wollten einfach nur wissen, ob ich glaubte, es würde Krieg geben, und dann wiederum, ob der Krieg meiner Meinung nach sofort oder erst in zwei Wochen ausbrechen würde. Dann wandte sich der russische Präsident in einer Fernsehansprache an das russische Volk, um seine Version der Geschichte Russlands und der Ukraine zu erklären und die Welt zu verändern.
Russland erkannte zwei nicht bestehende „Staaten“ auf ukrainischem Staatsgebiet an und unterzeichnete Freundschaftsverträge und Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit mit ihnen. Putin sagte, die „Grenzen“ zur Ukraine (also die Front) würden nun von der russischen Armee bewacht – was bedeutet, dass das russische Heer von nun an von ukrainischem Grund und Boden aus auf das Staatsgebiet der Ukraine schießen wird.
Sie fragen sich vielleicht: Was hat sich geändert? So einiges! Vor Putins „Umstrukturierung“ erwiderten ukrainische Truppen die Bombardierung durch Separatisten mit Feuerkraft. Wenn das ukrainische Militär nun auf den Beschuss durch russische Soldaten reagiert, wird man das den Russisch-Ukrainischen Krieg nennen müssen. Und die russischen Streitkräfte, die die Ukraine umstellt haben, können von jedem beliebigen Punkt aus entlang der Grenze mit Russland und Belarus ins Staatsgebiet einmarschieren. Zum ersten Mal ist in Kyjiw die Anspannung spürbar. Dennoch ist bislang keine Panik ausgebrochen. In der Nähe meines Hauses legt das libanesische Restaurant „Mon Cher“ eine Sommerterrasse – schließlich hatten wir in diesem Jahr einen sehr kurzen meteorologischen Winter. Der Frühling ist da und die Temperaturen sind auf 13°C bis 14°C gestiegen. Die Sonne scheint, die Vögel singen und von Westen her rollen Militärfahrzeuge und Krankenwagen die Straße entlang. Sie passieren Kyjiw und fahren gen Osten weiter.
Ich erinnere mich noch, als 2014 gepanzerte Mannschaftstransportwagen und Militärfahrzeuge ebenfalls aus der Westukraine in den Osten fuhren, während zerstörte Panzer und ausgebrannte Panzerwagen auf Traktoren zurückgebracht wurden. Jetzt geht der Transport rein Richtung Osten. Dafür gibt es eine andere Ost-West- Bewegung. Geflüchtete aus Stanyzja Luhanska, einer Stadt direkt an der Front in der Nähe von Luhansk, haben es nach Charkiw geschafft. Bisher sind es nur ein Dutzend Menschen. Sie ließen ihre Wohnungen und Häuser zurück in der Erwartung, dass bald nichts mehr von ihnen übrig sein würde. Sie überlebten die Jahre 2014 und 2015, als ein Drittel der Häuser in der 15.000-Einwohner-Stadt durch Artilleriebeschuss beschädigt wurde. Bis vor Kurzem lebten noch etwa 7.000 Menschen dort. Es lässt sich nur schwer sagen, wie viele jetzt noch übrig sind. Vor allem, nachdem eine Bombe der Separatisten in einem Kindergarten eingeschlagen war. Auf wundersame Weise kam dabei niemand ums Leben.
Und ich habe meine Zugfahrkarten verloren. Ich hätte am 2. März nach Sjewjerodonezk in der Oblast Luhansk fahren und mit dem Nachtzug am 4. März nach Kyjiw zurückkehren sollen. Jetzt werde ich nicht hinfahren.
Bis vor ein paar Tagen arbeitete ein Filmteam aus Kyjiw noch in einem halb verlassenen Dorf in der Nähe von Sjewjerodonezk, 16 km von der Front entfernt, an der Verfilmung meines Romans „Graue Bienen“. Vor etwa einer Woche wurde es vom Militär gewarnt, dass man jederzeit mit der Evakuierung beginnen könne. „Die Russen werden uns zwei Stunden Vorwarnung vor dem Angriff geben!“, erklärte ein ukrainischer Offizier dem Filmteam. „Macht euch also bereit!“
Iwanna Djadjura, die Filmproduzentin, regelte mit Fahrern vor Ort, dass sie sich im Falle einer Evakuierung bereithalten sollten. Diese „Versicherung“ kostete sie viel Geld. In der Gegend gibt es immer noch kaum Arbeit, aber die Menschen haben Autos. Es gibt Autos, aber keine Straßen. Genauer gesagt, es gibt keinen Asphalt. Eine Woche lang standen die Autos untätig herum, bis das Militär kam und zur dringenden Evakuierung aufrief.
Das Filmteam ist bereits wieder in Kyjiw. Sie hatten es nicht geschafft, die Dreharbeiten zu beenden. Sie werden einen anderen Drehort finden müssen – vielleicht in der Oblast Tschernihiw oder der Oblast Sumy, wo es viele verlassene oder halb geräumte Dörfer gibt. Diese Oblaste grenzen auch an Russland – und auf Russlands Seite der Grenze warten russische Soldaten. Wie lange wird es dort sicher genug für Dreharbeiten bleiben? Das kann keiner vorhersagen!
Ich mache mir keine Gedanken mehr um diesen Film. Seit Putins Rede denke ich über etwas ganz anderes nach. Immer wieder riefen mich Freunde an. Dann bekam ich einen weiteren Anruf, der mir die Angst nahm.
Die Lehrerin Larisa Alekseewna, die an der Kyjiwer Schule Nr. 92, zu der alle meine drei Kinder gegangen waren, Literatur unterrichtet, bat mich, am nächsten Tag eine Stunde zur Geschichte der Detektivromane zu halten. Diese Bitte kam völlig unerwartet und ich stimmte sofort zu. Der Unterricht lief sehr gut. Während ich über den Unterschied zwischen australischen, japanischen und britischen Kriminalgeschichten sprach, vergaß ich Russland, Präsident Putin und beider Verbrechen. Auch die Kinder schienen sich von Russland und einem möglichen Krieg ablenken zu lassen.
Auf dem Heimweg trank ich in einem Café eine Tasse Tee und aß eine Kleinigkeit. Ich schaute in die Gesichter der Menschen, um ihren Gesprächen zu lauschen, aber niemand unterhielt sich. Es herrschte fast vollkommenes Schweigen, während die Menschen ihren Kaffee tranken und ihre Brote aßen.
Ukrainische Politiker erheben ihre Stimmen nun mehr als gewöhnlich. Das Außenministerium appellierte an Präsident Selenskyj, die diplomatischen Beziehungen zu Russland zu beenden. Der ehemalige Abgeordnete und Aktivist Boryslaw Beresa forderte Selenskyj auf, in den Oblasten Luhansk und Donezk das Kriegsrecht auszurufen. Irgendetwas sagt mir, dass Präsident Selenskyj nichts dergleichen tun wird. Er hatte bereits offiziell erklärt, er hoffe immer noch darauf, einen großen Krieg in der Ukraine vermeiden zu können.
Ich würde seine Logik gern verstehen, aber bisher habe ich das noch nicht geschafft. Der Anführer der „Volksrepublik Lugansk“, die von Russland, Venezuela, Kuba und Abchasien anerkannt wird, forderte die Ukraine auf, die andere Hälfte der Oblast Luhansk, die nicht von Separatisten kontrolliert wird, „freizugeben“. Er will eine „Republik“ gründen, deren Fläche sich mit der der ukrainischen Oblast deckt. Der Führer der „Donezker Volksrepublik“ schweigt zwar für den Moment, hat in der Vergangenheit aber bereits damit gedroht, die gesamte Oblast Donezk von der Ukraine abzuspalten. Russlands Außenministerium erklärte, dass es beide „Republiken“ innerhalb ihrer derzeitigen Grenzen anerkenne, aber dass die Grenzen eines „Staates“ allgemein die Privatsache des „Staates“ selbst seien.
In dieser Aussage verbirgt sich ein zukünftiger Krieg, der aber nicht unmittelbar bevorsteht. Die Pause zwischen der Anerkennung der „Republiken“ und der Fortsetzung der russischen Militäroperationen gegen die Ukraine könnte zwei Wochen, aber auch drei Monate oder noch länger andauern. Alles hängt davon ab, wie die Welt auf diese Situation reagiert. Wenn die Reaktion deutlich ist und die neuen Sanktionen der Wirtschaft Russlands schaden, könnte sich die Pause sechs Monate lang hinziehen. Wenn sich die Reaktion aber als schwach herausstellt, dann wird der Krieg nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Russland verdient sich das Geld für diesen Krieg in Europa, indem es dort Öl und Gas verkauft. Das Land verfügt über enorme Finanzreserven, und nur Sanktionen, die weitere Geldhähne zudrehen, können Russlands Streben aufhalten, weiter in ukrainisches Staatsgebiet vorzudringen.
Während ich diese Zeilen schreibe, lese ich weiterhin den Newsfeed. Nun hat Putin erklärt, dass er die „Republiken“ innerhalb weitläufigerer Grenzen anerkennt als die Gebiete, die derzeit von den Separatisten kontrolliert werden. Und fast gleichzeitig sehe ich eine Erklärung Präsident Selenskyjs, dass er gerade einen Befehl zur Einberufung der Reservisten in die Armee unterzeichnet habe.
In den letzten Wochen sind viele Ukrainer zu Militärexperten geworden. Ich gehöre auch dazu. Ich weiß bereits, dass eine vorrückende Armee Soldaten im Verhältnis von zehn zu eins verliert. Das bedeutet, dass die Verluste unter denjenigen, die ein Gebiet verteidigen, zehnmal geringer sind als unter den Angreifern.
Bekannte haben mir einen Screenshot von einer russischen Website des öffentlichen Beschaffungswesens geschickt. Auf dem Bildschirmfoto steht, dass das Burdenko- Hospital, Moskaus wichtigstes Militärkrankenhaus, 45.000 Leichensäcke sucht. In der Ausschreibung wird der medizinische Begriff „pathologisch-anatomische Säcke“ verwendet. Diese Anzahl an Leichenhüllen entspricht fast genau den Aussagen eines ehemaligen russischen Generals, der meinte, Russland sei bereit, bei einer Militäroffensive in der Ukraine bis zu 50.000 Soldaten einzubüßen. Ich habe diesen Screenshot einem Freund weitergeleitet, der sich mit öffentlichen Beschaffungssystemen auskennt. „Das ist eine Fälschung“, schrieb er zurück. „Die haben schon lange Hunderttausende von Leichensäcken bereitstehen!“
Und da sehe ich beim Schreiben wieder eine Nachricht, dass Putin nicht nur die „Republiken“, sondern auch deren „Verfassungen“ anerkannt hat. In diesen „Verfassungen“ steht, dass die Staatsgebiete dieser „Republiken“ die gesamten Oblaste Donezk und Luhansk umfassen. In dem Moment, als ich diese Nachricht las, rückte der Krieg plötzlich viel näher.
Es ist jetzt schon viel schwieriger, sich von Gedanken über den Krieg abzulenken. Putin sprach schon wieder irgendwo und stellte der Ukraine und der Welt ein Ultimatum: Entweder erkennen die Welt und die Ukraine die Krim als Teil Russlands an und die Ukraine lässt für immer von ihrem Traum eines NATO-Beitritts ab, oder aber die russische Armee wird bis nach Kyjiw vorrücken.
Die ukrainischen Nachrichten sind bereits voll von Prognosen über russische Angriffe. Die „populärste“ davon besagt, dass Russland zunächst drei Städte angreifen wird: Charkiw, Kyjiw und Cherson. Ich gehe davon aus, dass Cherson von der Krim aus und Charkiw von der Oblast Belgorod in Russland aus angegriffen wird, aber von wo aus werden sie einen Angriff auf Kyjiw starten? Der kürzeste Weg nach Kyjiw führt für das russische Heer durch Belarus und die Sperrzone von Tschornobyl. Dort gibt es fast keine Straßen, dafür aber zahlreiche Sümpfe und Bäche. Tatsächlich stehen viele russische Panzer auf der belarussischen Seite der Grenze bereit. Satellitenbilder zeigten das russische Militär bei Übungen zum Bau von panzertauglichen Behelfs-Pontonbrücken über die Flüsse nahe der Ukraine.
Man kann unmöglich Putins nächste Schritte vorhersagen; man kann nur klar erkennen, welches Ziel er verfolgt. In seiner jüngsten Rede sagte er ausdrücklich, dass er die Ukraine nicht als unabhängigen Staat anerkenne. Für ihn ist sie ein Teil Russlands. Sein Ziel ist also, die Ukraine zu erobern und sie zum Föderationskreis Südwestrussland zu machen. Die Staatsduma kann die russische Verfassung innerhalb von zwei Stunden ändern, wie sie es bereits getan hat, um die Krim in die russische Verfassung aufzunehmen. Die gedankenlose ausführende Staatsmaschinerie Russlands ist bereit, jedweder von Putins Launen nachzugeben.
Und in der Ukraine betet man in sämtlichen Kirchen und Moscheen für den Frieden – das heißt, in allen außer den etwa 12.000 orthodoxen Kirchen des Moskauer Patriarchats, wo man immer noch für das Wohlergehen des russischen Patriarchen Kyrill I. betet. Andere Kirchen haben die „Moskauer Kirchen“ bereits gebeten, ebenfalls für den Frieden zu beten, aber das Moskauer Patriarchat schweigt sich aus.
2014, als das ukrainische Parlament eine Sitzung zum Thema Militäroperationen im Donbass abhielt, zu der Vertreter aller Kirchen und Konfessionsgemeinschaften eingeladen waren, wurde eine Schweigeminute zum Gedenken an die im Krieg gefallenen ukrainischen Soldaten eingelegt. Das gesamte Parlament stand dazu auf, mit Ausnahme der Vertreter des Moskauer Patriarchats. Sie blieben trotzig auf ihren Sitzen hocken. Dann weigerten sich die Priester des Moskauer Patriarchats auch noch, ukrainische Soldaten zu beerdigen, die im Krieg umgekommen waren. Dennoch steckte niemand ihre Kirchen in Brand oder versuchte gar, sie zu verprügeln.
Vor ein paar Tagen haben SBU-Beamte jedoch mehrere russische Agenten dabei erwischt, wie sie versucht haben, die Kirchen des Moskauer Patriarchats in Charkiw zu verminen. Die Agenten wollten die Bombenangriffe auf Kirchen zu einem weiteren Casus Belli machen.
Es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als Krieg. Selbst die Coronavirus-Pandemie scheint nun zu etwas Gewöhnlichem und Verständlichem geworden zu sein. Einen Krieg kann man jedoch weder verstehen noch hinnehmen.
Die Ukrainer leben aber weiter wie bisher. Gestern blieb ich vor einem modernen Hipster-Barber-Shop stehen. Dort wurden zwei Kunden die Bärte gestutzt, während ein dritter an der Bar wartete und einen Whisky trank. Unterdessen landete ein mit Waffenlieferungen aus Kanada beladenes Transportflugzeug auf dem Flughafen von Kyjiw. Die neue Realität in der Ukraine übertrifft meine schriftstellerische Vorstellungskraft bei Weitem. Ich kann nicht sagen, dass sie mir gefällt. Aber ich akzeptiere sie.
Zwischenzeitlich haben meine alten Bekannten Ihor und Irina angerufen, die mit dem Auto in die Karpaten gefahren waren, um dem Krieg zu entfliehen. Sie erzählten mir, sie überlegten nun, über Polen nach Litauen weiterzufahren. Sowohl Polen als auch Litauen sind zuverlässige Verbündete der Ukraine und werden, falls erforderlich, nicht nur Ihor und Irina, sondern Hunderttausende weiterer Ukrainer willkommen heißen. Ich hoffe nur, das wird nicht notwendig werden.

24.2.2022
Letzter Borschtsch in Kyjiw
Zwischen Telefonaten bereitete ich gestern Abend für ein paar Journalisten, die zu Besuch gekommen waren, Borschtsch zu. Ich hoffte, Putin würde unser Abendessen nicht stören. Das tat er auch nicht. Er beschloss stattdessen, am nächsten Morgen um 5.00 Uhr Raketen auf die Ukraine abzufeuern. Auch im Donbass brach der Krieg aus und es gab Angriffe auf andere Ortschaften, darunter einen aus Belarus.
Jetzt befinden wir uns im Krieg mit Russland. Aber die U-Bahn in Kyjiw fährt wie gehabt und die Cafés haben geöffnet. Gerade wurde berichtet, dass die Ukraine sämtliche diplomatischen Beziehungen zu Russland abgebrochen hat. Seit Kriegsausbruch hat die ukrainische Armee bereits sechs russische Flugzeuge und zwei Hubschrauber abgeschossen. Es ist eindeutig, dass wir auch bereits große Verluste erlitten haben. Wenn sich die Lage vor dem Angriff durch Russland noch täglich änderte, dann wandelt sie sich nun stündlich. Aber ich werde bei Ihnen bleiben und weiterhin für Sie schreiben, damit Sie wissen, wie die Ukraine während des Krieges mit Putins Russland weiterlebt. Bleiben Sie sicher, wo immer Sie sind.

1.3.2022
Es ist jetzt an der Zeit
Meine Bekannte aus Deutschland, eine Journalistin, kam heute auf keinem meiner beiden Mobiltelefone zu mir durch. Eine automatische Stimme sagte ihr: „Diese Rufnummer ist nicht vergeben.“ Das Internet funktionierte aber und so konnten wir schließlich per Zoom eine Verbindung herstellen und uns unterhalten. Nach unserem Gespräch blieb mir dieser Satz, „Diese Rufnummer ist nicht vergeben“, im Gedächtnis und dann sah ich auf Facebook, dass meine Bekannte, die im Außenministerium der Ukraine arbeitet, sich ebenfalls darüber beklagte, dass niemand aus dem Ausland sie erreichen konnte. Wir müssen nun also aufhören, uns von solchen Dingen überraschen zu lassen. Solange es mich gibt, gibt es auch meine Rufnummer.
Jetzt leben wir bei Freunden in der Westukraine. In der Nähe verläuft eine Straße, die zur ungarischen Grenze führt. Viele Autos fahren diese Straße entlang. Manchmal halten sie an und der Fahrer und die Passagiere steigen aus, um sich zu strecken. Indische und arabische Studierende fahren oft alte Autos. Sie tun mir schrecklich leid. Ich weiß, dass viele von ihnen aus Charkiw, Dnipro oder Sumy hergereist sind, wo viele von ihnen Medizin und andere Fächer studieren. Es sind Studierende, die in diesem Sommer ihre Universitätsdiplome hätten erhalten sollen. Was wird aus ihnen werden? Was wird aus ihrer Zukunft werden? In erster Linie geht es aber ums Überleben! In Charkiw wurde vor ein paar Tagen ein Student aus Indien bei der Explosion einer russischen Rakete getötet. In der Nähe von Kyjiw schossen russische Soldaten auf ein Auto, in dem ein israelischer Staatsbürger saß. Auch er kam ums Leben.
Für mich ist dieser Krieg bereits jetzt ein „Weltkrieg“. Meine Frau und ich machen uns Sorgen um unsere befreundeten Nachbarn aus Kyjiw, ein französisch-japanisches Paar. Er ist ein ehemaliger französischer Diplomat, 85 Jahre alt; seine Frau ist eine japanische Künstlerin. Sie waren schon immer in Kyjiw und die Ukraine versessen und wollten ihren Lebensabend hier verbringen. Sie kauften sich eine Wohnung in der Nähe der Oper; von ihrem Fenster aus kann man die majestätische Wolodymyrkathedrale sehen. In den ersten Tagen des Krieges, als man Kyjiw noch mehr oder weniger problemlos verlassen konnte, wollte unser französischer Freund sein Zuhause einfach nicht aufgeben. Als die Bomben dann ununterbrochen auf Kyjiw niederregneten, bekam es seine Frau mit der Angst zu tun und wollte so schnell wie möglich fliehen. Ich telefonierte mit ihm, überredete ihn, dass sie schlicht gehen mussten. Schließlich haben sie sich zum Aufbruch entschlossen. Sie haben ein Auto, aber nicht genügend Benzin im Tank. Mindestens eine Strecke aus Kyjiw heraus ist sicher – die Richtung Odessa. Am anderen Ende warten dort keine russischen Truppen. Ich weiß, dass sie geflohen sind, aber sie hätten mit einem von den Vereinten Nationen organisierten Konvoi fliehen sollen. Wir wissen noch nicht, wohin sie letztendlich gegangen sind.
In den letzten Tagen sind unsere Nächte sehr kurz geworden. Ich trinke hundert Gramm ukrainischen Cognac vor dem Zubettgehen und schlafe gegen 1.00 Uhr morgens sofort ein. Dann wache ich mehrmals auf, um zu lesen, was es Neues gibt. Dann stehe ich wieder auf, lese mir die Nachrichten sorgfältiger durch, und fange an, meine Freunde anzurufen. Eine meiner Kolleginnen, eine gute Freundin, ist in Melitopol gelandet, das von der russischen Armee besetzt wird. Sie hockt in ihrer Wohnung und verlässt sie nicht. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Sie e-mailt mir ab und zu. Manchmal funktioniert ihr Telefon nicht. Aber dann kommt wieder ein Lebenszeichen.
Ein weiterer Freund, ein Museumsdirektor, hat es heute nicht geschafft, den Zug nach Lwiw zu nehmen. Er hatte versucht, seine halb gelähmte 96-jährige Mutter aus Kyjiw zu retten. Er fuhr sie zum Bahnhof und sie fanden ihren Waggon, aber selbst mit Fahrkarten durften sie nicht in den Zug einsteigen. Die Schaffner sagten, Fahrkarten seien jetzt unwichtig geworden, heute dürften nur Mütter mit kleinen Kindern mitfahren. Von Kyjiw verkehren noch Züge in den Westen der Ukraine. Die Menschen steigen ohne Fahrkarten in die Bahn. Wer es in den Waggon geschafft hat, wird zum Passagier. In jedem Abteil sind sieben- bis achtmal mehr Personen, als es Sitzplätze gibt.
Im Februar 1919 geschah bereits etwas Ähnliches, als die Bolschewiki in Kyjiw einfielen. Damals bombardierten sie das Kyjiwer Stadtzentrum und töteten dabei alle, die ihnen über den Weg liefen. Jetzt wiederholt sich die Geschichte. Die Truppen des sowjetischen Patrioten Putin haben Kyjiw umzingelt, aber sie können die Stadt nicht einnehmen. Sie wird bis aufs Äußerste verteidigt. Und die Zivilbevölkerung versteckt sich entweder in ihren Wohnungen, versucht, die Stadt mit den verfügbaren Transportmitteln zu verlassen, oder tritt der Territorialverteidigung bei, um ihre geliebte Heimatstadt zu verteidigen.

Aus „Tagebuch einer Invasion“ von Andrej Kurkow

Leseprobe aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas

Linda Biallas ist Feministin, Mitte Zwanzig und steckt im Studium als sie ungeplant schwanger wird. Der Freund trennt sich, noch bevor das Baby geboren ist: nicht bereit, Vater zu sein. Heute arbeitet Linda als Sozialarbeiterin in Berlin. In ihrem Buch „Mutter, schafft“ schreibt sie über Ungleichheit und Erziehungsmodelle, Care- und Beziehungsarbeit und bohrt mit dem Finger in den Wunden unserer Gesellschaft, bis wir den Schmerz so richtig spüren!

Herzlich willkommen in der Mutterrolle, bitte geben Sie Ihre persönlichen Interessen an der Kreißsaaltür ab

Zu der Herausforderung, Mutter zu werden, trug auch bei, dass es in Deutschland nicht üblich ist, gleichzeitig Mutter und finanziell unabhängig und junge Frau mit Freizeitinteressen zu sein. Mutterschaft bedeutet in Deutschland Ehe, klassische Rollenverteilung, beruflich vorher etwas erreicht haben, weil das als Frau mit Kind nicht mehr geht.
Die Idee von Mutterschaft hängt damit zusammen, einiges aufgeben zu müssen: Autonomie, eigene Interessen, Freizeit. Rückblickend denke ich, dass ich mit Mitte 20, als ich zum ersten Mal Mutter wurde, wirklich gedacht habe, dass man dann mit Mitte 30 bereit dafür sein würde, mehr Kompromisse für die Mutterschaft zu machen. Aber ich bin auch jetzt mit Mitte 30 nicht dazu bereit, so viel von meinen persönlichen Interessen zu opfern, weil es so wenig Raum dafür gibt, etwas anderes zu sein als „nur Mutter“.
Mutter zu werden, bedeutet nicht nur, ein Kind zu gebären und danach plötzlich einfach so Mutter zu sein – genauso wenig, wie bei Co-Müttern, also Müttern, die ohne Liebesbeziehung gemeinsame Elternschaft leben, oder Müttern von Pflegekindern, Müttern, die ein Kind adoptiert haben, Patchworkmüttern nur der rechtliche Status, der Verwaltungsakt der Moment ist, in dem die Mutterschaft beginnt oder der die Mutterschaft ausmacht.
Mutter zu werden, kann ein längerer Prozess sein, eine Auseinandersetzung mit sich selbst, den Erfahrungen der eigenen Kindheit, den Erfahrungen mit den eigenen Eltern. Diese Auseinandersetzung mit der Mutterrolle kann in verschiedenen Konstellationen schon vor der Geburt, vor der Adoption, vor dem offiziellen Muttersein beginnen. Ich stelle mir immer wieder vor, dass Frauen, die geplant schwanger werden, bestimmt schon vorher überlegen, wie sie leben wollen, wie sie arbeiten wollen, wie das Kinderzimmer eingerichtet werden soll. Bei mir war das nicht so. Mir war vorher auch gar nicht so richtig klar, was und vor allem wie viel ich erfüllen sollte, um als gute Mutter zu gelten. Ich hatte eine grobe Vorstellung davon, dass gute Mütter nur Wolle-Seide-Bodys kauften, natürlich voll stillten, Brei immer frisch selbst kochten, also viel mehr dünsteten, und zwar Biogemüse, na klar. Außerdem würden sie immer gerne vorlesen und nie den Fernseher anmachen, den ganzen Tag Lust haben, mit dem Kind zu spielen, und vieles mehr.
Mutter zu werden, bedeutet in jedem Fall, dass so einiges erledigt werden muss. Also habe ich Babykleidung und Möbel akquiriert, mich informiert über das Stillen und über Milchnahrung und darüber, welche Themen aus dem Bereich Kinderkriegen der Esoterik zuzuordnen sind und nicht der Wissenschaft (Blähungen durch Ernährung der Mutter, Bernsteinketten gegen Zahnschmerzen, Aromatherapie bei der Geburt). Ich habe aufgehört zu rauchen und zu trinken und versucht, irgendwie den Entwicklungsschritt von der Studentin, die sich für Politik, Partymachen und Ausschlafen interessiert, zur alleinerziehenden Mutter, die plötzlich nicht nur für sich selbst verantwortlich ist, zu bewerkstelligen.
Ich habe mich nicht nur gefragt, ob mein Kind im ersten Lebensjahr Zucker essen darf, ab welchem Zeitpunkt ich wie viel Medienkonsum gut finde, wie sich meine Perspektive auf meine eigene Kindheit durch die Mutterschaft verändern würde, sondern mir auch Fragen gestellt, die nicht nur im Persönlichen beantwortet werden können, sondern die Art und Weise betreffen, wie wir leben und wirtschaften: Warum soll ich in der Familie so viel Care-Arbeit alleine machen? Warum soll ich das gerne machen müssen? Weil ich eine Frau bin? Weil die Trennung von Lohn- und Care-Arbeit und die Festlegung von Care-Arbeit als unbezahlte Ressource, die aus Liebe absolviert wird, ein unveränderbarer Fakt ist? Mir war nicht klar, dass es diese „Vereinbarkeit“, von der immer die Rede ist, eigentlich gar nicht so richtig gibt.
Die klassische Geschlechterrolle für Mütter ist die Mutterrolle, und die funktioniert, sehr vereinfacht gesagt, so: Mutti opfert sich gerne ohne Gegenleistung für die Kinder auf, aus Mutterliebe, weil sie so selbstlos ist, so sind Frauen eben. Die Karrierenachteile (wobei die klassische Mutterrolle eigentlich noch nicht einmal eine Arbeitstätigkeit von Müttern vorsieht), die Belastung durch die Second Shift nach der Lohnarbeit in Form von die Kinder von der Kita abholen und beschäftigen, den Haushalt alleine schmeißen, dann die Altersarmut, all das nimmt sie gerne in Kauf, die Mutter, denn das Lächeln der Kinder macht alles wieder gut. Sie macht das nicht fürs Geld, das wäre kaltherzig und irgendwie materialistisch, so sind Mütter nicht. Ganz so, als würden Mütter im Unrecht sein, wenn sie sich sichere finanzielle Verhältnisse wünschten, obwohl sie natürlich durch Schwangerschaft, Wochenbett, Stillzeit weniger an der Lohnarbeit partizipieren können. Dabei ist es eigentlich andersherum: Das kapitalistische System, in dem wir leben, hat sehr viel mit der Art, wie die Mutterrolle angelegt ist, zu tun und „die Wirtschaft“ profitiert davon, dass Frauen neue Arbeiterinnen und Arbeiter gebären und sie im Prinzip nix dafür zurückgeben muss. Kinder zu bekommen, gilt praktischerweise als private Entscheidung in der Familie, in der dann die idealtypische Aufteilung vorherrschen soll: Vater – Lohnarbeit. Mutter – Care-Arbeit.
Der Zeitpunkt und die Konstellation, in der ich Kinder bekommen habe, entsprechen nicht der klassischen Vorstellung darüber, wann und wie Leute Kinder bekommen. Mutter zu werden, das war für mich höchstens ein Vielleicht, ein Irgendwann. Eigentlich hatte ich so gut wie nie drüber nachgedacht, ob ich überhaupt einmal Kinder bekommen wollte und wie das dann sein sollte. Deswegen hatte ich bis dahin auch kaum Anlass, mich in Bezug auf mich selbst damit auseinandersetzen zu müssen, was Mutterschaft für mich bedeuten könnte, und vor allem hatte ich kaum Anlass dazu, mich mit der riesigen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an (werdende) Mütter auseinanderzusetzen. Noch nicht einmal in dieses „Kinder kriegen will ich schon irgendwann später mal“, von dem viele Freundinnen sprachen, stimmte ich mit ein, so wenig relevant war das Thema in meinem Leben.
Das erklärt ein Stück weit, weshalb meine Mutterschaft ein riesiger Entwicklungsschritt für mich war. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es auch Frauen, die die Mutterschaft geplant haben, überrascht und erschreckt, mit welcher Vehemenz die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter herangetragen werden, und wie eng der gesellschaftliche Rahmen für Mütter gesteckt ist. Mutter zu werden, heißt nicht nur, sich die eigenen emotionalen, die pädagogischen, die zwischenmenschlichen Fragen zu stellen. Mutter zu werden, heißt auch, sich mit der übergroßen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Mütter auseinandersetzen zu müssen.
Meine damalige Beschäftigung mit Feminismus und der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft hat mich nicht darauf vorbereitet, was für einen krassen Einschnitt das Mutterwerden im Leben einer Frau darstellt und was es in unserer Gesellschaft für einen „Rückschritt“ darstellt in Bezug auf „Frauen können alles erreichen“. Das hängt auch damit zusammen, dass es wenig Kontinuitäten im Feminismus gibt. Nicht nur gibt es unterschiedliche Theorien und Schwerpunkte, sondern jede Generation Frauen entdeckt den Feminismus immer wieder ein Stück weit neu. Lange Zeit hatte Feminismus einen schlechten Ruf, es war nicht erstrebenswert, Feministin zu sein. Das ist nicht mehr so, aber der Feminismus, der heutzutage medial präsent und sexy ist, speist sich weniger aus der feministischen Theorie, dafür umso mehr aus der marktbezogenen Nutzbarmachung eines popkulturellen Feminismus. Eine verwässerte feministische Botschaft, gedruckt von ausgebeuteten Frauen auf ein „Made-in-Bangladesh“-T-Shirt.
Frauen entdecken Feminismus meist dann für sich, wenn sie ihn brauchen, und als Mutter erwächst da eine besondere Dringlichkeit. Dass man sich mit Anfang  20 noch nicht für die Lage von Müttern, insbesondere alleinerziehenden Müttern interessiert, ist logisch. Die Zeit, in der man selbst ein Teenager war und Eltern langweilig, uncool und uninformiert fand, ist noch nicht lange her. Selbst Kinder zu bekommen, erscheint verdammt fern am Horizont. Rückblickend fand auch ich wohl mit den Zusammenhang zwischen der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft und der Mutterschaft kein ergiebiges Thema, weil es keine so naheliegende Idee ist, dass Frauen, die als Mütter durchschnittlich alle älter sind als man selbst, aufgrund ihrer Lebenslage „unterdrückter“ sind, weniger Wahlfreiheit haben. Das Erwachsenwerden funktioniert doch von der Jugend bis zum Ende der Ausbildung so, dass man immer mehr Autonomie und finanziellen Spielraum dazugewinnt. Ich hatte mich mit Sexismus beschäftigt, Simone de Beauvoir gelesen, fand erschreckend, wie weitverbreitet Gewalt gegen Frauen ist, und war persönlich nicht daran interessiert, aufgrund meines Geschlechts gesellschaftlich einer untergeordneten Position zugeordnet zu werden.
Die Geschlechterrolle „Frau“ ist bereits eine Zumutung, aber die Mutterrolle stellt handfeste Grenzen auf. Wie schwierig die Lebenslage von Müttern sein kann und was das mit Patriarchat und Kapitalismus zu tun hat, das war mir nicht klar, bevor ich selbst Kinder hatte. Und ich war geschockt. Sehr geschockt, dass man als Mutter so derartig im Stich gelassen werden kann, ohne jegliche Konsequenz für den Vater, der keinen Unterhalt zahlt und so gut wie nie das Kind betreut. Weil sich ab und zu um das Kind zu kümmern zwar insofern schön ist, als dass wenigstens ein bisschen Vater-Kind-Bindung entsteht, aber es für die Mutter wegen der fehlenden Planbarkeit keine Entlastung in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Zudem ist es eine zusätzliche Belastung, bis zur letzten Minute nicht zu wissen, ob ein Treffen stattfindet: sich mental darauf vorzubereiten, den Expartner zu treffen, Freizeitaktivitäten spontan absagen zu müssen, weil er doch nicht kommt, all das neben den ganzen anderen Stressoren, wie Armut, Stigma oder Überlastung, die das „So-richtig“-alleinerziehend-Sein mit sich bringt.
In so eine Situation können Männer einen einfach so bringen, und es gibt kein Instrument, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Sich nicht um die eigenen Kinder zu kümmern, keine Verantwortung für die Familie zu übernehmen, passt in das Bild, das wir uns von Vätern in dieser Gesellschaft machen. Am allerschlimmsten sind die Leute, die die Empörung darüber gar nicht verstehen, die irritiert sind: Als Mutter sei es doch sowieso unsere Aufgabe. Man hätte das Kind ja nicht bekommen müssen, wenn man sich jetzt nicht darum kümmern will. 50:50-Elternzeit? Völlig übertriebene Anspruchshaltung! Durch eine Schwangerschaft tun sich jede Menge Themen auf, sowohl die persönliche, die individuelle Entwicklung betreffende als auch Themen, die die eigene Position in der Gesellschaft und den Umgang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betreffen.
Durch meine Schwangerschaft hat sich mein ganzes Leben verändert. Formell betrachtet ist bei mir alles gut gelaufen. Gesunde Mutter, gesundes Kind. Keine Komplikationen, keine Geburtsverletzungen. Aber jede Geburt ist ein einschneidendes Erlebnis. Ich hätte jemanden gebraucht, der in meinem Team ist, auf den ich mich in diesem vulnerablen Moment verlassen kann. Die Geburt meines Sohnes war mein erster großer „Das-war-verdammt-hart-und-ich-habe-das-allein-geschafft,-weilich-es-schaffen-musste“-Moment. Fast ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie das Leben als alleinerziehende Mutter werden würde.
Für mich war völlig klar, dass ich mein Studium abschließen wollte, dass ich es abschließen musste. Und weil ich nicht wusste, dass allgemein üblich ist, dass gute Mütter mindestens ein Jahr Elternzeit machen, in Westdeutschland besser drei, und Väter höchstens, wenn überhaupt, die zwei danach benannten Vätermonate, habe ich nur ein Urlaubssemester lang Elternzeit gemacht. Zum nächsten Semester, als mein Kind acht Monate alt war, habe ich mir dann einen Praktikumsplatz für das anstehende fünfmonatige Praxissemester, das in meinem Studiengang Pflicht war, besorgt. „Ist ja nicht nur mein Kind“, dachte ich, und fand es völlig selbstverständlich und normal, dass der Vater die zweite Hälfte der Elternzeit machen würde. Dem war dann leider nicht so. Kurz vor Beginn meines Praxissemesters hat er mir mitgeteilt, dass er den Kleinen nicht betreuen würde können oder wollen. Wie sollte ich nun das Praxissemester machen, ohne das ich meinen Hochschulabschluss nicht bekommen würde? Und wie sollte ich ohne Abschluss genug Geld verdienen, um für mich und mein Kind zu sorgen? Fragen, die sich der Erzeuger in unserer Gesellschaft offenbar nicht stellen muss.
Care-Arbeit, also das notwendige Sich-um-jemanden-Kümmern, zum Beispiel in Form von Pflege, Erziehung, Hausarbeit, bleibt meistens an Frauen hängen. Nach der Geburt des ersten Kindes findet in bürgerlichen Heterokleinfamilien in der Regel die sogenannte Retraditionalisierung statt, bei der plötzlich die klassischen Geschlechterrollen und Zuständigkeiten in der Familie gelebt werden, die für Frauen viel Selbstaufgabe und wenig Freiheit bedeuten.
Bei mir hat sich das trotz aller gesellschaftlichen Gegebenheiten, Institutionen, Gesetze, des Drucks und der Geschlechterrollen, die uns alle in diese Richtung drängen, dann anders weiterentwickelt, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen war einfach kein Partner da, der die klassische Vaterrolle hätte übernehmen können. Ich lebe nicht in einer traditionellen, bürgerlichen Kleinfamilie, weil ich gar nicht die Möglichkeit dazu hatte. Ohne Partner keine klassische Rollenverteilung. Und der andere Grund, warum ich mich nicht in einer traditionellen Kleinfamilie wiedergefunden habe, ist der, dass ich von vornherein wenig Interesse daran hatte, weil ich den Deal der klassischen Rollenverteilung in der Heterokleinfamilie von Anfang an absolut ungerecht fand.

Aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas