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„Lyrik ist immer Verdichten“ – ein Interview mit Jule Weber

Wie navigiert man durch eine laute Welt voller Geräusche, Gedanken und Erinnerungen, wenn Worte oft im Chaos untergehen? Wenn sich Zeit in kleine, fast unhörbare Geräusche zerlegt?
Die Gedichte von Jule Weber erzählen vom Suchen – vom Versuch, sich selbst und das Leben zu verstehen. Dabei entstehen Texte, die mehr spüren lassen als erklären wollen. Gedichte, die von stillen Krisen, von Sehnsucht und Nähe berichten.

Ihr Lyrikdebüt  „ich zeichne meinen standort auf die haut“ klingt wie das Rauschen des Windes in einem Wald, während fern das dumpfe Dröhnen einer Autobahn zu hören ist. Zwischen diesen Gegensätzen entfaltet sich ein roter Faden, der sich nicht sofort offenbart, sondern leise spürbar bleibt.

Wir sprechen mit der Autorin über Zeilen, die man fast hätte streichen können, über den überraschenden Moment, in dem einzelne Gedichte zu einem Ganzen wurden, und über die Gewissheit, dass Lyrik nicht verstanden werden muss, um zu wirken.

Was war dein persönlicher Zugang zur Lyrik – und was hat dich letztlich dazu bewegt, selbst Gedichte zu schreiben?

Ich mag es, Sachen auf den Punkt zu bringen und Lyrik ist immer Verdichten. Dadurch entsteht die Dichtung. Für mich ist es dann ein natürlicher Prozess, dass dieses Auf-den-Punkt-Bringen, diese Verdichtung schlussendlich zu Lyrik wird.

 

Gibt es bestimmte Gefühle oder Themen, die sich wie ein roter Faden durch deinen Lyrikband ziehen?

Die gibt es auf jeden Fall. Für mich als schreibende Person gibt es diese natürlich immer nochmal auf eine ganz andere Art als für die Leute, die meine Lyrik dann später lesen. Meine Lyrik behandelt viel das Suchen, zum Beispiel danach, sich selbst zu verstehen und auch das Leben zu begreifen. Manchmal fliegt ein einzelner Vogel vorbei. Es gibt also diesen roten Faden definitiv, aber man muss ihn schon auch selber herausfinden.

© Henriette Becht

Jule Weber (* 1993) ist Lyrikerin und Podcasterin. Sie gehört zu den führenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Seit 15 Jahren tritt sie regelmäßig vor Publikum auf, sie gibt Schreibworkshops und ist Teil des Kollektivs „Verschwende deine Lyrik“. 2023 gewann Weber den Kampf der Künste Award als Poetin des Jahres und war Darmstädter Turmschreiberin. Ihr Lyrikdebüt offenbart das Spektrum ihrer Wortgewandtheit. Außerdem ist sie: pragmatisch, detailverliebt und chronisch zu spät.

Wenn du dir dein Buch als einen Ort oder ein Lied vorstellen müsstest – wie sähe dieser Ort aus oder wie würde es klingen?

Ich trickse bei dieser Frage ein wenig und kombiniere beides, indem ich einen Ort beschreibe und wie er klingen würde. Das Buch klingt meiner Meinung nach ein bisschen, wie wenn man in einem Wald steht und den Wind in den Bäumen hört. Aber gleichzeitig hört man in der Ferne auch eine große, laute Autobahn.

 

Gibt es eine Zeile aus deinem Buch, die dir besonders viel bedeutet? Welche?

Es gibt viele solcher Zeilen, auch ganz viele einzelne. Die, die mir am meisten bedeuten, sind nicht unbedingt Zeilen, die sofort herausstechen und bei denen man denkt, dass an ihnen viel Bedeutung hängt. Es sind viel eher Zeilen, die oft sehr versteckt sind. Häufig sind das dann auch Zeilen, die man theoretisch auch streichen hätte können. Ich hänge aber emotional zu sehr an ihnen und deshalb mussten sie beibehalten werden.

 

Muss man Lyrik „verstehen“ – oder reicht es, sie zu spüren?

Spüren reicht. Total.

 

Gab es während des Schreibprozesses einen Moment, der für dich besonders überraschend oder erkenntnisreich war, einen „Aha-Moment“?

Definitiv, dieser hat viel mit dem Gesamtbild zu tun. Einen Lyrikband schreibt man in der Regel nicht wirklich am Stück beziehungsweise linear. Viel eher ist es dann ein Kuratieren von bereits geschriebenen Gedichten. Der Aha-Moment für mich war, dass ich diese Gedichte zusammengefügt habe und dabei ein Lyrikband herausgekommen ist, der zwar die einzelnen Gedichte beinhaltet, aber gleichzeitig auch eine eigene Dramaturgie entwickelt und einen roten Faden hat. Für mich war es sehr cool, dann auch zu erkennen, dass ich auch unbewusst über längere Zeit diesen roten Faden zusammengeschrieben habe.

DIE VORZÜGE VON TRAURIGKEIT

oder: melancholie IV

ich lernte, als ich vierzehn jahre alt war,
lachen würde auf dauer zu falten führen,
falten zum verlust meiner attraktivität
und folglich zum verlust meines wertes,
ein pink umrandetes infokästchen riet mir
außerhalb sozialer situationen akribisch
auf einen neutralen ausdruck zu achten.

heute begreife ich, wie traurig mich das machte.

man sagte mir, mein schmerz sei verwertbar,
bedrückte menschen könnten besser schreiben,
kunstschaffen generell, aus dem leiden heraus,
gierig leckte man an den wunden und ich übte
gewissenhaft mein präventiv neutrales gesicht
das sichtbare unglück in den spiegelungen,
sparte mir die schönheit für harte winter auf.

Aus  „ich zeichne meinen standort auf die haut


Gedichte über das Verstehen, das Vermissen und unser Verhältnis zur Welt – und manchmal fliegt ein Vogel vorbei

Jule Webers Gedichte reflektieren die Zerbrechlichkeit des Lebens, das Streben nach Nähe, nach einem Zuhause, das nicht nur aus Wänden besteht. Sie greifen nach den Momenten, die uns ausmachen – den lärmenden, den leisen, den verlorenen und jenen, denen wir zu wenig Bedeutung beimessen. Weber schreibt von Flächen aus betretener Stille, geronnener Zeit, leisen Krisen und in uns brennenden Fragen. Ihre Lyrik spürt dem Paradoxon von sozialer Gemeinschaft und Einsamkeit nach, macht fassbar, wie das Weltgeschehen unbemerkt in unser Inneres sickert. Ein unvergesslicher Gedichtband: politisch und sprachverliebt, eigensinnig und melancholisch, zart und feministisch.

 

Online erhältlich und überall, wo es Bücher gibt.


Epiphanien des Alltags

Kleine Rede auf Klaus Merz zur Eröffnung der Ausstellung «Merz Welt», Galerie Litar Zürich, 12. 9. 2025

Von Manfred Papst

Auf der Einladung der Galerie Litar zur Ausstellungseröffnung sehen wir eine etwas unscharfe Farbfotografie aus dem Jahr 1971: Klaus Merz und sein Bruder Martin stehen am Strand im südfranzösischen Aigues-Mortes. Der Schnappschuss führt direkt zum Thema der Ausstellung «Merz Welt» und ruft eine Beziehung in Erinnerung, die für Klaus Merz wie für sein Schreiben prägend war. In seinem Meisterwerk «Jakob schläft», das im Zentrum der von Christa Baumberger kuratierten Schau steht, hat sie ihre dichterische Ausformung gefunden. In der autobiografischen Erzählung «Querfahrt», die Klaus Merz 1994 in den Band «Am Fuss des Kamels» aufgenommen hat, lesen wir: «Der Bruder schlief, als wir ankamen, sein modelliertes Köpfchen lag auf dem weissen Kissen und wusste nichts von sich selbst. Auch ich sah nicht, was ich wusste. Das Wort Wasserkopf hat uns das sachdienliche Leben erst später beigebracht.»

 

Diese unheimlichen Sätze finden sich drei Jahre später fast unverändert im 5. Kapitel von «Jakob schläft» wieder. Sie sprechen von Martin Merz (1950-1983), dem fünf Jahre jüngeren Bruder des Dichters. Eine innige, geheimnisvolle Beziehung, vielfältig wirksam auch über den Tod des Jüngeren hinaus, verband die beiden Brüder, die in Menziken im aargauischen Wynental aufwuchsen. Martin lernte trotz seiner schweren Beeinträchtigung lesen und schreiben (nicht aber gehen und rechnen) und verfasste schon als Halbwüchsiger selbst Gedichte. Immer wieder ist Klaus Merz auf Martin (der im Roman «Sonne» heisst) zurückgekommen, immer wieder hat er sich für dessen schmales Werk eingesetzt: als gälte es, eine späte Dankesschuld abzutragen und Zeugnis abzulegen von einem so erschütternden wie beglückenden gemeinsamen Leben.

 

Bild: Klaus und Martin Merz, Aigues-Mortes 1971. Foto: Selma Merz. Schweizerisches Literaturarchiv, Nachlass Martin Merz. Bildgrafik: Rahel Arnold.

Die Ausstellung „Merz Welt“ ist von 13. September bis 29. November 2025 in der
Galerie Litar Zürich zu sehen.

Kuratiert von Christa Baumberger, mit Beiträgen von Mariann Bühler, Sascha Garzetti, Marion Graf, Susanne Schmetkamp.

Im Abstand von zwanzig Jahren hat er das Werk des Bruders zweimal herausgegeben; zuletzt 2003 unter dem Titel «Zwischenland», im Innsbrucker Haymon Verlag, der auch sein eigenes Œuvre betreut. Die Texte von Martin Merz bewegen sich vom Engen ins Weite. Sie sprechen aus dem Inneren einer Familie, auf die sich früh schon Kummer legte. Wir sind darüber unterrichtet:

Ein erstes Kind – der schlafende «Jakob» im Buch – wurde tot geboren, den Vater begannen epileptische Anfälle heimzusuchen, und dann kam auch noch der jüngste Sohn mit einer schweren neurologischen Erkrankung zur Welt. «Hydrozephalus» hiess der Terminus technicus für das Unglück. Aus Spitalaufenthalten, Operationen, Privatunterricht, Fortbewegung im Rollstuhl bestand fortan der Alltag. Lektüre wurde wichtig, auch das Radio: Hörspiele, Lesungen, Schlager. Die Schallplatten mit Märchen konnte der Bub alle auswendig. Als etwa Zehnjähriger kam er in die Heilpädagogische Sonderschule Reinach. Das Leben zu Hause entfaltete seine eigene Dynamik: Indem die Familie sich um das Sorgenkind kümmerte, wuchs sie zusammen – wobei das Leben im Magnetfeld des Bedürftigen nicht einfach war und der Bruder sich auch an Zustände ohnmächtiger Wut erinnert. Ein befreundeter Velomechaniker konstruierte ein Dreirad, auf dem Martin, den seine Füsse nicht trugen, sich fortbewegen konnte, eingeschirrt in ein «Gestältli» und in Obhut einer Begleitperson. Im 20. Kapitel von «Jakob schläft» verunfallt er auf diesem Gefährt.

Manfred Papst, geboren 1956 in Davos, studierte Sinologie, Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich. Von 1989 bis 2001 war er Programmleiter des NZZ-Buchverlags, seit 2002 ist er Ressortleiter Kultur der NZZ am Sonntag. Er hat zahlreiche Publikationen zu Literatur und Musik verfasst.

Der vorliegende Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von Litar im Haymon Magazin.

Zum Dichter wurde Martin, als der bewunderte grosse Bruder in die Rekrutenschule einrückte. «Ich kann jetzt lange keine Gedichte schreiben, du musst es für mich tun», soll er zum Jüngeren gesagt haben. Klaus Merz selbst hatte auf Anregung der Dichterin Erika Burkarts, der er ein Leben lang verbunden bleiben sollte, schon im Gymnasium Verse verfasst.

Martin nahm den Auftrag des Bruders ernst. Er schrieb nicht kontinuierlich, sondern in heftigen Schüben. Seine Gedichte tippte er mit zwei Fingern in eine Schreibmaschine, ohne später je noch ein Wort zu ändern. Auch wohlmeinende Ratschläge erreichten ihn nicht. Dennoch wuchern seine Texte nicht nach Adolf Wölflis Manier. Sie haben durchaus etwas von jener Lakonie, Präzision und verhaltenen Trauer, für die sein Bruder berühmt ist.

 

Sie alle kennen die weitere Geschichte: Klaus wurde Lehrer, Schriftsteller, Familienvater, liess sich in Unterkulm nieder. Die ersten Gedichtbände der Brüder waren fast gleichzeitig erschienen: Klaus’ «Mit gesammelter Blindheit» 1967 im Tschudy Verlag, Martins «Gedichte eines Kindes» nur ein Jahr später bei Fretz & Wasmuth. 1971 reiste Martin mit Klaus und dessen junger Frau Selma nach Südfrankreich, in einem Renault 4. Bei Aigues-Mortes, ging er, gestützt vom Bruder, einige Schritte im Meer. Da sind wir wieder beim eingangs erwähnten Bild. In den folgenden Jahren verschlimmerte sich Martins Leiden, doch lebte er länger, als die Ärzte erwartet hatten. Nach dem Tod der Mutter (1980) stand er unter der Obhut des Vaters; im Frühjahr 1982 kam er ins «Lindenfeld» Suhr. 1983 schloss sich sein Lebenskreis.

 

Die eminente Literaturkritikerin Elsbeth Pulver hat notiert, dass es den Dichter Martin Merz ohne seinen älteren Bruder nicht gäbe; in gewissem Sinn lässt der Satz sich auch umkehren. Jedenfalls trifft er in zweifachem Sinn zu: Klaus Merz hat das Werk des Bruders angeregt, und er hat es für die Nachwelt gerettet. Beides hat er nicht gönnerhaft getan. Indem er in die Seele des leidenden Geschöpfs blickte, sah er in einen Abgrund, der auch sein eigener war – und aus dem die Kunst entsteht. Deshalb sind seine Darstellungen des Bruders, die mit der einzigen Ausnahme des kurzen Textes «Hochzeit» (1978) alle erst nach Martins Tod entstanden sind, bei aller Drastik nicht ohne Zärtlichkeit und Humor, auch nicht ohne Selbstironie. Die Erzählung «Report», (in «Tremolo Trümmer», 1988), die Martin gewidmet ist und ausgiebig aus seinen Gedichten zitiert, ist ein Beispiel hierfür. Sie erinnern sich vielleicht: Ein umtriebiger Journalist macht eine windschnittige Reportage über Schlachthäuser und trifft dabei auf einen Arbeiter, der ihm mit unbeholfener Wortgewalt von seinem behinderten Bruder erzählt. Wie Klaus Merz hier seinen Bruder würdigt, während er sich selbst in zwei gegenläufigen Gestalten spiegelt, das zeugt von narrativer Meisterschaft auf engstem Raum.

Zahlreiche Wegbegleiter haben die Fertigstellung der Werkausgabe zum Anlass genommen, um ihre persönlichen Merz-Lektüren festzuhalten. Die der Werkausgabe beiliegende Broschüre „Klaus Merz lesen“ ist hier auch als PDF-Download zugänglich.

 

 

Klaus Merz gehört zu jenen Schriftstellern, die stets am gleichen Lebensbuch schreiben. Sein Werk ähnelt einem Teppich. Es fällt schwer zu sagen, welcher Teil zuerst gewoben wurde. Melancholie und Anmut, Lakonie und verhaltener Humor, der ureigene Kammerton – alles ist von Anfang an da.

Kein unpassender Faden im komplexen Gewirke stört die Textur. Das gilt für das Oeuvre als Ganzes, auch und besonders für die Bildessays, die für meine Begriffe vom gleichen hohen Rang sind wie die Lyrik und die erzählende Prosa dieses Autors, der wie ein erratischer Block in der Schweizer Literaturlandschaft steht.

Schon im frühen Text «Latentes Material» ist alles angelegt, was später auseinandergefaltet, variiert und weiterentwickelt wird. Immer wieder geht es um das absichtslose Sehen als sinnstiftende Kraft, um die Erlösung der bedrängten Seele im Bildwerk, das ewig stillsteht und doch über sich hinausweist, um die Brüderlichkeit unter den Dingen und um die Geborgenheit des an die Welt verlorenen Menschen in Gott. Wie Klaus Merz immer wieder auf dieses Grundthema zurückkommt, es erweitert, vertieft, zum Kaleidoskop perspektivisch verschobener Sehweisen auffächert, ist meisterhaft. Die Fähigkeit, seine so wache wie innige Wahrnehmung und Erinnerung immer wieder in dunkel leuchtende Sprachbilder zu bannen, erweist ihn als grossen Autor. Die Schweizer Gegenwartsliteratur hat er mit erzählender Prosa von konstanter Qualität bereichert. Zu Recht hat Peter von Matt «Jakob schläft» mit dem «Grünen Heinrich» verglichen: Weil das Buch ungeachtet seines geringen Umfangs genau so viel durchlittenes, bestandenes und gestaltetes Leben enthält wie das grosse Schmerzensbuch des Zürcher Staatsschreibers.

Klaus Merz meldet sich auch immer wieder als Lyriker von Rang zu Wort. Wir erleben es seit Jahrzehnten – dankbar und stets auf neue überrascht. Seit jeher ist er ein Meister des präzisen Aperçus, der Verknappung und der Andeutung. Einer, der die Farbe, den Klang, das spezifische Gewicht jedes Wortes sorgsam betrachtet, bevor er es setzt. Das braucht Zeit, Geduld, auch Strenge gegen sich selbst. Deshalb ist das Werk von Klaus Merz vergleichsweise schmal – obgleich die von Markus Bundi betreute Werkausgabe bereits auf sieben stattliche Bände sowie einen Materialienband angewachsen ist und ein abschliessender neunter Band demnächst erscheinen soll.

Klaus Merz versteht es, tiefgründig zu schreiben, ohne schwer verständlich zu sein.

Ähnlich wie bei Günter Eich lässt sich in seinen Gedichten ein Prozess fortwährender Klärung beobachten. Sie werden immer lakonischer und kürzer – manche von ihnen umfassen nur drei oder vier Zeilen –, dabei aber keineswegs kryptischer, hermetischer, abweisender, sondern immer durchsichtiger und leichter. Die Sehnsucht nach Leichtigkeit auf dem dunklen Grund des Lebens begegnet uns denn auch explizit: «Der Schwermut sich beugen / und leicht werden dabei», lesen wir in «Die Brünner Mädchen», «Zukunft bleibt flüchtig / nur die Toten sind nah. / Und die Gegenwart / verliert ihr Gewicht», heisst es in «Zurüsterin Nacht». An anderer Stelle im Band «Aus dem Staub» (2010), aus dem ich diese Verse zitiere, ist von Tagen die Rede, die leichter sind als Luft, und von Gott, der Luft für uns ist und den wir einatmen.

 

Dass Klaus Merz die Reduktion immer weitertreibt, heisst nun allerdings nicht, dass seine Texte spröd und fahl würden. Im Gegenteil. Es verblüfft, wie mit wenigen Worten hier reiche Welten erschaffen werden und Epiphanien des Alltags vor unseren Augen erstehen. Rainer Maria Rilke hat es pathetischer formuliert, doch im Kern geht Klaus Merz mit ihm einig: Wer sich für ein Leben als Dichter entscheidet, wählt eine Existenzform, nicht nur eine Tätigkeit, die man manchmal ausübt und manchmal nicht. Der Vierzeiler «Biografie», den man als Selbstbildnis, zugleich aber auch als versteckte Hommage an Gerhard Meier lesen kann, hält den Tatbestand mit feinem Humor fest:

«Im Lauf der Zeit selber
zum Bleistift geworden
der auch ein Bleistift bleibt
wenn er nicht schreibt.»

Von Abschied, Tod, Vergänglichkeit ist bei Klaus Merz viel die Rede, aber auch immer wieder von der Schönheit der Welt in ihrer steten Gefährdung. Er wagt – ohne Tremolo, dafür mit zärtlicher Akribie – etwas, das seit Jahrtausenden die Aufgabe der Dichter ist, auch wenn wir das grosse Wort mittlerweile scheuen: Er feiert das Dasein.


© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des KamelsGeschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze DurchsageGedichte & Prosa (1995), Jakob schläftEigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, FräuleinRoman (1998), GarnProsa & Gedichte (2000), Adams KostümDrei Erzählungen (2001), Das Turnier der BleistiftritterAchtzehn Begegnungen (2003), Löwen LöwenVenezianische Spiegelungen (2004), LOSErzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas MiniaturenErzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte BlickSehstücke (2007), Der ArgentinierNovelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem StaubGedichte (2010), Unerwarteter VerlaufGedichte (2013), Helios TransportGedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes LichtEin Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweiterte er seine Publikationen um Noch Licht im Haus. Gedichte & Kurze Geschichten.

Drei Fragen an Klaus Merz

Zum 80. Geburtstag von Klaus Merz erscheint die vollständige neunteilige Werkausgabe, herausgegeben von Markus Bundi – ein literarisches Ereignis, das das eindrucksvolle Lebenswerk eines der bedeutendsten Schriftsteller der Schweizer Gegenwartsliteratur würdigt. Im Kurzinterview gibt Merz Einblick in seine aktuelle Lektüre, erzählt von seiner frühen Begegnung mit Literatur und erklärt, was für ihn ein gutes Gedicht ausmacht.

Der Haymon Verlag vollendet mit dem letzten Band ein Gesamtwerk, das in seiner stillen Kraft, poetischen Präzision und Tiefe einzigartig ist.

Zahlreiche Wegbegleiter haben die Fertigstellung der Werkausgabe zum Anlass genommen, um ihre persönlichen Merz-Lektüren festzuhalten. Die der Werkausgabe beiliegende Broschüre „Klaus Merz lesen“ ist hier auch als PDF-Download zugänglich.

 

Wie kam die Literatur in dein Leben?

Ich habe im Lehrseminar mit 15, 16 einen ganz tollen Deutschlehrer gehabt. Und der hat uns moderne Literatur zuerst unterlegt, nicht die Klassiker. Und auch natürlich Gedichte, aber auch Prosa, nach dem Krieg, 15 Jahre nach dem Krieg. Und da habe ich eigentlich gemerkt, dass für mich Literatur, dann auch selber schreiben, eine Möglichkeit ist, die Fremdheit zwischen mir und der Welt irgendwie etwas sagbarer zu machen. Also, es ist ja so, wenn ich deinen Namen weiß, dann bist du mir auch weniger fremd. Schreiben heißt im Grunde genommen, „benamsen“ würden wir Schweizer sagen, Namen geben. Sich der Befremdlichkeit, die ja im Grunde genommen immer auch etwas Furchterregendes ist, zu stellen, damit man die Furcht vor der Welt, die Furcht voreinander, abbauen kann. Ich glaube, das ist etwas Wichtiges gewesen.

Welches Leseerlebnis hat dich zuletzt so richtig überrascht?

Also, ich stecke seit Wochen eigentlich in einem Buch von Claire Keegan. Das sind die gesammelten Erzählungen von ihr, „Liebe im hohen Gras” heißt diese Sammlung. Das sind ganz dichte, unheimlich luzide und sinnliche Geschichten. Sie ist eine großartige Erzählerin, kompakt, dicht und sie schneidet mir immer wieder den Atem ab.

Schreiben, wie man eine Trockenmauer baut: Stein um Stein ohne Füllmaterial. Wie macht man das?

Ja, also das Entscheidende ist bei der Trockenmauer, dass der Pfludi, der Zement, weggelassen wird, dass die Mauer in sich ruhen muss und auch luftdurchlässig bleibt eigentlich. Und so soll auch ein Gedicht atmen können, finde ich. Und es soll reduziert sein auf das nötigste Material. Wenig genug, das zeichnet eigentlich, finde ich, ein Gedicht aus.


© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des KamelsGeschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze DurchsageGedichte & Prosa (1995), Jakob schläftEigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, FräuleinRoman (1998), GarnProsa & Gedichte (2000), Adams KostümDrei Erzählungen (2001), Das Turnier der BleistiftritterAchtzehn Begegnungen (2003), Löwen LöwenVenezianische Spiegelungen (2004), LOSErzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas MiniaturenErzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte BlickSehstücke (2007), Der ArgentinierNovelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem StaubGedichte (2010), Unerwarteter VerlaufGedichte (2013), Helios TransportGedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes LichtEin Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweiterte er seine Publikationen um Noch Licht im Haus. Gedichte & Kurze Geschichten.

„Am Anfang ist das Blut“ – Stefanie Jakschs Vorwort zur Anthologie „Bluten“

Frauen bluten. Bluten jeden Tag, ob wortwörtlich oder im übertragenen Sinn, als „Working Mums“, in der Care-Arbeit, weil es der Zyklus abverlangt, als Opfer von Gewalt oder schlicht als Personen, die gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen. Das Blut fließt: wenn wir wieder nicht oder zum Glück nicht schwanger sind, wenn wir abgetrieben oder frisch entbunden haben, wenn wir zuhause zu laut oder nachts auf dem Heimweg nicht schnell genug waren, wenn sich die Menopause ankündigt oder wir keinen Kinderwunsch spüren und damit anecken …

In „bluten“ erzählen 15 Autorinnen in ihren Texten von Kämpfen und Widerständigkeit, lehnen sich auf, schreiben manchmal sanft, manchmal verstörend, witzig und anders von der Alltäglichkeit des Blutens: über Altersarmut, Gewalt, das (Nicht-)Muttersein, Menstruation, Menopause, den Kampf um Existenzberechtigung und faire Behandlung in der Arbeitswelt. Das ist unser täglich Blut. Diese Anthologie ist ein Ausbruch, ein Atemzug, harte Realität und grenzenlose Fantasie.

Wir haben Stefanie Jakschs Vorwort zu diesem großen literarischen Blutbild ausgekoppelt, Bluten ist hier Alltag, Liebe, Schmerz und Widerstand:


Am Anfang ist das Blut

Es war ein kühler Morgen im winterlichen Wien, als wir uns das erste Mal in einem Kaffeehaus trafen.
Wir, das sind Magdalena Stammler und Stefanie Jaksch, und wir beide bewegen uns schreibend durch die Welt. Wir waren einander aufgefallen, aus der Ferne. Während wir uns nun in einer plüschigen Sofaecke  vorsichtig kennenlernten und beschlossen, uns zu mögen, begann unser Gespräch zu fließen, flossen wir aufeinander zu, in erst stiller Ahnung, dann in ausgesprochener Erkenntnis und Übereinkunft: Am Anfang ist das Blut.
Noch vor der Geburt teilen alle Menschen einen Blutkreislauf mit der eigenen Mutter, und unser Eintritt in die Welt ist von etwa einem halben Liter Blut begleitet, den Frauen während der Geburt verlieren. Werden wir im Laufe unseres Heranwachsens als Frauen gelesen, wird uns Blut spätestens ab der einsetzenden Regelblutung zur jahrzehntelangen Begleiterin, aus der die Hygieneindustrie Kapital zu schlagen weiß und die uns immer noch zum „schwachen Geschlecht“ macht. Eine Erzählung, die mächtig ist und gerade in  diesen Tagen, in denen autoritäre Systeme überall auf der Welt erstarken zahllose Frauenleben geringschätzt, bedroht und den Handlungsspielraum von Frauen brutal einschränkt.

Unser Gespräch im Kaffeehaus jedenfalls drehte sich schnell weg von der rein körperlichen Ebene, die Frauen eingeschrieben ist, und hin zu all den Arten, auf die wir bluten, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Frauen bluten sichtbar und unsichtbar, gesellschaftlich, politisch, beruflich, in der Care-Arbeit, sind Gewalt ausgesetzt, werden ermordet, weil sie Frauen sind. Das Thema ließ uns nicht mehr los, und so machten wir uns auf die Suche nach Verbündeten. Gefunden haben wir schreibende Frauen, die sich bereit erklärt haben, den Vorgang des Blutens literarisch mit uns auszuloten.

Unser Wunsch: Vielstimmig sollte die Auseinandersetzung werden, Geschichten sollten erzählt werden, die so noch nicht geschrieben wurden und in ihrem Ausdruck unterschiedlich sind. Was für ein Glück, dass so viele großartige Autorinnen sofort einwilligten, ihr ganz persönliches Bluten beizusteuern. Ohne Anspruch  auf Vollständigkeit finden sich in diesem Buch, das uns allen gehört, nun Texte, die ehrliche Positionen vertreten und verteidigen, die sich auf künstlerisch wagemutiges Terrain begeben, die sich mitunter einem Blutrausch hingeben und Grenzen überschreiten.

Die eingeladenen Autorinnen fanden als Inspiration für ihre Texte lediglich den Titel dieses Buchs vor, ansonsten hatten sie freie Hand, wie sie sich dem Thema nähern wollten – ein Wagnis für uns  Herausgeberinnen (wie auch für den Verlag) und ein überraschender, herausfordernder und beglückender Prozess während der Arbeit. Nun halten wir und Sie die unterschiedlichsten Texte in Händen, die kompromisslos verhandeln, was das Leben ausmacht: Liebe, Kunst, Schmerz, Euphorie, Geburt und Tod. Diese Geschichten tun weh, schneiden ins Fleisch, lehnen sich auf, verweigern sich, nehmen an der Hand, lassen mitunter das Lachen im Hals stecken bleiben. Ist den Autorinnen alles selbst passiert? Ist alles wahr, beruht alles auf Tatsachen? Oder ist im Gegenteil alles erfunden? Es macht keinen Unterschied. Was als fixe Idee in einem Kaffeehaus begonnen hat, ist zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit geworden. Sie hat Autorinnen und ihre widerständigen Texte zusammengeführt und findet ihren Weg in die Welt, die uns nicht immer wohlgesonnen ist, die wir aber dennoch gestalten, bearbeiten, uns an ihr abarbeiten und in ihr Freude und Kameradinnen finden.

Wir fühlen einander. Wir fließen. Wir kümmern uns umeinander. Wir rennen gegen Wände, lehnen uns gegen Unrecht auf. Wir fordern das Recht auf Unversehrtheit, und wir schreiben um unser Leben. Denn wir bluten, und sie lassen uns.


Wir bluten, und sie lassen uns.
Es ist Alltag, Liebe, Schmerz und Widerstand.

  • Das ist kein Menstruationsbuch: Altersarmut, Gewalt, das (Nicht-)Muttersein, Menopause, der Kampf um Existenzberechtigung und faire Behandlung in der Arbeitswelt – Frauen bluten. Auf jede erdenkliche Weise.
  • Mit literarischen Beiträgen von: Elif Duygu, Milena Michiko Flašar, Yasmin Hafedh, Lydia Haider, Gertraud Klemm, Johanna Linimayr, Lydia Mittermayr, Jacinta Nandi, Lisa-Viktoria Niederberger, Romina Pleschko, Julya Rabinowich, Barbara Rieger, Chantal-Fleur Sandjon, Margit Schreiner und Magdalena Stammler

 


© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Stefanie Jaksch, geboren im fränkischen Erlangen, glaubt seit ihrer Kindheit, dass Bücher Nahrungsmittel sind. Sie war als Dramaturgin, Buchhändlerin und Verlagsleiterin tätig. Seit 2024 ist Jaksch, die „Wortarbeiterin“, als freischaffende Moderatorin, Kuratorin und Autorin unterwegs und hat das Büro für Literatur- und Kulturarbeit „In Worten“ gegründet. Zuletzt erschien von ihr der Essay „Über das Helle“. Gemeinsam mit Magdalena Stammler ist Stefanie Jaksch die Herausgeberin der Anthologie „bluten“ (August, 2025). Mit WASSER Publishing geht sie selbst ab Herbst 2025 unter die Verleger*innen.

© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Magdalena Stammler, geboren in Wien, hat ebendort und in Potsdam Linguistik studiert, lebt heute als Autorin und Radioredakteurin in Oberösterreich. Sie hat zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht und performt ihre u. a. partizipativen Werke auf den unterschiedlichsten Lesebühnen. Sowohl für ihre literarischen Texte als auch für ihre Radioarbeiten wurde sie bereits ausgezeichnet. Gemeinsam mit Stefanie Jaksch ist Magdalena Stammler die Herausgeberin der Anthologie „bluten“ (August, 2025).


Haymon Her Story – Doris Brehm revisited

Mit „Eine Frau zwischen gestern und heute“ ist Bettina Balàka und Katharina Prager eine beachtliche Wiederentdeckung gelungen. Das „lange übersehene Glanzstück der österreichischen Nachkriegsliteratur“ (ORF) und das hochinteressante Leben seiner Urheberin Doris Brehm waren 70 Jahre lang weitgehend unbeachtet geblieben, ehe diese als Auftakt der Reihe Haymon HerStory dieses Jahr auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Es ist ein Werk, dessen Neuentdeckung interessante Schlaglichter wirft, etwa auf literaturhistorische Kanonisierungsprozesse. Aber auch eines, das weiße Flecken im kollektiven Geschichtsbewusstsein aufzufüllen vermag, auch bei so zentralen Themen, wie – um nur wenige Beispiele zu nennen – der Auseinandersetzung mit dem Widerstand in der NS-Zeit (und der Rolle, die insbesondere Frauen darin einnahmen) oder personellen, wirtschaftlichen, ideologischen Kontinuitäten, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Österreich fortschrieben.

Wir haben uns mit Bettina Balàka und Katharina Prager unterhalten, um die ersten Wochen zu rekapitulieren, in denen Doris Brehms vergessenes Werk wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Nicht zuletzt, weil sich in diesen Wochen viel getan hat: Im Großen, wie im Kleinen.

Liebe Bettina, liebe Katharina, wie ist es euch in der Zeit nach der Veröffentlichung gegangen, habt ihr mit dem Medienecho gerechnet?

Katharina Prager: Sicher nicht in diesem Ausmaß. Faszinierend dabei ist, wie historische Entwicklungen und gesellschaftliche Mechanismen hier zusammenwirkten, um eine derart interessante und vernetzte Frau so völlig unsichtbar zu machen. Normalerweise gibt es um „Wiederentdeckungen“ doch irgendeine Bubble, in der die Person bekannt ist. Bei Doris Brehm war das am ehesten noch der kommunistische Widerstand, aber auch der wurde ja in Österreich eher verdrängt als gefeiert. Und auch hier war sie kein „Name“ wie andere. Im Literaturbetrieb an sich wiederum wurde sie aufgrund ihrer kommunistischen Vernetzungen nicht wahrgenommen. Und als alleinstehende, schließlich verarmte Frau hatte sie klarerweise auch keine Lobby. Das alles erklärt vielleicht, warum dieser literarisch und historisch unglaubliche Roman derart verschwinden konnte.

Bettina Balàka: Vielleicht ist die Wiederentdeckung einfach zur richtigen Zeit gekommen. Ein bisschen werde ich den Verdacht nicht los, dass der Roman – zusätzlich zu allen anderen Faktoren, die zu seinem Vergessen führten – Elemente enthält, die in der Nachkriegszeit unangenehme Fragen aufwarfen. Er widerspricht deutlich zwei Narrativen: Erstens, dass man ja nichts gewusst habe von den Vernichtungslagern, und zweitens, dass Widerstand unmöglich gewesen sei. Nun, da die Kriegsgeneration nicht mehr lebt, kann man sich damit beschäftigen.

Was war die größte Überraschung, der ihr während der Recherche und im Nachgang der Veröffentlichung begegnet seid?

Katharina Prager: Überrascht hat sie uns immer wieder. So hatten wir anfangs kein genaues Todesdatum und kein Grab, wohl aber ein Aktfoto, das sich privat überliefert hatte. Die Menschen, die sie noch gekannt hatten, erinnerten sich an eine ältere Frau, die offenbar sehr gedehnt und altmodisch sprach. In den Quellen und in ihren Texten begegnet man aber dann einer jungen, modernen Frau, die sich immer wieder engagiert und öffentlich äußert – zu Sexualität, Rassismus, Feminismus …

Bettina Balàka: Bei den Interviews habe ich mir immer gedacht, man sollte daraus lernen, vermeintlich schrullige alte Damen nicht zu unterschätzen – vielleicht haben sie eine sehr beeindruckende Geschichte hinter sich.
Ich fand es sehr spannend zu sehen, wie Brehms Erfahrung als Schauspielerin und als vermutlich sehr involvierte Ehefrau eines Bühnenarchitekten in die Textkonstruktion einfloss. Jüngst konnten wir Dokumente des Österreichischen Schriftstellerverbandes einsehen, aus denen hervorgeht, dass sie auch als Dramaturgin tätig war – man merkt es!

Die fiktive Geschichte Gerda Manners gibt nicht nur Einblicke in eine Familie, die durch ideologische Differenzen erschüttert wird, sondern auch Einblicke in die Organisation des Widerstands, das Verstecken von sogenannten U-Booten vor den Vertretern des NS-Regimes, letztlich auch vor dem Ehemann. Fordern diese Einblicke aus erster Hand (Brehm war ja selbst U-Boot-Referentin) die Art heraus, wie wir heute an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnern?

Katharina Prager: Die Geschichte von U-Booten ist extrem schwer zu erforschen, weil die Datenlage extrem schlecht ist – und sie wurde auch erst sehr spät systematisch untersucht. Klarerweise wurden auch in Oral-History-Interviews schon Schlaglichter auf die Lebensumstände der Versteckten und Versteckenden geworfen. Aber Doris Brehm ergänzt in ihrem Roman Dimensionen, die nach wie vor tabuisiert sind – die Spannungen, die in dieser Art des Zusammenlebens notgedrungen entstehen. Die Entscheidungen, die immer neu zu treffen sind. Die persönlichen Ambivalenzen der Helfenden, die eben im Alltag mit dem Nationalsozialismus umgehen müssen.

Bettina Balàka: Es gibt viele kleine Details, die unser Bild ergänzen oder etwas verschieben. Im Roman zeigt sich eine immense erotische Spannung, die nicht nur trotz, sondern möglicherweise gerade wegen des Angstdrucks zwischen den Menschen entsteht. Wir haben die Vorstellung, dass Männer damals nicht kochten – hier ist es der Widerstandskämpfer Kurt, der das tägliche Zubereiten der vorwiegend aus Erdäpfeln bestehenden Gerichte für sich und die beiden Frauen übernimmt und dabei größtmögliche Kreativität an den Tag legt. Auch Gerdas Nazi-Ehemann überrascht immer wieder: Nachdem ihm beispielsweise klar wird, dass etwas sehr Illegales vor sich geht, forscht er lieber nicht weiter nach und lässt alles auffliegen, sondern beschränkt sich auf die Protestmaßnahme, die Tochter Luzi zum Arbeitsdienst wegzuschicken.

© Bildarchiv der KPÖ

Doris Brehm (1908–1991): Schriftstellerin, Bibliothekarin und Widerstandskämpferin. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Brehm im kommunistischen Widerstand als „U-Boot-Referentin“, deren Aufgabe es war, geheime Unterkünfte für Jüdinnen und Juden sowie Deserteure zu organisieren. Im April 1945 wurde sie Mitglied der KPÖ, war in der Redaktion der von den drei demokratischen Parteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ) herausgegebenen Tageszeitung „Neues Österreich“ tätig und begann ihre Arbeit als Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Der Roman „Eine Frau zwischen gestern und morgen“ erschien 1955 und ist von den Erfahrungen Brehms geprägt.

© Christopher Mavrič

Bettina Balàka wurde 1966 in Salzburg geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Wien.
Zahlreiche Auszeichnungen und Erscheinungen. Bei Haymon zuletzt
erschienen: der historische Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ (2023),
der Gedichtband „Die glücklichen Kinder der Gegenwart“ und der Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen“ (beide 2024).

© Christian Lendl

Katharina Prager ist Zeithistorikerin und Biografieforscherin. Sie publizierte zahlreiche Artikel und Bücher zu Wien um 1900, zu Exil und Migrationen wie auch Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Michael Mitterauer Preis und dem Böhlau Jubiläumspreis der Stadt Wien. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Forschung ist der Satiriker Karl Kraus, zu dem sie ein Handbuch herausgab, Ausstellungen kuratierte und 2024 eine Wiener Vorlesung hielt. Hauptberuflich leitet sie den Bereich Forschung und Partizipation, zu dem auch Wien Geschichte Wiki gehört, an der Wienbibliothek im Rathaus.

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War die Wiederentdeckung auch ein Türöffner für neue Forschungen, habt ihr in Folge der Veröffentlichung vielleicht sogar Neues über Doris Brehm und ihren „zurückgezogenen“ Lebensabend erfahren?

Bettina Balàka: Nach der Veröffentlichung erfuhren wir, dass Doris Brehm offenbar bis ein Jahr vor ihrem Tod ehrenamtlich das Zeitschriftenarchiv des Sigmund-Freud-Museums betreute und dieses wohl auch aufgebaut hatte – die ehemalige Direktorin des Museums meldete sich bei uns und beschrieb sie als vornehme, höfliche Dame, die die spezielle Angewohnheit hatte, ihre Würstel im Wassererhitzer der Kaffeemaschine zu wärmen, wodurch der Kaffee am Morgen einen seltsamen Beigeschmack bekam. Das widerspricht dem Bild, das wir hatten, nämlich dass Doris Brehm ihre letzten Jahre weitgehend vereinsamt im Altersheim verbrachte. Der traurige Umstand, dass sie völlig verarmt starb, obwohl sie arbeitete und wohl Wichtiges leistete, bekam dadurch eine weitere, bittere Dimension.

Katharina Prager: Sowohl bei der Buchpräsentation als auch danach haben sich noch Menschen gemeldet, die Brehm – oft als Kinder und Jugendliche – gekannt hatten oder noch Material zu ihr hatten. Anna Bendek plant nun etwa ihre Erinnerungen für die Zwischenwelt aufzuschreiben. Außerdem hat uns der Österreichische Schriftstellerverband angeschrieben, der noch einen Akt zu Doris Brehm hat – darin waren spannende Hinweise auf Brehms Leben in Deutschland als Schauspielerin und Journalistin enthalten … denen sollte man nachgehen. Wir hoffen ja, dass dieser Roman und seine Rahmung erst der Anfang der Befassung sind und sie nun jedenfalls in der Forschung zu U-Booten, aber auch zu Schriftstellerinnen in der Nachkriegszeit einbezogen wird. Und vielleicht schreibt ja dann jemand auch eine Biografie über sie – ihr Leben gibt noch viel mehr her als wir im Nachwort unterbringen konnten.

Ist der Titel des Romans nicht ironischer- und gewissermaßen prophetischerweise auf Doris Brehms Leben anwendbar, schließlich schöpft ihr Schaffen aus ihrer unmittelbaren Vergangenheit und projiziert sich mit dieser posthumen Wiederentdeckung in eine Zukunft, die sie leider nicht mehr erlebt hat, während es zu Lebzeiten offenbar kaum rezipiert wurde. Wie ging es der Doris Brehm zwischen „gestern und morgen“ mit ihrem Roman, der kaum öffentlich stattfand?

Katharina Prager: Das ist schwer zu sagen. Sie machte nie viel Aufheben um sich. Die Heldinnen ihrer Romane üben sich bewusst darin, sich selbst zu kennen, aber sich nicht so wichtig zu nehmen – moralische Menschen zu sein. Offenbar machte sie nicht einmal ihre engen Freund:innen auf den Roman aufmerksam. Die meisten, mit denen wir über Doris Brehm sprachen, kannten den Roman nicht, wussten gar nicht, dass sie geschrieben hatte. Sie war als Leihbibliothekarin bekannt, als wichtige Frau im Schönbrunn-Verlag, als Rezensentin … Zugleich hatte sie sehr progressive Ansichten, die sie für „zeitgemäß“ hielt, die es aber eben doch noch nicht waren – oder eben erst 20 bis 50 Jahre später.

Bettina Balàka: Doris Brehm war eine Frau, die in diesem langen 20. Jahrhundert unglaubliche gesellschaftliche Umbrüche miterlebte – von der Monarchie bis zur Zweiten Republik, von der Russischen Revolution bis zum Ende der Sowjetunion. Die Abfolge der Paradigmenwechsel muss sehr aufreibend gewesen sein, der innere moralische Kompass war wohl wichtig als Stabilisator. Womöglich fiel es Doris Brehm gar nicht auf, dass ihre Bescheidenheit, dieses stille, unprätentiöse Wirken im Hintergrund allen Klischees entsprach, die man auf Frauen projizierte. Vielleicht war es ihr auch egal und sie wollte lieber ihren ethischen Ansprüchen genügen als Ruhm ernten.

Doris Brehms Roman wurde von Klaus Kastberger und Kurt Neumann in die „Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945“ aufgenommen. Was bedeutet diese „hochoffizielle“ Kanonisierung eines Werks, auch im gesellschaftlichen Kontext?

Bettina Balàka: Es ist eine große Freude und zeigt eine grundsätzlich neue Offenheit hinsichtlich einer Erweiterung des Kanons.

Katharina Prager: Besser hätten wir uns das eigentlich nicht wünschen können. Uns geht es ja darum, Frauen sichtbar zu machen, deren Werk wir für wichtig halten. Die Publikation des Buches und die Erforschung der Biografie von Brehm sind erste Schritte, aber die Aufnahme in die „Grundbücher der österreichischen Literatur“ gibt nochmals ein Gütesiegel darauf, das hoffentlich auch denen, die es noch nicht wissen, deutlich macht, dass Doris Brehms Name nicht mehr vergessen werden darf.

Der Konsens darüber, was von unserer Kultur als bewahrenswert betrachtet wird, entsteht nie unabhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und es ist kein Geheimnis, dass jahrhundertelang Bücher von Frauen unsichtbar gemacht wurden. Vermutlich liegen viele weitere literarische Glanzstücke von Frauen* in Archiven, die in Vergessenheit geraten sind. Arbeitet ihr gerade an der Bergung eines solchen Schatzes und darf man schon Genaueres zum kommenden Band der Haymon HerStory erfahren?

Bettina Balàka: Der nächste Band wird der Roman „Anständige Frauen“ der 1855 in Wien geborenen Emilie Mataja sein, die unter dem Pseudonym Emil Marriot publizierte – auch noch, als ihre Identität längst bekannt war. Sie veröffentlichte über 20 Bücher, in denen sie sich mit einer Fülle gesellschaftskritischer Themen beschäftigte, gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Vereins der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in Wien, war mit Rosegger, von Saar und nicht zuletzt Karl Kraus bekannt, dessen Einladung zur Mitarbeit an der „Fackel“ sie ausschlug. Wir freuen uns sehr auf diese spannende Wiederentdeckung!


Zwei Frauen im Widerstand: Wie viel sind sie bereit zu riskieren?

Zwischen bitterem Verrat, unmöglicher Liebe und eiserner Entschlossenheit

  • Der Roman von Doris Brehm aus den 1950er-Jahren erzählt von Widerstand, Menschlichkeit und Mut, von der Emanzipation einer Frau während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit.
  • Eine Buchhandlung in Wien: Versteckt hinter Büchern, die nicht mehr existieren dürfen, rettet Gerda mehr als nur Worte, schafft einen sicheren Ort, grenzt die Zerstörung aus.

 

 


„Man könnte sagen, ich schreibe meine inneren Bilder ab“ – Interview mit Isabella Feimer

Isabella Feimers Lyrik spiegelt die Bewegung der Zeit wider – manchmal fließend, manchmal staccato –, sie fängt die Schönheit des Vergänglichen ein. Sie wirft Blicke auf Details; die Sprache in ihrer Zartheit und ihrem mitunter Minimalismus rahmt sie: den Wolkenausschnitt, den Zuckerguss, die Wintervögel und die Frühlingsknospen, den Saum des Nachthemds und den Balanceakt zwischen einem Ich und einem Du. Sie verfasst Poesie, die verborgene Gefühle an die Oberfläche trägt und uns die Zerbrechlichkeit und Stärke der menschlichen Existenz spüren lässt. Wir haben uns mit ihr über ihren neuen Lyrikband, den Einfluss der visuellen Künste auf ihr Schreiben und über Reisen unterhalten: 

 

Dein neuer Lyrikband „Versuch einer Verpuppung“ entstand auch inspiriert von mehreren Reisen, unter anderem spielt die abgelegene Insel Achill Island eine große Rolle – was hat dich an diesem abgelegenen Ort besonders berührt oder beeinflusst, und wie spiegelt sich das in deinen Texten wider?

Das Reisen ist der Flow, in dem für mich die meiste und auch intensivste Inspiration zu finden ist; es gibt so wundersame Orte, die ich bereisen durfte, da passiert das Schreiben fast von selbst. Achill Island war einer dieser Orte. Abgeschieden, karg und eine immense Weite innehabend. Weite ist ein guter Nährboden für Poesie; je weiter und einsamer ein Ort, desto aufdringlicher will es aus mir schreiben. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass sich der Blick ändert, wenn er in Karges und aus der Fülle genommen wird. Der Blick fokussiert dann auf das Kleine und Zarte, und manchmal auf ein Nichts, in dem man nicht anders kann, als zu fühlen. Aber auch aus der überfordernden Fülle können meine Texte entstehen, dann, wenn ich mich nach Einsamkeit und Weite sehne.

Als Regisseurin und jemand mit einem starken Bezug zur Fotografie – inwiefern beeinflusst das Visuelle, das Bildhafte, deine lyrische Sprache? Gibt es Bilder oder Filmszenen, die als Auslöser für Gedichte dienen?

Das Visuelle hat für mich im Schreiben eine vorrangige Rolle. Als Erstes gibt es immer dieses innere Bild, eine Art emotionale Fotografie oder eine Art Filmstill, das vor allem anderen da ist, und dieses Bild begleitet mich dann eine Weile, manchmal Sekunden, manchmal Tage trage ich es in meinen Gedanken, bevor daraus dann die Worte entstehen und das Bild formen und transparent machen. Man könnte sagen, ich schreibe meine inneren Bilder ab. Bilder, Filme, Fotografien folgen mir und führen mich durchs Sein – schon immer, und ja, meine Sprache formt sich aus Visuellen, und ja, sie finden sich dann auch in meinen Texten wieder … so ist, zum Beispiel, ein Gedicht dem Bild „Die Riesin“ von Leonora Carrington gewidmet, und Bilder wie dieses oder auch einzelne Filmmomente, wie es einer in dem Film „A Crack in the World“ gewesen ist, bringen dann meine eigenen Geschichten ans Licht.

© Manfred Poor

Isabella Feimer, geboren 1976 in Niederösterreich, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und arbeitet seit 1999 als freie Regisseurin und Schriftstellerin in Wien. 2008/2009 Besuch der Leondinger Akademie für Literatur und 2011 Teilnehmerin des Mentoringprojekts des Bmukk. Sie schreibt Prosa, Essays, Lyrik und Theatertexte und veröffentlichte seit 2009 in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Preise. Zu ihren Inspirationsquellen zählen ihre Reisen, die sie gepaart mit Wanderlust und Wissensdrang auf alle fünf Kontinente führten, und die intensive Beschäftigung mit Bildender Kunst, Fotografie und Film.

Der Titel deines Bands ist „Versuch einer Verpuppung“ – ein Übergang, eine Transformation. Wie verstehst du diesen Begriff im Kontext deiner Arbeit zwischen Literatur, Film und Bildender Kunst? Ist das Schreiben für dich auch eine Form des Häutens oder Sich-Verwandelns?

Ja, der Prozess des Schreibens ist eine Häutung, ist eine Transformation, der man sich erst dann bewusst ist, wenn ein Text oder ein Band abgeschlossen ist. Für mich ist es so, dass ich das Gefühl habe, mit jedem Buch ein Stück weiterzukommen, mit mir, mit der Welt. Das Häuten geht Hand in Hand mit der Beschäftigung mit der Welt und den inneren – sagen wir mal – Abläufen. Und jetzt – da du fragst – merke ich erst, was in dem Titel steht, nämlich: der Versuch. Der Versuch, sich zurückzuziehen, sich auf das Innere zu besinnen, sich dem Inneren zu stellen und sich in dieser Konfrontation zu verwandeln. Auch glaube ich, dass es immer diesen ersten Schritt nach innen geben muss, um mit der Kunst, die man macht, nach außen gehen zu können.

Der verpuppte Kokon kennzeichnet auch ein Zwischenstadium zweier Erscheinungsformen, er steht symbolisch für einen Übergang und kann auch sinnbildlich für die Dichotomie zwischen Innen und Außen stehen. „Dazwischensein“, die Opposition zwischen Innenwelt und Außensicht, nicht zuletzt auch ein formales Changieren hin zu erzählerischeren Gedichten in den letzten Zyklen – glaubst du, dass dieses Dazwischensein einen gemeinsamen Nenner deiner hier versammelten Lyrik darstellt?

Ich möchte in meiner künstlerischen Arbeit dem Dazwischen so viel Raum wie nur möglich geben. Ich möchte ausprobieren, in den Inhalten und im Formalen. Gerade was Form betrifft, möchte ich mich nicht einschränken. Der freie Vers kann, so glaube ich, auch gern ein bisschen ins Erzählerische gehen – oder weiter ins Fragmentarische oder überhaupt in die Auslassung an sich. Und auch ein Erzählen darf lyrisch sein und voll der Poesie. Vielleicht ist das Dazwischen auch die Chance, die Innenwelt und die Außenansicht einander anzunähern, vielleicht löst sich im Dazwischen der Widerspruch auf und Innen und Außen schieben sich übereinander. Ergeben dieses Andere, dieses Etwas, das in den Zeilen vibriert.

Gibt es eine Frage, die du selbst gerne zu deinem Lyrikband gefragt werden würdest oder die du dir selbst stellst?

Vielleicht würde ich mich fragen wollen, warum es Liebesgedichte in „Versuch einer Verpuppung“ sind … vermutlich würde ich diese Frage aber nicht beantworten wollen.


Lyrik, die die Komplexität von Liebe, Verlust und Sehnsucht auf eindringliche Weise einfängt

Die Seele findet ihre eigene Sprache und erzählt: von inneren Kämpfen, stiller Freude und den ungesagten Worten, die tief in uns verborgen liegen. In drei Zyklen schreibt sich Isabella Feimer durch Orte, Zeiten, endlose Weiten und winzige Feinheiten.

 

 


Haymon Her Story – Wiederentdeckte Literatur von Frauen

Editorial von Verlagsleiterin Katharina Schaller

Vor einigen Jahren – es muss in der Zeit der Pandemie gewesen sein – nahm ich an einer Online-Veranstaltung eines großen deutschen Mediums teil, bei der eine Journalistin und ein Journalist aus dem Feuilleton über Literatur sprachen. Und wie so häufig auch über das Geschlechterverhältnis in den  Programmen der Verlage, das Verhältnis zwischen Autorinnen und Autoren. Der Journalist sagte damals, dass sich das Verhältnis stark verändert hätte, hin zu mehr Frauen in den Programmen, da Frauen ab Ende der 80er-Jahre auch gelernt hätten zu schreiben.

Nach der Teilnahme an der Veranstaltung war ich wütend, vor allem deshalb, weil ich dachte: Das alles wird sich nie ändern. Die Perspektive wird sich nie ändern. Zum Glück habe ich mich geirrt, zumindest teilweise. Ja, Verlage müssen sich gefallen lassen, dass ihre Programme auf Geschlechterverhältnisse gezählt werden (und das ist nur ein Parameter). Das ist gut so. Denn die Aussage, dass dieses Verhältnis nicht beeinflussbar sei oder auf Qualitätskriterien basiere, ist schlicht falsch.

Frauen haben schon immer geschrieben, Frauen waren schon immer Autoren, aber sie wurden in ihrer Arbeit behindert, durften zu oft nur im Hintergrund, für ihre Schriftsteller-Männer, schreiben, wurden häufig nicht gefördert. Wenn es Veröffentlichungen gab, setzte alsbald das Vergessen, das aktive  Verdrängen ein. Haymon Her Story – Wiederentdeckte Literatur von Frauen, die neue Reihe im Haymon Verlag, herausgegeben von der Autorin Bettina Balàka, widmet sich solch vergessen geglaubten  deutschsprachigen Romanen.

Als Literaturverlag, der sich als feministisch begreift, fühlt sich diese Reihe auch nach Ankommen an. Denn
neben den Ansätzen in der Gegenwart, neben den Veränderungen, die wir uns für die Zukunft wünschen, bedeutet eine solche Reihe, dass wir die Geschichte des weiblichen Schreibens ein Stückweit zugänglicher machen dürfen, dass wir erkennen, wie und in welch unterschiedlichen Formen und worüber Frauen  geschrieben haben.

Jeder Roman, der in der Reihe erscheint, wird gerahmt von einem Beitrag Bettina Balàkas zur literarischen Einordnung und einem Beitrag von der Historikerin Katharina Prager zur biografischen Einordnung. Den  Auftakt der Reihe macht Doris Brehm mit „Eine Frau zwischen gestern und morgen“, ein Roman über  Widerstand im Krieg, über die Widerständigkeit von Frauen. Es gäbe keinen besseren, keinen treffenderen Start für diese Reihe.


Zwei Frauen im Widerstand: Wie viel sind sie bereit zu riskieren?

Zwischen bitterem Verrat, unmöglicher Liebe und eiserner Entschlossenheit

  • Der Roman von Doris Brehm aus den 1950er-Jahren erzählt von Widerstand, Menschlichkeit und Mut, von der Emanzipation einer Frau während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit.
  • Eine Buchhandlung in Wien: Versteckt hinter Büchern, die nicht mehr existieren dürfen, rettet Gerda mehr als nur Worte, schafft einen sicheren Ort, grenzt die Zerstörung aus.

 

 


© Bildarchiv der KPÖ

Doris Brehm (1908–1991): Schriftstellerin, Bibliothekarin und Widerstandskämpferin. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Brehm im kommunistischen Widerstand als „U-Boot-Referentin“, deren Aufgabe es war, geheime Unterkünfte für Jüdinnen und Juden sowie Deserteure zu organisieren. Im April 1945 wurde sie Mitglied der KPÖ, war in der Redaktion der von den drei demokratischen Parteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ) herausgegebenen Tageszeitung „Neues Österreich“ tätig und begann ihre Arbeit als Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Der Roman „Eine Frau zwischen gestern und morgen“ erschien 1955 und ist von den Erfahrungen Brehms geprägt.

© Christopher Mavrič

Bettina Balàka wurde 1966 in Salzburg geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Wien.
Zahlreiche Auszeichnungen und Erscheinungen. Bei Haymon zuletzt
erschienen: der historische Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ (2023),
der Gedichtband „Die glücklichen Kinder der Gegenwart“ und der Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen“ (beide 2024).


„Die ukrainische Kultur soll zu einem vereinigenden Faktor für alle Ukrainer werden“ – Ein Essay von Andrej Kurkow

In seinem Essay „Die Rolle der Kultur nach dem Krieg“ spricht Andrej Kurkow über den Wiederaufbau der Ukraine, wenn die Invasion durch Russland endet. Ein Wiederaufbau, der längst nicht nur die physische Zerstörung des Landes betrifft, sondern auch die Seelen der Menschen, die darin wohnen. Um Wunden zu heilen, Traumata zu bewältigen – schlicht: weiterzuleben – spielt die ukrainische Kultur eine wichtige Rolle. Die kulturelle Identität, die Geschichte, die Sprache sind es, die den Weg in eine Zukunft nach dem Krieg sichern und die Gesellschaft vereinen.

In den ersten Monaten der neuen russischen Invasion gab es in der ukrainischen Gesellschaft neben den Diskussionen über Kampfhandlungen aktive Debatten über den zukünftigen Wiederaufbau der Ukraine. Aktivisten kündigten die Gründung von Fonds zur Mittelbeschaffung an, die dem Wiederaufbau des Landes zugutekommen sollen, ausländische Architekten präsentierten ihre Visionen und Projekte, westeuropäische Städte und ganze Länder erklärten, welche Städte oder Regionen der Ukraine sie “unter ihre Fittiche” nehmen und bei der Wiederherstellung der Infrastruktur, Straßen und Gebäude unterstützen würden.

Aber der Krieg zog sich hin, die Zerstörungen wurden immer größer, und die Diskussionen über den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg verstummten und rückten in den Hintergrund. Obwohl lokale Wiederaufbauarbeiten in der Region Kyjiw fortgesetzt werden, wo die Städte Borodjanka, Butscha, Irpin, Hostomel, Worsel und andere von russischen Raketen und Granaten zerstört wurden. Auch in Kyjiw wurden mehrere durch russische Raketen beschädigte Hochhäuser wiederhergestellt. Was aber die Ukraine nach dem Krieg erwartet, scheint nun eine riesige, kaum zu bewältigende Aufgabe zu sein. Es geht um den physischen Wiederaufbau eines von Russland zerstörten Landes, von dem immer noch 20 Prozent des Territoriums besetzt sind.

Der physische Wiederaufbau des Landes bedeutet die Wiederbelebung eines zerstörten und in Ruinen verwandelten Territoriums, wohin die Einheimischen nur dann zurückkehren werden, wenn dort wieder Bedingungen für ein normales Leben entstehen. Es ist klar, dass viele Ukrainer in Dörfern ihre eigenen Häuser und Höfe selbst wiederaufbauen wollen. Man darf jedoch nicht vergessen, in welchem moralischen und psychologischen Zustand die Bewohner in die neu aufgebauten Städte und Dörfer zurückkehren werden.

„Die Ukraine heute ist ein Land mit traumatisierten Menschen. Das Ausmaß der Traumatisierung kann sehr unterschiedlich sein, denn viele haben nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Geliebten und Angehörigen verloren. Viele haben den Tod gesehen und sind nur knapp dem eigenen Tod entkommen.“

Andrej Kurkow auf der Geschwister-Scholl-Preisverleihung 2022

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er studierte Fremdsprachen (spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Romane wie „Picknick auf dem Eis“ (1999) und „Der Milchmann in der Nacht“ (2009) machten ihn einem breiten Publikum bekannt. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet.

Bewohner von Städten und Dörfern fernab der Frontlinie hörten die Explosionen von Raketen und Drohnen und sahen die Folgen der Luftangriffe. All dies lässt sich mit einem Wort beschreiben: “Schmerz”. Dieser Schmerz sammelt sich in der Seele eines jeden Ukrainers an und darf nicht ignoriert werden. Denn er wird einen Ausweg suchen, er wird sich lange Zeit nach dem Krieg zeigen.

Wenn für den Wiederaufbau von Städten und Dörfern Baumaterialien, Baumaschinen, Werkzeuge und Arbeitskräfte benötigt werden, braucht es für die Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Seele eines traumatisierten Menschen ganz andere Werkzeuge. Und eines der wichtigsten “Werkzeuge” für die Rückkehr einer Person zu einem normalen Leben ist die Kultur. Dieses Wort umfasst viele Konzepte. Es geht nicht nur um Künste, sondern auch um die Rückkehr in die Gesellschaft einer gewohnten Kultur der Kommunikation, der Kultur der guten Nachbarschaft, der traditionellen ukrainischen Toleranz, insbesondere in den Grenzgebieten, wo viele Vertreter verschiedener nationaler Minderheiten leben.

In den letzten Monaten erinnere ich mich oft an meine Kindheit in den 1960er-1970er Jahren. Obwohl bereits 15-20 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen waren, war der Krieg überall präsent. Kyjiw war bereits wiederaufgebaut und restauriert worden, und wenn es irgendwo noch Ruinen in der Stadt gab, handelte es sich um konservierte Gedenkruinen, die an den kürzlichen Krieg erinnerten. Ein Beispiel dafür ist die Uspenski-Kathedrale des Höhlenklosters, des wichtigsten Klosters in Kyjiw.

Aber trotz des friedlichen Lebens in den 1960er-1970er Jahren war der Krieg täglich präsent, er erinnerte uns ständig an sich, erzählte von sich. Und das lag daran, dass der Krieg zum Hauptthema der sowjetischen Nachkriegskultur wurde. Täglich liefen im Fernsehen Kriegsfilme, Kriegsveteranen kamen in die Schule und erzählten von ihren Heldentaten, in den Buchläden wurden zahlreiche Romane über heldenhafte sowjetische Soldaten verkauft. Deshalb spielten wir Kinder ständig Krieg im Hof vor unserem Haus. Und als wir in die Schule kamen, wurden die Kriegsspiele von unseren Lehrern organisiert. Für diese Spiele, die mir jetzt eher wie Militärübungen für Kinder erscheinen, wurden wir an verschiedene Orte auf dem Land oder im Wald gebracht. Dieses “Spiel” wurde “Sarniza” genannt und fand regelmäßig in der gesamten Sowjetunion statt. Und natürlich spielten Exkursionen in Kriegsmuseen und zu den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle in der Erziehung.

„Diese Erinnerungen führen mich zu dem Gedanken, dass die ukrainische Nachkriegskindheit nicht die sowjetische Nachkriegskindheit wiederholen sollte, die sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt hatte. Die Aufgaben der Kultur, der Musik, des Films und der Literatur sind ganz andere. Die ukrainische Kultur soll die Ukrainer aus dem Kriegszustand herausholen und ihnen helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Die ukrainische Kultur soll zu einem vereinigenden Faktor für alle Ukrainer werden – sie soll sie auf ihrem Weg in eine Nachkriegszukunft vereinen.“

Die Stimmen des Krieges werden bleiben, sie werden hörbar sein und eine wichtige patriotische Rolle spielen. Die Bücher der Schriftsteller, die die Ukraine mit Waffen in der Hand verteidigten, werden zu neuen Klassikern. Anatolij Dnistrowskyj, Artem Tschech, Artem Tschapaj, Markijan Kamysch und viele andere werden eine neue Generation von Frontschriftstellern sein, sie sollten jedoch nicht das Schicksal der sowjetischen Frontschriftsteller wiederholen, die nach Anweisung der kommunistischen Partei ihr ganzes weiteres Leben ausschließlich Bücher über den Krieg schreiben mussten.

Die Geschichte legt Matrizen auf, aber wir leben in einer dynamischeren und vor allem demokratischen Zeit! Das bedeutet, dass der Staat den Kulturschaffenden, Schriftstellern und Musikern nicht vorschreibt, worüber sie singen und schreiben sollen. Der Staat sagt den Architekten nicht, welcher Stil gerade angemessen ist. In den über dreißig Jahren der Unabhängigkeit hat sich in der Ukraine eine von der politischen Konjunktur unabhängige Kultur herausgebildet. Die ukrainische Kultur konnte eigenständig und selbstgenügsam werden. Sie reagiert auf die kulturellen Bedürfnisse der Ukrainer selbst. Als die Ukrainer mehr über die Geschichte ihres Landes und ihres Volkes wissen wollten, erschienen neue fachliche und belletristische Bücher zu diesem Thema. Als die Ukrainer mehr über ihre historischen Persönlichkeiten erfahren wollten, entstanden biografische Romane und Forschungen über Hetman Mazepa, Skoropadsky und Nestor Machno. Es erschienen neue fachliche und belletristische Bücher über wichtige historische Ereignisse und markante Figuren der ukrainischen Geschichte.

Aktuell sind Bücher über die Geschichte der Ukraine sehr beliebt an der Front. Ukrainische Soldaten bitten darum, ihnen Bücher über die Geschichte der Ukraine zu schicken, während russische Soldaten Bücher über die Geschichte der Ukraine in den Bibliotheken auf besetzten Gebieten zerstören.

„Geschichte und Kultur eines Volkes sind Teile seiner nationalen Identität. Und eines der Hauptziele der russischen Aggression gegen die Ukraine ist die Zerstörung der ukrainischen Identität, die Assimilation der Ukrainer.“

Gerade aus diesem Grund zerstörten russische Raketen das Museum des bekannten ukrainischen Philosophen Hryhorij Skoworoda in der Nähe von Charkiw oder das Museum der Künstlerin Marija Prymatschenko in der Nähe von Kyjiw.

Das auffälligste Beispiel für ein Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Kultur ist die Ermordung des ukrainischen Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko durch russische Soldaten. Als er zusammen mit seinen Eltern und seinem kranken halbwüchsigen Sohn auf dem besetzten Gebiet der Region Charkiw zurückblieb, führten die Besatzer ihn zu Verhören ab. Nach dem zweiten Verhör kehrte er nie nach Hause zurück. Acht Monate später wurde seine Leiche gefunden und identifiziert. Zwei Kugeln aus einer Makarow-Pistole wurden aus seinem Körper entfernt, was nur beweist, dass der ukrainische Schriftsteller gezielt hingerichtet wurde.

Das tragische Schicksal von Wolodymyr Wakulenko ist bereits Teil der modernsten Geschichte der Ukraine geworden. Genauso wie das Schicksal des in Butscha bei Kyjiw ermordeten Professors und Übersetzers aus dem Altgriechischen Oleksandr Kysljuk, genauso wie die Schicksale dutzender anderer von Händen der Russen ermordeter Dichter, Schriftsteller, Musiker, Verleger und Journalisten.

„Die ukrainische Kultur hat sowie die gesamte ukrainische Gesellschaft in diesem Krieg schwere Verluste erlitten. Dennoch zeigt eben dieser Krieg, wie groß die Rolle der Kultur in einem Land ist, das seine Unabhängigkeit verteidigt.“

Heute ist die ukrainische Kultur in Europa stärker vertreten als in der Ukraine selbst. Dies geschieht hauptsächlich durch eine neue Generation ukrainischer Kulturmanager, Ausstellungskuratoren, Dramatiker und Schriftsteller. Dank ihrer aufklärenden und diplomatischen Arbeit im Ausland versteht die Welt die Ukraine und die Ukrainer besser und unterstützt sie dadurch stärker. Nach dem Krieg wird die Hauptlast der Wiederherstellung des kulturellen Lebens auch auf den Schultern dieser neuen Generation liegen. Dennoch hoffe ich sehr, dass auch die Kulturinstitutionen Europas und anderer Kontinente nicht abseitsstehen werden. Die besonderen kulturellen Beziehungen, die sich zwischen der Ukraine und den europäischen Staaten vor dem Krieg und während des Krieges entwickelt haben, sollten nach dem Krieg noch intensiver werden, damit wir sehr bald von einer vollständigen kulturellen Integration der Ukraine in Europa sprechen können.

Für mich wären die Ausstellungen von Gustav Klimt in Charkiw und Egon Schiele in Kyjiw bedeutungsvolle und symbolische Episoden der Wiederbelebung eines normalen kulturellen Lebens in der Ukraine. Dies würde mir und allen Ukrainern sofort Optimismus und Glauben an die Zukunft, an die europäische Zukunft der Ukraine verleihen.


Der Text Die Rolle der Kultur nach dem Kriegwurde für das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten Sektion V – Internationale Kulturangelegenheiten Ukraine Office Austria verfasst und ist zuerst im Jahrbuch 2022/2023 des Außenministeriums (Titel: Imagine Dignity) erschienen; online hier abrufbar.


Es gibt eine Zukunft nach dem Krieg, es gibt Hoffnung für die Ukraine – dafür plädiert Andrej Kurkow unentwegt. In seinem neusten Buch Im täglichen Krieg berichtet er über den ukrainischen Alltag im Ausnahmezustand, zwischen Sirenengeheule und dem Versuch, eine Form von Normalität zu erfahren. Über Momente, die an ein Danach, eine Zeit in Freiheit glauben und hoffen lassen.

Der Raab, der Metzger und ein Roman, der uns in einen skurrilen Mikrokosmos entführt – ein Interview mit Thomas Raab.

Nachdem des Metzgers Existenz in „Die Djurkovic und ihr Metzger“ (HAYMONtb 2023) in Schutt und Asche gelegt wurde, war es für ihn und die frisch angetraute Danjela Djurkovic an der Zeit, neu aufzublühen. Und wo könnte man den zweiten Frühling besser erleben als in einer Kleingartensiedlung? In etwa diese Gedanken muss Thomas Raab wohl gehabt haben, als er beschloss, seinen gleichermaßen schrulligen wie liebenswerten Willibald Adrian Metzger in „Der Metzger gräbt um“ (Haymon 2024) in ein Biotop voller Gartenzwerge, kleinlicher Gesetze und neugieriger Nachbarn zu verpflanzen. Im Gespräch erzählt uns Thomas Raab von seinen eigenen Erfahrungen im Schrebergarten, was all die ereignisreichen Jahre mit dem Metzger (und dem Raab) gemacht haben und mit wem sich der Metzger wohl ausgezeichnet verstehen würde.

Lieber Thomas, dieses Mal findet sich der Metzger unerwartet im Mikrokosmos Kleingarten wieder. Dass Ordnungsliebe und Vereinsmeierei hier mitunter eigenartige Blüten treiben, wissen wir seit Elisabeth T. Spiras Alltagsgschichte (Das kleine Glück im Schrebergarten, 1992). Du bist ja selbst kleingartenerprobt. Wie kann man sich den Alltag dort vorstellen? Was ist das Schrulligste, das dir zwischen Gartenzwergen und Hochbeeten untergekommen ist?

Thomas Raab: Das Leben im Kleingarten ist ein wenig so wie in einem kleinen Bergdorf. Abgeschieden, obwohl wir mitten in Wien sind. Unter der Woche und vor allem in den Herbst- und Wintermonaten sind wir mit unseren – zum Glück lieben – Nachbarn so gut wie allein. Wenn dann der Wochenendtourismus kommt und die Gärten wieder voller werden, dann kann man nicht nur den Pflanzen beim Wachsen zusehen, sondern auch den Menschen bei ihren Faxen. Ich versteh jetzt Leute, die auf ihren Fensterbrettern hängen und stundenlang in die Gasse schauen: bestes Kino! Das Schrulligste, was ich erlebe, ist eigentlich, wie ich mir selbst beim schrullig werden zusehen kann. Wie ich mich dabei erwische, völlig ungeniert schlampert in Haus- und Gartenklamotten zum Spar zu gehen und mir nichts mehr dabei denk. Wie ich aber davor zwei- oder dreimal überlege, ob ich jetzt wirklich aus dem Gartentürl rausgehen, oder nicht doch besser zu Hause bleiben soll, um im Garten herumzuschnippeln, zum x-ten Mal die Gartenhütte aufzuräumen oder einfach nur zu sitzen, zu schauen und zu schreiben. In die Stadt zu fahren, kostet mich oft riesige Überwindung. Irgendwie kommt es mir vor, der Schrebergarten hat einen Gulli und saugt mich auf, der Waschbeckenrand ist immer weiter entfernt, der Radius immer kleiner. Ich empfinde das irgendwie als angenehm.

Der Metzger begleitet dich ja schon seit 2007. Wie hat er sich während all dieser Zeit weiterentwickelt? Und wie hängt deine persönliche Weiterentwicklung, als sein Schöpfer, damit zusammen?

Thomas Raab: Das erfreuliche daran für mich ist: Er hat halbwegs gut all das verkraftet, was ich ihm angetan habe. Und ich glaube, er mag mich immer noch. Als Entschädigung habe ich ihn an der Seite einer wunderbaren Frau erleben lassen, wie sein Dasein plötzlich schöner wird. Ich habe ihn kurzfristig so eine Art Ersatzpapa sein lassen, ihm eine Halbschwester vor die Tür geknallt, ihn vom Hochgebirge bis zur italienischen Adria ermitteln lassen. Mir ist es beim Schreiben des neuen Metzgers schon aufgefallen, und gerade jetzt wieder, wo ich die Vorschau fürs nächste Frühjahr bekommen habe. Darin findet man „Der Metzger kommt ins Paradies“, den 6. Metzger-Band, der erstmals 2013 erschienen ist. Mir ist wie Schuppen von den Augen gefallen: In diesem Band wurde der Metzger 50, mittlerweile ist er 61. Ich sehe jeden Tag anhand meiner Kinder, wie die Zeit vergeht, an mir sehe ich es auch, an meiner Frau sehe ich es natürlich nicht, 😊, aber das hat mich kurz schon ein wenig aus der Fassung gebracht: Der Metzger wird älter. Und das macht etwas mit mir, durchaus im positiven Sinn.

 

Welche Gartenzwerge wohl in den Beeten von Thomas Raab stehen?

Thomas Raab, geboren 1970 in Wien. Schulzeit eher mühsam, wäre da nicht das Klavier gewesen, sozusagen Gratis-Psychotherapie. 1988 dann doch Matura. Danach erste Versuche als Liedermacher, Studienabschluss Mathematik & Sport. Es folgten 10 Jahre einerseits als Lehrer (weil es so schön war in der Schule), andererseits im Musical- und Musiktheaterbereich und als Singer-Songwriter. Seit 2007 Schriftsteller, zahlreiche Romane um den Restaurator Willibald Adrian Metzger (u.a. Haymon), vielfach ausgezeichnet, sowie „Still – Chronik eines Mörders“ (Droemer). Neben dem Metzger lässt Raab auch die betagte Hannelore Huber ermitteln, wie zuletzt in „Peter kommt später“ (KiWi).

Du schickst ja nicht nur den Metzger auf Verbrecherjagd, sondern auch deine Hannelore Huber, zuletzt in „Peter kommt später“ (KIWI, 2024). Inwieweit sind denn der Metzger und die Frau Huber Geschwister im Geiste? Wären die beiden im realen Leben befreundet?

Thomas Raab: Ich glaub die beiden wären sehr gut befreundet, wahrscheinlich würde die Huberin dem Metzger sogar das Du anbieten – was sie bei mir nie gemacht hat. Und wahrscheinlich würde sich der Metzger sogar trauen, sie zu duzen, was wiederum ich nie gemacht hätte. Zu groß war immer mein Respekt. Und ja, sie sind tatsächlich Geschwister im Geiste. Für Hannelore Huber war mit ihrem dritten Fall meine zu erzählende Geschichte abgeschlossen. Die Huberin lebt jetzt weiter gemütlich in Glaubenthal und wird von mir in Ruhe gelassen (vielleicht lass ich sie irgendwann mal auf dem Metzger treffen, keine Ahnung) … ABER weil ich ihr Gartendasein und ihre Liebe zur Natur beim Schreiben so schätzen gelernt habe, bekommt das jetzt der Metzger ab und lebt eben in einer Schrebergartensiedlung.

Gab es bei deiner Arbeit an „Der Metzger gräbt um“ Momente, in denen dich der Metzger oder seine angebetete Danjela überrascht haben, indem sie etwas taten oder sagten, das du ursprünglich nicht geplant hattest? Wie hast du darauf reagiert?

Thomas Raab: Das ist leider die Crux bei meinem Schreiben, ein bisschen das Problem, aber für mich auch das Wunderbare. Meine Figuren überraschen mich immer. Ich schreibe planlos, und sobald ich mir einmal Pläne mache, wischen mir meine Figuren eins aus und mir kommen während dem Schreiben völlig absurde Ideen oder rührende Gedanken und dann kann ich nicht anders und muss mich dem stellen. Ich bin jetzt nicht gerade der Mensch, der vor Selbstvertrauen strotzt, aber ich glaube, wenn ich verlernen würde, meinen Figuren zu trauen und sie loszulassen, wie so wilde, ungezügelte Pferde irgendwo in der Prärie, dann würde mir die Freude am Schreiben ziemlich rasch vergehen.

Der Metzger wurde ja bereits mehrfach verfilmt, als Fernsehserie mit Robert Palfrader und als Fernsehfilm mit Simon Schwarz. Und man hört, dass wir uns bald über einen neuen Film freuen dürfen. Hattest du vor den Verfilmungen beim Schreiben ein bestimmtes Bild vom Metzger und seinen Konsort*innen im Kopf? Wie ist es für dich, wenn der Metzger von anderen zum Leben erweckt wird?

Thomas Raab: Zum Ersten ist es eine unglaubliche Ehre, überhaupt zu Lebzeiten von einem Verlag, in diesem Fall Haymon, mit einer bereits vorhandenen Reihe neu verlegt zu werden. Die Bücher bekommen ein wunderschönes Aussehen und dürfen so noch ein wenig länger leben. Ein klein wenig ähnlich ist es in punkto Film. Es ist schon ein Jackpot, wenn du eine Romanverfilmung erleben darfst, aber eine Neuauflage deiner Reihe mit neuer Produktionsfirma, neuem Sender, neuer Besetzung, das ist schon ein Wunder. Robert Palfrader war ein fantastischer Metzger, so voll Feingefühl und Hingabe. Er hat sich sehr in meinem Kopf verankert. Ja und Simon Schwarz ist auf eine andere Weise grandios, ein fantastischer Schauspieler, er gibt dem Metzger eine kottaneske Seite, schaut dabei fast aus wie der junge Mundl, das Herz in den Augen. Eine Freude. Für mich als Autor aber nehmen die Filme und die Personen keinen Einfluss auf mein Schreiben, da ist mir meine Freiheit im Kopf viel zu wichtig. Es gibt keine größere Freiheit für mich als eben das Schreiben.

 

Du hast jetzt nicht nur Lust aufs Garteln, sondern auch aufs Lesen bekommen und würdest schon gern wissen, was da hinter den Ligusterhecken getuschelt wird (natürlich nur zum Zwecke der Mileustudie)? Dann hol dir schnell den neuen Metzger-Krimi von Thomas Raab: “Der Metzger gräbt um“, erhältlich im Buchhandlung oder auf der Haymon-Website.

Die Wiederholung der Urszene: eine Psychoanalyse des Krimis

Gastbeitrag von Edith Kneifl

Ist „Ödipus Rex“ von Sophokles eine Detektivgeschichte? Nein, und doch haben beide viel gemein. Die Krimi­nalliteratur beschäftigt sich mit ähnli­chen Themen wie die klassische Psycho­analyse: mit dem ödipalen Verbrechen, seiner Aufdeckung und der damit ver­bundenen Entdeckung der Schuld und der Angst. „Kriminalschriftsteller sind die Psychoanalytiker der menschlichen Schattenseiten“ formulierte Janwillem van de Wetering.
Auch Sigmund Freud machte in einer Vorlesung für Jura-Stu­denten auf die Analogie zwischen dem Verbrecher und dem Analysierten auf­merksam: „Bei beiden handelt es sich um ein Geheimnis, um etwas Verborgenes. Aber beim Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er weiß und verbirgt, beim Analysierten um ein Geheimnis, das auch er selbst nicht weiß. Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nämliche wie die des Untersuchungsrichters. Wir sollen das verborgene Psychische aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden, von denen uns also jetzt die Herren Juristen einige nach­ahmen werden.“
Aber nicht nur die Arbeit des Detektivs erinnert an die Arbeit des Psychoanalyti­kers. Jede Detektivgeschichte läuft ähn­lich einer Psychoanalyse ab. Krimis bau­en Ängste auf, die dann am Höhepunkt der Spannung aufgelöst werden, was dem Leser Entspannung und Erleichterung verschafft. Durch die Identifikation mit dem Täter, Opfer oder Detektiv kann der Leser seinen eigenen Impulsen nachge­ben, seinem Voyeurismus freien Lauf las­sen und seine infantile Neugier befriedi­gen.
Sollte sich der Leser mit dem Detektiv identifizieren, winkt ihm als Belohnung ein mächtiges und untadeliges Über-Ich. Durch die Identifikation mit dem Opfer lebt er seine masochistischen Tendenzen zumindest in der Phantasie aus. Manchmal wird ihm dabei sogar das seltene Vergnügen gewährt, seinem eigenen Be­gräbnis beizuwohnen. In der Rolle des Opfers wird er, je nach Plot, die alten Ängste wieder durchmachen. Als verfolg­ter Täter hingegen ist es ihm erlaubt, seine aggressiven und sadistischen Gelü­ste wenigstens in der Phantasie auszule­ben.
Aber alles dies erklärt nicht hinrei­chend die Leidenschaft für Krimis. Der wesentliche Aspekt der Kriminalge­schichte ist ein anderer: Es wird eine intensive Neugier erweckt. Die menschli­che Fähigkeit zur Neugierde erreicht laut Sigmund Freud ihren ersten und inten­sivsten Ausdruck anläßlich der „Urszene“, der Beobachtung sexueller Szenen zwi­schen Erwachsenen durch das Kind. Hier also findet sich das wichtigste Element der Detektivgeschichte wieder: das gehei­me Verbrechen!

Edith Kneifl ist die Grande Dame der österreichischen Krimiszene und prägt diese seit Jahrzehnten entscheidend mit.

Durch die aktive Wiederholung der realen oder phantasierten gefährlichen Situation, die das Kind einst passiv und sehr schmerzhaft erduldet hat, versucht es, diese zu bewältigen, das ursprünglich traumatische Erlebnis unter seine Kontrolle zu bringen, seine Neugier und die in der Wiederholung erneut ausgelöste Erre­gung dieses Mal zu befriedigen. Die unbe­wußt arrangierte Wiederholung der Ur­szene kann auch in sublimierter Form erfolgen, zum Beispiel im leidenschaftlichen Lesen von Kriminalliteratur. Auch der Liebhaber von Kriminalgeschichten versucht aktiv, erlit­tene Erfahrungen wiederzubeleben und sie dadurch zu meistern.
Bei kreati­ven Menschen findet dieser Wunsch oft Ausdruck in subli­mierter Form, also in Form von künstleri­scher Produktion. Marie Bonaparte wies in ihrer dreibän­digen psychoanalyti­schen Studie über Edgar Allan Poe und seine Arbeit den enormen Einfluß des Urszenen-Traumas bei der Entstehung seiner Geschichten nach.

Der Detektiv befin­det sich in der glei­chen Lage wie das ödipale Kind. Er fie­bert vor Neugier und projiziert seine eige­ne Erregung und sei­ne Schuldgefühle auf das Objekt seiner Nachforschungen. Es ist kein Zufall, daß die großen Detektive dieses Genres, Sher­lock Holmes, C. Au­guste Dupin, Hercule Poirot und Lord Pe­ter Wimsey unverhei­ratet sind. Selbst Miss Marple war eine alte Jungfer. Sie alle sind nichts anderes als fiktive Repräsentan­ten des ödipalen Kin­des. Deshalb kann der Detektiv auch nicht als Familienoberhaupt dargestellt werden oder gar die herrschende Moral verkörpern. Das ödi­pale Kind ist nicht wirklich moralisch. Es ist nur clever. So clever wie eben ein Kind ist, bevor die Latenzzeit seine Neu­gier und seinen Wis­sensdrang dämpft.
In der inzwischen klassisch gewordenen Kriminallitera­tur gibt es zwei ver­schiedene Arten von Detektiven. Die amerikanischen Kollegen S. F. Bauer, L. Balter und W. Hunt unterscheiden in „die Eu­ropäer“ und „die Amerikaner“. In den zwanziger und drei­ßiger Jahren ent­stand in den Verei­nigten Staaten eine Version der Detektivgeschichte, die der europäischen, was Plot und Atmosphäre betrifft, durchaus ähnlich ist, auch wenn sie sozial enga­gierter und politisch korrekt sein mag. Daß sie einen wirkli­chen Neubeginn dar­stellte, liegt eher an der Figur des private-eye, der in die­sen sogenannten „hard-boiled“ Krimis nicht nur zum zen­tralen Charakter wird, sondern auch für den Leser von enormer emotionaler Bedeutung ist. Mit Hammetts Sam Spa­de und Chandlers Philipp Marlowe be­trat die USA das Par­kett der Kriminalliteratur, auch wenn Poe in Boston geboren wurde.
Die europäischen Detektive sind eher asexuell. Sie verhal­ten sich schwer neu­rotisch. Holmes und Poirot sind nicht nur narzißtisch gestört, sondern sicherlich auch Zwangsneuroti­ker. Die amerikani­schen Detektive, zum Beispiel die beiden, die Humphrey Bo­gart darstellte, sind dagegen sexuell aktiv oder zumindest sehr phallisch und vor al­lem für Frauen at­traktiv. Außerdem neigen sie zu Brutali­tät und Gewalt, wis­sen, ihre Fäuste und – wenn nötig – auch ihre Schußwaffen zu gebrauchen. Tatsäch­lich besitzen sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kriminellen, denen ihre eher intel­lektuellen europäi­schen Kollegen auf der Spur sind. Der amerikani­sche Detektiv bewegt sich selbst am Rande der Kriminalität und ist vielleicht gerade auch deswegen so faszinierend.
Die Krimi-Sucht der Europäer hat ihren Ursprung wohl eher in der Sucht nach Aufklärung. Im klassischen euro­päischen Kriminalroman steht immer das Rätsel und seine Lösung im Mittelpunkt – also das geheime Verbrechen.
Ebenso wie der europäische repräsen­tiert aber auch der amerikanische Detek­tiv das ödipale Kind. Da er seine Sexuali­tät jedoch nicht sublimiert wie sein euro­päischer Kollege, befindet er sich in viel größerer Gefahr als dieser, zum Kompli­zen des Täters zu werden. Doch gerade diese Triebhaftigkeit macht die amerikanische Detektivgeschichte emotional erre­gender als die europäische. Auch der amerikanische Detektiv wird nicht wirk­lich zum Verbrecher. Würde er tatsächlich am ödipalen Verbrechen teilhaben, dann wäre die Geschichte nicht länger eine Detektivgeschichte, sondern eine Art „Ödipus Rex“.
Die Urszene ist die dramatische Quint­essenz aller Ängste. Wie traumatisch sie erlebt wird, hängt davon ab, wie sie erfah­ren wurde: von der psychischen Entwick­lung des Kindes zu dieser Zeit, von der Beziehung zwischen den Eltern und von der Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Aber egal, wie die Reaktion des Kindes aussieht: Sie hat immer Angst zur Folge. Ob es die Urszene verleugnet, akzeptiert oder teilnahmslos reagiert – die verdräng­te Erinnerung wird auf jeden Fall bis zu einem gewissen Grad mit einem schmerzvollen Effekt behaftet sein.
In der Kriminalliteratur wird dem Le­ser durch die graduelle Enthüllung der Indizien ein wesentliches Detail nach dem anderen dargeboten. Und schließlich wird das Verbrechen rekonstruiert, das Ge­heimnis gelüftet, das heißt: Die Urszene wird entlarvt. In einer Orgie von Nachfor­schungen kann das Kind im Leser, perso­nifiziert durch den großen Detektiv, schauen, erinnern und zusammenfügen – ohne Furcht und ohne Schande, im Ge­gensatz zu dem erschrockenen Kind, das Zeuge der Urszene war.
Die Kriminalgeschichte versucht also vom Standpunkt des Unbewußten aus, weniger schmerzvolle Urszenen zu inszenieren. Diese fiktive Urszene befriedigt vor allem die „Voyeure“. Aber der Voyeur wird durch sein Zuschauen nie vollkom­men zufriedengestellt. Er muß immer wieder hinsehen, so wie der Leser von Kriminalgeschichten unermüdlich diesel­be grundlegende mythische Erzählung von Mord, Schuld und Rache ohne Lange­weile liest, um Befriedigung zu erfahren. Wirkliche Befriedigung erlangen dabei weder Schriftsteller noch Leser oder Voyeur. Der Schriftsteller besitzt zwar we­nigstens die Kontrolle über das Gesche­hen, aber ebenso wie der Leser bleibt auch er immer nur Zuseher und nicht Teilneh­mer an diesem spannenden Ereignis.

Dieser Beitrag ist erschienen in Die Furche Nr. 26, Rubrik: Dossier, 26.6.2003.


Als ausgebildete Psychoanalytikerin begleitet uns Edith Kneifl in ihrem neuesten Werk in die Wiener Seele und bringt Licht in deren dunkle, verborgene und auch beunruhigende Ecken. Wir versumpfen in gemütlichen Absteigen, lachen laut auf, wo es in der guten Gesellschaft verpönt ist, und halten die Luft an, wenn sich die Ereignisse überschlagen. Was auch nicht zu kurz kommt: Liebesgeschichten, Intrigen, Skandale, kurzum: alles, was man an dunklen Herbstabenden braucht. „Der Wolf auf meiner Couch“ ist ab dem 19. September 2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.