„Da gibt es kein Entkommen!“ – Autor Thomas Raab im Interview

Der Metzger hat ja schon einiges erlebt. Aber dass ihn seine Danjela während ihrer Hochzeit kurz vor dem Ja-Wort stehen lässt und spurlos verschwindet, das zieht ihm wirklich den Boden unter den Füßen weg. Auf der verzweifelten Suche nach seiner Braut kommt der Metzger einem skrupellosen Familienclan in die Quere, trifft auf einen Kopflosen, der ihm Kopfzerbrechen bereitet, auf einen Schlägertrupp, der noch ganz anderes zerbrechen will, und wird der persönliche Engel des Elefantenbullen Charlie.
Des Metzgers Schöpfer, Autor Thomas Raab, hat seiner Lektorin Linda Müller mehr über die Arbeit am neuen Fall von Willibald Adrian und über das Verhältnis Raab-Metzger verraten.

Der Metzger begleitet dich mittlerweile seit vielen Jahren, seit dem letzten Band hat es aber eine längere Metzger-Pause gegeben. Habt ihr euch vermisst? Oder hat euch der Abstand gutgetan?

Beides. Es tut gut, jemanden zu vermissen, da spürt man dann erst, wie groß die Liebe ist. Gibt ja schließlich auch Leut’, die siehst du nie wieder, und es geht dir dabei genau nix ab.

Thomas Raab © Fotowerk Aichner

Auf jeden Fall vermisst haben den Metzger seine Leser*innen. Du hast ja bekanntlich einen sehr guten Draht zu ihm. Möchte er eventuell seine Leserschaft über dich grüßen?

Da will ich jetzt meiner Leserschaft nicht nahetreten, aber den Metzger unterscheidet etwas sehr Wesentliches von mir: Er legt auf Aufmerksamkeit keinen Wert, und nach diesem Abenteuer wird er froh sein, so gut untertauchen zu können wie nur möglich – wenngleich ich ihm, zugegeben, beim Untertauchen sehr gern zuschauen würde. Mal sehen, ob sich das einrichten lässt. Ich jedoch kann meine Leserschaft grüßen und mich aufrichtig für all die gemeinsamen Jahre bedanken. Ein Wunder ist das, so lang zusammen sein …

Grundsätzlich ist Willibald Adrian ja kein großer Freund von technischen Neuerungen, ich würde fast meinen, kein großer Freund von Veränderung generell. In „Die Djurkovic und ihr Metzger“ allerdings wird er unfreiwillig zum YouTube-Star. Kannst du uns verraten: Ist der Metzger jetzt Influencer?

… Maximal, wenn er die Grippe hat. Ansonsten denk ich, wünscht er sich eher einen Zusammenbruch des weltumfassenden Netzwerks, auf dass die unmittelbare Umgebung wieder enger an die Menschen heranrückt. Je näher das WWW, desto entfernter werden uns die eigenen vier Wände inklusive Insassen

Es ist, was es ist, sagt der Metzger. Doch dann läuft ihm die Braut davon. Danjela Djurkovic, Licht des Metzger-Daseins, kehrt ihrem Willibald den Rücken und türmt mit einem fremden Mann. Warst du beim Schreiben selbst schockiert und hast mitgelitten?

Nein, schockiert war ich nicht, weil mir ja sofort klar war: Die Danjela veranstaltet ein derartiges Schlamassel niemals aus Lieblosigkeit. Es muss also etwas Gravierendes dahinterstecken. Ja, und ab dann hab ich mit mir selber mitgelitten, denn die eigenhändig eingebrockte Suppe musste ich erst einmal auslöffeln, sprich herausfinden: Was war die Ursache?

Ein Thema, das deinen neuen Roman prägt, sind die Machenschaften von mafiösen Familienclans. Hat dich bei der Recherche etwas besonders überrascht?

Ja, im Grunde alles, denn was weiß man schon groß darüber? Und diesbezüglich hat mich die Aussage von David Ellero, Ex-Mafiabekämpfer bei Europol, am meisten erschüttert: „Die echte Organisierte Kriminalität ist jene, die niemand mitbekommt.“ Öffentlichkeit gibt es erst, wenn sich Clans intern bekriegen oder verschiedene Clans verschiedener Länder im Ausland aneinandergeraten, sich das Geschäft abgraben. Und das ist ein minimaler Prozentsatz.

Wir alle wissen: Nach dem Metzger ist vor dem Metzger. Ist es zu früh, um dich zu fragen, ob ihr beide schon über einen neuen Fall nachdenkt?

Eine schöne Frage, und in diesem Fall ziemlich einfach zu beantworten: Der nächste Fall ist eigentlich am Ende ziemlich aufgelegt, da gibt es kein Entkommen …

 

 

Erneut wirft Thomas Raab seinen Metzger mitten hinein in einen außergewöhnlichen Kriminalfall – und brilliert einmal mehr: wortwitzig, überraschend, klug, einfach genial!

Hol dir Die Djurkovic jetzt sofort in deiner Buchhandlung! Denn dass sie schneller weg sein kann, als einem lieb ist, weiß der Metzger am allerbesten … 

„Magst auf ein Bier gehen?“ Das wolltet ihr Franz Gasperlmaier schon immer sagen …

Jenseits der 50 (wie weit jenseits, verraten wir hier nicht, es wäre ihm wahrscheinlich nicht recht), Familienvater, Polizist. Zurückhaltend (man könnte sagen schüchtern, aber das wäre ihm wohl auch nicht recht), zuweilen mit einem ausgeprägten Talent fürs Ins-Fettnäpfchen-Treten. Ehrlich, denn mit dem Lügen ohne rot zu werden hat er so seine Schwierigkeiten. Hohe Geschwindigkeiten sind nicht seine Sache (auch nicht der Fahrstil der Frau Dr. Kohlross), wenn es aber notwendig ist und vor allem, wenn es um Menschenleben geht, kann er blitzschnell handeln. Das ist Franz Gasperlmaier, der seit 2011 acht Fälle gelöst und sich in eure Herzen ermittelt hat.

Wir haben euch in unserem Newsletter gefragt, was ihr Franz Gasperlmaier schon immer sagen wolltet. Und das war gar nicht wenig! Die Freude über die vielen Zuschriften möchten wir mit euch teilen, indem wir unsere Lieblingstexte hier versammelt haben. Einige von euch haben Franz Gasperlmaier beglückwünscht, andere beratschlagt, wieder andere hatten nur eine simple Frage, zum Beispiel Ludovico Lucchesi Palli:

Magst auf ein Bier gehen?

 

Ganz im Sinne von Franz’ Tochter wäre sicherlich das Anliegen von Brigitte Eibisberger, das dem Franz sicherlich zu denken geben wird:

Eigentlich bist du eh ganz in Ordnung, aber ein bisschen könntest du die Leute auch anregen, sich mehr Gedanken zu unserem Umgang mit Tieren zu machen. Du könntest ja mal einen Versuch starten und zumindest deine Ernährungsgewohnheiten ändern: weniger Fleisch und wenn doch, nur aus artgerechter biologischer Tierhaltung.
Das würde dir gesundheitlich auch gut tun!

 

Besonders viele von euch wünschen sich wie Beate Gesprägs vom Franz, dass er noch viele, viele Fälle löst:

Herr Gasperlmaier. Bitte, bitte machen Sie mit Ihrer Arbeit fleißig weiter, damit ich Sie immer schön mit meinen Augen Satz für Satz begleiten kann. Denn das ist das, was ich mir von Ihnen wünsche. Somit werden Sie nicht arbeitslos und mir ist weiterhin kurzweilig mit Ihnen. Ich baue auf Sie, weiterhin! Und natürlich: bleiben auch Sie weiterhin gesund!

 

Margit Bickel war mit einer Gasperlmaier-Aktion im neuesten Fall gar nicht einverstanden, hat dem Franz aber mittlerweile verziehen:

Ich mag den Franz wirklich, wirklich gern, aber die Aktion mit der Nachbarin im letzten Buch – das ist gar nicht in Ordnung. Das ist wirklich, echt schlimm. Und der Franz soll sich was schämen und da hat er viel kaputt gemacht.
Im ersten Moment hab ich überlegt, dass ich dem Franz nicht mehr begegnen will, aber jetzt guck ich alle 14 Tage, wann der nächste Band erscheint.

Auch Autor Herbert Dutzler hat seinem Ermittler etwas zu sagen: „Lieber Franz! Du musst mehr aus dir herausgehen, mehr reden, schneller reagieren, wenn dich jemand anspricht. Wenn du grübelst und nicht gleich antwortest, solltest du (vor allem Frauen) nicht so durchdringend anstarren. Sie kommen sich da gemustert und gewertet vor. Das kommt nicht gut an. Und du solltest vor allem mehr Sport treiben. Sonst nimmt das kein gutes Ende mit dir. Und, vor allem, hör auf deine Frau, wenn sie dir gute Ratschläge gibt!“ (Foto: Gisela Barrett)

Mit Autor Herbert Dutzler ist sich Manuela Pfleger einig, wenn es darum geht, auf wen der Franz hören soll:

Ich finde dich seit deinem Fall „Letzter Stollen“ toll, aber manchmal nervst du mich auch. Besonders dann, wenn du nicht auf deine Frau hörst. Ich freue mich aber immer wieder, wenn ich zusammen mit dir und deinem Team mitermitteln darf.

 

Einen ganz ähnlichen Tipp hat Hanna Halenka:

Auch wenn es dir nicht leicht fallen sollte, glaub mir, jede und jeder kann in jedem Alter noch vieles anders machen als ewig gewohnt. Also auch du! Setz dich einmal mit deiner Frau zusammen und redet lieb, aber ehrlich miteinander. Sie kennt dich besser als alle andren und wird dir sicher helfen können, ein paar von deinen weniger charmanten Gewohnheiten in den Fokus zu nehmen und dich noch erfolgreicher und zufriedener zu machen. Du weißt ja: Probleme gibt es keine mehr, sondern nur mehr Herausforderungen. Sagt man. Also nimm sie an, und alles Gute weiter für dich!

Charlotte Kandel hat, wie viele andere von euch, aufbauende Worte für den Franz:

Bleib so ehrlich wie Du bist, dann brauchst auch nicht mehr schüchtern sein. ‚Falsche‘ Menschen gibt’s genug.

 

Auch Elisabeth Giefing hat den Franz ins Herz geschlossen, und das ist ganz offenbar ansteckend:

Hallo Franz, seit deinem ersten Fall „Letzter Kirtag“ bin ich ganz vernarrt in dich 
soll heißen, dass ich deine Ermittlungen seither ganz genau verfolge und manchmal hab ich auch deinem „Ghostwriter“ Herbert gelauscht, wenn er aus der einen oder anderen Ermittlungsarbeit vorgelesen hat. Hab auch ein paar Freundinnen mit dem „Gasperlmaier-Virus“ angesteckt und sie sind quasi zu Stalkerinnen geworden – sie finden dich, sobald du in einer Buchhandlung auftauchst. Bitte, bitte mach weiter so!

 

Brigitte Wild hat einen wirklich guten Rat:

Nicht so schüchtern, trau dir zu sagen was dich bedrückt. Das würde dein Leben sicherlich erleichtern.

 

Ein bisschen strenger formuliert es Günter Stickler:

Franz, reiß dich endlich am Riemen!

 

Alfred Eder hingegen fasst sich kurz:

Du bist a wilder Hund!

Gasperlmaiers aktueller Fall: Letzter Jodler

Franz Gasperlmaier ist sich treu geblieben und hat sich trotzdem weiterentwickelt, ist über sich hinausgewachsen. Er hat spektakuläre Morde aufgeklärt, sei es im Volksmusikmilieu oder im Trachtenbusiness, er hat sich als Trommelweib verkleidet, um inkognito zu ermitteln, er hat Verbrecher per Boot, Auto und in Wanderschuhen verfolgt, er hat seine Kinder ein ganzes Stück älter werden sehen, er hat zwischenzeitlich abgenommen, aber dennoch nie den Appetit verloren.

Der Franz ist ja nicht unbedingt besonders technikaffin, aber wir versprechen, dass wir ihm zukommen lassen werden, was ihr zu sagen habt – und ganz bestimmt wird er seiner Frau davon erzählen. Vielleicht sogar der Frau Doktor Kohlross. Und wenn die beiden mit euch einer Meinung sind, und das sind sie sicher, dann wird es sich auch der Franz zu Herzen nehmen!

Hast du einen Fall verpasst? Hier geht’s zu allen Büchern von Herbert Dutzler!

Lydia Mischkulnig im Leserinnengespräch zu ihrem neuen Roman „Die Richterin“

Du hörst davon in den Medien, kennst vielleicht jemanden, der persönlich davon betroffen ist, oder bist es sogar selbst: In unseren Gerichtssälen wird darüber entschieden, ob Menschen im Land, in dem sie Zuflucht und Schutz suchen, bleiben dürfen – oder ob sie es verlassen müssen. Doch wie kommen diese Urteile zustande? Dieser Frage geht Lydia Mischkulnig mit psychologischem Tiefgang in ihrem neuen Roman „Die Richterin“ nach: Mit ihr tauchen wir in das Leben von Gabrielle ein, einer Asylrichterin – und damit in einen Berufsalltag, der uns sonst verschlossen bleibt.

Lydia Mischkulnig ist eine sprachmächtige Beobachterin. – Foto: Margit Marnul

Im Gespräch mit ihrer Leserin Heidi erzählt die Autorin von der Recherche für den Roman, von langen Stunden im Gerichtssaal, von ihren Gesprächen mit Betroffenen, von Afghanistan und blinden Flecken.

Mich würde sehr interessieren, wie Sie für diesen Roman recherchiert haben.

Das Thema Asyl, Flucht und Exil begleitet mich literarisch schon seit der Lektüre von Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ und von Jean Amérys „Jenseits von Schuld und Sühne“, dann seit den frühen Neunzigerjahren und seit Ceauşescus Hinrichtung, als nach dem Regimewechsel rumänische Kinder zu Gast in der Schule waren, die meine Mutter damals führte. Dann folgten schon die Sezessionskriege in Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda und im Iran, die Irakkriege und der afghanische Krieg, als die UdSSR eingriff, und schließlich die USA den Angriff auf das World Trade Center und den neoliberalistischen Brutalkapitalismus rächten. Irgendwann war mir klar: Das hört nicht auf – Flucht ist immer. Und nun gibt es auch vermehrt Fluchtgründe wegen des Klimawandels. So geriet ich mehr und mehr in die Thematik und schrieb Portraits, Aufsätze oder sogar Gedichte zur Existenz unter diesen grauenhaften Aussetzungen.
Das ist sozusagen Recherche, die man als LeserIn und StaatsbürgerIn des Alltags betreibt, ohne dass ich es richtig plane. Hinzu kommt dann das Interesse für Recht und die Sprache der Rechtsprechung und die philosophische Frage nach der Gerechtigkeit. Was bedeuten innerer Friede und Friede? Wie hängen die Begriffe zusammen?

Als dann 2015 die Flüchtlinge aus Syrien nach Europa kamen, war mir klar: Ich möchte auch wissen, was es heißt, im Asylwesen mitgestalten zu können. Wer sind all die AkteurInnen? Und schließlich interessierte mich der Gerichtssaal mit seiner interessierten Öffentlichkeit. Und diese Öffentlichkeit war ich selbst, in diese Rolle konnte ich mich begeben. Ich saß viele Monate dort und konnte Gespräche führen, sowohl mit HelferInnen und RechtsberaterInnen als auch mit den RichterInnen, ReferentInnen und Betroffenen.
Ich wechselte meine Perspektiven und irgendwann war mir klar, wie kompliziert die Lage ist und wie menschlich. Jeder Mensch hat das Recht auf ein Bleiben in Sicherheit. Aber was geschieht mit denen, die Sicherheit nicht einmal begreifen, sondern bedrohen? Jeder Fall ist speziell. Das erfuhr ich auf nationaler und internationaler Ebene. Es geht immer um das Individuum – und damit geht es um die Gesellschaft in ihrer Rechtskultur. Und immer ist dies zu diskutieren. Das verstehe ich unter einem demokratischen Prozess: Er ist nie zu Ende.

Wie erging es Ihnen mit juristischen Dokumenten, z. B. mit Ablehnungsbescheiden? Meines Wissens sind die ja sehr umfassend.

Ich habe mich vor allem durch die Länderdokumentationen durchgearbeitet. Bescheide, Erkenntnisse gelesen, Protokolle studiert und vieles, sehr vieles ist öffentlich zugänglich und man findet sogar Material im Internet. Es gibt auch Rechtsliteratur zum Fachlichen, diese habe ich in vielen Gesprächen erörtert und kundige ExpertInnen in Diskussionen befragt. Es war mir total wichtig, zu verstehen, was diese nüchterne, distanzierte Sprache bedeutet. Und das geht nur über das Gespräch und die Einbeziehung von Befindlichkeit und Einstellung zum Thema, zu einem Gesetzestext. Ich habe gelernt, dass Recht gelebt werden muss. Und die Frage ist: Wie? Deshalb kann keine Maschine je eine menschlich-richterliche Instanz ersetzen. Es ist ungeheuerlich, einen negativen Bescheid zu lesen. Es ist auch ungeheuerlich, einen positiven zu lesen. Das Bewusstsein darüber, dass es sich immer um ein menschliches Schicksal handelt, macht einen gewaltigen Druck auf Geist und Psyche.

Inwieweit kennen Sie Kabul selbst?

Ich war nie dort. Ich werde aber eines Tages dort sein. Ich weiß von dieser Stadt seit 1979, seit dem Einmarsch der Sowjets. Und ich kenne die Fotos davon. Unerlässlich sind die anderen Blicke, die ich zum Beispiel von einem der angesagtesten PhilosophInnen und befreundeten Zeitgenossen Fahim Amir einholen durfte. Er stammt aus Kabul und hat dort auch Familie. Auch er hat mir diese kriegsgebeutelte Stadt in vielen Gesprächen näherbringen können. Und ich kenne Leute des Internationalen Roten Kreuzes, die dort vor Ort gelebt haben. Sie berichteten mir von ihren Eindrücken und Kenntnissen. Ich kenne es nur aus Erzählungen, und meine Frage für den Roman war daher: Wie stellen sich eigentlich AsylrichterInnen die Stadt Kabul vor? Sie hören ja dauernd davon. Und wie stelle ich sie mir vor?

Die Beziehung von Gabrielle zu ihrem Bruder hat mich beim Lesen überrascht: Sein Verhalten hat Gabrielles Leben oft nachhaltig negativ beeinflusst. Welche Rolle spielt er für Gabrielle?

Der Bruder ist eine Herausforderung für die Heldin, für ihre Einschätzungsfähigkeit. Ist er so gewesen, wie sie sich an ihn erinnert? Oder färbt sich ihr Bild aufgrund ihrer Ressentiments und gestaltet einen Sündenbock? Nach allem, was mit ihm geschah und durch ihn geschah, fragt sie sich nie, wieso sie ein Manuskript zu seiner Dissertation findet. Es taucht wie nebenbei auf und ist aber doch das Indiz auf eine Lebenslinie, die sie ihrem Bruder nicht im Geringsten zumessen konnte. Was hat es damit auf sich? Sie übersieht ein wesentliches Detail! Diese Frage stellt sich Gabrielle nicht. Man fragt sich für sie: Wieso? Was bedeutet dieses „Übersehen“ für die Einschätzung der Richterin? Welchen Charakter hat sie? Und letztlich stellt sich uns die Frage, was sollen wir von dieser Richterin und unserem eigenen Einschätzungsvermögen halten? Details entgehen immer jeder Beobachtung, niemand ist unfehlbar und verfügt über ein Gesamtbild. Das erscheint mir wichtig: Ambiguitätstoleranz zu fördern.

 

Richterin über das Schicksal: Über den Taumel einer Asylrichterin zwischen Macht und Ohnmacht, über die Tragweite ihrer Entscheidungen und den Weg dort hin erzählt Lydia Mischkulnig in „Die Richterin“. Schonungslos spürt sie die Sprünge auf, die unseren fragilen, vermeintlich klaren Blick auf die Welt durchziehen. Ein feinnerviger und sprachmächtiger Roman mit unterschwelligem Sog. – Hier geht’s zum Buch.

Wenn der Geldsegen zum Fluch wird

In Herbert Dutzlers Kriminalroman wird der Traum vom großen Geld zum Alptraum

Mit einem Lottogewinn wären alle Sorgen wie weggeblasen. So stellen es sich viele vor, die regelmäßig ihre Kreuzerl auf den Gewinnschein malen. Doch Herbert Dutzlers Kriminalroman zeigt, dass mit dem großen Geld auch die großen Probleme beginnen – und dass sich im Angesicht des Reichtums so manch ein Abgrund auftut.

(c) Gisela Barrett: Herbert Dutzler, Autor der erfolgreichen Serie um Kult-Ermittler Gasperlmaier, hat einen Kriminalroman geschrieben, der jetzt auch als Taschenbuch erhältlich ist.

Geschichten, die das Glückspiel schreibt

Man kennt sie, die skurrilen Lottoschicksale, wo der Hauptgewinn am Ende alles andere als Glück gebracht hat, etwa die Geschichte des Lottogewinners, der 1955 das Schild „Wegen Reichtums geschlossen“ an sein Hotel hängte, später aber völlig verarmt im Obdachlosenasyl endete. Oder die von Lotto-Lothar, der mit zahlreichen Exzessen seine Gesundheit ruinierte und nach wenigen Jahren an den Folgen des Alkholkonsums verstarb. 1997 tötete ein Lottogewinner einen Mann, weil er völlig paranoid annahm, seine Exfrau habe einen Auftragsmörder geschickt. Und ein Gewinner aus Chicago starb am Tag nach der Gewinnauszahlung plötzlich und vollkommen überraschend – die Untersuchung ergab eine Vergiftung mit Blausäure.

Die Geschichten von den vielen, die ihr Geld schnell auf den Kopf gehauen haben und bald mit leeren Taschen dastanden – häufig sogar ärmer als vor dem Gewinn –, wirken im Vergleich zu den Schicksalen der Lotto-Lothars dieser Welt beinahe harmlos.

Plötzlich reich – und was nun?

Wenn der Wunsch nach Reichtum wahr wird, obwohl die Chancen darauf etwa eins zu acht Millionen stehen, reagieren die Menschen unterschiedlich: Manche verlieren die Bodenhaftung, kaufen sich teure Luxusgüter und leben über ihre Verhältnisse. Und stehen dann unerwartet vor Schwierigkeiten und Sorgen, an die sie zunächst nicht gedacht haben. Ein Problem, das kaum jemand bedenkt, wenn er sich das neue Millionärsleben ausmalt: die Heimlichkeit. Denn den Freunden oder gar der Öffentlichkeit von dem Gewinn zu erzählen, ruft Neider und Bittsteller auf den Plan und kann Sozialkontakte zerstören. Und dann gerät alles noch schneller außer Kontrolle. Aber: Heimlichkeit ist schwierig. Denn wie erklärt man dem Umfeld, dass man sich plötzlich Dinge leisten kann, von denen man vorher nur geträumt hat? Also heißt es: Ruhe bewahren. Nachdenken. Keine überstürzten Investitionen. Möglichst lange vom Glücksfall zehren.

Dutzlers Kriminalroman: ein mörderischer Hauptgewinn

In seinem Kriminalroman „Die Einsamkeit des Bösen“ greift Herbert Dutzler dieses Thema auf. Hauptfigur Alexandra lebt mit ihrem Mann Anton und den beiden gemeinsamen Kindern recht zufrieden in Österreich und alles scheint in Ordnung – bis Anton in der Lotterie gewinnt. Fast augenblicklich scheint er sich zu verändern: Die Anweisungen der Beraterin von der Lotterie sind ihm völlig egal, er kauft ein neues Auto, macht den Kindern teure Geschenke und wird Alexandra von Tag zu Tag fremder. Sie selbst fühlt sich zunehmend einsam.

Nichts ist mehr, wie es wahr – und die Fassade beginnt zu bröckeln. Aus den Tiefen von Alexandras Seele drängen tragische Erfahrungen nach oben, von damals, als das kleine Mädchen Alexandra ebenfalls einsam war, als Vater und Bruder sie misshandelten und niemand ihr half. Bis sie sich schließlich selbst zu helfen wusste.

Eine Welt gerät aus den Fugen

Alexandra wird immer verzweifelter, alles scheint ihr zu entgleiten. Die Kinder verlangen plötzlich nach Luxusgütern, die Freunde verhalten sich seltsam, nachdem Alexandra zumindest von einem Teil des Gewinns erzählt hat, und ihr Mann hat ganz offenkundig Geheimnisse vor ihr – Alexandra vermutet eine Affäre.

Und plötzlich rührt sich in ihre das kleine Mädchen von damals, ein zorniges, trauriges Kind, das dem Bösen ins Auge geblickt hat. Und das endlich selbst über sein Leben entscheiden will …

Mehr Infos zu Buch und Autor gibt es hier!

Sehnsuchtsort Griechenland: vier Fragen an Edith Kneifl

Schatten im Paradies: Intrigen, illegale Geschäfte und tödliche Geheimnisse! In Edith Kneifls neuem Kriminalroman gibt es einen Protagonisten, der sich von ganz verschiedenen Seiten zeigt: Griechenland. Wir alle kennen die schönen Küsten, das azurblaue Meer und die sagenhaften Sandstrände: eine Kombination, die jedes Touristenherz höherschlagen lässt. Wer nach Griechenland reist, der schnuppert den betörenden Hauch der Antike. Bemerkenswerte Architektur, Spaziergänge unter bezaubernden Olivenbäumen und kulinarische Köstlichkeiten machen jede Griechenland-Reise zu einer unvergesslichen Erfahrung! Doch hinter der Urlaubsidylle lauern Abgründe, und die kennt eine ganz besonders gut: Edith Kneifl.

Edith Kneifl hat einige Zeit in Griechenland gelebt.

Sehnsuchtsort Griechenland – warum hast du diesen Schauplatz gewählt? Hast du einen persönlichen Bezug zu diesem Land?

Als ich mit 19 nach Wien kam, um hier Ethnologie und Psychologie zu studieren, lernte ich auf der Uni eine griechische Studentin kennen, die in Wien im Exil lebte. Sie und ihr Mann waren vor der faschistischen Junta in Griechenland geflüchtet. Nachdem das griechische Volk 1974 die Junta verjagt hatte, fuhr ich zum ersten Mal gemeinsam mit meinen Freunden nach Griechenland und wurde dort von ihren Familien sehr herzlich aufgenommen. Die Eltern meiner Freundin waren Partisanen, hatten ihr Leben lang gegen die Faschisten gekämpft, zuerst gegen die Italiener, die Deutschen und Österreicher, anschließend im griechischen Bürgerkrieg und zuletzt während der Herrschaft der Junta gegen die griechischen Faschisten. Athinas Vater war insgesamt mindestens 10 Jahre im Gefängnis und in Verbannung, u. a. auch auf der Todesinsel Makronissos, die ich in meinem Roman öfters erwähne. Ich verliebte mich übrigens damals in einen Cousin meiner Freundin, einen radikalen Studentenführer, der aussah wie Jesus Christus und tatsächlich Christos hieß. Die Beziehung hielt immerhin 3 Jahre, ein Jahr lang lebte ich bei ihm in Thessaloniki. Der alte Besitzer einer Souvlaki-Bude (ein alter Kommunist) brachte mir Griechisch bei. Ich leistete ihm jeden Vormittag auf einem Barhocker vor seinem winzigen Lokal Gesellschaft, während mein Freund auf der Uni die Welt zu retten versuchte.

Griechenland ist ein Land der Kontraste, Idylle steht düsteren Seiten gegenüber. Inwiefern ist gerade das interessant als Hintergrund für einen Kriminalroman?

Die düsteren Kapitel dieses wunderschönen Landes habe ich ja zum Teil bereits angesprochen, nicht zu vergessen auch das große Leid der Bevölkerung während der jahrhundertelangen osmanischen Herrschaft. Auch in der Gegenwart sieht die Lage in Griechenland nicht unbedingt rosig aus. Man denke an die große Finanzkrise der letzten Jahre. Dennoch ist Griechenland eines der schönsten Urlaubsländer der Welt – zumindest für mich. Während meiner zahlreichen Aufenthalte auf den griechischen Inseln hörte ich immer wieder von Bauspekulationen, Immobilienhaien, Großinvestoren und korrupten Politikern. Auch die verheerenden Zustände in den Flüchtlingslagern auf den Inseln Samos, Lesbos und Chios ließen mich nicht kalt. Da die Liebe in allen meinen Kriminalromanen immer eine große Rolle spielt, fiel es mir nicht schwer, eine eher außergewöhnliche Liebesgeschichte mit diesen kriminellen Machenschaften in der Bau- und Tourismusbranche zu verbinden. Es hat mir großen Spaß gemacht, einige fatale griechische Liebesaffären zu kreieren.

Die Windmühlen von Mykonos: Hier beginnt ein spannender Kriminalfall.

Im ersten Band deiner Reisekrimis lernen wir Laura Mars kennen. Kannst du uns ein paar Worte zu deiner neuen Protagonistin sagen? Wie hast du zu ihr gefunden?

Laura ist eine ungewöhnliche, sehr widersprüchliche Frau, einst erfolgreiche Wiener Modedesignerin, heute Aussteigerin und Biobäuerin auf Samos. Laura leidet einerseits unter einem schrecklichen Trauma, ist andererseits aber eine selbstbewusste, tatkräftige und kluge Frau. Gegen alle Vernunft verliebt sie sich in einen gutaussehenden griechischen Profikiller, der den Auftrag hat, sie zu töten. Mehr wird nicht verraten.

Deine Urlaubskrimi-Reihe geht spannend weiter – was sind die nächsten Schauplätze?

Zurzeit arbeite ich an einem Reisekrimi, der auf den Kanarischen Inseln, vor allem auf Gomera, Teneriffa und Gran Canaria, spielen wird. Laura Mars eilt ihrem Vater, der auf den Kanaren lebt und dort eine deutschsprachige Zeitung für Urlauber und Zweitwohnbesitzer herausgibt, zu Hilfe. Seine zweite Frau wurde entführt. Laura Mars wird in internationale Drogengeschäfte involviert. Auch in diesem Roman wird die Liebe nicht zu kurz kommen, doch statt eines Profikillers verliebt sich dieses Mal ein abgehalfterter kanarischer Privatdetektiv in sie. Es ist auch nicht ganz leicht, meiner Laura zu widerstehen …

 

 

Mörderisches Reisevergnügen: Edith Kneifl zeigt ein Griechenland hinter der sonnigen Fassade!
Vor der fantastischen Kulisse der griechischen Inseln Mykonos, Ikaria und Samos bahnt sich ein verhängnisvolles Abenteuer an. Griechenland ist einerseits Urlaubsparadies und Sehnsuchtsort, andererseits geprägt von der massiven Schuldenkrise, von Verarmung und Hoffnungslosigkeit. Edith Kneifl öffnet die Augen für Griechenland in allen seinen Facetten: den paradiesischen ebenso wie den abgründigen. Hier geht’s zum Buch!

Intrigen, illegale Geschäfte und tödliche Geheimnisse – „Wellengrab“ von Edith Kneifl (Leseprobe)

Gefahr im griechischen Paradies: Auf einer Schifffahrt lernt Laura Mars den gutaussehenden Griechen Alexander kennen – und ahnt nichts von seinem mörderischen Auftrag. Sie verliebt sich in ihn und begibt sich dadurch in Lebensgefahr … kann sie Alexander vertrauen, oder riskiert sie leichtfertig ihr Leben? Inmitten von idyllischen Inselträumen und bedrohlichen Immobilienhaien kommt es zum spektakulären Showdown!

Lies dich hier rein und begib dich mit der Wiener Krimi-Queen auf ein mörderisches Reisevergnügen:

Nach dreißig Jahren betrat Alexander zum ersten Mal wieder griechischen Boden. Er hatte in Argentinien, Kolumbien und Mexiko gelebt. Ein schiefgelaufenes Projekt in Juárez hatte er zum Anlass genommen, nach Europa zurückzukehren.

Die letzten Jahre hatte er in der Schweiz und in Wien verbracht. In der österreichischen Hauptstadt hatte er sich bald wie zu Hause gefühlt, Wien war ein idealer Platz zum Altwerden und galt nicht umsonst als die lebenswerteste Stadt der Welt. Doch es war auch eine Stadt der Intrigen, der illegalen Geschäfte und tödlichen Geheimnisse, wie er feststellen musste.

Alexander war in einer möblierten Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Gründerzeitbau in der Nähe vom Naschmarkt abgestiegen. Er ging viel spazieren, hielt seinen Körper halbwegs in Form, und er lernte Deutsch, die Sprache der Dichter und Denker. Fast war ihm ein bisschen langweilig in Wien gewesen.

Edith Kneif, in Wels geboren, hat bereits 22 Kriminalromane und ca. 50 Kurzgeschichten. Mit „Todesreigen in der Hofreitschule“ (2019) setzt Kneifl ihre beliebte Serie historischer Krimis im Wien des Fin de siècle rund um den charmanten Privatdetektiv Gustav von Karoly fort. „Wellengrab“ (2020) ist der Beginn ihre neuen Urlaubskrimi-Trilogie. Die nächsten Bände werden auf den Kanarischen Inseln und in Kroatien spielen. Foto: Kurt-Michael Westermann

Eine Zeitlang hatte er eine russische Freundin gehabt. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und viel zu dünn für seinen Geschmack. Aber Natascha war toll im Bett. Toll im wahrsten Sinne des Wortes. Wegen ihrer zahlreichen erotischen Finessen hatte er sie kurz in Verdacht gehabt, eine Professionelle zu sein. Zwar verlangte sie nie Geld von ihm, aber ihre Vorlieben kamen ihn teuer zu stehen: Ihre Lieblingsbeschäftigung war Shoppen, auch vom Kochen hielt sie nicht viel, die Restaurantbesuche kosteten ihn ein kleines Vermögen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, war sie ihm auch körperlich zu anstrengend. Natascha war in jeder Hinsicht unersättlich. Trotzdem hatte er Hemmungen, mit ihr Schluss zu machen.

Durch Natascha kam er in einer Bar der Wiener Innenstadt mit einem schwerreichen Russen ins Gespräch. Bald erledigte er einfache Jobs für Boris – gelegentliche Kurierdienste, die ihn meist nach Luxemburg oder Liechtenstein führten. Heute war er sich sicher, dass die Begegnung mit dem Russen kein Zufall gewesen war. Alexander hatte Natascha nicht viel über sich erzählt, aber offenbar hatte sie geahnt, dass er für illegale Geschäfte zu haben war.

Als er eines Tages für Boris in Luxemburg eine Geldtransaktion erledigte, wurde er bei seiner Rückkehr am Wiener Flughafen von internationalen Fahndern festgehalten und einvernommen. Boris hatte Wien verlassen, ohne Alexander eine Nachricht zu hinterlassen und ihn zu warnen. Die Interpol hatte den Russen wegen Steuerhinterziehung und Betrug auf ihre Fahndungsliste gesetzt.

Etwa zur selben Zeit verließ Natascha Alexander. Er empfand vor allem Erleichterung. Er hatte sie nicht geliebt, war nicht einmal verliebt in sie gewesen. Sie hatte ihm nur die einsamen Nächte erträglicher gemacht.

Alexander konnte es sich nicht erlauben, von der Interpol genauer unter die Lupe genommen zu werden. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Namen zu ändern und unterzutauchen.

Im Internet fand er eine hübsche Atelierwohnung in der Leopoldstadt mit Blick auf das Riesenrad. Die Wohnung gehörte einer Malerin. Sie wollte für ein halbes Jahr nach Frankreich und suchte jemanden, der einstweilen auf ihre Wohnung schaute. Er musste sich also nicht einmal anmelden.

Einen wunderbaren Frühling lang genoss er das luftige Atelier in der Nähe des Praters. Gerne hätte er noch eine Zeitlang weiter in den Tag hineinleben wollen. Doch eines Abends bekam er Besuch. Seine russischen Freunde hatten nicht auf ihn vergessen. Es überraschte ihn keineswegs, dass sie seine Adresse in Wien herausgefunden hatten. Beim Joggen im Prater war er einmal zufällig Natascha begegnet. Sie war in Begleitung eines anderen Mannes gewesen. Wahrscheinlich waren sie im gefolgt.

„Ihr Name ist Alexander Makiris? Sie sind der Grieche?“, vergewisserte sich der Mann in dem eleganten, gutsitzenden Anzug, der so gar nicht zu seiner Verbrechervisage passte.

Alexander zögerte, bevor er nickte. Er wusste, wann Lügen sinnlos war.

„Wir haben einen Auftrag auf Mykonos für Sie.“

Er machte sich nicht die Mühe nachzufragen, wen dieser Mann mit „wir“ meinte, wartete den Vorschlag des Mannes ab, ohne die Miene zu verziehen. Ein Job in seiner alten Heimat. Nicht weit entfernt von der Insel, auf der er geboren worden war. Er hielt das für ein besonderes Zeichen. Außerdem war es höchste Zeit abzuhauen. Wenn ihn die Russen so leicht finden konnten, würde die Interpol wohl auch bald bei ihm auftauchen. Es würde der letzte Auftrag sein, den er annahm. Danach wollte er sich endgültig zur Ruhe setzen.

Die Aufgabe schien nicht besonders schwierig zu sein. Er sollte einen österreichischen Hotelbesitzer auf Mykonos zum Verkauf überreden. Das Honorar klang verlockend und gleichzeitig verdächtig. Für einen so simplen Job zahlte normalerweise keiner fünfzigtausend Dollar. Wenn er seine Wertpapiere und Goldbarren, die er in einer Schweizer Bank deponiert hatte, verkaufte, würde er damit genügend Geld haben, um sich ein Haus auf einer einsamen Insel und ein gebrauchtes Fischerboot zuzulegen. Als Sohn eines Fischers bildete er sich ein, vom Fischfang etwas zu verstehen. Sollte es finanziell knapp werden, könnte er ja wieder seiner ursprünglichen Arbeit nachgehen. Denn zwischen der Türkei und den griechischen Inseln herrschte nach wie vor ein reger Austausch von Waren aller Art, Zigaretten und Cannabis aus dem Mittleren Osten waren auch im heutigen vereinten Europa noch gefragt.

Er stimmte zu.

Bevor der Besucher ging, übergab er ihm ein dickes Kuvert.

Alexander setzte sich auf die Couch und nahm die Fotos aus dem Umschlag. Sorgfältig prägte er sich die verschiedenen Gesichter ein und las die beigefügten Anweisungen. Tatsächlich klang alles nach einem gut organisierten, unkomplizierten Auftrag. Fotos und Zettel verbrannte er, die Asche spülte er im Klo hinunter. Die Russen waren zum Glück genauso altmodisch wie er, kommunizierten ungern per Mobiltelefon oder E-Mail. Anscheinend misstrauten sie ebenfalls den neuen Technologien. Alles war gläsern und kontrollierbar geworden. In seinem Beruf war das schlicht und einfach fatal.

Ohne einen Funken von Wehmut zu verspüren, verließ Alexander am nächsten Tag die Stadt, in der er sich sehr wohlgefühlt hatte, und flog nach Athen.

1. Teil: Piräus

Als ich ihn erblickte, wusste ich sofort, dass es Ärger geben wird. Schnellen Schrittes kam er die Treppe zum Oberdeck herauf. Ich erkannte ihn an seiner Statur und seinem Gang. Im Gegensatz zu mir hatte er sich kaum verändert, die vielen Jahre hatten wenige Spuren bei ihm hinterlassen. Wie die meisten großen Männer ging er leicht gebückt, so als würde er sich seiner Größe schämen.

Das Unglück wird seinen Lauf nehmen, dachte ich, als ich sein Gesicht aus der Nähe sah. Alles Sanfte und Weiche war aus seinen Zügen gewichen. Aber er war immer noch ein schöner Mann. Und er war auffallend gut gekleidet. Hellbeiger Leinenanzug, weißes Hemd, champagnerfarbene Sneakers. Bestimmt liefen ihm die Frauen genauso nach wie in seiner Jugend. Ob ihm das heute bewusst war? Damals hatte er nur Augen für eine gehabt. Er war kein Frauenheld, sondern ein schüchterner, introvertierter Bursche gewesen.

Ich überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte, ließ es aber bleiben. Er würde mich nicht erkennen. Vielleicht würde er sich an meinen Vornamen erinnern? So wie alle im Dorf hatte er mich früher immer einfach Frau Christina genannt.

Als er knapp an mir vorbeiging, sah ich ihm in die Augen. Große, dunkle, traurige Augen mit langen schwarzen Wimpern, um die ihn wahrscheinlich jede Frau beneidete.

Ich erschrak. Seine Augen erinnerten mich an jene von Christos, den einzigen Mann, den ich je geliebt hatte. Aber Christos war tot. Die Faschisten hatten ihn 1969 während der Unruhen in Athen umgebracht.

 

 

Edith Kneifl zeigt ein Griechenland hinter der sonnigen Fassade!

Vor der fantastischen Kulisse der griechischen Inseln Mykonos, Ikaria und Samos bahnt sich ein verhängnisvolles Abenteuer an. Griechenland ist einerseits Urlaubsparadies und Sehnsuchtsort, andererseits geprägt von der massiven Schuldenkrise, von Verarmung und Hoffnungslosigkeit. Edith Kneifl öffnet mit „Wellengrab“ die Augen für Griechenland in allen seinen Facetten: den paradiesischen ebenso wie den abgründigen.

Alt werden ist nichts für Feiglinge! „Leichte Böden“ von David Fuchs (Leseprobe)

Ungeschminkt und liebevoll, absurd und doch so lebensnah fängt David Fuchs in „Leichte Böden“ die Essenz zwischenmenschlicher Beziehungen ein und stellt eine substanzielle Frage unserer Zeit: Wie kann man verantwortungsvoll Hilfe anbieten, ohne Menschen im Alter die Autonomie zu rauben?

Lesen Sie hier rein – eine einzigartige Geschichte erwartet Sie, alltäglich und augenöffnend, zugleich aufrüttelnd und versöhnlich.

David Fuchs, geboren 1981 in Linz, ist Autor, aber auch Arzt. Als Onkologe und Palliativmediziner arbeitet er in Linz, als Autor hat er die Leondinger Akademie für Literatur absolviert. 2018 erschien mit „Bevor wir verschwinden“ sein Debüt-Roman, der mehrfach ausgezeichnet wurde: 2016 mit dem FM4-Wortlaut für einen Auszug, 2018 stand er auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis Debüt und errang den 2. Platz des Bloggerpreises „Das Debüt“. Darüber hinaus erhielt David Fuchs 2018 den Feldkircher Lyrikpreis sowie den Alois Vogel Literaturpreis. 2020 folgte sein neuer Roman „Leichte Böden“.

Ich drehe mich um. Der Polizist ist ausgestiegen, aber ich kann ihn wegen der Scheinwerfer kaum erkennen. Er kommt auf mich zu.

„Huhu“, sagt er mit hoher Stimme. Jetzt wird er auch noch frech. „Huhu“, sage ich. Den Polizisten schüttelt es vor Lachen. „Kobi, du solltest dein Gesicht sehen“, sagt er. Sagt sie. Eine Frauenstimme. Es ist kein Polizist, es ist eine Polizistin, es ist Maria, meine Nintendo-Mary, Maria von früher. Was soll ich jetzt sagen? Ich habe keine Ahnung. „Hallo Mary“, sage ich. Sie lacht noch einmal. „Nicht lustig“, sage ich.
„Das ist eine Verwaltungsübertretung.“
„Das ist eine Frechheit.“
„Eine ziemlich lustige Verwaltungsübertretung. Bist du fertig?“
„Mit was?“
„Vergiss es, steig ein.“
Ich bin noch nie vorne in einem Polizeiauto gesessen. Ich bin überhaupt noch nie in einem Polizeiauto gesessen. „Schnall dich an, sonst kommt die Polizei.“ Maria legt den Gang ein und wir fahren los. Ich mag es nicht, wenn man sich Witze auf meine Kosten erlaubt, aber ich kann nichts sagen, immerhin holt Maria mich vom Bahnhof ab, und es wäre unhöflich, sie anzuschnauzen, auch wenn sie es verdient hätte.
Ich glaube, ich habe Maria zuletzt vor sechzehn Jahren gesehen, bei Opa Kobiceks Begräbnis, da war sie noch in Ausbildung. Und jetzt fährt sie schon alleine nachts herum und erschreckt Pinkler am Bahnhof.

Opa Kobicek war Tante Klaras Bruder. Als ich noch ein Kind war, waren wir oft zu Besuch bei ihr, weil sie ein Haus am Land hatte und nicht so eine kleine Stadtwohnung wie Opa. Ich habe damals fast jedes Wochenende und die Ferien mit Maria verbracht, aber wir haben uns aus den Augen verloren, weil mich als Teenager die viele Besuche bei Tante Klara nicht mehr interessiert haben.

„Entschuldige“, sagt Maria, „ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Holst du deine Freunde immer mit dem Polizeiauto ab?“
„Nur, wenn meine Freunde zu spät ankommen und meine Schicht schon begonnen hat.“
„Entschuldige.“
„Du hättest anrufen können.“
„Habe ich versucht, aber die Nummer war nicht mehr aktuell.“

Sie blinkt und biegt auf die Bundesstraße ab. „Warum besuchst du Klara?“
„Wegen dem Auto. Ich will den Porsche holen.“
„Das ist wirklich dein Porsche in der Garage?“
„Woher weißt du davon?“
„Ich wohne wieder neben Klara, im alten Haus. Aber wie kannst du dir einen Porsche leisten? Was arbeitest du?“
„Ich arbeite gerade nicht.“

Den Porsche habe ich mir gekauft, damals, in der Frankfurter Zeit. Ich habe ihn dann bei Tante Klara eingestellt, weil sie eine Garage hat, die sie nicht benutzt. Ich war seit Jahren nicht dort, weil ich zu viel Stress und keine Lust hatte. Tante Klara hat sich nicht beschwert.

„Wie, du arbeitest gar nicht?“
„Ich habe ein Jahr frei.“
„Aha. Und warum hast du so lange frei?“
„Einfach so, ein Sabbatical.“
„Ein was?“
„Sabbatical. Man bekommt fünf Jahre lang nur achtzig Prozent Gehalt und das fünfte Jahr ist frei.“
„Cool.“
„Na ja.“
„Und was willst du in deinem Sabbatical machen?“
„Erstmal den Porsche holen und dann irgendwo hinfahren.“
„Wohin?“
„Weiß nicht, Frankreich vielleicht oder Italien, aber ich weiß es eigentlich nicht.“
„Und was machst du, wenn du nicht gerade ein Jahr frei hast?“
„Ich bin Biologe.“
„Cool. So richtig, im Labor?“
„Ich unterrichte an einer Schule.“
Sie lacht. „Also Biolehrer?“
„Biologe.“

 

Was passiert mit uns, wenn wir alt werden?
Wie kann man verantwortungsvoll Hilfe anbieten, ohne Menschen im Alter die Autonomie zu rauben?
Wo verläuft der Grat zwischen einfühlsamer Unterstützung und überbordender, geltungssüchtiger Einmischung? 

In David Fuchs’ Roman „Leichte Böden“ werden leichtfüßig substanzielle Fragen unserer Zeit verhandelt, die uns alle im Innersten betreffen. Das Bedürfnis zu unterstützen, Selbstzweifel, die Konfrontation mit körperlichem Verfall: David Fuchs nähert sich einem emotionalen Drahtseilakt mutig ironisch, dabei stets behutsam an. In präziser Sprache und feinen Beobachtungen bringt er uns in absurden Momenten zum Lachen, in tragischen zum Innehalten, und fängt die belebende Magie einer jungen Liebe ein.

Familiengeschichte, die auch Weltgeschichte ist – Wolfgang Paterno im Interview

Lange vor der Geburt seines Enkels Wolfgang wurde Hugo Paterno umgebracht. Der Zollbeamte aus Vorarlberg und strenggläubige Katholik wurde Opfer der im Nationalsozialismus so alltäglichen wie folgenschweren und erbarmungslosen Praxis der Denunziation. In „So ich noch lebe … Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation“ erzählt Wolfgang Paterno vom Schicksal seines Großvaters – und von der Spurensuche in Briefen, Familienfotos, Protokollen und Prozessakten.

Wie ist es ihm dabei ergangen? Wie steht es um die Aufarbeitung ähnlicher Fälle in Wissenschaft und Gesellschaft? Und ist er seinem Großvater durch die Arbeit am Buch nähergekommen? – Zu diesen Themen stand der Autor uns Rede und Antwort.

Das Schicksal Ihres Großvaters ist ein individuelles, gleichzeitig steht es exemplarisch für die Zeit: Die Denunziation war ein Massenphänomen des Nationalsozialismus. Warum?

Der NS-Staat war auf Verleumdung, Verfolgung und Vernichtung aufgebaut. Das niederträchtige Instrument der Denunziation war das entsprechende Hilfsmittel. Zwischen 1938 und 1945 stand auch in Österreich die Verleumdung von Freunden, Vorgesetzten, Nachbarn, Familienmitgliedern und Arbeitskollegen an der Tagesordnung. Im Gegensatz zu anderen Regimen, wie etwa der DDR-Diktatur, war der NS-Staat kaum auf bezahlte Spitzel angewiesen. Insbesondere der Tatbestand der „Wehrkraftzersetzung“ wurde dazu instrumentalisiert, jede kritische Äußerung und jedweden Pessimismus zu kriminalisieren. Menschen wurden zum Tode verurteilt, weil sie beim „Fremdhören“ ausländischer Radiosender ertappt wurden. Die Bregenzerin Karoline Redler wurde verleumdet, weil sie sich einer Arztpraxis gegenüber zwei parteitreuen Patientinnen aus Lustenau vermeintlich abfällig über das Hitler-Regime geäußert hatte. Anfang November 1944 wurde sie in Wien hingerichtet.

Wie steht es um die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Fälle?

Wolfgang Paterno – Enkel von Hugo Paterno und Autor von „So ich noch lebe … Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation“. Wolfgang Paterno ist Redakteur des Nachrichtenmagazins profil, er veröffentlichte zahlreiche Artikel sowie Bücher zu historischen und literarischen Themen.

In Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein tragbarer Wissenschaftszweig zum Phänomen Denunziation entwickelt. In Österreich wird das Thema bis heute nahezu totgeschwiegen – wissenschaftlich und gesellschaftlich. Selbst der schnelle Blick in die historischen Archive des Nachbarlands offenbart umfangreiche Bibliografien zu dem Thema. Die Nachforschung „Denunziert“ der Politikwissenschaftlerin Nina Scholz und des Historikers Herbert Dohmen mit Schwerpunkt auf der Verleumdung jüdischer Personen in Wien ab März 1938 war zum Zeitpunkt ihres Erscheinens 2003 hierzulande eine der ersten Untersuchungen, die sich dezidiert mit der systematischen Verhetzung und Anzeige von Freund und Feind im „angeschlossenen“ Österreich auseinandersetzte. Seitdem ist auf dem Feld mit Ausnahme der Studie „,Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant‘“ (2007) des Grazer Historikers Heimo Halbrainer, für die 1.230 Grazer Denunziationsfälle herangezogen wurden, nicht allzu viel passiert.

Wie hat sich die Recherche zu Leben und Schicksal Ihres Großvaters dargestellt?

Früh konturierte sich folgende Faustregel bei der Recherche: Je weiter die Archive geografisch von Hugos ehemaligem Lebensmittelpunkt entfernt lagen, desto leichter fiel die Nachforschung. In Vorarlberg herrschte anfangs bockige Verweigerung, die Berliner Archive wickelten sämtliche Nachfragen so nüchtern wie empathisch ab. Am Ende waren es zahllose Telefonate, über 500 E-Mails an Bibliotheken und Archive sowie zahlreiche Recherchereisen, die den Weg – und die vielen Umwege – zum Großvater ebneten. Und immer wieder diese kleinen großen Momente: Im Posteingang trifft eine E-Mail vom Deutschen Bundesarchiv ein, die vermeldet, man habe über 100 Seiten Dokumente zum Fall Hugo Paterno gefunden. Luftsprünge jedes Mal

Blieb Ihnen bei all diesem historischen Kontext und dem vom Nationalsozialismus überschatteten Schicksal noch die Kraft, zu Ihrem Großvater durchzudringen – zum Menschen Hugo Paterno?

Am Ende bleibt der wohl beste Beweggrund für die Aufarbeitung von Geschichte. Es war reine Neugier auf ein mir völlig unbekanntes Leben, dem ich letztlich ja mein eigenes Dasein verdanke. Zu einem irgendwie gearteten Fazit fühle ich mich im Fall meines Großvaters nach wie vor außerstande. Hugo bleibt das Familiengespenst, auch wenn es inzwischen weitaus weniger herumspukt.

Wer war Hugo Paterno? Welche Menschen, welche politischen und gesellschaftlichen Mechanismen haben ihn auf dem Gewissen? Wie gehen die Hinterbliebenen mit diesem Schicksal um – die Nachkommen der Opfer, aber auch der Täter? Diesen Fragen widmet sich Wolfgang Paterno in seinem Buch, einer eindrücklichen, zutiefst persönlichen und hervorragend recherchierten Dokumentation eines menschlichen Schicksals in der Maschinerie der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz.

Hier geht’s zum Buch.

„Vielleicht ist das ganze Leben ja auch dazu da, die Sprachlosigkeit zwischen denen, die man liebt, und einem selbst zu überbrücken“ – Andreas Neeser im Interview

In seinem neuen Roman „Wie wir gehen“ erzählt Andreas Neeser davon, was Söhne und Töchter mit ihren Vätern verbindet – und was sie voneinander trennt. Dabei spürt er dem widersprüchlichen Streben nach echter Zugehörigkeit nach. Wie kann man sich näherkommen, ohne einander zu erdrücken, wie unabhängig sein, ohne sich völlig zu distanzieren?

Über familiäre Mechanismen, Generationenkonflikte und die Vielgestalt der Sprachlosigkeit haben wir ihn in unserem Interview befragt.

Es beginnt mit einem Diktiergerät: Mona möchte die Leere überwinden, die zwischen ihr und ihrem 83-jährigen, kranken Vater Johannes zeit ihres Lebens bestand. Kann Sprache die Leere zwischen zwei Menschen überwinden?

Andreas Neeser, geboren 1964, lebt in Suhr bei Aarau. Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 freier Schriftsteller. Zahlreiche Buchveröffentlichungen im Bereich Lyrik und Prosa. Für seine vielfältigen literarischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit Atelierstipendien im Künstlerhaus Edenkoben und im Schriftstellerhaus Stuttgart sowie 2014 mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia. www.andreasneeser.ch Foto: Ayse Yavas

Ich glaube, dass die Sprache dazu beitragen kann, doch zuerst braucht es den Impetus des Menschen. Der Mensch muss auf den anderen zugehen. Also muss sich zuerst einmal das Herz öffnen, dann kann Sprache solche Distanzen überwinden, durchaus. Aber Sprache allein schafft das im richtigen Leben nicht. In der Literatur schon.

Mit den heutigen technischen Hilfsmitteln ist Kommunikation oberflächlich gesehen allgegenwärtig und schneller denn je. Ist die Sprachlosigkeit dadurch geringer geworden?

Die modernen Medien haben die Sprachlosigkeit verändert. Es ist eine andere Sprachlosigkeit als früher, weil es heute viel mehr Möglichkeiten gibt zu reden. Wenn man es dann nicht tut, ist die Sprachlosigkeit eine andere.

In „Wie wir gehen“ hat die Sprachlosigkeit ja sehr viele Gesichter…

Ja, ich glaube, es gibt eine Form der Sprachlosigkeit, die in gewissem Sinne überdeckt ist von Sprache. Man kann natürlich ganz viel reden – wenn man dann nicht über das Eigentliche spricht, entsteht ja in einem gewissen Sinn Sprachlosigkeit, weil thematisch ausgespart wird, was eigentlich gesagt sein sollte. Und auch das ist eine Form von Sprachlosigkeit, die man allerdings nicht hört.

Man kann sich ja um Kopf und Kragen reden, ohne wirklich etwas zu sagen. Und das passiert auch gewissen Figuren, die in diesem Buch vorkommen. Da wird zwar auch ganz viel geredet, ein Leben lang. Aber da ist dann doch diese Aussparung, diese Lücke, und eben dann letzten Endes die Sprachlosigkeit. Und vielleicht ist das ganze Leben ja auch dazu da, die Sprachlosigkeit zwischen denen, die man liebt und einem selbst zu überbrücken.

Ist die Suche nach Sprache – nach Benennung und Beziehung – eine Allegorie für unser Leben?

Ja! Ich glaube, im Leben geht es immer auch ums Benennen. Und wenn man so weit kommt, dass man etwas benennen kann, dann hat das eine gewisse Relevanz im eigenen Leben, dann gewinnt es an Bedeutung für das eigene Leben – und das seines Gegenübers.

Die Sprachlosigkeit (im wörtlichen Sinn) zwischen Söhnen und Töchtern und ihren Vätern zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Johannes wird in einem beklemmenden Haushalt des Schweigens groß. Seine Tochter Mona und er umarmen sich an seinem 83. Geburtstag zum ersten Mal und finden keinen Draht zueinander. Noelle, Monas Tochter und Johannes Enkelin‘, bricht die Beziehung zu ihrem Vater ab. Ist die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, das Überwinden des Schweigens eine Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss?

Ich glaube, es ist eine Art zur Sprache kommen – das Erwachsenwerden zum Beispiel, überhaupt auch das Zurechtfinden im eigenen Leben ist ein Prozess, den man so bezeichnen könnte: „zur Sprache kommen, zur Sprache finden“. Das alles hat auch ganz viel mit Emanzipation zu tun. Die Erlebnisse bei der Arbeit an meinem Buch haben mir nahegelegt, dass es früher sehr viel schwieriger war. Und auch nicht.

Schwieriger insofern, als früher ganz vieles einfach sehr klar war. Der eigene Weg für einen jungen Menschen war erstmal nicht vorgesehen, es war vielmehr einer vorgegeben – von den Eltern, von der Familie, und insofern war es eben auch kein eigener. Und über die Generationen hat es dann zusehends auch immer mehr Möglichkeiten gegeben für junge Menschen, sich eben doch irgendwo in einer Nische auf den eigenen Weg zu machen.

Für Johannes ist dies in seiner Zeit undenkbar, er wird im Buch als sogenannter Verdingbub eingesetzt. Was sind Verdingkinder?

Unter Verdingkindern versteht man Kinder, die weggegeben wurden von ihren Eltern, die zum Teil auch weggeholt wurden, und zwar einfach weil ihre Familie nicht genug Geld hatte, diese Kinder zu ernähren. Das war der häufigste Grund. Verdingt wurden sie dann insofern, als sie an einem fremden Ort arbeiten mussten. Das waren ganz billige Arbeitskräfte. Kinder, die man missbraucht hat, oft auch physisch. Dies ist ein ganz, ganz trauriges Kapitel.

Speziell in der Schweiz ist man seit einigen Jahren dabei, das aufzuarbeiten. Da gibt es wirklich Unglaubliches, das lange Zeit verdeckt, von der Gesellschaft auch nicht gehört wurde, denn diese Verdingkinder hatten keine Stimme, auch später als Erwachsene nicht. Sie wurden nicht gehört, und das hat sich glücklicherweise jetzt geändert. Das hilft zwar nicht, irgendetwas wiedergutzumachen, das ihnen widerfahren ist. Aber allein eine Stimme zu haben, ist für diese Menschen, die heute alle sehr betagt sind, sehr wichtig.

Steht der Verdingbub – soziologisch gesprochen – auch für eine bestimmte Haltung, für die Perspektive einer Generation ihren Kindern gegenüber?

Ich habe die ganze Geschichte bewusst nicht geografisch verortet, zeitlich weiß man natürlich, wir reden vom 20. Jahrhundert und die Geschichte erstreckt sich ins 21. Jahrhundert. Aber geografisch ist das nicht so genau lokalisiert, um eben zu zeigen: Es sind Mechanismen, die hier am Werk sind, familiäre Mechanismen, die im Grunde genommen nichts mit Geografie zu tun haben. Dieser Prozess „wie wir gehen“ betrifft jeden. Den Weg ins eigene Leben finden, durch das eigene Leben hindurch und letztlich – das betrifft besonders eine der Figuren – wie man dann auch aus dem Leben wieder hinausgeht.

Es geht um Emanzipation, auch und gerade um Emanzipation von den Vätern. Johannes hatte nie eine Chance. Er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, zu überlegen, ob er denn nicht eine Chance hätte. Seine Tochter Mona hat dann eben doch ihren Weg gefunden. Das war nicht einfach, das geschah auch um den Preis der Beziehung zu ihrem Vater. Der konnte einfach nicht mithalten mit ihren Ambitionen, ihrem Studium. Er konnte sie da nicht mehr begleiten, also hat sie den Weg alleine in Angriff genommen.

Noelle, die Kleinste, stellt sich dann einfach da hin und sagt „mein Vater ist ein Arschloch, der ist tot für mich“. Ohne mit der Wimper zu zucken. Mit so einer Selbstverständlichkeit.

Und wenn man sich vor Augen führt, dass da ja nicht einmal 100 Jahre dazwischenliegen, hat mich das sehr fasziniert, diese Emanzipationsbewegung der Kinder gegenüber ihren Vätern.

Ist das auch eine Emanzipationsbewegung, die mit dem Finden der richtigen Worte einhergeht?

Ja, und die Figuren, die sich immer auch verhaken ineinander, gerade auch über die Sprache, die sich immer wieder zuschütten mit Mitleid, versinken im Selbstmitleid – das ist ja eine ganz traurige Spirale.

Mir war es aber gleichzeitig ganz wichtig, diesen Johannes trotz allem letztendlich auch als ganz witzigen Typen zu zeichnen. Der entpuppt sich ja am Ende als geradezu humorvolle, originelle Gestalt. Um zu zeigen: Das Leben hat ihn nicht von Anfang an vollständig zerstört, er hat sich da irgendwie auch rausgezogen aus diesem Verdingkindersumpf. Das habe ich ihm so gegönnt!

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

 

 

Eine Suche nach gemeinsamer Sprache, nach einem Mittel, die Leere und das Missverstandensein zu überwinden, eine feinsinnige und poetische Erzählung von Zugehörigkeit, Unabhängigkeit und echter Verbundenheit  – das erwartet Sie in Andreas Neesers berührendem Familienroman. Lesen Sie jetzt rein!

Hier geht’s zum Buch.

Über die Freundschaft zu seinem Protagonisten, Wienerlieder und Arthur Schnitzler: Stefan Slupetzky im Videointerview

Der Lemming droht sich in seinem neuen Fall in verschiedensten Netzen zu verwickeln: Im World Wide Web, mit dessen Gefahren er es zu tun bekommt, in den Verstrickungen korrupter Politiker, die nicht nur im Internet Fake News verbreiten, und in den feinen Fäden, die die Boulevardpresse spinnt, wenn sie mit haltlosen Behauptungen eine möglichst große Leserschaft einfangen möchte. Im Videointerview spricht Stefan Slupetzky über die Recherche zu seinem neuen Buch und das nicht immer einfache Verhältnis zu seinem Protagonisten. Einen Auszug könnt ihr hier nachlesen.

Demnächst erscheint der neue Lemming-Roman. Du bist Musiker. Was für einen Soundtrack würdest du für den Roman aussuchen?

Also ad hoc fällt mir ein: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“, wobei das jetzt nicht ein politisches Statement von mir ist, sondern weil es ja wirklich um die Verdammten dieser Erde geht, die sozusagen in ganz fürchterliche Situationen getrieben werden.

In deinem Buch spielen Dirty Campaigning und Hass im Netz eine Rolle. Musstest du als nicht sehr technikaffiner Mensch dafür viel recherchieren?

Ich recherchiere grundsätzlich nicht wahnsinnig gern. Wenn ich mich dazu durchringe, mich der Arbeit zu widmen, dann setze ich mich am liebsten hin und produziere Text. Die Recherche steht mir natürlich da immer im Weg, weil ich mich zuerst um die kümmern muss. In dem Fall habe ich es wirklich vermieden, zu sehr ins Technische zu gehen, bei diesem Themenkomplex, wenn es ums Internet geht etc., und habe versucht, einen Weg zu finden, das auf eine Ebene zu verlagern, die jeder auch einfachere Mensch – so wie ich – verstehen kann.

Der Lemming begleitet dich nun schon seit 2004. Inwiefern ist dir der Lemming ein Freund geworden?

Der Lemming und ich waren einander in den Anfangsjahren, glaub ich, sehr ähnlich. Ich mochte ihn sehr und ich glaub, er mochte mich auch ganz gern. Mit der Zeit haben wir begonnen, uns auf die Nerven zu gehen. Das ist auch für mich ein bisschen ein Grund gewesen dafür, dass der Polivka jetzt an seine Seite getreten ist. Weil der Polivka wieder andere Seiten hat, in denen ich mich auch wiedererkenne und die mir beim Lemming ein bisschen fehlen. Nämlich das Grantige, das doch auch manchmal Aufbrausende. Ja, insofern ergänzen sich die zwei auch ganz gut.

Ob Stefan Slupetzky Arthur Schnitzler oder Ödön von Horváth bevorzugt, wie er das Chaos in seinem Kopf ordnet und was in seinen Genen liegt, erfahrt ihr hier im Videointerview.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

 

Stefan Slupetzky ist ein Sprachkünstler, der es versteht, mit viel Feinsinn Bilder entstehen zu lassen, die sich einprägen. Nichts ist schwarzweiß, jeder hat eine Geschichte, stets hat es einen Grund, warum einer da ist, wo er heute ist. Slupetzky schaut ganz genau hin, wenn er seine Figuren zeichnet, und so manche wird einem bekannt vorkommen. Da ist der kleine Bub, der es mit den Schulkollegen so schwer hat, dass ihn eine Aura der Traurigkeit umgibt, da ist der frühere Neonazi, der sich für seine Tätowierungen schämt. Da ist jener Lehrer, der einmal Idealist gewesen ist, bevor ihm die Realität den Antrieb genommen hat, und der ehemalige Polizist, der jetzt nachts im Tierpark arbeitet und erst mehrere rauschhafte Nächte braucht, bevor er seinem Freund Polivka das Du anbieten kann – der Lemming. Wer ihn noch nicht kennt, sollte ihn schleunigst kennenlernen, allen anderen wünschen wir ein fröhliches Wiedersehen! Hier geht’s zum Buch!