Autor: Marina Höfler

Wenn Eltern die Psyche eines Kindes zermürben, bis es zur Eskalation kommt – Ein Gastbeitrag von Herbert Dutzler

In Herbert Dutzlers Kriminalroman „Am Ende bist du still“ erzählt er eine Geschichte mit höchst brisanter Thematik: Helikoptereltern, die ihren Kindern die Luft zum Atmen und den Raum zur freien Entfaltung nehmen. Im Roman kommt es zur schlimmsten aller Konsequenzen: ein Kind mit dem unstillbaren Wunsch nach Rache an seiner eigenen Mutter.

Durch seine jahrelange Erfahrung als Lehrer weiß Herbert Dutzler, wie sehr manche Mütter versuchen, ihre Kinder zu kontrollieren und zu perfektionieren und welche Auswirkungen das haben kann. Gerade dadurch schafft er es, die Atmosphäre im Elternhaus von Protagonistin Sabine beklemmend realistisch wirken zu lassen …

Ein Gastbeitrag

Eine Mutter, die man sich nicht wünscht

Schon als ich das erste Mal mit meinem Verleger, Markus Hatzer, über meinen Roman „Am Ende bist du still“ sprach, schüttelte er lachend den Kopf und meinte nur „Die Mutter!“ Und nachdem mehrere andere Testleser*innen das Manuskript gelesen hatten, wurde mir immer klarer, dass es nicht ausschließlich ein Roman über eine rachsüchtige Tochter, sondern vor allem auch über eine Mutter ist. Eine, die man sich nicht wünscht, ganz sicher nicht.

Das wirft natürlich die Frage auf, ob es solche Mütter überhaupt gibt oder ob der Charakter der Mutter – im Roman, glaube ich, kommt kein einziges Mal ihr Vorname vor – nur die literarische Verdichtung eines ganz bestimmten Typus ist und daher in dieser Ausformung in der Realität gar nicht existiert.

Eine Mutter, die sich nicht um ihr Kind kümmert, sondern eine einwandfrei funktionierende Kopie ihrer selbst auf den Weg ins Leben schicken will. Ein Kind, das nicht quietscht, knackt und schmutzt, sondern eines, das sich nur Drehbuchautor*innen gnadenlos kitschiger Fernsehserien vorstellen können. Ein Kind, das gerade gut genug dafür ist, einen Hintergrund für die Konsumwünsche der Mutter abzugeben – es macht schließlich unbändigen Spaß, ein kleines Mädchen ganz nach eigenen Vorstellungen zurichten und einkleiden zu können. Ob dieses Kind selbst auch etwas will – na, darüber könnte man zwar in stillen Stunden einmal nachdenken, will man aber nicht.

Ein Erfahrungsschatz von 2700 Müttergesprächen

Wenn Liebe zur Last wird: Viele Kinder fühlen sich durch die erdrückende Zuwendung ihrer Eltern in einen goldenen Käfig gesperrt.

Und was Mütter betrifft, brauche ich mein Licht als Experte mit jahrzehntelanger Erfahrung wirklich nicht unter den Scheffel stellen. Ich habe es überschlagen: In 35 Jahren Unterrichtstätigkeit habe ich schätzungsweise 3000 Gespräche mit Erziehungsberechtigten geführt. Und 90 Prozent davon waren, das scheint bei uns eine hartnäckige Tradition zu sein, Mütter. Also circa 2700 Müttergespräche.

Jetzt lassen wir einmal alle die Mütter beiseite, mit denen man sachliche Gespräche führen konnte, die man verstand und die einen verstanden, die ihre Kinder mit Geduld, Humor, Zuwendung und Gelassenheit erzogen, wie ich es für vernünftig halte. Solche, die ihr Kinder ernst nehmen, ihnen zuhören und wissen, dass es oft Zeit braucht, bis Krisen und Probleme überwunden werden. Die lassen wir jetzt beiseite, denn die sind, mit Verlaub, literarisch, nun ja, wie soll man es sagen, etwas uninteressant. Was soll man schon schreiben über eine Familie, in der mehr oder weniger alles funktioniert, ohne dass man sich gegenseitig an die Gurgel geht? Wie gesagt, im wirklichen Leben sehr schön, in der Literatur nicht zu gebrauchen.

Also erinnert man sich, nachdem der Plan gefasst worden ist, eine alles erstickende Mutterfigur in einem Roman auf- und abtreten zu lassen, an die – Gott sei Dank seltenen – Begegnungen mit Müttern, die man auch zu Hause gleich weitererzählt, weil man den Schrecken irgendwie loswerden muss. Die Gespräche mit hysterischen Furien ebenso wie tief besorgten, weinerlichen Frauen, die nicht nur ihren Kindern, sondern sogar hartgesottenen Lehrerveteranen bleibende Schuldgefühle zu implantieren vermögen.

Schlaflose Nächte und verunsicherte Kinder

Da war jene Mutter, die mir erklärt hat, die Rechtschreibschwäche der Tochter werde gezielt bekämpft, indem man täglich mehrere Stunden konzentriert übe. Das Mädchen war ein zerfahrenes Nervenbündel, das bei jedem Laut zusammenzuckte und keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbrachte. Zumindest in Gegenwart der Mutter. Wahrscheinlich wäre auch ich selber nach einem solchen wochenlangen Übungsdrill zusammengebrochen und hätte nicht einmal mehr einfachste Wörter richtig schreiben können.

Und da war die, die mit tiefen Augenringen in die Sprechstunde kam, erklärte, sie könne selbst in den Nächten vor Schularbeiten nicht mehr schlafen und müsse, ebenso wie ihr Sohn, regelmäßig am Morgen vor der Schularbeit erbrechen. Wie wird sich das Kind gefühlt haben, dem jeden Morgen mit weinerlicher Stimme deutlich vorgeführt wurde, welch schwere Schuld es am elenden Zustand der Mutter trug?

Und da war jene aufgetakelte Mutter, deren Parfumwolke einem fast den Atem nahm. Nach dem Sprechtag stieß einen der Schulwart kumpelhaft in die Seite und erklärte, er wisse schon, warum man sich die Dame als letzte ins Klassenzimmer geholt habe, als keiner mehr draußen gewartet habe. Sie sei Geschäftsfrau, könne sich nicht ständig um das Kind kümmern, das im übrigen nicht der Sohn ihres jetzigen Lebensabschnittspartners sei. Sie habe Geld investiert, Nachhilfe bezahlt, biete alles, was sich ein Kind nur wünschen könne. Wie es möglich sei, dass ihr Sohn derart schlechte Leistungen erbringe. Ob das nicht, man überlege ja nur, an der Unfähigkeit der Lehrperson liege? Der Sohn, so erinnere ich mich, war ein Schatten, der in der Schule herumschlich, ohne Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen zu können, der so wenig Distanzgefühl besaß, dass er an einen so nahe herantrat, bis er einen berührte, und der im Turnunterricht nicht einmal in der Lage war, einen Ball zu werfen, geschweige denn, zu fangen.

Drei Beispiele, aus denen man sich als Autor dann ein Schreckgespenst von einer Mutter zusammensetzt, das es glaubwürdig erscheinen lässt, dass sie von ihrer Tochter gehasst wird.

Autor Herbert Dutzler weiß durch seine Tätigkeit als Lehrer nur zu gut, wie viel Druck Eltern oftmals auf ihre Kinder ausüben. Foto: Haymon Verlag/ Fotowerk Aichner.

Schwarzmalerei?

Ist denn das zulässig, wird man fragen, ist denn das realistisch, darf man denn das, sich eine so abgrundtief unsympathische Figur ausdenken, sollte man nicht lieber auch die guten Seiten eines Charakters darstellen, anstatt einseitige Schwarzweißmalerei zu betreiben?

Die Arbeit an literarischen Charakteren ist aber immer eine Verdichtung eigener Lebenserfahrung.

Die fiktiven Charaktere werden aus Merkmalen konkreter zusammengesetzt, sodass sich im besten Fall eine stimmige, glaubwürdige Figur ergibt, die aber immer fiktiv, erfunden bleibt, weil sie in ihrer Ganzheit so nicht existiert. Aber existieren könnte.

Dazu kommt, dass ich bisher nur Romane aus personaler Erzählperspektive verfasst habe, das heißt, die Geschichten werden ausschließlich aus dem Blickwinkel einer einzigen Person erzählt, man folgt immer den Handlungen und Gedanken dieser einen Person. Und von dieser kann man jetzt natürlich nicht Objektivität und Distanz erwarten, diese Person steht den anderen Charakteren des Romans mit Gefühlen, manchmal sogar mit Vorurteilen behaftet, gegenüber.

Nicht autobiographisch

Fast immer steht, bei Gesprächen nach Lesungen zum Beispiel, die Frage im Raum, inwieweit Charaktere und Ereignisse in einem Roman autobiographisch sind. Natürlich war auch meine Mutter das eine Mal zu ängstlich, zu besorgt, ein anderes Mal zu dominant, ein wieder anderes Mal unbeherrscht und voller Zorn. An solche Einzelheiten, ich nenne sie einmal Gedankensplitter, erinnert man sich während des Schreibens, versucht die eine oder andere Situation, das eine oder andere Gefühl aus der Kindheit wachzurufen, um schließlich eine glaubwürdige Komposition eines Charakters abliefern zu können. Aber so ist eben literarisches Schreiben – als autobiographisch kann man es, denke ich, deshalb nicht bezeichnen.

Zum Ende möchte ich noch eine Bitte um Verzeihung anfügen, die ich auch schon in der Danksagung des Romans vorgebracht habe: Ich möchte mich bei der überwältigenden Mehrheit aller Mütter entschuldigen, denn die ist nicht so wie die Mutter in meinem Roman.

Und: Verschenken Sie das Buch nicht zum Muttertag. Unpassend!

Brandaktuell und nervenzerreißend spannend: „Am Ende bist du still“.

 

Sabine kann sie nicht mehr ertragen: ihre Mutter, die sie ständig überwacht und die ihr, schon seit sie ein kleines Mädchen war, vorschreibt, was sie zu tun, zu fühlen, zu denken hat. Und die auch ihre erwachsene Tochter nicht loslassen will. Bis Sabine nur noch einen einzigen Ausweg sieht: Sie muss sich befreien. Ihre Mutter muss sterben.

Verstörend nachvollziehbar und nervenzerreißend spannend erzählt Dutzler eine Geschichte, die tragischer nicht sein könnte. Ein einzigartiges Feuerwerk aus verstörender Spannung und dem unstillbaren Wunsch nach Vergeltung! Lasst euch mitreißen!

Mehr Infos zum Buch gibt es hier.

Sprengt den Parthenon!

 „Wir sind die verträumten Irren dieser Erde,

die mit dem entflammten Herzen, dem enthemmten Blick.

Wir sind die unerlösten Denker und die tragisch Liebenden.“

– Jorgos Makris, „Wir, die Wenigen“ (1950) 

 

Zerstörung als Kunst, Zerstörung als Befreiung. Was vielen von uns als größtmöglicher Akt der Barbarei erscheint, als Zivilisationsbruch schlechthin, das ist für Jorgos Makris eine Geste der Emanzipation: „Sprengt den Parthenon!” – so lautet sein ungeheuerlicher Aufruf am 18. November 1944.

In Tagen, in denen uns der blindwütige Bildersturm des „Islamischen Staates” erschüttert, liest sich sein Programm heute wie ein verdammenswerter Aufruf zum Terrorismus. Und doch lohnt sich die Auseinandersetzung mit seinem subversiven Werk, denn es berührt uns in den Grundfesten unserer Gesellschaft und lässt tief blicken. Christos Chryssopoulos nimmt in seinem neuen Roman das provokante Manifest des Künstlers auf und wagt ein ungeheuerliches Gedankenexperiment: Ein Buch wie pures Dynamit.

Hoch thront die Akropolis über Athen, der übergroße Schatten den sie wirft, erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Als Symbol für die Zivilisation schlechthin, als „Wiege der Demokratie” und als Ausgangspunkt europäischer Kultur verkörpert sie wie kaum ein anderes Monument ein gemeinsames Erbe, das sich tief in unser Selbstverständnis und unser kollektives Unterbewusstsein eingegraben hat. Eines das die nationale Identität determiniert, ein Monument, wie ein unüberwindbares Mahnmal, das an eine glorifizierte Vergangenheit erinnert. Die Akropolis als Über-ich einer Gesellschaft, als gigantische Vaterfigur, die an die eigene Unzulänglichkeit appelliert, ein unerbittlicher Patriarch, dem man nicht gerecht werden kann.

Jorgos Makris

Für den Surrealisten Makris stand das Emblem abendländischer Überlegenheit für einen lähmenden Kult: Der Parthenon lastet schwer auf den Schultern der (griechischen) Gesellschaft, die nicht aus seinem Schatten treten kann. Die Auslöschung aller antiken Denkmäler propagierte der streitbare Künstler jahrzehntelang in Pamphleten, Interventionen und Debatten. In Traktaten der „Bewegung der Verantwortungslosen“, wie sich Anfang der 1950er Jahre eine größere Gruppe von Intellektuellen und KünstlerInnen nannte, in der auch Jorges Makris Mitglied war, wird die Zerstörung von antiken Denkmälern als nihilistisch motivierter Akt erklärt, der das Ende des „lächerlichen und verlogenen Überlebensgetues“ und der Anziehung von stümperhaften „Amateurtouristen und Eunuchen“ zum Ziel habe.

Christos Chryssopoulos erlebt die schwierigen Verhältnisse in Griechenland hautnah und sieht es als Pflicht, in seinen Büchern Stellung zu beziehen. Der 1968 in Athen geborene Schriftsteller, Übersetzer und Fotograf studierte Wirtschaftswissenschaften und Psychologie. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. verlieh ihm die Französische Republik 2015 den Titel des Ritters der Wissenschaften und Künste. Christos Chryssopoulos ist Mitglied des Europäischen Kulturparlaments und schreibt regelmäßig für die nationale und internationale Presse. Seine Bücher werden weltweit übersetzt. Mit „Parthenon“ (2018) erscheint erstmals ein Werk von Christos Chryssopoulos in deutscher Sprache. Foto: Tom Langdon

Die freilich provokanten Thesen, die Makris mit revolutionärem Pathos vorbrachte, mögen verstören und gerade angesichts der fatalen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts – aus gutem Grund – indiskutabel scheinen. Und doch werfen sie Fragen auf, die auch vor dem Hintergrund der griechischen Wirtschaftshavarie und Identitätskrise aktueller sind denn je.

Was wäre, wenn die Akropolis eines Tages einfach nicht mehr da wäre? Würde aus den rauchenden Trümmern der Tempelanlage Neues entstehen? Nach dem Schock die Befreiung, das Aufatmen, die Erlösung?

Makris’ radikaler Gedanke ist der Ausgangspunkt für Christos Chryssopoulos’ Gedankenexperiment. Kann die Zerstörung des übermächtigen Monuments ein schöpferischer Akt der Befreiung sein? Kann man seine Vergangenheit auslöschen? Und was tritt an ihre Stelle?

Parthenon

„Parthenon” beginnt mit der vollendeten Tatsache. 60 Jahre nach Makris’ Manifest erwacht die Stadt und ihr Wahrzeichen liegt in Trümmern.  Ein junger unbescholtener Mann hat das jahrtausendealte Symbol zum Einsturz gebracht. Getrieben von der Sehnsucht, sich und die Griechen von der hemmenden Bürde ihres übermächtigen antiken Erbes zu befreien. In einer Zeit, in der sich die griechische Kultur auf eins reduziert hat, nämlich einen Haufen schmutziger Steine, physisch und moralisch verschmutzt von den Horden ungepflegter und ungebildeter Touristen, die keinen Unterschied zwischen einem römischen Tempel und einem griechischen Tempel sehen würden.

So ging der Protagonist Ch.K. den ganzen Weg bis ans Ende seiner Idee, die fest verankert ist mit seinem Gewissen, dass nur die Folgen der Handlung wichtig sind … Und die Reaktion der Behörden lässt nicht lange auf sich warten. Nach dem ersten Schock, geht man der sofortigen Aufklärung des Verbrechens nach, bis immer mehr Details ans Tageslicht kommen und der Täter schließlich entlarvt ist und seine gerechte Strafe erfährt.

Hier setzt die Auseinandersetzung mit der politischen Dimension von Kunst, der Frage der Performativität von Literatur und jene nach Identität ein: Was ist eine Stadt, eine Nation ohne Monument? Was bleibt, außer dem Gefühl von Schutzlosigkeit, wenn man dessen entledigt wird? Was ist die gerechte Strafe für eine so tiefschürfende Tat?

In der Art einer journalistischen Untersuchung, eingebettet mit Archivdokumenten und Zeugenaussagen, macht Christos Chryssopoulos die große Ambivalenz jeder nationalen Identität zum Thema. Es ist ein mutiger, sprachlich kraftvoller Roman über die Konstruktion einer Nation und die Poesie der Zerstörung, der – nun erstmals aus dem Neugriechischen übersetzt – dazu beiträgt, die Lücke der griechischen Gegenwartsliteratur zu erschließen.

Wir laden Sie ein, auf eine längst überfällige Reflexion über das Warum einer ewigen und systematischen Bewunderung für die Überreste einer scheinbar „glorreichen“ Vergangenheit und über den aufwendigen Versuch, die Geschichte frei von allen Übeln neu zu schreiben.

 

„Die Profanierung des Nicht-Profanierbaren

ist die politische Aufgabe der kommenden Generation.“

Giorgio Agamben, „Profanierung“

»Wozu sind wir fähig, wenn der dünne Lack der Zivilisation abblättert?« – Autorin Tanja Paar im Interview

Tanja Paar erzählt in „Die Unversehrten“ eine Geschichte von Unglück, Eifersucht und Rache, die sich in der kleinsten Zelle unserer Gesellschaft abspielt – der Familie. Sie legt mit ihrem Debüt ein intensives Buch vor, das Fragen aufwirft, die Frauen und Männer im modernen Leben gleichermaßen berühren.

Die Konstellation im Roman ist so fatal wie alltäglich: Zwei Frauen, ein Mann, ein Kind – das Kind stammt aus der vorigen Beziehung, die Mutter ist eifersüchtig auf die neue Freundin, der Vater kämpft um den Kontakt zu seinem Kind. Ist die Rollenverteilung so einfach?

Tanja Paar ist Journalistin, Moderatorin und Medientrainerin. Neben ihrem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Graz, Wien und Lausanne arbeitete sie freiberuflich beim FALTER und dem Nachrichtenmagazin Profil. Danach war sie zwölf Jahre Redakteurin der österreichischen Tageszeitung derStandard. 2011 wurde sie zur „Journalistin des Jahres“ gewählt, 2015 zur „Medienlöwin“. „Die Unversehrten“ ist ihr Debüt. Foto: Pamela Russmann

Die Rollenverteilung ist gar nicht einfach. Jede der Figuren gibt ihr Bestes, und doch geht es sich nicht aus mit der heilen Familie – leider. Mir war wichtig, einen emanzipierten Mann zu zeigen, der sich um sein Kind kümmern will. Als Vater funktioniert dieser Martin gut, als Liebhaber hervorragend, als Ehemann weniger bis gar nicht. Und die beiden Frauen liefern sich ein Match, bei dem nur eine – nein, das verrate ich jetzt nicht

Was sind das für Frauen, Violenta und Klara, was unterscheidet die beiden, was eint sie?

Violenta ist sehr strukturiert, karrierebewusst, intellektuell. Manche würden sie vielleicht sogar egoistisch nennen. Bei einem Mann sagt man dazu „zielstrebig“. Klara ist erdiger. Beide sind berufstätig, beide wollen ein selbstbestimmtes Leben führen, beide wollen ein Kind. Der einen passiert es, die andere plant es – und am Ende sitzen sie im selben Boot. Ausgerechnet mit Martin!

Die Themen in deinem Roman sind enorm zeitgemäß, es geht um Frauen zwischen Kind und Karriere, Männer und ihre Rechte in der Obsorge – was hat dich bewegt, darüber zu schreiben?

Rund jede zweite Ehe wird in Österreich geschieden, die Lebensgemeinschaften sind dabei nicht erfasst, geben aber ein ähnliches Bild ab. Die Leidtragenden sind nicht nur, aber besonders, die Kinder. Patchwork ist eine Normalität. Mich hat es interessiert, dieses Modell auf die Spitze zu treiben, quasi als eine Art Gedankenexperiment. Wozu sind wir fähig, wenn der dünne Lack der Zivilisation abblättert? Oder sich schlicht die Gelegenheit zur bösen Tat bietet?

Vor allem geht es in deinem Roman auch um Beziehungen: wie sie sich entwickeln, vom Verliebtsein über den Schmerz der Gewöhnung bis zum Beziehungsaus und was danach passiert. Kann man da tatsächlich Muster ausmachen, die in Beziehungen auftauchen, so unterschiedlich die jeweiligen Partner auch sind?

Ich mag Muster. Mich interessiert diese Geschichte strukturell: Wie können wir nach großem Leid – das kann Krankheit sein, oder ein arger Verlust – weitermachen, weiterleben? Weil im Grunde genommen bin ich Optimistin, auch wenn dieses Buch manchmal ganz schön böse ist.

Ist es ein lustiges oder ein trauriges Buch?

Die größte Herausforderung für mich ist es, das Lustige traurig und das Traurige lustig zu erzählen.

Du erzählst die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive von Violenta und Klara. Warum hast du diese Erzählform gewählt?

Mir geht es um das Spiel mit der Sympathie. Die Leserin bzw. der Leser können einmal mit der einen, einmal mit der anderen Figur mitfiebern. Wer von den beiden ist im Recht? Vio, die vorher da war? Oder Klara, mit der Martin ein Kind hat? Und gibt es das überhaupt, „Recht haben“ im Sinn von der einen, einzigen Wahrheit? Diese Frage möchte ich als Autorin nicht beantworten, sondern jedem selbst überlassen. Insofern ist es ein sehr offenes Buch, das viel Interpretationsspielraum lässt – hoffe ich jedenfalls. Nur eines ist sicher: Alle Figuren lügen.

Dein Stil ist geprägt von einer knappen, schlichten Sprache. Die Kapitel sind eher kurz und durch den Perspektivenwechsel von der einen Protagonistin zur anderen entsteht eine große Spannung, ein richtiger Sog. Da brodeln die Emotionen, ohne dass davon die Rede ist. Was passiert da?

Die Geschichte ist sehr verdichtet und auf das mir Wesentliche reduziert. Die raschen Szenenwechsel kennen wir aus dem Film. Es gibt kaum Beschreibungen der Umgebung oder der Städte, in denen die  Protagonistinnen agieren. Also quasi das Gegenteil von Knausgard. Mich hat interessiert: Wie sage ich es noch knapper und noch knapper? Zum Glück hat mich der Verlag gestoppt, sonst wäre aus dem Roman ein Haiku geworden.

 

Zwei Frauen, ein Mann, ein Kind – und die bittere Süße des Lebens: Dieses Romandebüt hat es in sich.

Es ist ein harter Text, sehr präzise, sehr eindringlich. Und, ja, am Ende schreckt die Geschichte mit ihrem Mut. Denn manchmal ist das, was sich in einem Menschen aufgrund seines Alters oder einfach seiner Lebensverhältnisse dort transformiert, wo er keinen Zugriff darauf hat, das Unheimlichste schlechthin. Jenseits von Gut und Böse.”
Martin Prinz

Hier geht’s zum Buch!

Spannend wie ein Krimi – Edith Kneifl über ihren literarischen Werdegang

Unsere Autorin Edith Kneifl wird dieses Jahr mit dem Ehrenglauser ausgezeichnet, in Würdigung ihres literarischen Schaffens im Bereich Kriminalliteratur sowie ihres Engagements für die deutschsprachige Kriminalliteratur. Anlässlich der verdienten Ehrung begeben wir uns in diesem Magazinbeitrag gemeinsam mit ihr auf eine Reise zurück zu den prägendsten Passagen ihres literarischen Schaffens. Eines kann an dieser Stelle gesagt werden – Erzählstoff gibt es mehr als genug! Edith Kneifls Werdegang steht ihren Kriminalromanen in Punkto Spannung um nichts nach. Eine Frau, wie gemacht für das Krimigenre!

Hier erzählt sie uns von ihren beruflichen Ambitionen, von Filmangeboten aus Übersee und warum eine nette Nachricht von Jack Unterweger bei ihr eintrudelte.

Aller Anfang ist … reich an Umwegen

Edith Kneifl bei der Criminale 1989 in Berlin. Foto: Privat

Mit 18 wollte ich Sportjournalistin werden und inskribierte mich deshalb nach der Matura für Publizistik und Kunstgeschichte (sehr passend zu Sport?) an der Salzburger Uni. Mein Interesse für Publizistik währte nur ein Semester lang. Während meines Psychologie- und Ethnologie-Studiums in Wien schrieb ich dann tatsächlich kurze Sportberichte für diverse Zeitungen, unter anderem für den Vöcklabrucker Wochenspiegel (heute „Rundschau“), für das Oberösterreichische Tagblatt, das Oberösterreichische Volksblatt, etc… Da ich mit diesen „großartigen“ Berichten nicht einmal das Geld für meinen Zigarettenkonsum verdiente, beschloss ich, doch lieber Psychologin zu werden. Aber es kam alles anders.

Meine erste Kurzgeschichte verfasste ich im Jahre 1980, glaube ich. Damals war ich wild campierend mit einem Freund auf Sardinien und Korsika unterwegs. Während er den ganzen Tag lang surfte und fischte, schrieb ich eine kleine Mordgeschichte. Das Opfer war natürlich ein Fischer und Surfer.
Drei Jahre später machte ich ernst mit dem Schreiben. Ich verbrachte mit meinem späteren Mann einige Zeit in San Francisco und las alle Romane von Dashiell Hammett und Raymond Chandler auf Englisch. Ich bildete mir ein, dass mein Englisch gerade mal für Krimis ausreichen würde. Anscheinend hatte ich damals die üblichen Vorurteile, was die literarische Qualität von Krimis betrifft. Die großartigen Klassiker unseres Genres überzeugten mich so sehr, dass ich, völlig naiv und vermessen, feministische Parodien auf ihre Romane zu schreiben begann. Diese drei Romane habe ich keinem Verlag angeboten, sie liegen bis heute in meiner Schreibtischschublade. Vielleicht wird sie ja der Haymon Verlag mal posthum veröffentlichen? Sie sind eine Riesenhetz.

Jack Unterweger hier, ich bin an Ihrer Kurzgeschichte interessiert!

In den folgenden Jahren schrieb ich jede Menge Kurzgeschichten. Einige dieser Kurzkrimis bot ich diversen Literaturzeitschriften an, und sie erregten zu meiner großen Freude auch Interesse. Ich schickte z.B. eine kleine Mordgeschichte an den Herausgeber einer Literaturzeitung in Stein an der Donau. Ich bekam eine sehr nette Antwort von einem Herrn Jack Unterweger. Er wollte die mörderische Geschichte auch tatsächlich veröffentlichen. Als ich dies voller Freude meinem Mann erzählte, war er, der nicht so leicht zu schockieren ist, doch ziemlich entsetzt. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Jack Unterweger ein Serienmörder war, der wegen grausamer Frauenmorde in Stein im Gefängnis saß. Ab diesem Zeitpunkt bot ich meine Kurzkrimis nur noch dem Wiener Frauenverlag (heute Milena Verlag) oder deutschen Verlagen an.
Wenn ich mich richtig erinnere, war die erste Kurzgeschichte, die ich 1987 in einer Anthologie des Frauenverlages veröffentlichte, „Tschick“, eine Parodie auf den zwangsneurotischen Sherlock Holmes.

Von Stasi-Interviews und Lesungen nach durchgefeierten Nächten

Bei dem deutschen Graf von Westarp Verlag erschien 1988 „Das Haus am Fluß“. Mein damaliger Lektor ist heute selbst ein großartiger deutscher Kriminalschriftsteller: H. P. Karr. Diese Veröffentlichung in einer Anthologie mit vielen bekannten deutschen Krimiautoren gab mir genügend Selbstvertrauen, um endlich richtig loszulegen.

Edith Kneifl bei der Buchpräsentation von „Ende der Vorstellung“. Foto: Privat

Ich schrieb „Zwischen zwei Nächten“ auf meiner geliebten elektrischen Schreibmaschine „Erika“, einem sozialistischen Qualitätsprodukt aus der damals noch existierenden DDR. Jeder Tippfehler wurde mit Tipp-Ex gelöscht, viele Absätze mit Schere ausgeschnitten und mit UHU woanders drübergeklebt. Ich brauchte vor allem aus technischen Gründen ewig lange für diesen Roman. 1991 erschien er im Wiener Frauenverlag. Ein Jahr später wurde ich für diesen Großstadtkrimi, Wien- und Frauenroman (stand in den Kritiken) mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Dieser Preis wird jährlich vom Syndikat, der Vereinigung deutschsprachiger Kriminalschriftsteller, für den besten Kriminalroman vergeben. Ich war die erste ÖsterreicherIn, die diesen Preis verliehen bekam. Vor mir hatten ihn nur männliche deutsche und Schweizer Kollegen bekommen.

Danach konnte ich mir quasi die Verlage aussuchen. Die Wahl fiel auf den deutschen Heyne Verlag. Wir Heyne-Krimiautoren waren eine verrückte Bande, machten die Nächte durch und erschienen morgens bei den Lesungen prinzipiell mit Sonnenbrillen (die Damen) und Hut (die Herren). Aber das ist eine andere Geschichte.

Auch nicht schlecht: In Mexico-City wurde ich 1989, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, von Stasi-Agenten aus der DDR interviewt – was ich natürlich nicht begriffen habe. Und in Acapulco begleiteten mich im selben Jahr zwei KGB-Agenten beim Schwimmen im Pazifischen Ozean – ich war mit berühmten sowjetischen Autoren unterwegs und sie hatten Angst um mich wegen der gefährlichen Brandung. Und das sind nur die harmlosen Geschichten … Alles andere ist nicht für eine Veröffentlichung geeignet.

Angebote aus Übersee und der EHRENGLAUSER 2018

Dreh- und Angelpunkt von Edith Kneifels Krimireihe: Ihr Lebensmittelpunkt Wien.

Mein Roman „Ende der Vorstellung“ erschien anschließend und wurde unter dem Titel „Taxi für eine Leiche“ von Wolfgang Murnberger verfilmt und 2002 mit der Romy als bester Fernsehfilm des Jahres ausgezeichnet. Ich wurde vom österreichischen Produzenten des Films auf ein sehr renommiertes Drehbuchseminar in Sitges (bei Barcelona) eingeladen. Mein britischer Tutor dort war ein ehemaliger Drehbuchschreiber von Luchino Visconti. Er wollte mir, hinter dem Rücken meines Produzenten, mein Buch abkaufen, um es in Hollywood anzubieten, da es in meinem Roman viele Rollen für ältere Schauspielerinnen gab. Ich war wieder mal treu-doof und habe diese Chance nicht wahrgenommen.

Es folgte mein nächster Krimi, den ich für einen meiner stärksten Thriller halte, „Allein in der Nacht“. Er war auf der Liste der besten 500 deutschsprachigen Romane (nicht nur Krimis), und amerikanische Agenten und Verlage waren interessiert.
Dann schneite ein Angebot vom österreichischen Haymon Verlag herein. Ich war froh, als mein Kollege Alfred Komarek mir empfahl, es anzunehmen.
Bei Haymon konnte ich, dank meines neuen Lektors und Programmchefs Georg Hasibeder, endlich meine eigenen Pläne realisieren, die historische Krimireihe mit meinem Traummann Gustav von Karoly als Ermittler, und auch meine frauenfreundlichen Kriminalromane, die nicht nur in Wien, sondern auch in Italien, USA und in den Donauländern spielen. Ich habe als Schriftstellerin viel Glück gehabt und freue mich jetzt besonders über den Ehrenglauser 2018, die wahrscheinlich höchste Auszeichnung, die man als deutschsprachige KriminalschriftstellerIn bekommen kann.

Bitte keine Schubladen!

Ich mag übrigens nicht schubladisiert werden. Ich schreibe weder nur Frauenkrimis oder nur Wienkrimis oder nur Thriller, und ich mag auch keine endlosen Serienfiguren (kleine Ausnahme ist mein Gustav von Karoly, den ich erst verheiraten muss, bevor ich ihn aufgebe). Nach 3-5 Romanen wird mir meistens ein bisschen langweilig mit den Leuten. Deshalb habe ich für die Zukunft auch schon wieder neue Pläne. Ich kann es einfach nicht lassen, werde weiter wild drauflos „morden“. Die von mir verehrte Schriftstellerin Patricia Highsmith gestand einst, dass wahrscheinlich ein streng unterdrückter verbrecherischer Trieb in ihr schlummern würde. Tja, vielleicht trifft das auch auf mich zu?

Edith Kneifl: Der Tod ist ein Wiener.

 

 

 

Anfang März erscheint bei HaymonTB Der Tod ist ein Wiener” von Edith Kneifl. Toughe Ladies mit Wiener Schmäh und Pfeffer ermitteln! Also nichts wie ran an das Lesematerial: Es lohnt sich!

Von Menschen und Unmenschen: Autor Thomas Baum im Videointerview

Sein Ruf eilt ihm in Sachen Bewegtbild durch Filme wie „In 3 Tagen bist du tot“ voraus, nun ist Thomas Baum dabei, sich auch als Krimiautor in die heimische A-Liga vorzuschreiben. In seinem Kriminalroman „Tödliche Fälschung“ überzeugt er durch Spannung verquickt mit psychologischer Detailtreue. Als Drehbuchautor und psychologischer Berater hat er sich die nötige Werkzeugkiste geschaffen, um den Leser mit fein gezeichneten Charakteren tief in die Abgründe der menschlichen Seele zu entführen – und dabei dennoch nie den Humor zu verlieren!

Wir haben den Autor getroffen, um hinter die Kulissen zu blicken und zu erfahren, wie sehr seine beruflichen Erfahrungen seine Schreibarbeit bereichern.

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Einige Auszüge aus dem Interview:

Was macht deiner Meinung nach einen Menschen zum Unmenschen? Gibt es so etwas überhaupt?

Nun ja, aus der Perspektive der sogenannten „Unmenschen“ ist ja das, was sie tun, gut. Sie würden es ja nicht tun, wenn sie nicht glauben würden, dass sie damit etwas bewältigen könnten. Und unmenschlich, würde ich einmal sagen, da gibt es Biographien, da gibt es Milieus, verschiedene Umstände, die dazu beitragen, dass Menschen möglicherweise von ihrer Bahn abgleiten (…).

 

Wie sehr haben deine Erfahrungen als Drehbuchautor und psychologischer Berater deine Arbeit als Krimiautor beeinflusst/bereichert?

Beim Drehbuch-Schreiben lernt man relativ viel über das Handwerk des Erzählens in der Form von Szenen, Bildern, Dialogen. Beim Drehbuchschreiben muss man auch sehr intensiv die Charaktere entwickeln.
Ich schaue, dass die Geschichte schon auf guten Beinen steht, bevor ich zu schreiben beginne. Das ist das eine, und die Arbeit als Supervisor, so heißt das genau, da beschäftige ich mich ja sehr intensiv mit verschiedensten Wirklichkeiten, zum Beispiel mit der Wirklichkeit von Jugendlichen, die belastet sind, von Familien, die belastet sind, oder auch von psychisch Beeinträchtigten.

 

Kurz nachgehakt: Historiendrama oder Horrorfilme?

Eine spannende Frage, weil ich mich mit beiden schon beschäftigt habe. Ich schreibe ja „Universum History“ für den ORF, aber so vom Filmischen her und vom Zugang und vom Zugriff ist es eher der Horrorfilm.

 

„House of Cards“ oder „Breaking Bad“?

„House of Cards“, und zwar deshalb, weil „Breaking Bad“, das finde ich eine ganz spannende Serie, allerdings habe ich sozusagen mit diesem ganzen Crystal-Meth-Zeug so wenig am Hut, weil ich Menschen kenne, die davon betroffen sind, die das nehmen, und weiß, was für Katastrophen das mit sich bringt.

Thomas Baum: Tödliche Fälschung

 

 

 

In seinem neuesten Krimi „Tödliche Fälschung“ reizt Thomas Baum die Spannung bis zum Äußersten aus und liefert einen geschickt konstruierten Fall, der ausgezeichnet unterhält und von Linz bis nach Neapel führt!

Wie fühlt es sich an, die eigene Biografie zu schreiben? Felix Mitterer steht Rede und Antwort.

Der beliebte Volksdichter beantwortet Hintergrundfragen zu seiner in Kürze erscheinenden Autobiografie. Offenherzig und mit viel Humor erzählt er über Höhen und Tiefen des Schreibprozesses und verrät uns, wie sich Realitätsflucht im Laufe der Zeit verändert hat. Hier findet ihr einige Zitate zum Nachlesen und das ganze Interview als Video!

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Wie fühlt es sich an, die eigene Biografie zu schreiben?

[…] ich [habe] ein Problem gekriegt mit mir selber, weil ich mir gedacht habe, ist das jetzt alles eitle Selbstbespiegelung, das kann es ja überhaupt nicht sein, dass ich so viel schreibe; dann habe ich aber doch bemerkt, dass ich auch viel über Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter und Menschen, die mir einfach wichtig waren in meinem Leben, in meinem Privatleben, in meinem Arbeitsleben, geschrieben habe, und ich hoffe, dass dieser Teil dann überwiegt und nicht ich selber – hoffentlich.

 

Hat das Schreiben überwiegend Spaß gemacht, oder war es letztlich doch eher schwierig?

Naja, ich war ja sehr spät dran – wie wir wissen – und ich habe einen ziemlichen Zeitdruck verspürt. Man darf eines nicht vergessen, ich bin ja Drehbuchautor und Dramatiker, also alles, was man da schreibt, hört sich bei hundert Seiten normalerweise auf. Sonst wird das Stück zu lang und der Film zu lang. Und auf einmal war ich da bei, ich weiß nicht, 460 Seiten oder was, das ist ja anstrengend. Und ich habe gewusst, ich muss mich jetzt schön langsam beeilen, damit das Buch zu meinem Geburtstag herauskommt.

 

Du hast damit ein Stück Theatergeschichte geschrieben. War dir das bewusst?

Für mich war das sehr wichtig, weil ein Stück Theatergeschichte heißt bei mir in diesem Fall, über mein Glück zu schreiben, das ich hatte. Nämlich zum einen, dass ich von der Volksbühne, vom Volkstheater meinen Ausgangspunkt nahm, […] das auch mein erstes Bühnenerlebnis war als Zwölfjähriger, der Bauernschwank nämlich. Also diesen Weg gehend, zu den Volksbühnen, Amateurbühnen, im ganzen Land Tirol und nicht nur da, auch in ganz Österreich und in Bayern und weiß Gott wo gespielt zu werden, und dann das Glück habend, auch in Wien oder München oder wo immer an den großen Theatern und auch an den Kellertheatern gespielt zu werden.

 

Was ihn antreibt im Schreiben und im Leben, was schmerzhaft war und was schön – davon spricht Felix Mitterer erstmals in dieser Autobiographie, die mit Aufnahmen aus seinem Privatarchiv und den Archiven der Theater- und Fernsehanstalten ergänzt ist. Sein langjähriger Verleger Michael Forcher hat ein Grußwort beigesteuert. Hier gehts zum Buch!

Das Gute im Bösen und das Böse im Guten: Der Drehbuchautor von „In 3 Tagen bist du tot“ im Interview zu seinem neuen Kriminalroman

Folgen für den Tatort, die Rosenheim-Cops, Universum History und den Film „In 3 Tagen bist du tot“: All das kann Thomas Baum in seiner Vita bereits verbuchen. In Sachen Spannung kann man dem oberösterreichischen Tausendsassa also so schnell nichts vormachen. Nun hat sich der sprachgewandte Garant für guten Thrill mit dem Kriminalroman „Tödliche Fälschung“ wieder an das gedruckte Format gewagt, um auch den Adrenalinspiegel von buchaffinen Krimifans in die Höhe zu treiben. Mit einem kultig-knorrigen Grantler als Ermittler und einer kräftigen Prise Zynismus webt Thomas Baum eine Story, die zwischen Oper und Wirtshaus, Linz und Neapel, Schlagfertigkeit und Dramatik changiert.

Wir haben die Neuentdeckung am Krimihimmel zum Interview gebeten, um herauszufinden, wie viel szenisches Spiel in seinem neuen Krimi und wie viel Kommissar Worschädl in Thomas Baum steckt.

Mit deinem Drehbuch zum Kinohit „In 3 Tagen bist du tot!“ hast du den österreichischen Film in unerwartet erfolgreiche Bahnen gelenkt. Wie sehr sucht ein Thomas Baum bewusst die Herausforderung?

Thomas Baum: Neue Genres und Formate haben mich immer gereizt. Ein Horrorthriller funktioniert nach anderen Gesetzmäßigkeiten als ein Tatort oder eine Folge für die Rosenheim-Cops. Da wird das Spiel mit dem Schrecken und der Angst bis zum Äußersten gedehnt, zwischen den Spannungsbögen gibt es kaum Erholungspausen. Jetzt recherchiere ich bereits intensiv für meinen nächsten Kriminalroman und verbinde dabei wieder Lokalkolorit mit internationalem Verbrechen.

 Wie groß ist der Sprung vom Drehbuch zum Buch? Inwiefern musst du dich zwischen den beiden Genres umstellen?

Thomas Baum: Die Erzählweisen sind sehr unterschiedlich. Ein Drehbuch vermittelt uns eine Geschichte in Bildern, Dialogen und beschreibenden Passagen in einem zeitlich begrenzten Rahmen von 45, 90 oder auch mehr Minuten. Bei der erzählenden Prosa spielen Sprachmelodie und -rhythmus eine weitaus größere Rolle. Da kann ich mich eine halbe oder ganze Seite in der Gedankenwelt einer Figur bewegen, während sich innere Empfindungsprozesse beim Drehbuch über die Handlung und die Dialoge erschließen.

In beiden Genres bist du im Horror- bzw. Krimibereich unterwegs. Liest du auch privat Krimis? Was inspiriert dich?

Thomas Baum ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt in der österreichischen Literatur- und Filmszene. Foto: Thomas Baum

Thomas Baum: Krimis lese ich vor allem im Sommer. Da reisen immer sieben, acht Bücher mit. Don Winslow, Jo Nesboe, Fred Vargas, Arne Dahl, Karin Slaughter, Bernhard Aichner, … Mich interessieren die Vorgeschichten. Wie jemand zu dem geworden ist, der sie oder er heute ist. Kein Mensch wird als Verbrecher geboren. Aber es gibt Lebensstationen, Umstände, Milieus, die zu einem Werdegang in eine bestimmte Richtung beitragen. Viele kommen nicht auf der Butterseite zur Welt. Und auch in den besten Verhältnissen gibt es kleine, oft nichtige Anlässe, die jemanden stolpern lassen, vom Weg abbringen, in eine ungewollte Richtung treiben. Solche Wendepunkte beschäftigen mich. Das alltägliche Scheitern genauso wie das alltägliche Gelingen. Deshalb suche ich bei meinen Figuren nach individuellen Besonderheiten. Nach den Ambivalenzen, die sie einmal auf die eine und dann wieder auf die andere Seite ziehen. Ich gehe davon aus, dass es das Gute im Bösen und das Böse im Guten gibt.

Wie viel szenisches Spiel steckt in deinem neuen Roman?

Thomas Baum: Beim szenischen und vor allem filmischen Schreiben gilt das Prinzip „late in, early out“. Auch im Roman steige ich in die Kapitel ein, wenn das Wasser im Kochtopf schon so richtig am Dampfen ist. Und mit dem Schnitt am Ende möchte ich einen Trampolin-Effekt erzeugen, einen Schwung, der zum Weiterdenken und Kombinieren anregt. Außerdem widme ich mich intensiv den Dialogen. Weil sich jeder Mensch individuell und speziell ausdrückt. In der Färbung, im Rhythmus, in der Wortwahl spiegeln sich die unterschiedlichen Biografien und Lebenswelten – das möchte ich rüberbringen.

Kannst du uns deinen Ermittler kurz vorstellen?

Thomas Baum: Robert Worschädl ist ein knorriger Grantler mit raffinierten Verhörmethoden, der Vorschriften verlässlich ignoriert und zu Alleingängen neigt. Er vertraut gerne auf sein Bauchgefühl und lässt sich beim Ermitteln mitunter auf riskante, fast wahnwitzige Aktionen ein. Sein leichtes Übergewicht hindert ihn nicht daran, in brenzligen Situationen auch körperlich sehr effizient zu agieren. Zugleich ist er ein humorvoller Genießer, der ein gutes Gläschen Wein schätzt und gemeinsam mit seiner Frau Karoline der Überzeugung ist, dass man sich den Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten dieser Welt beherzt entgegenstellen muss.

Wie viel Thomas Baum steckt in Worschädl?

Thomas Baum: Gar nicht so wenig. Wir gehen ähnlich auf Herausforderungen und Probleme zu: mit grundsätzlicher Zuversicht und einer selbstverordneten Mischung aus Leichtigkeit und Witz. Er hat so wie ich Höhenangst, mit menschlichen Abgründen setzt er sich aber relativ furchtlos auseinander. Worschädl und Thomas Baum pflegen einen großzügigen Umgang mit ihren Fehlern und schmunzeln gerne über sich selbst.

Tödliche Fälschung“ beginnt im Linzer Konzerthaus. Hast du eine besondere Beziehung zur Musik?

Thomas Baum: Musik gehört zu meinen Grundnahrungsmitteln. Sie befeuert mich und ermöglicht mir ein variantenreiches Register an Stimmungen. Mich begeistert auch ihre präzise Struktur und Mathematik. Ganz privat habe ich das große Vergnügen, Sänger und Mundharmonikaspieler einer enthusiastischen Dilettantenband zu sein. Und der Klang des Cellos, der in „Tödliche Fälschung“ eine wesentliche Rolle spielt, hat mich schon immer fasziniert: tiefgründig, weich, melancholisch, sinnlich … aber auch bedrohlich und gefährlich.

 

 

 

Hier findet ihr alles zu Thomas Baums geschickt konstruiertem Fall, der garantiert für strapazierte Lachmuskeln und einen hohen Puls sorgt! Ein Muss für alle Fans von Krimi mit Tiefe.

Herr Major, ist die Welt wirklich so böse? Ja.- Der Haymon Verlag im Gespräch mit Johannes Schäfer.

„… seine Kriminalromane zählen zu den besten, die es für Geld zu kaufen gibt.”

Die Welt, Elmar Krekeler

„Was denkt sich der Bub bloß immer aus?”

Mama

Georg Haderer ist einer, der die Krimiszene Österreichs ordentlich aufgemischt hat. Unkonventionell, ohne Rücksicht auf Political Correctness, dafür aber mit einem genialen Sinn für Sprachwitz und skurrile Wendungen und für gallig-unterhaltsame Krimis, die dennoch tief gehen, hat er sich seinen festen Platz unter den Großen des Landes erschrieben. Einst war er Landschaftsgärtner und Skilehrer, heute ist er stolzer Autor von bisher sechs Kriminalromane rund um Polizeimajor Schäfer.

Georg Haderer. Foto: Ricardo Herrgott.

Major Schäfer ist einer, den das Leben oft im Nacken packt und ordentlich beutelt. Einer, der sich selbst trotzdem nicht immer allzu ernst nimmt. Einer, der die Menschen und ihre Abgründe fürchtet und sie zugleich auch gerade für ihre Abgründe liebt. Einer, für den Engel Dämonen und Dämonen Engel sein können. Seine Auffassung von Gerechtigkeit geht nicht zwangsläufig immer mit der staatlichen Rechtsauffassung d’accord, seine Begeisterung für diverse Suchtmittel nicht immer mit dem landläufigen Verständnis von Arbeitsmoral. Ohne seinen Assistenten Bergmann, der ihm über weite Strecken zur Seite steht, hätte er es zuweilen noch schwerer.

Kurz vor Erscheinen seines fünften Falles hat der Haymon Verlag Schäfer erwischt und zu einem kurzen Interview gebeten – dieses können wir euch natürlich nicht vorenthalten!

 Haymon: Herr Major, in Ihrem aktuellen Fall …

Major Schäfer: Das ist eine laufende Ermittlung, da darf ich jetzt noch nichts verraten.

Haymon: Gut … dann gebe ich vielleicht eine Leserfrage weiter: Wie alt sind Sie eigentlich?

Schäfer: Für einen Fußballer wäre ich alt, für einen Papst sehr jung, reicht das?

Haymon: Dürfen wir daraus schließen, dass Sie eitel sind?

Schäfer: Wer sagt so etwas? Der Bergmann? Sicher … dem pfeife ich nächstes Mal was.

Haymon: Bleiben wir gleich bei ihm. Wie geht es Ihnen denn seit Ihrer Versetzung ohne Ihren langjährigen Assistenten?

Schäfer: Es wurde ohnehin Zeit, dass er auf eigenen Füßen steht. Kann mich ja nicht ewig um ihn kümmern.

Haymon: Bei Ihren letzten Fällen hat man ja eher den gegenteiligen Eindruck gewonnen  …

Schäfer: Und? Glauben Sie alles, was irgendwer schreibt?

Haymon: Gut … was viele Leser interessiert: Gibt es da vielleicht eine Frau, die …

Schäfer: Wieso? Will der Haderer mich wieder verkuppeln, der alte Schwerenöter?

Haymon: Möglich … nun, eine abschließende Frage: Ist denn die Welt wirklich so böse, wie Sie sie erleben?

Schäfer: Ja.

Schäfer-Krimis bei Haymon-Taschenbuch

„Der Plot fern der politischen Korrektheit, witzige Sprache, abgründiger Schmäh und eine Hauptfigur voll galligem Humor.”
Format, Michaela Knapp

Vier Fälle mit Major Schäfer gibt es bei Haymon-Taschenbuch. Mehr dazu findet ihr hier!

Selim Özdogan: Schrödingers Esel hat ein paar Fragen

Selim Özdogan hat die immer wieder aufköchelnde öffentliche Debatte zum deutsch-türkischen Verhältnis in einem entlarvenden, intelligent-augenzwinkernden Zeitkommentar gebündelt, der aktueller nicht sein könnte.

Lies hier seine pointierten Beobachtungen, die mitten ins Herz einer omnipräsenten politischen Diskussion treffen:

 

Selim Özdogan: Schrödingers Esel hat ein paar Fragen

 

Wenn jemand in der Türkei Wie bei Nasreddin Hodscha sagt, dann weiß der Gesprächspartner, auf welche der vielen Geschichten des Hodschas angespielt wird.

Nasreddin Hodscha ist eine Schelmenfigur, die im 14. Jahrhundert in Anatolien gelebt haben soll. Er ist Hauptperson zahlreicher Anekdoten und Geschichten, die in der Türkei jeder kennt, unabhängig von Region, sozialer Schicht und Bildung.

Foto: Tim Bruening

1

Der Hodscha beschloss eines Tages, seinem Esel das Fressen abzugewöhnen. Dafür gab er ihm einfach jeden Tag etwas weniger Futter als am Vortag.

Verdammt, sagte der Hodscha nach vier Wochen, kurz bevor ich ihn soweit hatte, ist der Esel einfach gestorben.

2

Die Redewendung vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, scheint mir etwas Ähnliches auszudrücken. Der Punkt, ab dem etwas zu viel wird. Nur dass ein Fass grundsätzlich für Flüssigkeiten gedacht ist, ein Esel aber nicht zum Hungern. Jeder Tropfen, der in das Fass fällt, hat seine Berechtigung, bis auf den letzten. Was man von den Kürzungen der Futterration nicht behaupten kann.

Das macht den Esel in diesem Text zu einem plausibleren Symbol für die Demokratie als das Fass.

3

Der türkische Satiriker Aziz Nesin saß 1944, 1947 und 1949 jeweils mehrere Monate wegen seiner Schriften im Gefängnis.

Der Journalist Uğur Mumcu saß 1971 fast ein Jahr wegen Verunglimpfung der Armee im Militärgefängnis, bevor das Urteil, sieben Jahre Haft, aufgehoben wurde. 1993 starb er bei einem bis heute nicht aufgeklärten Bombenattentat.

Die Seite tutuklugazeteciler.blogspot.de listet seit 2010 die Namen in der Türkei inhaftierter Journalisten auf.

2012 wurde die Studentin Duygu Kerimoğlu festgenommen und der RedHack-Mitgliedschaft beschuldigt. RedHack ist eine türkische Hacker-Gruppe, die vom Staat zeitweilig als Terrororganisation eingestuft wurde. Duygu Kerimoğlu saß 9 Monate in Untersuchungshaft, bevor sie am ersten Verhandlungstag freigesprochen wurde.

Der Soziologe Erol Özkoray wurde 2014 wegen Präsidentenbeleidigung zu 11 Monaten Haft verurteilt. Er hatte ein Buch über die Gezi-Prostete geschrieben und darin Graffiti zitiert.

Bekannt geworden in Deutschland ist aber 2016 der Journalist Can Dündar, der auch den Präsidenten beleidigt und zudem Staatgeheimnisse veröffenlicht haben soll. Im Gegensatz zu den anderen durfte er dann ohne ein Wort Deutsch Sendungen im deutschen Fernsehen co-moderieren.

Dieser Tage fordern viele die Freilassung von Deniz Yücel. Auf Twitter einzusehen unter #freedeniz.

Deniz heißt übrigens Meer.

4

Seit wann gibt es in der Türkei keinen Rechtsstaat und keine Meinungsfreiheit mehr? Ist der Esel, den wir Demokratie nennen, schon längst verhungert oder könnten wir ihn noch aufpäppeln? Wann hätten wir einschreiten müssen? Hätten wir einschreiten müssen? Wer ist wir? Und was heißt eigentlich Demokratie?

5

Als 2008 in der Türkei die Entmachtung des Militärs im sogenannten Ergenekon-Prozess begann, wurde das in Deutschland als ein Schritt zur Demokratisierung betrachtet.

Hat sich der Kurs seitdem geändert oder nur unsere Perspektive? Haben wir damals die Entwicklungen falsch eingeschätzt? Gibt es ein deutsches Interesse, die Situation auf die eine oder andere Weise zu deuten?

In der Türkei gab es schon damals zahlreiche Stimmen, die darauf hingewiesen haben, welcher Regierungsform hier der Weg geebnet wird. Keine davon fand Gehör in Deutschland.

6

Auf dem 1992 erschienen Album The Future von Leonard Cohen gibt es ein Stück mit dem Titel Democracy, in dem es heißt: Democracy is coming to the USA.

Es ist kein ironisches Lied. Es ist ein Lied voll tiefer Anteilnahme und eine Bejahung des Experiments der Demokratie in diesem Land. Hier entfaltet sich das Experiment. Hier sind die Rassen miteinander konfrontiert, die Klassen, die Geschlechter, die sexuellen Orientierungen. Das ist das Versuchslabor der Demokratie, sagte Cohen dazu.

Möglicherweise gibt die derzeitige Situation in der Versuchsanstalt Auskunft über den Zustand der Demokratie im Allgemeinen.

7

Nach dem Demokratieindex von 2014 leben etwa 12,5 Prozent der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie.

8

Für einen großen Teil dieser 12,5 Prozent scheint die Demokratie ein Fetisch zu sein.

Jede andere Regierungsform erscheint ihnen minderwertig, inakzeptabel oder unvorstellbar. Oder bestenfalls verbesserungsbedürftig.

Man darf keinen anderen Fetisch haben neben der Demokratie.

Ein Merkmal eines Fetischs ist, dass man ihn nicht frei wählt.

9

Die Idee der Demokratie geht davon aus, dass die Menschen gleichwertig sind, akzeptiert also alle auf Augenhöhe. Keiner ist prinzipiell besser oder schlechter. Die Unterschiede zwischen reich und arm, Mann und Frau, heller und dunkler Hautfarbe, zwischen Gläubigen, Agnostiker und Atheisten haben keinerlei Aussagekraft hinsichtlich des Wertes eines Menschen und werden angesichts des Esels, den wir Demokratie nennen, vollständig nivelliert.

10

Die Idee der Nation geht davon aus, dass die Menschen nicht gleichwertig sind. Besitz von Identität und Pass bedeuten erhebliche Unterschiede hinsichtlich Selbstverständnis und Privilegien, von denen die Reisefreiheit das offensichtlichste ist.

11

Die Demokratie scheint ähnlich viel Glauben zu verlangen wie eine Religion. Man möchte an Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit glauben, die gemeinsam auf dem Rücken des Esels sitzen, doch der Esel bekommt nicht genug Futter, um alle tragen zu können.

12

Wer möchte denn wirklich, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob man Manager bei VW ist oder Hartz IV bezieht? Wer möchte denn sein Essen, seine Kleidung, seine Wohnung, seine Glauben und seine Liebe mit Fremden teilen? Wer möchte denn, dass Bettler sich in Restaurants einfach zu uns setzen dürfen? Wer möchte denn, dass da niemand mehr ist, über den man sich erheben kann? Oder wer möchte mir nochmal hinterherrufen, dass ich mit dem Fahrrad in der falschen Richtung durch die Einbahnstraße fahre?

13

Baudrillard sagt, dass Disneyland nur erbaut wurde, um zu verbergen, dass unsere gesamte Welt auf Fiktionen beruht. Jede Stadt, jede Fabrik, jede Straße, jeder Schienenweg ist ebenso ein Produkt der Phantasie wie ein Vergnügungspark. So ähnlich zeigt man vielleicht mit dem Finger auf ein anderes Land, um zu verbergen, dass man selbst die Idee der Demokratie auch noch nicht verwirklicht hat.

Der Hungern des fast toten Esels lenkt davon ab, dass die, die besser im Futter stehen, auch nicht satt werden.

14

Den Fehler immer beim anderen zu suchen, führt in einer Beziehung zu allen möglichen Dingen, aber nicht zu einem gemeinsamen Wachstum. Oder auch nur zu eigenem.

15

Kein Psychiater, Psychotherapeut, Beziehungs-, Seelen-, Business- oder anderer Coach versucht in seiner Arbeit mit Menschen, die Reaktionen der Umwelt zu ändern, sondern immer nur das Verhalten des Klienten.

16

Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gehören zum Esel wie die Ohren und das Maul, sie können weder beschnitten noch verboten werden.

17

Wie Fake News da reinpassen, ist schwer zu erklären. Vielleicht so: Das Problem sind nicht unbedingt die falschen Nachrichten. Das Problem sind eher die Menschen, die nicht nach Fakten und Zusammenhängen Ausschau halten, sondern nach einer Bestätigung ihrer eigenen Meinung.

18

Die Sache wird komplizierter, wenn die eigene Meinung von der Meinungsfreiheit überzeugt ist.

19

Das Gefühl der moralischen oder auch demokratischen Überlegenheit ist eine Droge. Es berauscht, führt zu Größenwahn und mangelnder Empathie. Es verleitet dazu, die eigene Position nicht in Frage zu stellen.
Der Besitz eines halbwegs genährten Esels ist also so etwas wie Kokain. Tunnelblick und enormer Nachlegedrang, den man stillen kann, indem man sich am Anblick knochiger Esel berauscht.

20

Die deutsche Beschäftigung mit der Türkei und den Türken ist obsessiv und oberflächlich zugleich.

Das Obsessive mag mit der geopolitischen Lage zu tun haben, mit der Geschichte der beiden Länder, mit der Tatsache, dass türkeistämmige Menschen in Deutschland die größte Minderheit darstellen.

Eine Minderheit, die zu 60 Prozent aus Erdogan-Wählern besteht, wenn man den Schlagzeilen glauben möchte: „Deutsche Türken wählen konservativ“ (Süddeutsche Zeitung), „Überproportional viele Türken in Deutschland wählten AKP“ (FAZ), „Türken in Deutschland wählten Erdogan-Partei“ (Spiegel Online)

Die türkeistämmige Minderheit in Deutschland besteht aus ca. 3 Millionen Menschen, von denen 1,4 Millionen aufgrund von Pass und Alter in der Türkei wahlberechtigt sind. Von diesen 1,4 Millionen haben 34 Prozent 2015 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, also etwa 480.000 Menschen. Von ihnen haben tatsächlich 59,7 Prozent Erdogan gewählt. Macht ungefähr 285.000. Also nicht mal 10 Prozent von 3 Millionen, doch das ist ausreichend, um sich ein Bild vom Türken in Deutschland zu machen.

Das bedeutet nicht, dass es diese 10 Prozent nicht gibt. Das bedeutet nicht, dass man ihre Wahlentscheidung nicht problematisch finden kann. Es bedeutet nur, dass sie nicht die übrigen 90 Prozent repräsentieren können.

Siehe nochmal 16 und 17.

21

Wenn ich mit meinen Kindern auf dem Spielplatz, in der Bäckerei, im Schuhgeschäft, im Eiscafé, im Supermarkt bin, bekomme ich regelmäßig die Frage gestellt: Was für eine Sprache ist das, die Sie mit den Kindern sprechen? Auf die Antwort Türkisch bekomme ich nahezu immer zu hören: Das hört sich aber gar nicht so an.

Und jedes zweite Mal fügen die Leute hinzu: Dabei weiß man ja, wie sich das anhört, wenn man in Köln wohnt.

Ich sage nie: Offensichtlich nicht.

Ich sage nie: 100 Prozent der Leute, die fragen, was das für eine Sprache ist, wissen nicht, wie Türkisch klingt.

Ich sage nie: Vielleicht haben Sie sich von meinem Aussehen zu einer bestimmten Erwartungshaltung verleiten lassen.

Ich sage nie: Vielleicht ist es auch kein Türkisch, aber alle, die Türkisch können, haben mich jahrzehntelang in dem Glauben gewogen, sie würden mich verstehen.

Wenn ich Türkisch geantwortet habe, höre ich von meinem Gegenüber aber auch nie: Das war mir nicht bewusst, dass ich Türkisch nicht am Klang erkennen kann.

Der Glaube an die eigenen Fähigkeiten ist tiefer verwurzelt als meine Sprachkenntnisse.

22

Diese Metaphern und Allegorien und Symbole von lebendigen, hungernden oder toten Eseln sollten ein Ende haben.

Es geht um diese Vision der Demokratie.

Eine erstrebenswerte Vision, wenn man mich fragt.

Visionen muss der verwirklichen, der sie hat. Und darauf vertrauen, dass sie den anderen als leuchtende Beispiele dienen.

***

Im Juli 2017 erschien Selim Özdogans neuer Roman „Wo noch Licht brennt”. Alle Informationen dazu findest du hier.

Veza-Canetti-Preis 2017: Lydia Mischkulnig ausgezeichnet

Wir gratulieren Lydia Mischkulnig ganz herzlich zum Veza-Canetti-Preis 2017! Im Bild v.l.n.r. Journalistin Brigitte Schwens-Harrant, Lydia Mischkulnig und die Literaturreferentin der Stadt Wien Julia Danielczyk

Lydia Mischkulnig  wurde am 4. Oktober der Veza-Canetti-Preis verliehen. Sie wurde damit für ihr präzises, entlarvendes, feinnerviges und subtiles Werk ausgezeichnet, das in unnachahmlicher Sprache auf verborgene Machtverhältnisse hinweist und pointiert die kleinen und großen Abgründe von Psyche und Gesellschaft aufnimmt. 

„Die Autorin schafft in einer präzisen, eigenen Sprache eine vielschichtige Literatur und zeigt eine weibliche Perspektive auf die gegenwärtige Gesellschaft und deren Machtverhältnisse”, so die Fachjury der alljährlich verliehenen Auszeichnung für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Literatur.

Der Preis ist nach der Wiener Schriftstellerin Veza Canetti (1897 bis 1963) benannt, da sie eine Vielzahl literarisch wirkender Frauen repräsentiert, die (und somit auch deren Werk) in der literaturwissenschaftlichen Kanonbildung vernachlässigt sind.

In ihrer Dankesrede nahm Lydia Mischkulnig Bezug auf die Namenspatronin der Auszeichnung:

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Dankesworte zum Veza Canetti Preis

von Lydia Mischkulnig

Wien, Oktober 2017

Sie war der Nagel, der aus dem Brett herausragte und eingeschlagen werden musste. Veza Canetti hat nicht applaudiert. Sie konnte es nicht. Ihr hat ein Arm gefehlt. Dennoch wurde sie Handlangerin des Nobelpreisträgers. Ihre Rolle ist wie jede Rolle eine Zuweisung, die dann zur Zumutung gerät. Sie wusste Bescheid und folgte trotzdem männlicher Selbstermächtigung bis zur Selbstauflösung ihrer Autorenschaft.

Die Rollen, die ich zuweise, reflektieren diesen Zwang ein Genie hervorzubringen. – Worauf würde Veza Canetti heute ihren Blick richten? Auf Minderheiten, die vor Buddhisten flüchten? Auf die Psychopathologie von Geltungsssucht? Auf den Tod der Wahrheit? Auf Größenwahn, Kleingeistigkeit, Verschleierung – Variationen des feministischen Affirmationsverhaltens? Auf die Autoren und Autorinnen in den Gefängnissen der Autokratien?

Was passiert mit einer Frau, die aufgibt- oder aufzugeben scheint, weil sie ja aufgegeben ist?

Dagegen schreibe ich an. Erkunde die Unentrinnbarkeit meiner Figuren,  um sie auf den Punkt zu bringen und darin aufzuwirbeln. Das Ungefähre, in das ich mich wage, bringt ein Zittern im Sprachgitter aus Ungewissheit und Zweifel zum Vorschein, das sich auf die Zuweiserin wirft. Diesen Fängen entwische ich heute durch den Veza-Canetti-Preis, den der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti nie hätte bekommen können.  Mein Schreiben gegen das Zittern durchzusetzen ist die Devise, und so fängt es immer wieder von vorne an.

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Lydia Mischkulnig. Foto: Margit Marnul.

Lydia Mischkulnig

Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), Manuskripte-Preis (2002), Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009), Joseph-Roth-Stipendium (2010), Veza-Canetti-Preis und Johann-Beer-Literaturpreis (beide 2017), zuletzt Würdigungspreis des Landes Kärnten für Literatur (2020). Bei Haymon erschienen: „Hollywood im Winter”. Roman (1996, HAYMONtb 2012), „Macht euch keine Sorgen”. Neun Heimsuchungen (2009), „Schwestern der Angst”. Roman (2010, HAYMONtb 2018), „Vom Gebrauch der Wünsche”. Roman (2014) und „Die Paradiesmaschine”. Erzählungen (2016). 2020 erschien Lydia Mischkulnigs neuer Roman „Die Richterin”. http://www.lydiamischkulnig.net

Alle Bücher von Lydia Mischkulnig