Interview mit Anja Frers über vererbte Gewalt und transgenerationale Traumata

Transgenerationales Trauma – das klingt in erster Linie nach komplizierten psychologischen Vorgängen, die eine entsprechend fachliche Auseinandersetzung verlangen. Anja Frers beweist das Gegenteil: Sie geht dem Thema auf künstlerische Weise nach und ermöglicht damit einen zugänglichen Diskurs. Denn: Das Thema ist sehr viel enger mit uns verbunden, als wir vielleicht meinen. Im Gespräch mit der Künstlerin und Therapeutin erfahren wir aus psychologischer und psychotherapeutischer, künstlerischer und menschlicher Sicht, wie tief diese Dynamiken in uns und der Welt verankert sind und wie damit umgegangen werden kann.
Wer sich vor, während oder nach dem Lesen ein Bild von Anja Frers Kunst machen möchte, findet sie hier.

In Ihrer aktuellen Ausstellung „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, die am 21. Februar 2024 in der Pasinger Fabrik eröffnet wurde, gehen Sie gemeinsam mit Nana Dix und Uschi Siebauer der Frage auf den Grund, wie sehr euch drei Künstlerinnen der Zweite Weltkrieg, die NS-Ideologie und die autoritären Erziehungsideale der Eltern und Großeltern geprägt haben. Dabei habt ihr euch natürlich intensiv mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt und euch vielleicht auch das eine oder andere Mal gefragt: Ist das noch normal oder zählt das schon als Trauma? Dabei ist das ja eine ganz grundlegende Frage, mit der wir vielleicht direkt starten: Was ist eigentlich ein Trauma und was fällt alles darunter?

Der Begriff Trauma (altgriechisch: Wunde) bedeutet psychische Ausnahmesituation (Psychotrauma). Es kann ausgelöst werden durch überwältigende Erlebnisse (z.B. Gewalt, Krieg oder andere Katastrophen), die eine Bedrohung für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Betroffenen oder einer nahestehenden Person darstellt. Oder auch durch frühkindliche Erfahrungen, wenn z.B. die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen wurden, durch Erziehungsmaßnahmen wie schreien lassen oder „kalt“ stellen etc. Diese negativen Erfahrungen zerstören das Vertrauen in Bindungspersonen nachhaltig und haben enorme Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Es fällt den Betroffenen schwer, Nähe zu zulassen, weil sie als gefährlich empfunden wird und zugleich ist ein starkes Bedürfnis nach Nähe gegeben. Diese Art der Traumatisierung wird auch komplexe Posttraumatische Belastungsstörung genannt und wurde aktuell auch in das ICD11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) aufgenommen. Es existiert somit ein breites Traumaspektrum mit unterschiedlichen Auswirkungen.

 

©Anja Frers

Anja Frers arbeitet als Künstlerin und Fotografin. Zusätzlich ist sie ganzheitliche Traumatherapeutin und hat eine eigene Praxis. Das Gemeinschaftsprojekt mit Nana Dix und Uschi Siebauer, „GENERATION TRANSMISSION, PICTURED“, kann, neben der Ausstellung in der Pasinger Fabrik, auch in Buchform entdeckt werden.

Wenn wir uns an den Biologie-Unterricht zurückerinnern, war in Sachen Vererbung immer nur die Rede von Genen. Dass auch Erfahrungen und traumatische Begebenheit von Generation zu Generation weitergegeben werden können, ist aber eine Tatsache, die neu scheint. Jetzt also die Frage, die sich viele wohl als allererstes stellen: Wie geht das überhaupt mit den vererbten Traumata?

Die epigenetische Forschung hat gezeigt, dass es bestimmte Faktoren gibt, die die Aktivierung und Expression der DNA beeinflussen können. Dazu gehören z.B. Umwelteinflüsse, Krieg, Hunger, Gewalterfahrungen etc. Diese Einflüsse können zu epigenetischen Veränderungen in den Zellen führen, so dass die nächste Generation besser auf bestimmte Situationen reagieren kann, auch wenn sie diese nicht selbst erlebt hat. Dies kann sich z.B. in einem dauerhaft übererregten Nervensystem äußern. Wenn die Elterngeneration vor Bombenangriffen fliehen musste, konnte sie sich nur schwer entspannen. Diese Unfähigkeit, sich zu entspannen, und das Gefühl, ständig etwas tun zu müssen, obwohl in der eigenen Gegenwart keine Lebensbedrohung besteht, kann ein Hinweis auf die Weitergabe von Traumata sein. Ein weiterer Punkt, der für die Vererbung von Traumata spricht, ist die Tatsache, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen einen Einfluss auf das Epigenom und damit auf das spätere Leben und die Gesundheit haben können. Ein Säugling, der nicht genügend Zuwendung, Liebe und Geborgenheit erfährt, wird im späteren Leben Bindungsprobleme entwickeln. Aber nicht nur das, auch Störungen im Stresshormonsystem lassen sich biologisch nachweisen, so dass die Epigenetik ein großes und interessantes Forschungsfeld ist, das einen wichtigen Baustein zum Verständnis von Traumata liefert.

Kriegserlebnisse oder sexuelle Übergriffe sind oft die Schlagwörter, die in Verbindung mit dem Wort „Trauma“ fallen. Dabei geht dieses Thema viel weiter. Emotionaler Missbrauch oder Diskriminierungserfahrungen können ebenso Traumata auslösen, ist das richtig?

Das ist richtig. Diese Art von Traumata werden Komplexe Traumatisierung genannt. Dazu gehören z.B. emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung, die über einen längeren Zeitraum stattgefunden hat oder stattfindet.

Angehängt an die vorherige Frage und dem Aspekt, wie mit dem Begriff umgegangen wird: Immer wieder hört man die Aussage: „Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen“. Ist das eine weitere Floskel der Küchenpsychologie oder ist an dem Statement etwas Wahres dran?

Ich würde sagen, da ist auf jeden Fall etwas Wahres dran. Natürlich traumatisiert nicht jede*r einen anderen Menschen im gleichen Ausmaß und auf die gleiche Art und Weise, wie sie*er selbst traumatisiert wurde. Aber ich glaube, dass fast jede*r von uns einen Rucksack emotionaler Altlasten mit sich herumträgt. Einen Rucksack, der sich zusammensetzt aus Glaubenssätzen (z.B. „Ohne Fleiß kein Preis”), aus Persönlichkeitsstrukturen, die zum Überleben ausgebildet wurden (z.B. ein Leistungsanteil, um bei dem Beispiel „Ohne Fleiß kein Preis” zu bleiben). Viele unserer Persönlichkeitsanteile sind auf das Überleben ausgerichtet und nicht z.B. darauf, das Leben zu genießen. Bei all dem besteht die Gefahr der Übertragung auf andere Menschen, vor allem auf die eigenen Kinder. Deshalb ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, an sich selbst zu arbeiten und die eigenen Traumata zu transformieren und zu integrieren. Ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir viele Glaubenssätze und Überlebensstrategien an die nächsten Generationen weitergeben.

„Ja, das mag es alles geben, aber mich betrifft das nicht.“ Das sehen nicht wenige Menschen so. Doch Symptome wie Angstzustände, depressive Episoden, Anpassungsstörungen oder ungesunde Coping-Mechanismen scheinen immer mehr Menschen zu betreffen. Ganz oft scheint es Betroffenen unerklärlich, worauf das zurückgeht. Wenn man seine mentale Gesundheit also nicht auf akute Belastungssituationen zurückführen kann, sollte man sich dann die Frage nach transgenerationalem Trauma stellen?

Ich würde sagen, dass sehr viel in der Kindheit und in der Erziehung begraben liegt. Die Erziehungsmethoden im Nationalsozialismus waren darauf ausgerichtet, zur Bindungslosigkeit zu erziehen, um Menschen zu züchten, die dem Staat dienen und, böswillig ausgedrückt, als Kanonenfutter für den Zweiten Weltkrieg missbraucht werden konnten. Besonders einflussreich war damals das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Harrer. Schreien lassen, kalt stellen, zur Sauberkeit erziehen und das Kind mehr oder weniger als Feind betrachten, den man sich gefügig zu machen hat, wirkte sich in dieser Generation zerstörerisch auf die Entwicklung und Bindungsfähigkeit der Kinder aus. Die Kinder wurden nicht gesehen, nicht gehört, wenig berührt und oft sich selbst überlassen. Sie mussten zu früh erwachsen werden und wurden auch so behandelt. Diese sogenannte Kriegskindergeneration hat wiederum Kinder bekommen, die Kriegsenkel, zu deren Generation ich gehöre. Die Mütter waren damals oft schwer traumatisiert durch die Kriegserlebnisse und zusätzlich durch die nationalsozialistischen Erziehungsmethoden. Sie hatten auf Grund ihrer Traumatisierungen eine geringe Stresstoleranzgrenze und waren durch ihre Kinder schnell triggerbar. Allein das Schreien ihres Kindes konnte sie völlig überfordern. Viele wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten und griffen auf die ihnen bekannten Erziehungsmethoden zurück, die wiederum für unsere Generation traumatisierend waren. Es ist also wieder ein transgenerationales Thema. Wenn Menschen glauben, dass es sie nichts angeht, kann es auch eine Überlebensstrategie sein. Manche haben einen Persönlichkeitsanteil ausgebildet, der gelernt hat, alles schönzureden und die Augen zu verschließen. Das kann auch aus der Großelterngeneration kommen, die nach Kriegsende versucht hat, so zu tun, als wäre nichts passiert und alles halb so schlimm.

Problem erkannt, Gefahr gebannt – in diesem Fall gilt das ja leider nicht. Natürlich ist es der erste wichtige Schritt, aber sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und vererbter Gewalt auf die Schliche zu kommen, bedeutet harte Arbeit. Wenn man sich also dazu entschlossen hat, ganz nach dem Motto „break the cycle“, gibt es bestimmt einiges, das unterstützen kann. Wann hole ich mir am besten Hilfe und wie kann die aussehen?

Problem erkannt, Gefahr gebannt funktioniert bei Trauma leider nicht so einfach. Viele haben sehr viel kognitiv verstanden, sich mit der Kindheit analytisch auseinandergesetzt und wissen ganz genau, wie sie sich verhalten sollten. Nur leider reicht das nicht. Ein Trauma ist im Körper abgespeichert, in unserem autonomen Nervensystem. Ich würde empfehlen, eine Traumatherapie anzufangen. Da hier mit Körper, Geist und Seele gearbeitet wird, um abgespaltene Emotionen wieder zu transformieren und zu integrieren. Es wird auch mit den Überlebensstrategien gearbeitet, um das Nervensystem zu regulieren, um Sicherheit zu empfinden und Verbundenheit. Zum Glück können wir neue Nervenbahnen erschaffen, um alte Muster und Reaktionsketten zu verlassen. Das dauert natürlich seine Zeit, aber es lohnt sich. Oft kann man erst im Prozess erkennen, wie viel Anstrengungen es einen gekostet hat, sein Leben im Überlebensmodus zu leben.

Transgenerationales Trauma ist ja geprägt davon, dass es einen nicht nur als Individuum, sondern auch als Teil eines familiären beziehungsweise verwandtschaftlichen Systems betrifft. Wie kann man damit umgehen, wenn man auf seinem Weg der Auseinandersetzung auf Widerstand vonseiten der Familie oder Verwandtschaft, auf defensives Verhalten oder fehlende Unterstützung stößt?

Das ist ein großes Problem. Viele Menschen suchen Unterstützung bei der Verarbeitung ihrer Traumata in ihrer Familie. Verständnis und Hilfe für die Ursache des Problems zu bekommen, ist oft schwer möglich und diese Erkenntnis kann sehr schmerzhaft sein. Wichtig ist aber immer, dass es nicht um Schuld geht. Die Elterngeneration hat das Beste gegeben, was sie geben konnte. Deshalb ist es an uns, uns selbst das zu geben, was wir gebraucht hätten, um zu heilen. Der Weg in der Traumatherapie ist ein Weg nach innen. Die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, die eigenen Grenzen zu setzen, sich mit sich selbst zu verbinden und sich in sich selbst sicher und zu Hause zu fühlen, das ist das Ziel. Das geht oftmals am besten ohne die Familie, die ihre eigene, oft völlig andere Wahrnehmung und Geschichte hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine innere Entwicklung auch im Außen viel verändert. Natürlich ist das auch für die Familie manchmal eine Herausforderung, aber es bringt Veränderung und Entwicklung mit sich.

Viele dieser Fragen haben Sie nun hauptsächlich mit therapeutischem Know-How beantwortet. Doch wie auch schon ganz am Anfang erwähnt, befassen Sie sich auch künstlerisch auf ganz spannende Weise mit diesem Thema. Wie gehen Sie also als Künstlerin mit dieser Thematik um? Was hat Sie dazu bewogen, dieses Thema überhaupt erst künstlerisch aufzugreifen? Und was möchten Sie mit Ihren Werken bei den Menschen auslösen?

Eigentlich begann meine ganze Geschichte zu diesem Thema vor etwa 14 Jahren. Mit dem Tod meiner Mutter. Da sie mich mit vielen Fragezeichen zurückgelassen hatte, versuchte ich meine Geschichte anhand der Fotos, die sie mir hinterlassen hatte, zu rekonstruieren. Es waren über 1500 Dias, die meine gesamte Kindheit dokumentierten. Erst, als ich die Schwarz-Weiß-Bilder aus der Zeit des Nationalsozialismus einfügte, spiegelten die Fotos das wider, was ich damals fühlte. Da meine Großeltern im selben Haus wohnten, habe ich den Generationenkonflikt hautnah miterlebt. Es war immer eine gewisse Schwere in unserem Haus, etwas Unausgesprochenes, das nicht da sein durfte, aber immer da war. Um mich herum wurde mit aller Gewalt versucht, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Was es aber nicht war. Meine Mutter und meine Großmutter waren beide Alkoholikerinnen, mein Großvater noch traumatisiert von der Kriegsgefangenschaft in Russland und mein Vater war nie da, weil er arbeiten musste. Nach und nach verstand ich, dass das transgenerationale Trauma in unserer Familie einen festen Platz hatte. Das hat mich erleichtert, weil ich mir endlich erklären konnte, was die Ursache für all das war, was ich erlebt habe. Dieses Wissen möchte ich weitergeben. Denn es erklärt vieles und es sind keine Einzelschicksale. Durch das Reden darüber und die Auseinandersetzung entsteht eine Verbundenheit, die auch mir lange gefehlt hat. Das tut gut und ist heilsam, für mich und für die Menschen, die wir als Künstlergruppe damit erreichen.

Zum Abschluss würde uns noch interessieren, wie Sie ganz persönlich mit dem Thema umgehen. Als Künstlerin, Frau und Mutter. Denn wenn man sich so intensiv damit beschäftigt, stellt man sich bestimmt auch die Frage, wie viel Verantwortung man für sich und seine Familiengeschichte übernehmen kann und muss. Wo zieht man die Grenze, und wie schafft man es, zwischen den belastenden und schwierigen Themen noch genügend Zeit für Selbstfürsorge zu schaffen?

Seitdem ich mich mit dem Thema Trauma beschäftige, vor allem als Traumatherapeutin, geht es mir besser als vorher. Da ich selbst viel durchgearbeitet habe, ist mein Rucksack wesentlich leichter geworden, meine Glaubenssätze haben sich zum Positiven verändert, meine Anteile, die meine Überlebensstrategien verkörpern, haben sich entspannt und mein Stresstoleranzfenster ist viel größer geworden. Mein Minenfeld an Auslösern hat sich stark dezimiert und deshalb brauche ich nicht mehr so viel Selbstfürsorge wie vielleicht früher. Das spüren auch meine beiden Kinder und deshalb glaube ich, dass sie, was mich betrifft, nicht mehr so viel tragen und ertragen müssen. Es reicht jeder Schritt in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte, um der nächsten Generation zu helfen, freier zu leben. Da sie auch den Ursprung nicht mehr so direkt verorten können wie ich, ist es für meine Generation besonders wichtig, diese Verantwortung ernst zu nehmen, sonst leiden unsere Kinder unter diffusen Ängsten, ADHS, Depressionen usw. und können in ihrem Leben nicht mehr herleiten, warum sie diese Symptome entwickelt haben. Denn die transgenerationale Weitergabe kann nur abgeschwächt oder unterbrochen werden, wenn jede Generation Verantwortung übernimmt und aktiv etwas dagegen tut.

„Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt.“ Universitätsprofessorin Anne Siegetsleitner zu Fragen der Ethik in der Forschung

Georg Haderer wirft in seinem Kriminalroman „Seht ihr es nicht?“ die Frage auf: Was darf Wissenschaft und wo stößt sie an ihre moralischen Grenzen? Wir haben mit Univ.-Prof.in  Mag.a Dr.in Anne Siegetsleitner darüber gesprochen, was überhaupt unter den Begriffen „Moral“ und „Ethik“ zu verstehen ist,  welche Herausforderungen im Bereich der Technik am drängendsten sind und ob eine „Angst vor den Maschinen“ gerechtfertigt ist.

Oft spricht man sehr allgemein über die Begriffe „Moral“ und „Ethik“. Religiöse Menschen beziehen sich dabei gern auf religiöse Schriften wie die Bibel oder den Koran, andere wiederum richten sich nach Gesetzen. Wonach richten sich Ethiker*innen, wenn sie über „moralisch richtiges Verhalten“ sprechen?

Das hängt ganz davon ab, wen Sie meinen, wenn Sie von „Ethiker*innen“ sprechen. Vielfach wird heute das Wort „Ethik“ einfach anstatt „Moral“ verwendet, weil es besser klingt, weniger streng und moralinsauer. Menschen richten sich dann nach ihren persönlichen Maßstäben oder jenen ihrer Moralgruppe, sehr häufig einer religiösen Gruppe, treten aber als „Ethiker*innen“ auf. Wer sich vormals als Moraltheologe auswies, nennt sich heute eben oft „Ethiker“. Wer als Soziologin bestehende moralische Haltungen z.B. in der Medizin im Rahmen der empirischen Methoden des Faches erforscht, gibt persönliche moralische Urteile ab und bezeichnet sich als „Ethikerin“. KI-Expert*innen haben eine persönliche moralische Einstellung, und schwupps haben wir angeblich neue „KI-Ethiker*innen“. Eine Juristin leitet eine Ethikkommission und sieht sich deshalb als „Ethikerin“. Dadurch, dass sich diese Menschen als „Ethiker*innen“ bezeichnen, wird ihr spezifischer moralischer Standpunkt jedoch gut verdeckt. Das kann unüberlegt passieren oder als bewusste Immunisierungsstrategie eingesetzt werden.

Dass meist weniger hinterfragt wird, wenn jemand von „Ethik“ anstatt von „Moral“ spricht, liegt daran, dass in einem anderen Verständnis von „Ethik“ mit dem Gemeinten ein höherer Anspruch an Objektivität oder zumindest Intersubjektivität verbunden ist. Dann ist „Ethik“ nicht gleichbedeutend mit „Moral“. Die wichtigste Bedeutung von „Ethik“ in einer solchen Unterscheidung ist, dass mit „Ethik“ eine Teildisziplin der Philosophie bezeichnet wird, die Moral bzw. verschiedene Moralen philosophisch reflektiert. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Vieles, was Ethiker*innen in diesem Sinne tun und worin ihre Kompetenz liegt, besteht nicht darin, moralische Urteile abzugeben. Ethik nimmt keine Moral einfach hin, sie fragt nach Begründungen, nach der Möglichkeit und Reichweite von Begründungen, danach, was vorausgesetzt wird, ohne offengelegt zu werden. Ethiker*innen sind deshalb in machen Umgebungen gar nicht gerne gesehen. Sie stören das Nichthinterfragte. Das gilt meiner Erfahrung nach nicht zuletzt im stark traditionell geprägten Tirol.

Wenn Ethiker*innen im philosophischen Sinne moralische Urteile abgeben, geschieht dies auf der Grundlage von offengelegten Voraussetzungen, die sich immer einer Kritik stellen. Es sind Vorschläge im gemeinsamen Ringen um eine bessere Moral, d.h. einem Normen- und Wertesystem, das dem Zweck eines guten und gerechten Lebens sowie eines gedeihlichen Miteinanders besser dient als andere Vorschläge. Ethiker*innen sind keine säkularen Priester*innen, sie können auch religiös sein, solange dieser Zweck mit einer Religion vereinbar ist. Auch der Vorschlag, sich zu diesem Zweck nach Gesetzen zu richten, würde in der Ausgestaltung von Gesetzen seine Grenze finden.

In meiner eigenen Verwendung des Wortes „Ethik“ außerhalb des fachinternen Dialogs bin ich übrigens nicht immer konsequent. Ich will mich mit den Menschen über die Inhalte austauschen, und wenn ich das durch das Wort „Moral“ erschwere, sage ich eben auch „Ethik“, zumal ich tatsächlich Ethikerin im philosophischen Sinne bin. Wichtig ist mir dazuzusagen, worin ich meine Aufgabe und Zuständigkeit sehe und worin nicht.

 

Blickt man auf die Menschheitsgeschichte, wird klar: Was als „moralisch richtig“ angesehen wird, verändert sich. Ist eine universell gültige Moral überhaupt möglich? Gibt es einen Kern der Moral?

Nehmen wir den vorhin genannten Zweck als Formulierungsvorschlag für das Gemeinsame von Moralen, nämlich einem guten und gerechten Leben sowie einem gedeihlichen Miteinander zu dienen. Dass es auch in moralischer Hinsicht geschichtliche Veränderungen gibt, muss nicht heißen, dass es kein verbindendes Verständnis vom Zweck moralischer Beurteilung gibt. Es können sich ja die Umstände ändern oder eben in unterschiedlichen Regionen, Ländern, Gesellschaften unterschiedliche Rahmenbedingungen vorliegen. Es können aber auch im Laufe der Geschichte Vorurteile widerlegt werden, etwa jenes, dass Frauen weniger gut denken können als Männer. Dann ändern sich die spezifischen moralischen Urteile, obwohl sich an der grundsätzlichen Ausrichtung dessen, was mit „Moral“ gemeint ist, nichts geändert hat. Und es kann die geschichtliche Erfahrung geben, dass in einer Gesellschaft nicht immer alle dieselbe Vorstellung vom guten Leben haben müssen, sondern es ausreicht, einander auf individueller Ebene genügend Toleranzräume zu gewähren und gerade dadurch gut miteinander leben zu können. Eine solche Moral der Freiheitsräume, die einander gewährt werden, könnte universell gültig sein. Aber selbstverständlich ist sie nicht mit allem vereinbar, nämlich nicht mit fundamentalistischen Ansprüchen. Ob diese religiös oder nicht religiös sind, ist gar nicht der entscheidende Punkt.

Außerdem steht nicht fest, dass alle, die von „Moral“ sprechen, den oben genannten Zweck verfolgen. Und wenn wir darauf kommen, dass wir im Grundsätzlichen von Unterschiedlichem sprechen, dann ist es ratsam, das ausdrücklich kenntlich zu machen. Auch hierbei können Ethiker*innen im philosophischen Sinne äußerst hilfreich sein.

 

An der Universität Innsbruck lehren Sie u.a. zu Fragen der Wissenschafts- und Technikphilosophie. Welche ethischen Herausforderungen sind gegenwärtig am aktuellsten?

Die moralischen Herausforderungen, mit denen sich auch die Ethik im philosophischen Sinne beschäftigt, sind mannigfach. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen seit gut einem Jahr sicherlich jene in Verbindung mit (generativer) KI. Abgesehen von den positiven Entwicklungen, die hiermit z.B. in der Medizin verbunden sein können, sehe ich als zentralen Punkt die Frage nach der Verantwortung bzw. in der irrtümlichen Annahme, Verantwortung an KI-Systeme abtreten zu können.

 

Wenn von Menschen programmierte Maschinen Handlungen ausführen, stellt sich oft diese Frage nach der Verantwortung, wenn etwas schief geht. Wo sehen Sie die Verantwortung: bei den Forschenden, den Entwickler*innen oder doch der Maschine selbst?

Sicherlich nicht bei der Maschine. Maschinen – zumindest das, was wir gegenwärtig „Maschine“ nennen – können nichts verantworten. Sie können in dem Sinne, den Verantwortung voraussetzt, nicht einmal handeln. Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt. Vielmehr braucht es vertrauenswürdige und verantwortungsvolle Menschen, die nur zuverlässige Technik entwickeln und einsetzen.

Abgesehen von der Versuchung, Verantwortung abschieben zu wollen, spielt hier nicht zuletzt das im Grunde verblüffende und beeindruckende menschliche Vermögen eine Rolle, mit Gegenständen oder Programmen so umzugehen, als ob sie Menschen wären oder über dieselben Fähigkeiten wie diese verfügen würden. Diese Fähigkeit kann uns leider auch in die Irre führen. Es fällt uns schwer, diesem Sog der Illusion nicht zu erliegen. Menschen glauben dann, ein Chat-Programm wäre eine Person, sie sagen „bitte“ und „danke“ zu ihm oder sie verlieben sich in Sexroboter, deren Entwicklung übrigens noch immer enttäuscht. Das ist wie ein Sprechen mit dem angeblichen Männchen im Radio nichts, was zu verbieten wäre, aber wir sind im Sinne des Zwecks der Moral, so meine Einschätzung, nicht gut beraten, unseren Umgang mit Technik und den Einsatz von Technik im Umgang miteinander auf solche verfehlten Annahmen zu stützen. Eine philosophische Ethik, die wissenschaftlich informiert und fundiert argumentiert und selbst die (latente) Technikfeindlichkeit manch geltender Moralsysteme hinterfragt, kann bei der Suche nach guten Lösungen durchaus einen bedeutenden Beitrag leisten, und zwar jenseits von solch pauschalen Ansichten, Systeme Künstlicher Intelligenz würden die Menschheit insgesamt bedrohen oder retten.

 

Sie teilen also nicht die Ansicht jener, die fürchten, die Menschheit schaffe sich durch Technologie selbst ab. Und was wäre die Alternative? Gibt eine „Rückkehr zur Natur“?

Eine „Rückkehr zur Natur“ gibt es nicht, weil es „die“ Natur nicht gibt. Viele nennen das, was sie sich als Ideal vorstellen, das Natürliche. Sie stellen dann beispielsweise eine „natürliche Empfängnis“ einer „künstlichen“ gegenüber und verbinden damit bereits eine Wertung.

Dass sich die Menschheit gleich abschaffen würde, sehe ich nicht. Was in einem bestimmten Rahmen abgeschafft wird oder werden könnte, sind bestimmte Tätigkeiten oder ganze Berufsfelder. Es drohen eine weitere Erosion privater Sphären, erhöhte Abhängigkeiten von global mächtigen Konzernen und einiges mehr, das es unter der Perspektive eines guten und gerechten Lebens zu beurteilen gilt. Wir sollten hier jedoch weniger auf die Technologie selbst blicken als auf die Menschen und Unternehmen dahinter. Technologie weder zu verherrlichen noch zu verteufeln, sondern mit Bedacht einzusetzen, das wäre intelligent. Je mehr wir das schaffen, umso weniger bedroht müssen wir uns sehen.

Unsichtbare Bedrohung in „Seht ihr es nicht?“ von Georg Haderer.

 

Als Helena Sartori, deren Eltern und ihr Sohn tot aufgefunden werden, wird Philomena Schimmer hinzugezogen: Die jugendliche Tochter Sartoris, Karina, ist spurlos verschwunden – und Schimmer soll sie suchen.
Helena Sartori war leidenschaftliche Wissenschaftlerin, wollte die Welt mit ihrer Forschung an Nanobots verändern . Und dann plötzlich hat sie sich – einige Zeit vor ihrer Ermordung – völlig zurückgezogen, in die wlanfreie Einöde. Was ist passiert? Ist ihr die Arbeit an den mikroskopisch kleinen, mit freiem Auge nicht sichtbaren Robotern entglitten – und hat das Sartori und ihre Familie in den Abgrund gestürzt? Ist Karina am Leben? Hat man sie entführt oder ist sie selbst geflohen? Quälende Fragen für Philomena Schimmer, der es immer schwerer fällt, die professionelle Distanz zu wahren, je länger von Karina jede Spur fehlt.

Und dann klopft plötzlich ein alter Fall an Schimmers Tür, eine junge Frau aus Philomenas Vergangenheit, die sie damals nicht retten konnte …

Wurden aus nützlichen Nanobots unkontrollierbare Mini-Monster? Finde es hier heraus.

Klaus Merz wird mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2024 ausgezeichnet.

Mit dem Grand Prix Literatur 2024 würdigt das Schweizer Bundesamt für Kultur Klaus Merz für sein Lebenswerk und verleiht ihm damit die höchste literarische Auszeichnung des Landes.

„Innenschau und sprachliche Verdichtung prägen das Werk von Klaus Merz. Mit dem Aargauer Autor wird eine eher leise, jedoch umso eindringlichere und gewichtige Stimme ausgezeichnet, die einen Echoraum weit über die Schweizer Grenzen hinaus findet.“

 

Mit den 2012 eingeführten Schweizer Literaturpreisen ehrt das Bundesamt für Kultur jährlich Kulturschaffende und würdigt ihre Werke. Die Preise und Auszeichnungen berücksichtigen alle vier Sprachregionen der Schweiz und die verschiedenen literarischen Gattungen.

Die Preisverleihung findet am Freitag, 10. Mai 2024 um 18 Uhr im Stadttheater Solothurn, im Rahmen der Solothurner Literaturtage statt.

© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des Kamels. Geschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze Durchsage. Gedichte & Prosa (1995), Jakob schläft. Eigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein. Roman (1998), Garn. Prosa & Gedichte (2000), Adams Kostüm. Drei Erzählungen (2001), Das Turnier der Bleistiftritter. Achtzehn Begegnungen (2003), Löwen Löwen. Venezianische Spiegelungen (2004), LOS. Erzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas Miniaturen. Erzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte Blick. Sehstücke (2007), Der Argentinier. Novelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem Staub. Gedichte (2010), Unerwarteter Verlauf. Gedichte (2013), Helios Transport. Gedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweitert er seine Publikationen um Noch Licht im Haus.

„Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot.“ – Aleš Šteger im Interview über sein Logbuch-Projekt und die schriftstellerische Arbeit

Je zwölf Stunden an zwölf Orten im Laufe von zwölf Jahren. So lange schrieb der slowenische Autor Aleš Šteger an seinem Projekt, das unter dem Titel „Logbuch der Gegenwart“ in drei Bänden im Haymon Verlag erschienen ist. Der letzte Band, „Aufgehen“, ist mit 7. März 2024 im Buchhandel erhältlich. Von Slowenien über China bis nach Chile und Somaliland reiste er, traf auf Kulturen, Schicksale, Geschichten, die er mit Stift und Papier sowie mit seiner Kamera für die Ewigkeit festhielt. Wir haben uns mit Aleš Šteger über die poetische Wahrnehmung der Welt, die Arroganz der Europäer*innen dem Fremden gegenüber und seine Logbücher unterhalten.

Ein im Voraus festgelegter, möglichst öffentlicher Ort, der eine lebendige, unvorhersehbare Geschichte erzählt. Ein ebenso festgelegtes Datum, das mit einer gewissen Menge an Erinnerungsgepäck beladen ist. Eine auf zwölf Stunden begrenzte Schreibzeit, innerhalb derer ein Text entstehen soll, der anschließend schnellstmöglich veröffentlicht wird. Das sind die Grundregeln, die alle drei Logbücher eint. Gehen wir kurz mal zurück ins Jahr 2012, als das alles anfing: Wie kam dir die Idee zum Logbuch-Projekt? Gab es einen konkreten Auslöser oder schlummerte diese Idee schon länger in dir?

Die Idee dazu entstand aus einer Lebens- und Schreibkrise. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot. Ich brauchte eine neue Herausforderung, eine Aufgabe, die mich in meiner Arbeit als Schriftsteller forderte.
Dann kam dieser Einfall, sich selbst ein paar sehr elementare, fast unmögliche Regeln aufzuerlegen, sich an einem Ort niederzulassen, wo jederzeit alles schiefgehen kann. Diese fehlende Planbarkeit und die Offenheit, die viel Vertrauen in sich selbst und in den Prozess erfordern, waren mein Weg zurück. Zurück zur Literatur, zur elementaren poetischen Wahrnehmung der Welt und der Menschen – und zum Logbuch.

Du bist ein unbestechlicher Beobachter, beschreibst deine Wahrnehmungen der Umwelt und die Stimmungen, die dich umgeben, so, dass ein klares Bild entsteht und gleichzeitig Raum bleibt für die literarische Wirkmacht deiner Texte. Siehst du die Welt und die Menschen darin nun nach deinen Reisen mit anderen Augen?

Ich muss mich selbst immer wieder dazu ermahnen, nicht zu genau zu sein und meiner Fantasie und Kreativität genug Raum zu lassen. Denn es geht ja nicht nur um das Gesehene, sondern vor allem um das Erahnte, Erträumte, um Assoziationen und die schwierige Frage dahinter: Warum? Das Reisen hat mich aber zum Menschen gemacht, der ich bin, mit oder ohne Logbuchprojekt im Rucksack. Es hat mich der Welt gegenüber geöffnet und mir gelehrt, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht verstehe. Immer aufs Neue die Welt zu hinterfragen – aber sanft, nie besserwisserisch. Arroganz ist uns Europäer*innen ja von klein auf mitgegeben und man muss sehr viel Selbstreflexion durchlaufen, um sie wieder loszuwerden. Arroganz dem Fremden gegenüber ist ja nichts anderes als die Rückseite der Angst, die Ungewissheit, der wir uns nicht stellen wollen, uns dem Neuen nicht öffnen können.

 

© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Aleš Šteger, geboren 1973 in Ptuj, ist ein slowenischer Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor. Er veröffentlichte bislang mehrere Lyrik- und Prosabände, zuletzt seine Erzählungen „Das Lachen der Götter” (2016). Für seine Gedichte und Essays erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1998 den Veronika-Preis, 2008 den Rožanc-Preis, 2011 den Best Translated Book Award für seinen Gedichtband „Buch der Dinge”, 2016 den Horst-Bienek-Preis. Zudem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.

Du berichtest von politischen Stimmungen, gesellschaftlichen Minderheiten, sozialen Ungerechtigkeiten, von Armut und Lebensfreude, Schicksalsschlägen und Hoffnungsschimmern – ganz gleich, wo du dich befindest. Was macht uns Menschen aus? Konntest du durch deine Reisen Verbindendes entdecken, das in uns allen ist, unabhängig von kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten?

Wir Menschen sind einander viel ähnlicher, als wir es uns eingestehen wollen. Gleichzeitig verbirgt sich in uns vieles, das verschüttet oder verstummt zu sein scheint, in gewissen Konstellationen aber sofort wieder zum Vorschein kommt. Zum Beispiel die Erfahrung der frappanten Möglichkeit, sehr lange Erzählungen nach dem Zuhören wortwörtlich wiederzugeben, was in Somaliland auch heute noch gang und gäbe zu sein scheint. Eine Erinnerungskunst, die bei uns fast gänzlich durch Technik ersetzt wurde. Wir können so vieles sein und sind auch so vieles, ohne es zu wissen.

Welche Begegnung auf deinen Reisen für das Logbuch ist dir besonders in Erinnerung geblieben, welches Bild hat sich in dein Gedächtnis eingebrannt?

Das ist vielleicht das Besondere an diesem Projekt. Da es mit einer im Vorhinein festgelegten Zeitstruktur, einem Zwölf-Stunden-Fenster operiert, in dem alles passiert (oder eben nichts), entsteht ein sehr großer Aufmerksamkeitsdruck. Alles, was ich erlebe, jede*r, dem*der ich begegne, brennt sich mit einer immensen Prägnanz in meine Erinnerung ein. Ich kann alle zwölf Orte, alle zwölf Schreibreisen in mir sofort wieder abrufen. Das gelingt mir sonst im Alltag nicht. Aber die Sprache macht das möglich, wie so vieles …

Du bist Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor und bezeichnest dich selbst als „literarische Amphibie“ und „Grenzgänger zwischen verschiedenen Literaturwelten“. Ist Sprache für dich die beste Ausdrucksform, oder gibt es neben der Literatur auch noch andere für dich?

Sprache ist bestimmt das Medium, in dem ich mich am sichersten bewege. In den letzten Jahren hat sich meine Art des Ausdrückens erweitert, vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem Akkordeonisten Jure Tori auf eine Vortragsart, die wir „poetisch-musikalisches Ritual“ nennen.
Für das Logbuch habe ich mir etwas anderes einfallen lassen: eine Reiseperformance in Worten, Klängen und Bildern. Eine Reise um das Jetzt in zwölf Welten.
In all diesen Vortragsformen geht es aber um dasselbe, nämlich darum, eine Brücke zum Text zu bauen, damit dieser sich im Kontakt mit dem Unbekannten entfalten kann, so wie er sich in mir entfaltet. Das ist eine bereichernde Tätigkeit: die Leute in mein Geheimnis mit einzubeziehen und die Erfahrung der Wachheit des Textes zu teilen.

Wie geht es weiter für dich? Arbeitest du bereits an einem neuen Projekt?

Ich sitze gerade an einem Roman und einem Gedichtband. Es sind diesmal vor allem Reisen ins Innere, in Archive und in den Alltag. Es muss ja nicht immer eine Weltreise sein, um die Welt zu ertasten. Etwas Vergleichbares wie das Logbuch-Projekt nochmal zu machen, scheint für mich nicht realisierbar. Es erfordert schlicht und ergreifend sehr viel Lebenskraft – so etwas machen auch die größten literarischen Draufgänger*innen nur einmal.

„Schon die ersten Sätze faszinierten mich.“ – Michael Forcher über Alfred Komarek

Ob in Krimis, Kinderbüchern, Sachbüchern oder Bildbänden: Alfred Komarek verstand es wie kein Zweiter, Lesende mit seinen Worten zu begeistern.  Im Nachwort zu Alfred Komareks Werk „Spätlese“ erinnert sich Michael Forcher, der Gründer des Haymon Verlags, an die erste Begegnung mit Alfred Komarek und seinen Werken …

 

Ich habe ihn mir anders vorgestellt. Nein. Eigentlich habe ich ihn mir überhaupt nicht vorgestellt. Alfred Komarek war für mich schlicht und einfach ein Name, eher abstrakt. Er stand für Geschichten, Gedanken, Worte, Musik. Ja, auch Musik, was natürlich nicht nur mit Wortklang und Sprachmelodie zu tun hat, sondern auch damit, dass es Gedanken, Worte zum Weiterspinnen waren, zum Hineinträumen bei romantischer Musik, zum Sich-hinein-Verkriechen …

Viele, viele Menschen meiner Generation „50 plus“, aber auch Jüngere wissen, wovon die Rede ist: von Alfred Komareks Kultsendung „Melodie exklusiv“, die in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren regelmäßig hunderttausende Menschen zu später Abendstunde vor den Radioapparaten versammelte.

Später las ich wohl das eine oder andere von Alfred Komarek, in einem Merian-Heft, im Geo vielleicht, im Gedächtnis blieb es nicht. Und „Melodie exklusiv“ gab es nicht mehr. Dann gründete ich den Haymon Verlag, hatte Kontakt mit jungen, engagierten Autorinnen und Autoren, aber auch ordentliche Schwergewichte der Branche stießen zum Haymon Verlag. Wir hatten Erfolge zusammen, erlebten Enttäuschungen, und wie jeder Verleger hoffte ich inständig darauf, einmal den großen Coup zu landen.

Eines Tages entdeckte ich unter den gerade eingelangten Manuskripten ein Kuvert mit einem mir wohlvertrauten Namen: Alfred Komarek. Habe ich es falsch in Erinnerung oder schlug mir wirklich plötzlich das Herz bis zum Hals … Dieser Alfred Komarek? Kann das sein?
Tatsächlich, es war dieser Alfred Komarek, und er bot mir das Manuskript seines ersten Kriminalromans zur Veröffentlichung an: „Polt muß weinen“. Nie vorher und auch nachher nicht mehr habe ich mich so schnell ans Lesen gemacht, da galt keine Reihenfolge der eingelangten Manuskripte mehr. Und schon die ersten Sätze faszinierten mich, ein geradezu perfekter Anfang. Ein großer Erzähler war da am Werk. Aber auch ein Sprachkünstler, der mit wenigen Worten dichte Stimmung aufbauen kann.

Nach wenigen Seiten war Komareks Absicht klar: Die vordergründig gar nicht so spannende, aber letztlich packende und berührende Kriminalgeschichte mit – wie es sich erweisen sollte – überraschender Lösung war mit dem Hintergedanken geschrieben worden, den Leser*innen die dörfliche Welt der Weinbäuer*innen in der nordöstlichen Ecke Österreichs vorzustellen. Der Mord und seine Aufklärung waren sozusagen die Folie, auf der Komarek das Charakterbild einer Region und ihrer Menschen entwarf. Als Alfred Komarek mit dem ersten Simon-Polt-Roman „Polt muß weinen“ den renommierten Glauser-Preis gewann, stand denn auch die „Einfühlsamkeit, mit der der Autor die Menschen und die Landschaft des kleinen Ortes im Weinviertel nördlich von Wien beschreibt“ neben „der atmosphärischen Dichte und Bildhaftigkeit von Komareks Sprache“ im Mittelpunkt der Urteilsbegründung.

 

Aber ich eile voraus. Zunächst einmal war ich sofort entschlossen, den Roman ins Programm zu nehmen. Ein paar Jahre vorher hatten wir mit Kurt Lanthalers Tschonnie-Tschenett-Romanen erste Schritte auf dem Sektor der Kriminalliteratur gewagt, wobei für mich neben der literarischen Qualität der sozialkritische Akzent im Schreiben des Südtiroler Autors entscheidend war, der nicht nur unterhalten, sondern aufklären will und seine Geschichten so nahe wie möglich an der Wirklichkeit entlang erzählt. Der Erfolg blieb nicht aus. Auch die bald darauf gestarteten Kurt-Ostbahn-Krimis von Günter Brödl erreichten große Popularität und dementsprechend hohe Auflagen.
Und jetzt Alfred Komarek! Wie er mir später sagte, hatte er als verlagstreuer Autor den Roman zuerst mehreren größeren Verlagen angeboten, mit denen er schon in Kontakt stand. Die waren aber skeptisch und trauten sich nicht drüber. Wozu jetzt ein Krimi? Soll bei seinem Leisten bleiben, haben die wohl gedacht. Freund*innen und Kolleg*innen rieten Komarek dann, sich an den Innsbrucker Haymon Verlag zu wenden, der inzwischen zu einer der ersten Adressen in Österreich für dieses Genre geworden war.

 

Meine umgehend abgesandte Zusage, den Roman zu verlegen, war mit der Bitte verbunden, uns bald einmal in Wien treffen und persönlich kennenlernen zu können. Und da stand er vor mir. Erstmals leibhaftig. Er, der vorher nur Wort, nur Sprache war. Im Café Schwarzenberg war es, nach dem Eingang gleich links, ein Tisch im Eck am Fenster. Er hatte beschrieben, wo er sitzen würde. Stand auf, als er meinen suchenden Blick bemerkte. Herr Komarek? Herr Forcher? Grüß’ Sie Gott, freut mich … Ein großer, schlanker Mann mittleren Alters, im dezenten Straßenanzug mit eher altmodischer Krawatte. Freundlich, gewinnend. Ohne jede Starallüre.

Wir fanden uns im Reden, wurden schnell einig über Detailfragen des zu schließenden Vertrags, besprachen Termine, PR-Maßnahmen und was sonst alles dazugehört zum Geschäftlichen. Ich ließ mir vom Weinviertel erzählen, was ihn so fasziniert an der Landschaft dort, an den Menschen, warum er nach Rundfunk- und Magazinfeatures, Reisereportagen, kleinen Erzählungen, Essays, Texten zu Bildern, zu Kunst und Kultur und vielen anderen Facetten des Schreibens jetzt zum Krimiautor geworden war, der schon weitere Romane rund um den sympathischen Weinviertler Gendarmerie-Inspektor im Kopf hatte. „Ich wollte einen Lebensraum und seine Menschen, die Vorteile und Probleme des heutigen Lebens auf dem Land einmal nicht in Reportage- oder Sachbuchform darstellen, sondern es auf andere Weise probieren, und der Kriminalroman eignet sich dazu besonders gut, weil ein Mord den Alltag auseinanderklaffen lässt und verdrängtes, verleugnetes Unbewusstes herzeigt.“

Seit dem Tag sind mehr als zehn Jahre vergangen. Komarek hat mich damals gebeten, ihm ein strenger Lektor zu sein, allzu häufig verwendete Formulierungen und auffallende Lieblingswörter gnadenlos herauszustreichen, ja nichts durchgehen zu lassen. Ich bin dem Wunsch nachgekommen, doch habe ich nicht viel gefunden, was man hätte herausstreichen müssen. Selbst das angelernte Bemühen, unnötige Adjektiva auszumerzen und die Eigenschaften der Dinge eher der Fantasie der Leser*innen zu überlassen, ging größtenteils ins Leere.

Denn Komarek ist zwar ein Autor der vielen Adjektiva und Adverbien, doch sind es nie simple Ergänzungen aus dem Alltagswortschatz, sie schränken nie die Fantasie des Lesers ein, im Gegenteil, sie sind wohlüberlegt, überraschend kreativ, kaum eines ist verzichtbar, will man nicht den Sinn des ganzen Satzes, die Bedeutung der Aussage entstellen, ein Fenster zumachen, das der Autor durch gerade dieses Wort geöffnet hat.

Sehr oft verändern, relativieren die gewählten Eigenschaftswörter die Bedeutung des Hauptwortes, mildern, verschärfen, ja verkehren sie raffiniert ins Gegenteil, gibt ein Adverb dem folgenden Zeitwort einen neuen Sinn. Bei welchem Autor liest man sonst von „grausamer Zärtlichkeit“, wer beschreibt ein „Fest von sanfter Zügellosigkeit“, wer lässt einen Menschen „aufdringlich entspannt“ sein? Beispiele über Beispiele könnte man da anführen. Komareks Wörter treffen den Kern, durchdringen wie Röntgenstrahlen die äußere Wahrnehmungsschicht, legen tiefere Ebenen frei.

Und dann seine pointierte Sprache, sein Witz, seine Bonmots! Eine Formulierung wie „Die Existenz eines freiberuflichen Schriftstellers ist der eines Seiltänzers ohne Netz verdammt ähnlich“ könnte man auch bei anderen lesen. Bei Komarek kommt was nach „… und zuweilen fehlt auch noch das Seil.“ Niemand Geringerer als der verstorbene Altmeister unter Österreichs Sprachkünstlern, Hans Weigel, war von solchen Sätzen begeistert. Auch von dem: „Schön miteinander schweigen ist übrigens auch ein Gespräch.“ Dass diese Begabung Komarek zum Essayisten und Feuilletonisten alter Schule adelt, hat Hans Weigel im Vorwort zu Komareks Buch „Gott hab uns selig“ – aus dem in der vorliegenden Sammlung auch zahlreiche Beispiele abgedruckt sind – mit der Bemerkung hervorgehoben: „Als Alfred Polgar starb, nannte ich ihn in meinem Nekrolog den ‚letzten Ritter des Feuilletons‘. Ich bin glücklich, dass ich mich damals geirrt habe.“

 

Feuilletonistische Schärfe in Wortwahl und Formulierung sind das eine, Komareks Erzählkunst eine andere. Denn wunderbare Sätze, überraschende Metaphern und gescheite Gedanken machen noch keinen Roman aus. Geübt und erfahren in der kleinen Form märchenhafter Erzählungen, ausgestattet mit unbändiger Fantasie einerseits und exzellenter Beobachtungsgabe andererseits, dazu noch mit einem auch analytisch einsetzbaren Verstand, dem einige Semester Jusstudium offenbar nicht geschadet haben, ist er imstande, spannende Plots zu erfinden, Dialoge, Szenen und Bilder zu einer sinnvollen Handlung zusammenzuführen. Ein guter Erzähler eben, es gibt nicht gar so viele, leider!

 

Das Stichwort „Jusstudium“ erinnert mich daran, dass noch die Biografie Alfred Komareks zu erzählen ist. Geboren ist er am 5. Oktober 1945 in Bad Aussee. Sein Vater war Lehrer und Gelegenheitsautor, der dem Drittgeborenen die Lust am Formulieren und Erzählen vererbte, was sich schon früh in einer „übermütigen Hemmungslosigkeit im Umgang mit dem Material Sprache“ (O-Ton Komarek) niederschlug. Nach der Matura am Gymnasium in Stainach-Irdning bremste der Vater den Wunsch des geradezu schreibwütigen Sohnes, gleich als freier Autor tätig zu werden und riet ihm, zur Absicherung ein Jusstudium zu beginnen.

 

Für diese Argumentation hatte Alfred Komarek durchaus Verständnis, inskribierte in Wien und legte nicht nur die ersten beiden Staatsprüfungen ab, sondern bewährte sich auch als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Deutsche Rechtsgeschichte. „Ich bereue das bis heute nicht“, betont der erfolgreiche Autor im Rückblick, „denn wer mit dem kreativen Chaos in seinem Inneren produktiv umgehen will, sollte es auch gelernt haben, folgerichtig zu denken und ein stimmiges Konzept umzusetzen.“ Neben dem Studium machte der angehende Jurist das, was er am liebsten tat, nämlich schreiben, ab 1965 für den ORF, ab 1966 als freier Mitarbeiter der Wochenzeitung „Die Furche“. Aber der Stern des Alfred Komarek ging erst richtig auf, als die Geschichte des Rundfunks in eine neue Phase trat, als er – wie Komarek sagt – erwachsen wurde, sich nicht mehr für Unterhaltung genierte und nach der Rundfunkreform von 1968 mit Ö3 ein „junges“ Programm aus der Traufe hob.

 

Darin wurde dem Wort eine neue Dimension eingeräumt. Zwar waren es nach dem Vorbild der Programme der amerikanischen Besatzungstruppen in Europa meist frei sprechende Moderator*innen, die wortwörtlich das Sagen hatten, doch gelang es Komarek, radiogerechte Texte, Texte zum Hören zu schreiben, die von grandiosen Sprecher*innen wirkungsvoll an die Hörer*innen gebracht wurden, zuerst in „Entre nous“ von Erika Mottl und Wolfgang Hübsch, dann in „Melodie exklusiv“ von Meinrad Nell und Ingrid Gutschi, später in der Reihe „Texte“ von Ernst Grissemann. Gleichzeitig entstanden jede Menge anderer Manuskripte fürs Radio, für österreichische Lokalsender genauso wie für große, deutsche Rundfunkanstalten. Alfred Komarek war etabliert, verdiente ordentlich, war inzwischen glücklicher Ehemann, ging einer schönen Zukunft entgegen. Da passierte es. Seine Frau wurde das Opfer einer schweren psychischen Erkrankung, ihr Tod riss auch ihn in eine existenzielle Krise. „Ich wär auch bald draufgegangen“, sagt er nun. Er ist einer, der nie viel von sich erzählt. Aber wenn er schon nicht anders kann, als diese Katastrophe seines Lebens zu erwähnen, vergisst er nie dazuzusagen, dass es eine wunderbare Ehe war und er deshalb nur mehr allein weiterleben wolle. „So eine Frau finde ich nie mehr, wozu also noch einmal an Heirat denken …“ Wie sehr dieser gewaltige Lebenseinschnitt Komareks Schaffen beeinflusste, ist schwer zu sagen. Man müsste genaue Textvergleiche anstellen, um Spuren zu finden. Und würde sich wohl oftmals täuschen. Der Tod als Teil des Lebens war für ihn schon sehr früh ein gar nicht seltenes Thema, mit dem er – so wie heute auch – leicht und spielerisch umging, in Märchen und Bilder verkleidet. Manchmal verwirrten seine Texte gerade junge Fans. „Also, ich weiß nicht, sind Sie ein junger Alter oder ein alter Junger“, schrieb ihm eine Hörerin in den Siebzigerjahren. Und heute könnte es umgekehrt sein, als „guter Sechziger“ schreibt er so, dass ihn angesichts seiner Unbekümmertheit und seiner Lust am Schabernack vielleicht manch ältere Leser*innen für sehr jung hielten – es soll noch Leute geben, die nichts über Alfred Komarek gehört, gelesen oder ihn im Fernsehen gesehen haben. „Immer mehr fällt mir auf, dass mein Gesicht im Spiegel zwar älter ausschaut, dass meine Interessen, Gedanken und Gefühle aber die gleichen geblieben sind, auch mein berufliches und persönliches Selbstverständnis hat sich in den fünfundvierzig Schriftsteller-Jahren nicht wesentlich geändert.“

 

Mitte der Achtzigerjahre schlitterte Komarek auch noch in eine berufliche Krise. In allen Programmbereichen des Rundfunks wurde der Wortanteil immer kleiner und von immer besseren Moderator*innen bestritten, für das geschriebene Wort war bald kein Platz mehr. „Als ich im Radio nach und nach verzichtbar wurde, stand ich erst einmal verdutzt da und verarmte rapid. Ich war vierzig und lief, nach langen Beisl-Abenden riechend, jedem, aber auch wirklich jedem Auftrag hinterher, verfolgt von Furcht erregenden Steuerschulden aus besseren Tagen und belächelt von den erfolgreich Etablierten.“

 

Dass er wieder zu ihnen aufschließen konnte und so manchen überholen, hat Komarek harter Arbeit zu verdanken, seiner Ausdauer, Selbstdisziplin und Professionalität, seinem Fleiß, seiner vielseitigen Begabung und „… einer guten Portion Glück“, ergänzt er bescheiden und versichert glaubhaft, gerade deshalb nie billigen Triumph empfunden zu haben, er wisse genau, ohne dieses Glück hätte es auch anders ausgehen können. Beides, Schöpferkraft und Glück, meinte wohl Journalisten-Urgestein Herbert Völker, sein alter Weggefährte und Förderer, wenn er in einer Laudation auf Alfred Komarek mit einem Alfred-Polgar-Zitat das seltsamskurrile und gerade deshalb so stimmige Bild fand: „Wo er hintritt, da wächst Gras …“

 

Auf Komareks Lebensweg wuchs jedenfalls bald wieder Gras, dicht und üppig. Zunächst hielt ihn eine „durchaus nicht nutzlose“ Karriere als Werbetexter über Wasser – und mehr als das. Wohl jeder Österreicher kennt einen von Komarek erfundenen Slogan „Raunz nicht, kauf! – Wenn er’s nur aushält, der Zgonc!“

 

Dann entdeckten Büchermacher*innen und Magazinredakteur*innen Komareks Begabung, über verschiedenste Themen sinn- und lustvoll zu schreiben und dabei im Gegensatz zu anderen genialen Schreiber*innen auch noch verlässlich zu sein und pünktlich abzuliefern. Sowas spricht sich herum in der Branche. Er machte sich vor allem als weltweit agierender Mitarbeiter von Reisemagazinen einen Namen und stellte österreichische Landschaften und Lebensräume, kulturelle Schätze und Naturschönheiten in Büchern vor. Dass er darin weit über das Beschreiben hinausging, veranlasste Hans Weigel, ihn einen „Geosophen“ zu nennen, das Ergebnis dieser Art von Landeskunde eine „Melange aus Anschaulichkeit, Wissen und Charme“.  Und: „Ein konstituierendes Element seines Schreibens ist der Humor.“ Fügen wir hier gleich noch das außergewöhnliche Lob eines Berufskollegen und Weggefährten von besonderem publizistischen Gewicht an: Helmut A. Gansterer ließ einmal verlauten: „Komarek hat noch keinen langweiligen Satz geschrieben!“ Ganz schön stark!

 

Es folgten Sachbücher, profunde Begleittexte für Kunstbücher, Drehbücher fürs Fernsehen. Kleine Erzählungen entstanden, später Kinderbücher. Sogar Liedtexte flossen aus seiner Feder, in den Anfängen „zum Teil abscheuliche Machwerke für diverse Schlager“, wie Komarek heute zugibt, „unter dem Pseudonym Alfred Schilling geschrieben, damit jeder wusste, worauf es mir ankam.“ Später wurden die Texte anspruchsvoller, einige waren für damals prominente österreichische Sänger*innen und Gruppen bestimmt wie die Milestones. In Zusammenarbeit mit Toni Stricker entstand sogar eine CD mit Edita Gruberova als Sängerin. Er lässt sich halt schwer einordnen, dieser Komarek!

 

Und dann die Romane. Und ihr sensationeller Erfolg. Irgendwie war das Weinviertel an allem schuld. „Ich bin als Stadtflüchtling ins Weinviertel gekommen. Aussee war für einen schnellen Ausflug zu weit weg von Wien. Fasziniert hat mich an dieser Landschaft der Gegensatz zum Salzkammergut: hier eine bergende, bestimmte, spektakuläre Gegend, dort eine weithin offene, auf den ersten Blick beiläufige, leise Landschaft. Dazu die eigentümlichen Strukturen von Dörfern und Kellergassen, die mir bislang völlig fremde Welt der Presshäuser und Weinkeller, archaisch fest gefügt, aber auch verletzlich. Der Weg dorthin, das Bleiben, das Langsam- und Ruhig-Werden ist ein wichtiger Teil meines Lebens.“ Komarek kauft im Pulkautal einen Weinkeller mit dazugehörigem Presshaus, das er sorgfältig und respektvoll herrichtet. Immer öfter verbringt er hier seine Wochenenden und manche Tage dazwischen. Ein zweites Presshaus rettet er durch seinen Kauf vor dem Verfall und erhält sein skurriles Inventar wie ein Museum. Er wird heimisch, lernt die Leute kennen, gehört bald zum lebenden Inventar der Gegend. Und setzt ihr mit seinem Gendarmerie-Inspektor Simon Polt ein literarisches Denkmal.

 

Das letzte Jahrzehnt habe ich als Komareks glücklicher Verleger selbst miterlebt. Den großen Erfolg mit „Polt muß weinen“ und den Friedrich-Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi; den Lizenzverkauf an den Diogenes Verlag, der mit den Polt-Taschenbüchern neue Leser*innenschichten vor allem in Deutschland erschloss; das Interesse Erwin Steinhauers, den sympathischen Gendarmen zu verkörpern; die von knapp einer Million Österreicher*innen gesehene Ausstrahlung im ORF genau zu dem Zeitpunkt, als der zweite Polt-Roman auf den Markt kam: „Blumen für Polt“. Dann Polt 3 und 4 und die nächsten Filme, Fernseh-Talkshows, Interviews, Lesungen, das allgemein immer größer werdende Echo. Natürlich schrieb Komarek währenddessen auch anderes, darunter ein neues Kinderbuch, Fernsehdrehbücher, ein Theaterstück und für den Haymon Verlag die Texte zu Bildbänden über das Ötztal (Fotos von Guido Mangold), über Venedigs Inselwelten („Laguna“ mit Bildern von Manfred Duda). Einen fünften Polt-Krimi wollte er vorerst nicht mehr schreiben. „Im Pulkautal passieren halt nicht so viele Morde.“ Dem Ansinnen, Polt zur TV- Serienfigur zu machen, widerstand er umso leichteren Herzens. Für Polt sprang Daniel Käfer in die Bresche, ein arbeitslos gewordener Magazinjournalist, den Komarek erfand, um eine andere Landschaft seines Herzens in mehreren Romanen vorzustellen: das Ausseerland. Keine Krimis mehr, aber Romane mit starken Charakteren und einem liebenswerten Völkchen rundherum, mit viel Landschaft, Kultur und Geschichte, witzigen Dialogen und einer spannenden Handlung, eben mit allem, was guten Lesestoff auszeichnet. Der Erfolg der Polt-Romane setzte sich fort, die Filmfirma,  der Regisseur und der ORF stiegen wieder ein. Mit Peter Simonischek erhielt auch Daniel Käfer einen prägnanten, unverwechselbaren Darsteller.

 

Komareks inzwischen riesige Fangemeinde freut sich auf den vierten und letzten Käfer-Roman, erhofft (nicht aussichtslos) danach einen fünften Polt-Krimi und kommt mit dem vorliegenden Buch endlich auch schwer oder gar nicht zugänglich älteren Texten. Denn wer den echten und wahren Komarek kennenlernen will, muss verschiedenen Spuren folgen und braucht unterschiedliches Futter für seinen Lesehunger. Hier ist es, greifen Sie zu! Aber mit Bedacht. Ich empfehle, denn so hat man mehr davon, es sich langsam und genießerisch Happen für Happen einzuverleiben. Auf diese Weise können Sie mit Alfred Komarek auf Reisen gehen, österreichische Besonderheiten nachsichtig belächeln, alte Autos ausprobieren, der Esslust frönen, ernste Probleme weiterdenken – oder in eine Märchenwelt voller Symbole, Anspielungen, in Wachträume versinken.

 

Macht canceln Kultur? – Interview mit Kulturjournalist Johannes Franzen

Cancel Culture – ein Begriff, der Schlagzeilen macht und nicht allzu oft missverständlich Verwendung findet. Während ihn viele als moralische Überlegenheit begreifen, stellen andere ihn als linke Diktatur an den Pranger oder läuten gar das Ende der Demokratie ein. Doch was genau verbirgt sich hinter der stark emotional aufgeladenen Debatte zu moralisch korrektem oder inkorrektem Verhalten? Wie spiegeln sich unterschiedliche Wahrnehmungen in unserer Gesellschaft wider? Und wie sinnvoll ist es überhaupt, von Cancel Culture zu sprechen? Wir wollen es genauer wissen und haben Literaturwissenschaftler und Kulturjournalisten Johannes Franzen befragt.

Johannes Franzen, Cancel Culture oder Political Correctness – der Mythos hat viele Namen, deshalb fällt es auch so schwer, eine konkrete Definition dafür zu finden. In einem Ihrer X-Einträge (ehemaliges Twitter) beschreiben Sie Cancel Culture als „Selbsterzählung von Menschen mit Macht, die die Funktion hat, sich selbst als machtlos zu begreifen“. Wie genau kann man das verstehen? Und inwiefern hängt Cancel Culture mit Macht zusammen?

Zunächst muss man in aller Deutlichkeit sagen, dass es Cancel Culture gar nicht gibt. Man hat es, wie Osita Nwanevu schon 2019 in einem brillanten Artikel beschrieben hat, mit einem Schwindel („Con“) zu tun. Bei Cancel Culture handelt sich um eine kulturkritische Erzählung, die davon ausgeht, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen des öffentlichen Lebens von einem progressiven Mob vernichtet werden, weil sie gegen ein angeblich herrschendes Regelwerk (Rassismus, Sexismus) verstoßen haben. Diese „Kultur“ tritt in der paranoiden Fantasie ihrer Kritiker:innen oft als äußerst vager digitaler Mob auf. Diese Erzählung hat den Vorteil, dass sich Menschen, die nach allen soziologischen Kriterien zur Elite des Landes gehören (Professoren, Chefredakteure, Politiker) als Opfer und Außenseiter begreifen können – ein Symptom für die peinliche Machtvergessenheit liberaler Gesellschaften.

Können Cancel Culture und Political Correctness gleichgesetzt werden? Wer bedient sich dieser Begriffe?

Es gibt, wie man in Adrian Daubs Buch Cancel Culture Transfer nachlesen kann, eine Tradition solcher Begriffe, die im Wesentlichen die Funktion haben, progressive Anliegen abzuwehren. Es ist natürlich wirkungsvoller zu sagen: Der Kampf gegen Rassismus oder die Gleichberechtigung der Geschlechter geht zu weit, als offen zuzugeben, dass man ein Problem mit diesen Prozessen hat. So kann man in eine Viktimisierungskonkurrenz zu Menschen eintreten, die tatsächlich diskriminiert werden. Die Begriffe lösen sich dabei gegenseitig ab, immer dann, wenn die Gesellschaft dem Schwindel auf die Schliche kommt. Zuletzt wurde Cancel Culture durch den Kampfbegriff „woke“ ersetzt, der aus der Schwarzen Aktivistenkultur kommt und von rechten Aktivisten zu einem Schimpfwort umgedeutet wird. Es ist eigentlich ziemlich transparent, worum es hier geht.

 

© Katharina Stahlofen

Johannes Franzen ist Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Er arbeitet für Medien wie die F.A.Z.tazZeit Online oder den Deutschlandfunk. Er ist Mitgründer, Herausgeber und Redakteur des Online-Feuilletons 54books und betreut die Seite POP Online. Seit April 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Siegen.

Das Phänomen wird auch in der Literaturbranche immer wieder heftig diskutiert. Vor einiger Zeit löste Salman Rushdie eine Debatte über die Bearbeitung von Roald Dahls Kinderbüchern aus. Der britische Verlag Puffin Books ließ dabei diskriminierende Wörter, wie „fett“ oder „hässlich“ streichen und ersetzte sie durch angemessenere Adjektive. Rushdie empörte sich darüber und bezeichnete das Vorgehen als „absurde Zensur“. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie darüber gelesen haben?

Mein erster Gedanke bei solchen Nachrichten ist inzwischen eigentlich immer ein gewisses Grauen vor der Debatte, die das jetzt erzeugen wird. Diese Debatten laufen ja immer nach dem gleichen Muster ab und haben so gut wie keinen intellektuellen Mehrwert. Die neue Zensurdebatte ist dermaßen politisiert, dass ein Denken außerhalb der unmittelbaren Aufregung nicht mehr möglich ist. Dabei lassen sich eigentlich ein paar interessante Fragen stellen. Die Retromanie der Gegenwart – jeder Stoff muss zu einem Remake oder Reboot verwurstet werden – führt natürlich dazu, dass Menschen erst recht mit den Problemen ihrer geliebten ästhetischen Jugenderfahrungen konfrontiert werden. Wenn man Roald Dahl oder James Bond einfach in Ruhe lassen und sich einmal etwas Neues überlegen würde, dann hätte man diese Probleme nicht. Im Endeffekt ist es aber vor allem eine ökonomische Frage. Es ist eine lächerliche Vorstellung, ein Großverlag oder Netflix würden tatsächlich aus politischer Rücksicht irgendwelche Bücher zensieren. Diese Unternehmen haben aber einen gesunden rezeptionstheoretischen Realismus, der davon ausgeht, dass Menschen Bücher einfach nicht kaufen, wenn sie ständig mit der Nase auf politisch ekelerregende Dinge gestoßen werden.

Eine andere Richtung schlägt dagegen eine Debatte aus Amerika ein: In einem Ihrer Artikel von Kultur & Kontroverse berichten Sie von einer Situation an amerikanischen Schulen, an denen Eltern dazu aufrufen, Geschichtslehrende zu verklagen, wenn diese Themen wie Rassismus und Sexismus im Unterricht behandeln. Kann das Canceln eine politische Richtung für sich beanspruchen oder trägt es, abhängig vom Kontext, einfach nur andere Namen?

Ich würde den Begriff wirklich gar nicht verwenden. Canceln hat auch in diesem Fall die Funktion, eine ganze Reihe hochgradig unterschiedlicher politischer Praktiken zusammenzuwürfeln, vor allem um machttheoretische Unterschiede zu nivellieren. So kann dann eine Gruppe von Studierenden, die – wie im Fall der „Avenidas“-Debatte – ein bestimmtes Gedicht nicht mehr an der Fassade ihrer Universität lesen wollte, als genauso schlimm gewertet werden, wie wenn der Gesetzgeber offen die Meinungs- und Redefreiheit einschränkt, wie es in den USA ja schon länger geschieht und sich in Deutschland (Stichwort „Genderverbot“) auch abzeichnet. Das läuft dann alles unter dem vagen semantischen Schirm des Canceln. So können sich dann eben auch die Mitglieder der Elite, mächtige Millionäre wie Dave Chappelle oder Louis C.K. etwa als Opfer von Cancel Culture inszenieren, weil der Begriff einfach nicht mitbedenkt, wer hier mit wem spricht. Klar, es gibt Zensur und ständige Versuche, die Meinung und Kunst anderer Menschen zu verdrängen. Aber das muss mit anderen Begriffen analysiert werden. Ein Ausdruck wie Cancel Culture macht uns in Bezug auf diese Phänomene nicht klüger, sondern dümmer.

Kommen wir nochmals zurück zum oben erwähnten Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Dieser sieht in der Diskussion eine „aufmerksamkeitsökonomische Funktion“, die in der weltweit massiven Nutzung der Sozialen Medien ein Ventil findet. Stimmen Sie dem zu? Und könnte man davon ableiten, dass die Debatte darüber (stellenweise) gezielt von den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft abzulenken versucht?

Ja, das finde ich plausibel. Im Wesentlichen geht es um eine ungeheuer erfolgreiche Form der konservativen Kulturpolitik, die die großen politischen Kämpfe der Gegenwart (ökonomische Ungleichheit, Klimawandel) ständig auf Nebenkriegsschauplätze verschiebt, die für die Lebensrealität der meisten Menschen unerheblich sind, allerdings sehr schnell heftige politische Ressentiments freisetzen. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westerheuser haben in ihrem Buch Triggerpunkte gerade gezeigt, dass die Gesellschaft in vielen Bereichen gar nicht so gespalten ist, dass es aber Bereiche gibt, die unmittelbar zu affektpolitischen Explosionen führen können. Und der ganze Bereich der Cancel Culture gehört dazu. Ob der Ravensburger Verlag zwei Begleitbücher zum neuen Winnetou-Film zurückzieht oder nicht, dürfte für die meisten Menschen komplett egal sein, aber es trifft eben einen Triggerpunkt, der dann von politischen Akteuren ausgenutzt werden kann. Mau, Lux und Westerheuser nennen solche Menschen „Polarisierungsunternehmer“.

Nicht selten hört oder liest man im Zuge dieser Debatten, frei nach Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ Haben wir Menschen verlernt, sachliche und emotionsfreie Diskussionen zu führen?

Die Vorstellung, dass der Diskurs heute besonders verroht oder gespalten sein soll, beruht auf einer seltsamen diskursgeschichtlichen Nostalgie. Man denkt, dass es früher zivilisierter zuging im öffentlichen Leben. Da wurden Debatten noch mit echten Argumenten ausgetragen von intellektuellen Gentlemen! Da gab es noch nicht das Geschrei der digitalen Massen! Das entspricht natürlich keiner historischen Wirklichkeit. Öffentlichkeit war schon immer eine Hölle der kommunikativen Aggression, weil es auch hier um Macht geht und den Kampf um Macht. Wenn die Geschichte eines zeigt, dann, dass die Wahrheit dem Menschen überhaupt nicht zumutbar ist – mir bitte auch nicht. Der ganze Cancel Culture-Komplex beruht auch auf einer naiven liberalen Fantasie, dass die Gesellschaft sich schon wieder beruhigen wird, wenn wir nur alle etwas netter zueinander sind, etwas weniger polarisiert etc. Ich würde mir in dieser Hinsicht mehr politischen Realismus wünschen. Das bedeutet nicht, dass man netter streitet, sondern besser. Statt z.B. der immergleichen händeringenden Artikel über die Gefährdung der Kunstfreiheit, könnte man ja wirklich mal zu den interessanten und schweren Fragen vordringen, die durch diese Debatten aufgeworfen werden.

„Plädoyers für Toleranz und Menschlichkeit im Umgang mit Justiz und Verbrechen“ – Georg Hasibeder über Alfred Komarek

Wir trauern um Alfred Komarek. Mit ihm verlieren wir einen Schriftsteller, der Orte, Landschaften und Menschen klug und mit viel Feingefühl porträtierte und im Schreiben wie im Leben stets die Toleranz hochhielt, einen Anstifter zum Innehalten, einen, der so viel Fantasie hatte, dass er sie mit uns allen teilen konnte.
Zum Gedenken teilen wir hier einen Text von Georg Hasibeder über Alfred Komarek, der 2011 entstanden ist, als Alfred Komarek den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln erhielt.

Alfred Komarek nimmt unter den österreichischen Kriminal-Autor*innen eine herausragende Position ein: Nicht nur, weil er mit seinen „Polt“-Romanen den Grundstein für das Genre des charakteristischen Österreich-Krimis gelegt hat, nicht nur, weil er mit Gendarmerieinspektor Simon Polt eine einzigartige, vielschichtige und zutiefst authentische Ermittler-Figur geschaffen hat, nicht nur, weil seine „Polt“-Romane weit über das Krimi-Genre hinaus als literarische Porträts eines besonderen Kultur- und Lebensraumes, des Weinviertels, gelesen werden können. Über all das hinaus besitzen Komareks „Polt“-Romane auch noch eine weitaus tiefere sozusagen rechtsphilosophische Ebene, die der Autor unaufdringlich, aber konsequent und klug durchdacht durch alle fünf Episoden rund um Simon Polt hindurchführt. Dabei interessiert den Autor in erster Linie der Konflikt zwischen einem juridischen und einem rein menschlichen Gesetzesverständnis.

Der einfache Gendarm Polt fühlt sich stets im Zwiespalt zwischen der Befolgung seiner Dienstpflichten, der Vorschriften und Gesetze einerseits und seinem menschlichen Gewissen andererseits. Wo das Gesetz dem Gendarm Polt klare Entscheidungen vorgeben würde, ist dem Menschen Polt zugleich bewusst, dass es Situationen gibt, in denen die Buchstaben des Gesetzes in Frage stehen, stehen müssen – weil er weiß, dass die Bestrafung eines Verbrechers nichts ändern, keine Gerechtigkeit herbeiführen würde, oder weil die Gründe für ein Verbrechen so nachvollziehbar und schlüssig sind, dass er sich nur schwer dazu durchringen kann, es in aller Härte zu verfolgen. Das bedeutet nicht, dass Simon Polt ein Anarchist wäre, der sich um die Gesetze nicht kümmert – er ist ein pflichtbewusster Staatsdiener, aber zugleich auch ein sich selbst treuer Mensch, der es sich nicht so leicht machen will, den Zwiespalt zwischen Gesetz und Menschlichkeit zu ignorieren.

Alfred Komarek versteht es meisterhaft, diese Konflikte und Interessenskollissionen – mit denen alle mit der Strafverfolgung betrauten Personen und Organe, vom ermittelnden Polizisten bis hin zum Richter, die in ihrem Beruf eine Verpflichtung und einen Dienst am Menschen sehen, zwangsläufig immer wieder konfrontiert werden – einzufangen und bietet in seinen Romanen Lösungen an, die puren Juristen vielleicht nicht gefallen mögen, die aber Leser*innen, die diese Konflikte verinnerlichen können, im Endeffekt sehr befriedigen.

 

Foto: János Kalmár.

Damit sind Alfred Komareks Kriminalromane zugleich auch als Plädoyers für Toleranz und Menschlichkeit im Umgang mit Justiz und Verbrechen zu verstehen – nicht in dem Sinn, dass Komarek des Verbrechen beschönigen oder gar gutheißen würde, aber insofern, als er nachdrücklich darauf hinweist, dass eine eindimensionale, bloß am Buchstaben des Gesetzes ausgerichtete Sichtweise auf das Verbrechen nicht ausreichend ist, um die menschliche Dimension beider Seiten.

 

Der nachhaltige kulturelle und gesellschaftliche Wert von Alfred Komareks Gesamtwerk – seinen „Polt“-Kriminalromanen, der Roman-Serie rund um Daniel Käfer, die im Salzkammergut angesiedelt ist, wie auch seinen literarischen Reportagen und Landschaftsbüchern – liegt darüber hinaus in seiner von tiefem Verständnis und Sympathie getragenen, dabei aber nie beschönigenden oder idyllisierenden Landschaftsporträts. Mit seinen literarischen Darstellungen besonderer österreichischer Kultur- und Lebensräume wie des Waldviertels oder des Salzkammerguts weckt er ein dauerhaftes Bewusstsein, dass eine Region weit mehr ist als die Summe ihrer Sehenswürdigkeiten oder Traditionen, weit mehr als ihre touristische Selbstinszenierung. Gerade im Blick auf die Details, in der Konzentration auf das Unspektakuläre, Unauffällige und Stille macht Alfred Komarek deutlich, dass der Charakter einer Landschaft in ihren Bewohner*innen, in der Authentizität ihres Alltags besteht, und nicht in der touristischen Selbstvermarktung, im Beharren auf erstarrte Traditionen oder in der ängstlichen Abgrenzung vor dem Fremden.
Auch damit leistet Alfred Komarek einen Beitrag für ein ausgewogenes, tolerantes, weltoffenes und selbstbewusstes Verständnis österreichischer Kultur, der weit über die Landesgrenzen hinaus hörbar ist und wahrgenommen wird.

 

Ein Alltag im Ausnahmezustand: Leseprobe aus „Im täglichen Krieg“ von Andrej Kurkow

Februar 2022: Der russländische Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt. Beinahe zwei Jahre später stehen die Menschen in ihrem Land weiterhin unter Beschuss, haben unsägliche Verbrechen und Verluste erlebt. Wie macht man weiter, kämpft weiter, wenn sich alles verändert hat? Und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist?
Andrej Kurkows journalistische Texte, Notizen und Tagebucheinträge zeigen, was der Krieg, der sich immer mehr in den Alltag der Menschen integriert, mit ihnen macht. Die Diskrepanz einer jeden aufeinanderfolgenden Sekunde wird spürbar: Opernaufführungen bei Tageslicht – eine Bombe schlägt ein; Menschen schwimmen im Meer – eine Mine explodiert; eine Nacht durchschlafen – aber das feindliche Militär kennt die GPS-Daten eines jeden Schlafzimmers …
Wie formt sich ein Leben, ein Jahr, ein Tag, wenn die Sirenen niemals aufhören zu erklingen? Wenn Bienen fliehen, um dem Lärm des Krieges zu entkommen, weil der Blütenstaub nach Schießpulver riecht? Wie, wenn man nicht weiß, ob man Freunde und Familie wieder sieht?

22.08.2022

Luftalarm und Crowdfunding

Dieser Tage, wenn es Nacht wird in den Wäldern der Oblast Schytomyr, kann man oft Beilhiebe oder das schrille Surren einer Kettensäge hören. Nach Einbruch der Dunkelheit, spät am Abend und manchmal sogar mitten in der Nacht, vernimmt man vielleicht sogar das Rattern alter Autos, die Anhänger voller Holzscheite hinter sich herziehen, oder das Knattern riesiger Holzlaster, die frisch gefällte Kiefernstämme abtransportieren. Alle sind sie auf dem Weg aus dem Wald heraus.
Die alten Autos mit den Anhängern sind zumeist unterwegs in die umliegenden Dörfer. Das gleiche Bild wiederholt sich derzeit in der gesamten Ukraine: Die Landbevölkerung legt sich ihren Wintervorrat an Brennstoff zu. Natürlich ist diese Art der Brennholzgewinnung illegal, aber die Polizei schert sich nur selten um holzfällende Gelegenheitsdiebe. Früher wurden bisweilen Maßnahmen gegen rechtsbrecherische Waldarbeiter ergriffen, die nachts zugange waren, das Holz im großen Stil weiterverarbeiteten und an Bauunternehmer und Möbelhersteller verkauften. Diese rechtswidrige Holzernte bestückt zwar mittlerweile auch den Wintermarkt für Brennholz, doch die Polizei wird ihr nicht mehr Herr. Seit 2014, als der Krieg mit Russland ausbrach, haben viele Einwohner ukrainischer Dörfer und Städte den Glauben an gasbetriebene Heizkessel verloren. Sie haben ihre Heizsysteme umgesattelt, um sie mit anderen Brennstoffen befeuern zu können, insbesondere Holz.
Seither häufen sich die mit Wachstuch vor Regen geschützten Feuerholzstapel auf sämtlichen Dorfvorplätzen und sogar in den Höfen der Wohnhäuser in den Kleinstädten. Es würde mich nicht wundern, wenn man mir sagte, dasselbe ereigne sich derzeit in Polen, Tschechien oder sogar Österreich. In Europa wäre dieses Phänomen auf die in die Höhe geschnellten Gaspreise zurückzuführen. In der Ukraine sind die Preise für Gas und Gasheizungen weiterhin auf dem Vorkriegsniveau.
Erst vor Kurzem unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Dekret, wodurch die Brennstoffpreise auf dem derzeitigen Stand festgelegt werden, um die Ukrainer angesichts des bevorstehenden Winters nicht zu beunruhigen. Dennoch ist die Gasrechnung für die Menschen, die noch im Land leben, jene, die am meisten schmerzt.
Selenskyj kann zwar die Preise für Gas, Wasser und Strom einfrieren, aber er kann nicht garantieren, dass die Versorgungsbetriebe ukrainische Haushalte diesen Winter tatsächlich beliefern können. Dies hängt nämlich von der russischen Artillerie ab. Es steht jetzt schon fest, dass mehrere ukrainische Städte, sowohl besetzte als auch freie, diesen Winter ohne Heizung auskommen werden müssen.
Während sich die Ukraine konsequent auf den Winter vorbereitet, ertönen die Luftalarmsirenen mehrere Male pro Tag und warnen vor russischen Raketen, die auf militärische und zivile Ziele zusteuern. Durch die Explosionen kommen unsere Mitbürger ums Leben und Gebäude sowie die umliegende Infrastruktur werden zerstört, darunter Gas- und Wasserleitungen, die Kanalisation, Stromnetze und Wärmekraftwerke. Die Monteure machen sich, soweit möglich, umgehend auf den Weg und fangen mit den Reparaturarbeiten an – das heißt, soweit die betroffene Stadt nicht vollständig in Trümmern liegt.
In Mariupol und Melitopol, Slowjansk und Soledar bleibt die Heizung in diesem Jahr aus. In Charkiw und Mykolajiw ist diese Frage noch offen. Vitali Klitschko, der Bürgermeister Kyjiws, hat die Bewohner der Stadt davor gewarnt, dass die Temperaturen in den Wohnungen in diesem Winter nicht über 18 Grad Celsius steigen werden. Dazu muss ich sagen, dass die Temperaturen in unserer Wohnung in der Innenstadt von Kyjiw im Winter noch nie 18 Grad überschritten haben. Ziemlich oft hingegen sanken sie auf 13 Grad ab. Wir sind die Kälte also gewöhnt.
Klitschko rät den Menschen, sich Trockenbrennstoff (für Campingkocher) zuzulegen, warme Kleidung auszumotten und zusätzliche Elektroheizgeräte aufzutreiben. Neulich erklärte der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, Folgendes: „Der Feind zerstört zwar unsere Heizanlagen, aber wir werden durch den Winter kommen.“ Rund um die Uhr werden Wartungsarbeiten am zentralisierten Heizsystem der Stadt unternommen, oftmals unter Bombenbeschuss. Damit das System in diesem Winter störungsfrei betrieben werden kann, muss das gesamte 200 Kilometer lange Netzwerk an unter- und oberirdischen Leitungen im Oktober erneuert werden, doch das lässt sich nur bewerkstelligen, wenn Russland die bereits reparierten Leitungen und Wärmekraftwerke nicht wieder demoliert.
Oleksandr Sjenkewytsch ist der Bürgermeister einer weiteren Stadt, die regelmäßig Bombenhagel erleiden muss: Mykolajiw. Er hat die Einwohner davor gewarnt, dass ihrer Stadt, was die Wärmeversorgung angeht, das Schlimmste noch bevorsteht. „Es kann zu Bombenangriffen kommen. Heute haben wir es noch warm, aber wenn die Heizinfrastruktur morgen bombardiert wird, müssen das Wasser aus dem Kreislauf abgelassen und kaputte Leitungen repariert werden, ehe das System wieder in Betrieb genommen werden kann. In diesem Zeitraum kann es bitterkalt für Sie werden.“
Sjenkewytsch sprach noch etwas Weiteres an, das sämtlichen Großstadtbewohnern Sorge bereitet: die Tatsache, dass die Evakuierung der Bewohner im Falle eines Heizsystemausfalls mit keiner Silbe erwähnt wird. Es wäre aber seltsam, wenn diese Frage nicht doch früher oder später angesprochen würde, zumal die absichtliche Zerstörung der Wärmekraftwerke durch russische Raketen, während Minusgrade herrschen, eine jedwede Stadt unbewohnbar machen würde. Das Wasser in den Leitungen der Gebäude würde gefrieren und die Rohre zum Bersten bringen. Elektroheizgeräte reichen da nicht aus, um eine Wohnung während eines ukrainischen Winters zu beheizen.
Doch wie kann man die Einwohner einer ganzen Stadt evakuieren und wohin bringt man sie? Die Rede ist hier von hunderttausenden Menschen, die alle gleichzeitig in Sicherheit gebracht werden müssen. Keine einfache Aufgabe also.
Die Sirenen, die die Ukrainer vor drohenden Luftangriffen warnen, haben seit Kurzem eine weitere Funktion bekommen: Sie sind zum Signal für spontane Spendenaufrufe für die ukrainische Armee geworden. Auf die Idee für das Crowdfunding kam Natalia Andrikanitsch, eine junge Frau, die in Uschhorod als freiwillige Helferin tätig ist. Ihr wurde bewusst, dass jeder Luftalarm über der Stadt sie wütend machte, also beschloss sie, ihre Einstellung zu ändern und die Sirenen zu einem Mahnruf an sich selbst zu machen, dass die ukrainische Armee Unterstützung braucht, damit mit dem Lärm ein für alle Mal Schluss ist. Seitdem begibt sie sich nun jedes Mal, wenn die Sirene ertönt, nach wie vor in den Luftschutzkeller, überweist aber auch eine kleine Spende – 10 bis 20 Hrywnja (15 bis 30 Eurocent) – auf das Bankkonto der Armee.
Die Idee hat sich in der Ukraine herumgesprochen und viele tun es ihr mittlerweile gleich. Seither lässt jeder Luftalarm in der Ukraine die Kassen der ukrainischen Streitkräfte klingeln. Der Großteil des so gespendeten Geldes kommt aus den Oblasten, die weiter von der Front entfernt sind. „In Charkiw verdient niemand genug, als dass er so oft spenden könnte!“ – so erklärte es mir der bekannte Charkiwer Fotograf Dmitri Owsjankin.
Tatsächlich gibt es Regionen und Städte, in denen die Sirenen ununterbrochen ertönen. So zum Beispiel in Nikopol und Derhatschi sowie in den Rajonen Donezk, Saporischschja, Odesa und Mykolajiw. Dort bleibt den Menschen schlichtweg keine Zeit, eine Internetseite aufzurufen, um zu spenden.
Es ist nicht ganz durchschaubar, was genau mit dem Geld, das auf das Spendenkonto der ukrainischen Armee fließt, geschieht. Diese Information fällt sicherlich unter die Rubrik „Militärgeheimnisse“. Die Ukrainer können hingegen mitverfolgen, wie und wofür die bekanntesten und tatkräftigsten freiwilligen Helfer gesammelte Spenden ausgeben. Der bis heute erfolgreichste freiwillige Spendensammler ist der berühmte Entertainer, Stand-up-Comedian und beliebte Fernsehmoderator Serhij Pritula.
Bis 2019 duellierten sich Serhij Pritula und der damals noch Komiker Wolodymyr Selenskyj in TV ComedyShows. Als Selenskyj dann zum Präsidenten gewählt wurde, entwickelte auch Pritula ein reges Interesse an der Politik. Er ließ sich als Kandidat der Partei „Stimme“ aufstellen, die vom ukrainischen Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk ins Leben gerufen wurde, schaffte den Einzug ins Parlament jedoch nicht. Außerdem nutzte Pritula das Podium, das ihm die „Stimme“-Partei bot, um für das Bürgermeisteramt von Kyjiw zu kandidieren.
Mittlerweile sehen ihn viele Ukrainer als möglichen Rivalen, der Selenskyj die nächste Wahl streitig machen könnte. Seinen Beliebtheitsgrad konnte Pritula bereits bei der Spendenaktion „Bayraktar des Volkes“ unter Beweis stellen. Er hatte sich vorgenommen, 500 Millionen Hrywnja (etwa 13 Millionen Euro) für drei Kampfdrohnen aufzutreiben. In nur wenigen Tagen hatte er dann bereits 600 Millionen Hrywnja beisammen und konnte seine Spendenaktion erfolgreich zum Abschluss bringen.
Als der türkische Hersteller der Bayraktar-Kampfdrohnen dann von Pritulas Spendenaktion erfuhr, gab er kurzerhand bekannt, der ukrainischen Armee die drei Drohnen kostenlos zu überlassen. Folglich entschloss sich Pritula, mit den Spendengeldern stattdessen einen finnischen ICEYE-Mikrosatelliten zu kaufen. Dieser ist in der Lage, selbst bei schlechter Witterung hochwertige Satellitenbilder der Erdoberfläche zu machen. Zusätzlich zu diesem Satelliten schloss er ein Jahresabonnement für eine weitere Satellitengruppe ab, die die Ukraine mit detaillierten Aufnahmen der Positionen des russischen Militärs in der Ukraine und auf der Krim versorgt.
Kurzum: Pritulas Freiwilligenarbeit und seine Beliebtheit haben ungeahnte Höhen erreicht. Nicht jeder freiwillige Helfer ist jedoch gleichzeitig eine TV-Persönlichkeit mit politischen Ambitionen, und das macht es für Normalsterbliche der ukrainischen Gesellschaft schwieriger, Spendengelder aufzutreiben. Der Charkiwer Kultlyriker Serhij Zhadan unterstützt bereits seit Beginn des totalen Krieges sowohl die Spendenkampagnen des Militärs als auch das kulturelle Leben seiner von Bombenanschlägen gerüttelten Stadt aktiv. Vor Kurzem gab er bekannt, Geld für einhundert gebrauchte Jeeps und Kleintransporter fürs Militär sammeln zu wollen. Zhadan hat bereits fünfzehn Fahrzeuge für die Armee beschaffen können.
Der Ushhoroder Kultautor Andrij Ljubka, den ich vor ein paar Monaten schon einmal erwähnt habe, hat bereits Geld für achtunddreißig Fahrzeuge aufgetrieben und diese selbst an die Front gebracht. In der Ukraine witzelt man bereits, dass in ganz Europa keine gebrauchten Jeeps und Kleintransporter mehr erhältlich seien. Bald, so sagt man, müsse man Fahrzeuge per Schiff aus dem fernen Australien kommen lassen. In jedem Witz steckt auch ein Fünkchen Wahrheit: Die Zahl der bis heute an die ukrainische Armee übergebenen Jeeps und Kleintransporter geht in die Tausende. Das Militär hat teilweise bereits Mini Artilleriesysteme auf den Fahrzeugen montiert und sie in den Kampf geschickt.
In den sozialen Netzwerken postet die Armee regelmäßig Fotos kürzlich erhaltener Wagen sowie von Fahrzeugen, die von der russischen Artillerie oder Panzern zerstört worden sind. Diese Bilder bezeugen den Bedarf an weiteren Gebraucht-Jeeps und -Kleintransportern und lassen darauf schließen, dass so lange Nachschub nötig ist, wie der Krieg andauert. Demnach werden ukrainische freiwillige Spendensammler mitunter noch lange die Hauptabnehmer dieser vielseitig einsetzbaren Nutzfahrzeuge aus ganz Europa bleiben.

28.08.2022
Bienen und Verräter

Letzte Woche brachten freiwillige Helfer obdachlose und verwaiste Katzen aus den zerstörten Städten an der Front im Donbass, Bachmut und Soledar nach Kyjiw. Diese Katzen und Kätzchen brauchen ein Zuhause. Obwohl Nachrichten geretteter Haustiere aus den Kriegsgebieten schon lange nichts Ungewöhnliches mehr sind, hat mich die jüngste Meldung eines binnenvertriebenen Bienenvolks aus dem Rajon Bachmut doch aufhorchen lassen.
Vor dem Krieg lebten Tausende Bienenzüchter im Donbass, denn neben Kohle ist die Region seit jeher für ihren Honig bekannt. Noch vor zwei Jahren wurden trotz des Wegfalls der Krim und von Teilen des Donezbeckens immer noch über 80.000 Tonnen Honig pro Jahr aus der Ukraine ausgeführt. Leider kann man das mit dem lukrativen Honighandel die nächsten ein, zwei Jahre, vielleicht sogar noch länger, völlig vergessen.

Wir haben uns bereits an den Umstand gewöhnt, dass Haustiere infolge des Krieges heimatlos werden können. Jetzt müssen wir uns aber zusätzlich mit dem Gedanken abfinden, dass Zehntausende Bienenvölker ihre Heimat im Donbass und in der Südukraine verloren haben.
Wenn ein Bienenstock durch Geschützfeuer beschädigt wird, verwildern die Bienen in der Regel und kehren in die Natur zurück. Sie schwärmen dann von einem Ort zum anderen, lassen sich an Wänden zerfallener Gebäude oder in Baumkronen nieder, bis sie eine dauerhaftere Bleibe gefunden haben, in einer Baumhöhle oder auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause versuchen die Bienen auch, dem Lärm und der Zerstörung des Krieges zu entkommen. Sie fliehen nicht nur, weil Pollen, der nach Schießpulver riecht, nicht besonders gut schmeckt, sondern vor allem auch deswegen, weil Bienen Stille brauchen. Stille, um einander summen hören zu können.
An der Front bei Bachmut ließ sich zu Beginn des Sommers ein Bienenvolk in der Nähe der ukrainischen Militärstützpunkte nieder, weil es seinen vom Krieg beschädigten Bienenstock aufgeben musste. Unter den Soldaten gab es auch einen Imker, Oleksandr Afanassjew, der seine eigenen Bienenstöcke zu Hause in der Oblast Tscherkassy in die Obhut einiger freiwilliger Bienenzüchter gegeben hatte.
Als er den Schwarm fand, nahm Oleksandr eine leere Munitionskiste aus Holz, bohrte ein paar Löcher hinein und ließ das Bienenvolk darin unterkommen. Die Bienen gaben sich mit den beengten Bedingungen ihres neuen Heims zufrieden und, nachdem sie sich eingerichtet hatten, machten sie sich in ihrer neuen Umgebung auf zu einem Erkundungsflug auf der Suche nach Blüten.
Als der Sommer vorüber war, wurde Oleksandr einer neuen Einsatztruppe in einem anderen Frontsektor zugeteilt. Seine Waffenbrüder baten Oleksandr, den Bienenschwarm doch bitte mitzunehmen: Sie verstanden nichts von der Bienenzucht und hatten Angst davor, die Verantwortung für das Volk zu übernehmen. Zudem dürfen Soldaten keine Haustiere halten, schon gar keine Bienenschwärme. Wie es der Zufall aber so wollte, kam Ihor Ryaposchenko, ein freiwilliger Helfer aus der Oblast Tscherkassy, der alte Kleintransporter und Jeeps an die Front bringt, gerade zur rechten Zeit bei Oleksandrs Einheit vorbei und bot an, die Bienen mit zu sich nach Hause zu nehmen, obwohl auch er keinerlei Erfahrung mit der Bienenzucht hatte.
So reisten die Bienen über 700 Kilometer in der Munitionskiste, die zu ihrem neuen Bienenstock geworden war. Sie haben die Reise überlebt und machen es sich nun in Ihors Garten bequem. Um sie nicht weiter zu stören, beschloss Ihor, sie nicht in einen richtigen Bienenstock umzusiedeln, sondern sie in ihrem provisorischen Heim zu lassen.
Glücklicherweise gibt es in seinem Dorf mehrere Imker, die Ihor bei der Pflege der Bienen mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Bald wird er sich eine Honigschleuder von seinen Nachbarn leihen müssen, um den Honig zu gewinnen und einen Teil davon an die Front zu schicken, wo die Bienen ihr erstes Zuhause beim Militär gefunden hatten.
Die Stellung der ukrainischen Militärposten hat sich in letzter Zeit nicht geändert, obwohl sich russische Truppen von Osten her Bachmut nähern und die Stadt jede Nacht mit Artilleriefeuer und mehreren Raketenwerfern beschießen. Vor dem Krieg hatte Bachmut mehr als 70.000 Einwohner; jetzt sind es noch etwa 15.000. Das ukrainische Militär hat wenig Vertrauen in die Bewohner, die trotz des Angebots der Evakuierung in der Stadt oder in den umliegenden Dörfern bleiben wollten.
Viele dieser „Zurückgebliebenen“ beharren darauf: „Wir warten erst einmal ab. Mal sehen, was als Nächstes passiert!“ Ukrainische Soldaten nennen solche Menschen „Abwartende“, weil sie scheinbar darauf warten, dass Russland das Gebiet erobert. Einige dieser „Abwartenden“ scheinen den ukrainischen Soldaten gegenüber positiv eingestellt zu sein und schenken ihnen manchmal Gemüse oder Obst. Dennoch besteht Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Schließlich kann es sein, dass sie die Soldaten nur deshalb aufsuchen, um ausfindig zu machen, wo ihre militärische Ausrüstung untergebracht ist; Informationen also, die sie an die russische Artillerie weitergeben können. Einige derjenigen, die in den besetzten Städten Melitopol und Mariupol geblieben waren, kollaborierten schlussendlich mit den russischen Besatzungsbehörden, darunter auch ehemalige Polizeibeamte.

Das Thema Verrat ist in der Ukraine kein beliebtes und wird definitiv nur ungern angesprochen. Doch in letzter Zeit hört man zunehmend Meldungen über Ukrainer in den verschiedenen Oblasten des Landes, sogar in Kyjiw, die der russischen Armee und den Geheimdiensten in die Hände spielen. Beamte des Ministerkabinetts und der Nationalen Wirtschaftskammer sowie Parteichefs des pro-russischen Oppositionsblocks, Staatsanwälte und Richter sind bereits verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt worden. Aber diese Kreml-Spitzel sind gegenüber den Kollaborateuren in den besetzten Gebieten deutlich in der Unterzahl.
Die Ukrainer bekamen einen anfänglichen Schock, als bekannt wurde, wie viele Richter, Staatsanwälte, SBU und Polizeibeamte nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 in den Dienst der Russischen Föderation übergelaufen waren. Es handelte sich um einen Massenverrat, aber wie sich herausstellen sollte, war es auch das Ergebnis der langwierigen und akribischen Arbeit der russischen Geheimdienste auf der Krim.
Zudem war dieser Verrat auch dem Scheitern der ukrainischen Geheimdienste geschuldet, denn selbst jetzt ist Verrat im Donbass nicht so landläufig wie auf der Krim. Die meisten der verbliebenen Bewohner wollen zwar nicht mit den Besatzern kooperieren, doch Russland hat viele Waffen in seinem Arsenal, um Ukrainer zu zwingen, die Besatzer zumindest passiv hinzunehmen: Um humanitäre Hilfe zu bekommen, die Wasserversorgung wieder anschließen zu lassen oder jegliche Art von Zugriff auf die eigene Rente zu erhalten, muss man sich bei der Besatzungsverwaltung melden.
Wie eine Narbe prägt das Thema des Verrats die Dörfer und Städte rund um Kyjiw, die zu Kriegsbeginn unter russische Besatzung gefallen waren. In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es Moskau-Treue, die für die Invasoren Listen pro-ukrainischer Aktivisten, der Anschriften der Teilnehmer an den Majdan-Protesten und der Veteranen der Anti-Terroroperation im Donbass erstellten.
In Andrijiwka, einem Dorf unweit von Borodjanka, nordwestlich von Kyjiw, stellte sich ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats als eben solch ein Verräter heraus. Er bot nicht nur mehreren Invasoren in seinem Haus Unterschlupf, sondern zeigte ihnen auch prompt, in welchen Häusern im Dorf sich ein Einbruch lohnte und welche Bewohner entführt und gegen Lösegeldforderungen festgehalten werden könnten.
Als das Dorf dann befreit wurde, blieb dem Mönch keine Zeit zur Flucht. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Eine weitere Familie hingegen – Migranten aus Donezk –, die sich nach 2014 in Andrijiwka niedergelassen und auch mit den russischen Besatzern kollaboriert hatte, verließ das Dorf zusammen mit der russischen Armee, als diese nach Belarus abzog. Mehr als dreißig Einwohner Andrijiwkas gelten weiterhin als vermisst. Mindestens siebzehn Menschen wurden von russischen Soldaten erschossen und viele Häuser liegen weiterhin in Trümmern.
Mykola Horobets, ein bekannter Germanist und pensionierter Akademiker, der den Großteil seines Lebens an der Staatlichen Wissenschaftlich-Technischen Bibliothek der Ukraine in Kyjiw angestellt war, kehrte in sein Sommerhaus in Andrijiwka zurück, sobald die russischen Truppen aus dem Dorf vertrieben worden waren. Vor dem Krieg hatte er noch jeden Sommer dort verbracht, aber letzte Woche war er erst das fünfte Mal seit der Befreiung des Dorfes in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
Es ist ihm gelungen, Kartoffeln zu stecken, aber nur in dem Teil des Gartens, der dem Haus am nächsten liegt. Er hat Angst davor, den Boden zu bestellen, der weiter weg liegt: Was, wenn dort Minen vergraben sind? Niemand hat den Garten auf Sprengkörper abgesucht. Trotz der geringeren Fläche seines Kartoffelackers ist Mykola einigermaßen mit der Ernte zufrieden und konnte eine ordentliche Menge Kartoffeln im Vorratskeller einlagern. Jetzt legt er sich Feuerholz für den Winter an. Er denkt oft an den verräterischen Mönch und die Kollaborateure, die aus Donezk umgesiedelt hatten.
Während der Besatzung bewohnten russische Soldaten Mykolas Sommerhaus. Sie waren sehr überrascht, so viele deutschsprachige Bücher in den Regalen vorzufinden und erkundigten sich bei den Nachbarn über den Hausbesitzer: Lebt hier etwa ein Deutscher? Sie ließen ein kaputtes Sofa, mehrere Ausgaben der Zeitung Krasnaja Swesda („Roter Stern“) des russischen Verteidigungsministeriums und viele persönliche Gegenstände zurück, darunter eine Mütze, Pulver zum Anrühren eines Energy Drinks und einen Campingtopf zum Kochen.
Als Mykola nach der Befreiung des Dorfes zum ersten Mal wieder zurückkehrte, betrat die ukrainische Polizei das Haus noch vor ihm. Die Polizisten schauten sich um und fragten Mykola, was die russischen Soldaten zurückgelassen hatten. Im Schuppen fand Mykola einen großen Behälter mit Maschinenöl, wahrscheinlich für den Motor eines Kettenfahrzeugs. Die Polizei war nicht an dem Öl interessiert, aber einem von ihnen gefiel der Campingtopf des russischen Soldaten und so beschlagnahmte er ihn für sich selbst.
Das Motoröl steht noch immer im Schuppen. Vielleicht hat das örtliche Geschichtsmuseum in Makariw, der nächstgelegenen Stadt, ja daran Interesse. Der Museumsleiter arbeitet an einer Ausstellung über die Besetzung des Rajons Makariw und hat sämtliche Bewohner gebeten, dem Museum „Artefakte“ des Angriffs Russlands zu spenden.
„Ich habe Angst und möchte nicht so oft nach Andrijiwka fahren“, gab Mykola mir gegenüber zu. „Abends betrinken sich viele Leute hier und ballern dann im Dunkeln mit Gewehren herum. Die Russen haben wahrscheinlich auch einige Waffen zurückgelassen!“
Die Polizei hat scheinbar keine Eile, die Waffen zu beschlagnahmen, die die Dorfbewohner als Kriegsbeute eingesackt haben. Und niemand will sich über Alkoholiker mokieren, die die Besatzung durchmachen mussten. Manche sind der Ansicht, dass sie wegen des erlittenen psychologischen Traumas zur Flasche greifen, aber das macht die Situation nicht weniger beängstigend.
Tatsächlich sind alle Bewohner Andrijiwkas mittlerweile zutiefst traumatisiert, auch diejenigen, die die Besatzung anderswo ausgestanden haben, so wie Mykola. Er verbrachte sie in Kyjiw mit seiner erwachsenen Tochter, die eine cerebrale Bewegungsstörung hat. Wegen ihr hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, aus Kyjiw fortzugehen.
Auch sein Dorfnachbar Andrij, mit dem er schon seit seiner Kindheit befreundet ist, ist Alkoholiker. Manchmal stiehlt Andrij Gemüse aus Mykolas Garten und verkauft es, um sich dafür eine Flasche zu leisten. Seltsamerweise ist Andrij auch Bienenzüchter, oder vielmehr ehemaliger Imker, der eben noch Bienen hat. Eines seiner Völker „entwischte“ ihm kürzlich und ließ sich auf einem Kirschbaum in Mykolas Garten nieder. Andrij lehnte eine Leiter an den Baum und kletterte hinauf, wobei er mehrere Äste abbrach, es aber schaffte, den Schwarm wieder einzufangen.
Ich habe das schleichende Gefühl, dass die Bienen beim nächsten Mal viel weiter weg fliegen werden – an einen Ort, wo ihr betrunkener Besitzer sie nicht finden kann. Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen, tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.

 

20.10.2022
Zwischen Nationalismus und Patriotismus

Seit Februar dieses Jahres beschäftigt mich die Frage der Identität inständig. Das Thema wird täglich bei meinen Vorträgen und Veranstaltungen in verschiedenen europäischen Städten angestoßen. Ich versuche dann, den Europäern den Unterschied zwischen der russisch-sowjetischen und der ukrainischen Mentalität begreiflich zu machen. Sobald ich diese Differenzierung verdeutlicht habe, fällt es mir viel leichter, über die Ursachen dieses Krieges zu sprechen. So kann ich zudem meine eigene Identität erklären, die meiner Verständigung mit Russland schon lange im Wege steht und mir auch in der Ukraine viele Unannehmlichkeiten bereitet.
Tatsächlich gehörte mein Ich-Bewusstsein bis vor Kurzem zu den akzeptierten Formen der ukrainischen Identität und stand in keinerlei Widerspruch zu den wichtigsten Wertmerkmalen dessen, was einen „echten Ukrainer“ ausmacht. Es gibt jedoch einen Aspekt meiner Identität, der auf einige meiner intellektuellen Mit-Ukrainer ebenso wirkt wie ein rotes Tuch auf einen Stier: Ich bin ethnischer Russe und meine Muttersprache ist Russisch.
In allen anderen Wesensarten bin ich ein typischer Ukrainer. Ich höre nicht auf die mehrheitliche Meinung, sondern vertrete meine eigenen Ansichten. Für mich ist Freiheit – vor allem Redefreiheit und die freie Kreativitätsausübung – mehr wert als Geld und Stabilität. Ich unterstütze nur selten die Politik der machthabenden Regierung und bin stets bereit, sie zu kritisieren.
Kurzum: Ließe sich die Tatsache meiner Muttersprache und russischen Herkunft aus der Liste meiner Eigenschaften streichen, wäre ich der Prototyp eines Ukrainers, der mit Kusshand in den Schoß der „idealen Ukrainer“ aufgenommen würde. Die derzeitigen Mitglieder eben dieser Gruppe verbringen aber viel Zeit damit, auf Facebook öffentlich zu bestimmen, wer ein „waschechter Ukrainer“ ist und wer nicht, und wer partout nicht als Ukrainer gelten kann.
Ich betrachte mich selbst als Ukrainer – als Ukrainer russischen Ursprungs. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich lebe in einem wunderschönen Land mit einer komplexen Wesensart und einer komplizierten Geschichte, in dem jeder Bürger seine ganz eigene Vorstellung davon hat, was den ukrainischen Staat ausmacht, und dabei sein Bild für das richtige hält. Anders ausgedrückt sind wir eine Gesellschaft bestehend aus Individualisten.
Diese Art der Gesellschaft ist durch unsere historisch bedingte Erfahrung der organisierten Anarchie entstanden, welcher die Ukraine über die Jahrhunderte mehrmals verfallen ist. Es verwundert also nicht, dass Europas größtes Anarchistenheer – Nestor Machnos revolutionäre aufständische Armee – in der Ukraine gegründet wurde und dort, und nicht in Russland, kämpfte, einem Land, das traditionell im Kollektiv denkt. Im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 besiegte die Machno-Bewegung sogar sämtliche ihrer Kontrahenten!
Wenn ich mir die Ukraine von heute so ansehe, liefert mir die Tatsache, dass hier über vierhundert Parteien offiziell beim Justizministerium zugelassen sind, den Beweis für den ukrainischen Individualismus. Ich verstehe und respektiere die ukrainische Gesellschaft so, wie sie ist, mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten.
Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre haben mich Bekannte und Unbekannte aus den Rängen ukrainischer Nationalisten immer und immer wieder angehalten, ich solle doch auf Ukrainisch schreiben. Manche unter ihnen akzeptieren meine Begründung, dass ich eben in meiner Erstsprache schreibe – auf Russisch – und dass ich ein Anrecht auf meine Muttersprache habe. Manchmal stößt diese Erklärung aber auch auf Unverständnis und sogar Missfallen. Die Gespräche, die ich über dieses Thema geführt habe, sind aber bislang größtenteils freundlich abgelaufen.
Es kam aber auch schon vor, dass Anonyme, die gegenteiliger Meinung sind, in den sozialen Netzwerken posten, ich sei kein ukrainischer, sondern ein russischer Schriftsteller. Ich gehe darauf einfach nicht ein. Jeder Mensch in der Ukraine hat das Recht auf eine eigene Meinung sowie auf die freie Meinungsbildung und ‑äußerung. Und jeder hat zudem das Recht, die Meinung eines anderen nicht zu teilen.
In der Ukraine gibt es übrigens viele russischsprachige ukrainische Nationalisten. Ein Großteil der Mitglieder der bekannten rechtsextremen Organisation Prawyj Sektor („Rechter Sektor“), die 2014 an Bedeutung gewann, sind russischsprachige Ukrainer. Die ukrainische Sprache war also nicht immer eine Grundvoraussetzung für ukrainischen Nationalismus. Hier sollte ich anmerken, dass es in der Ukraine dutzende verschiedener nationalistischer Gruppierungen gibt, und dass diese oftmals aneinandergeraten, wenn es darum geht, die „korrekte“ Form des Nationalismus zu definieren. Selbst Stepan Bandera, eine Berühmtheit der ukrainischen Geschichte, geriet bereits beim Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1930er- und 1940er-Jahren mit seinen Genossen in Zwist.
Unterdessen sind derzeit keine Nationalisten in der Werchowna Rada vertreten, weil keine einzige der nationalistischen Parteien es geschafft hat, bei den letzten Parlamentswahlen die 5-Prozent-Hürde zu nehmen.
Eine Bewegung, die den Einzug ins Parlament nicht schafft, ist keine reale politische Macht. Im Gegensatz dazu schließt der ukrainische Patriotismus mehr Menschen mit ein. Die Grundbedingung besteht hierbei darin, das Land zu lieben, wobei niemand ein Interesse daran hat, Ausschlusskriterien aufzustellen. Von den krimtatarischen Aktivisten – die von den russischen Geheimdiensten schonungslos angegriffen werden – sprechen die wenigsten Ukrainisch. Die meisten beherrschen Russisch und ihre Muttersprache Krimtatarisch, doch niemand stellt deswegen ihren ukrainischen Patriotismus infrage.
Auch ich bin ukrainischer Patriot. Ich habe miterlebt, wie die Ukraine, als unabhängiger Staat, erwachsen wurde. Dreißig Jahre lang lebte ich in der Sowjetrepublik Ukraine und seit einunddreißig Jahren ist nun die unabhängige Ukraine mein Zuhause. Seit der Unabhängigkeit sind die ukrainische Literatur und Kultur zu neuem Leben erwacht und eine neue, ganz andere Generation europäischer Ukrainer ist herangewachsen, für die alles Sowjetische durch und durch fremd ist. Diese Generation hat die ukrainische Sprache und ukrainischsprachige Literatur populär gemacht. 2012 wurden die russisch und ukrainischsprachigen Ausgaben meines Romans Jimi Hendrix live in Lemberg gleichzeitig in der Ukraine veröffentlicht. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, dass sich ein Buch auf Ukrainisch in der Ukraine besser verkauft als dasselbe Buch in russischer Sprache. Seither haben die ukrainischen Übersetzungen meiner Bücher stets höhere Verkaufszahlen erzielt als die russischen Fassungen. Ich erlebe mit, wie die russische Sprache langsam ihre Stellung in der Ukraine einbüßt und, um ehrlich zu sein, echauffiert mich das nicht einmal. Junge Ukrainer lesen immer seltener auf Russisch.
Im Februar habe ich mich dazu entschlossen, meine Bücher nicht mehr in ihrer Originalsprache, auf Russisch, herauszugeben. Sollen die Bücher in der Ukraine auf Ukrainisch, in Frankreich auf Französisch, in Großbritannien auf Englisch verlegt werden. Russischsprachige Leser brauchen meine Bücher nicht. Die Publikation meiner Bücher in Russland wurde erstmals 2005 unterbunden, nach der Orangen Revolution, an der ich teilnahm. Nach einer kurzen Zeit des „Tauwetters“, während der meine Romane neu aufgelegt worden waren, wurde 2008 zum zweiten Mal ein Verbot verhängt.
Seit 2014 ist es russischen Buchhandlungen untersagt, meine Bücher aus der Ukraine einzuführen. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass es mich als Schriftsteller in Russland nicht gibt. Ich habe dort keine Leserschaft und es tut mir auch nicht um sie leid. In letzter Zeit wird Russisch von ukrainischen Facebook- Nutzern immer häufiger als „Sprache des Feindes“ bezeichnet. Der Kreml hat Himmel und Hölle – wortwörtlich – in Bewegung gesetzt und russischsprachige Ukrainer letztendlich dazu bewegt, ins Ukrainische zu wechseln. Dennoch hört man auf der Straße, wo sich die Menschen sowohl auf Russisch als auch auf Ukrainisch unterhalten, nur selten Auseinandersetzungen über die Sprache und beide Sprachen bestehen friedlich nebeneinander.
Die Sprachenfrage und Streitereien rund um dieses Thema waren früher einmal auf die politische Arena beschränkt, wo vor dem Ausbruch des Krieges 2014 die Verteidiger der ukrainischen Sprache gegen die Verfechter der russischen antraten – oder vielmehr gegen die Verfechter des russischen Einflusses auf die Ukraine. Der andauernde Militärangriff hat die Verteidiger der russischen Sprache jedoch aus der Politik verdrängt. Viele von ihnen haben sich als Verräter, Kollaborateure oder sogar russische Spitzel mit russischen Pässen herausgestellt.
Unter solchen Umständen geben manche ukrainische Intellektuelle sämtlichen russischsprechenden Ukrainern teilweise die Schuld für den Krieg. Es stimmt schon, dass Putin russischsprachige Ukrainer zum scheinbaren Auslöser für diesen Krieg erklärt hat, indem er darauf beharrt, dass seine „militärische Spezialoperation“ notwendig ist, um sie zu beschützen. Weil er diese Idee ständig wiederholt, wurden manche ukrainische Nationalisten zu der Aussage verleitet, dass es nicht zum Krieg gekommen wäre, gäbe es keine russischsprachigen Ukrainer!
Manche Nationalisten, darunter Iryna Farion, scheinen sich damit schwerzutun, sich ein objektives Bild der ukrainischen Gesellschaft zu verschaffen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Ukraine ein multikultureller Staat mit über zwei Dutzend nationalen Minderheiten ist. Glücklicherweise gibt es nur wenige Aktivisten, die die Realität in der ukrainischen Gesellschaft derart ausblenden, und jene, die sie vehement verleugnen, wirken keinerlei Einfluss auf die Staatspolitik aus. Trotzdem nutzen sie jede Gelegenheit, ihre polarisierende Meinung kundzutun und eine Spaltung zwischen Idealisten und Realisten unter der ukrainischen Bevölkerung zu bewirken.

Aus dem Englischen von Rebecca DeWald

 

©Haymon Verlag/Fotowerk Aichner

Andrej Kurkow wurde in St. Petersburg geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, vom Liebenswürdigen und Rätselhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. 2022 erschien sein „Tagebuch einer Invasion“ bei Haymon, in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. Kurkow schreibt weiterhin gegen die Zerstörung – und für die Zukunft der Ukraine.

Interview mit Anti-Work-Ikone Bianca Jankovska

Hast du sie gut überstanden? Die Zeit, in der einen gefühlt alle mit absurd-utopischen Neujahrsvorsätzen nerven, Instagram randvoll ist mit Selbstoptimierungstipps – und man selber einfach nur müde ist nach dem Feiertagsmarathon und von der Tatsache, dass jetzt wieder „der Ernst des Lebens“ beginnt. Ja, wir sprechen von diesem Wieder-arbeiten-müssen-Blues. Von diesem Bedürfnis, sich einfach wieder ins Bett zu legen, die Augen zu schließen und zu hoffen, dass sich niemand daran stört, dass man nicht am Schreibtisch sitzt. Mehr Nichtstun – das wäre mal ein neuer Jahresvorsatz. 
Darum haben wir uns gleich in den ersten Tagen im neuen Jahr mit Bianca Jankovska, Autorin von „Potenziell furchtbare Tage“, über Faulheit unterhalten. Aber nicht nur.

Bianca, auf deinem Instagram-Account (@groschenphilosphin) bezeichnest du dich selbst als „Anti-Work-Icon“. Gehen wir mal ganz an den Anfang, zurück zu dem Moment, als du dir zum ersten Mal dachtest: Hey, ich hab diesen Scheiß nicht nötig. Magst du uns davon erzählen?

Puh, was heißt „nicht nötig“? Ich glaube, ich habe es genauso wie alle anderen Lohnarbeitsabhängigen ohne massivem generational wealth prinzipiell nötig, zu arbeiten – sonst würde ich es ja nicht tun, sonst würde ich mir diverse Stunden meines Lebens sparen, in denen ich Arbeit für andere verrichte und stattdessen im Bett liegen bleiben.
Ich glaube, worauf du hinauswillst, ist mein innerer Widerstand, dieses „Ich habe es nicht nötig, mein Leben für die Kapitalakkumulation irgendeines Konzerns herzugeben“. Das kam schon relativ früh, ich glaube, bei meinem ersten Praktikum mit 16, bei dem ich den ganzen Tag vor dem Computer (ohne Internet, sei dazugesagt) saß, und vor mich hinstarrte. Da habe ich gemerkt: Ui, das soll dieses Erwerbsleben werden? Ich soll acht Stunden pro Tag, also die acht Stunden, in denen ich am wachsten und fittesten bin, hergeben, damit ich am Ende einen – am Gesamtumsatz des Unternehmens gemessen – mickrigen Lohn bekomme? Nein, sicher nicht! Dafür ist mir meine Zeit auf diesem Planeten einfach zu schade.

 

Die Frage „Was kannst du gut?“ beantwortete Bianca Jankovska als 18-Jährige mit „Schreiben“, also studierte sie Publizistik – und Politikwissenschaften noch dazu. Es folgte eine Karriere als Journalistin in verschiedenen Medien und Anstellungsformen, als Autorin, Dozentin und Medienstrategin. 2018 veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Das Millennial-Manifest“, 2020 folgte „Dear Girlboss, we are done“. Das Jurastudium diente nebenher mehr der emanzipatorischen Weiterentwicklung. Heute teilt Jankovska ihr geballtes Wissen über die (Arbeits-)Welt in Kündigungsberatungen („Thx bye“), ihrem Podcast („The Bleeding Overachiever“), auf ihrem Blog („Groschenphilosophin“), auf Social-Media (@groschenphilosophin) und in ihrem neuen Buch „Potenziell furchtbare Tage“.

Anti-Work klingt im ersten Moment nach … Nichtstun. Du selbst bist u.a. Autorin, Podcasterin, Journalistin, Bloggerin, Dozentin, Medienstrategin, Kündigungscoach, Ghostwriterin. Neben Publizistik und Politikwissenschaften hast du auch noch einen Jura-Abschluss – das alles klingt so gar nicht nach Nichtstun. Was meint Anti-Work also genau?

Ich bin das alles in Theorie, aber ich übe nicht jede Profession zu jeder Zeit aus – sondern mixe und wechsle ab. Journalismus mache ich seit 2018 eigentlich gar nicht mehr, unterrichten tue ich aktuell auch nicht. Außerdem muss ich sagen, dass meine Studienabschlüsse aus der Zeit kommen, in der ich mich intellektuell selbst noch sehr verbissen gefordert und danach beurteilt habe, wie produktiv und „erfolgreich“ ich bin. In meinem Buch „Potenziell furchtbare Tage“ gehe ich ausführlich darauf ein, wo mein Leistungsstreben herkommt, und warum ich meinen Selbstwert dadurch generiert habe, möglichst gut in der Uni zu sein und Abschlüsse zu sammeln wie Briefmarken.
Aber kommen wir zurück zu deiner Frage: Anti-Work ist nicht nur eine Bewegung mit konkreten politischen Zielen, sondern auch eine Haltung, die erstmal im Kleinen Wirkung haben kann.
Anti-Work bedeutet für mich als Lohnabhängige nicht, gar nicht zu arbeiten, sondern mich vom schlechten Gewissen der Nicht-Produktivität zu lösen. Von Zeit zu Zeit zu kündigen – nicht um sofort einen neuen Job anzufangen, sondern meine eigene mentale und physische Gesundheit zu retten. Die Lüge vom Traumjob zu verlernen und gleichzeitig neue Praktiken im eigenen Leben zu implementieren, die nichts mit dem ständigen Streben nach mehr zu tun haben.
Anti-Work bedeutet mehr Faulheit für alle – und nicht nur für das obere 1%.

Nochmal kurz zurück zu deiner Kündigungsberatung: Auf der Homepage steht, dass „THX BYE“ eine „ethische Kündigungsberatung für Arbeitnehmer in Bullshitjobs“ sei. Was genau sind Bullshitjobs und wie bist du auf die Idee gekommen, Beratungen für Kündigungen zu machen?

Bullshitjobs sind für mich persönlich Jobs, die nur existieren, damit irgendjemand etwas am Computer zu tun hat, oftmals in Kombination mit einer schlechten Bezahlung, wenig Impact, straffen Hierarchien und digitaler Messbarkeit, sodass jeglicher „Misserfolg“ sofort als KPI dargestellt und dem Arbeitnehmer unter die Nase gerieben werden kann.
Jobs, in denen man jeden Morgen in der Früh von oben „Tasks“ zugeschoben bekommt, die ungefähr so lauten: „Überlege dir, wie wir dieses Waschmittel noch besser verkaufen können, als im Vorjahresquartal!“. Oder: „Schreib doch nochmal diesen einen Webseiten-Text neu, der letzte gefällt mir irgendwie doch nicht ;).“ Oder: „Überleg dir doch mal ein schönes Powerpoint-Design für unseren nächsten Kunden-Call!“
Ich habe selbst vorwiegend im Journalismus und in der Kulturindustrie gearbeitet, und nach meinem Ausstieg im Jahr 2018 gemerkt: Hm, ich glaube nicht, dass irgendjemand meinen 100. Artikel über Fußpilz vermisst hat! Oder meinen Werbeslogan für das neue Label eines deutschen D-Promis. Es ist ganz einfach Arbeit, die krank im Kopf macht und eigentlich wenig bis keinen Mehrwert für Mensch und Umwelt generiert.
Deshalb habe ich thx-bye gegründet. Damit ich einen Ort schaffe, an dem sich Menschen darüber auskotzen und ihren Exit planen können. Ich möchte Arbeitnehmern in Bullshitjobs eine Auszeit vom Erwerbsleben verschaffen, damit ihr Kopf wieder ihnen selbst gehört.

Sehr viel Arbeit (Stichwort Sorgearbeit, um nur ein Beispiel zu nennen) wird nicht oder nicht annähernd fair bezahlt. Dazu kommt, dass zu verrichtende Arbeit für Menschen ganz unterschiedlich belastend sein kann, sie in vielen Fällen körperlich und/oder psychisch ausbeutet. Wie schätzt du diese Ungleichheit ein? Was müsste sich ändern, damit uns unsere Arbeit nicht noch kränker macht?

Als allererstes muss der 8-Stunden-Tag abgeschafft werden. Egal, ob in der Pflege oder in der Kreativindustrie. Ich denke, dass viele der krankmachenden Tätigkeiten besonders ab Stunde fünf krankmachen, weil da die Ressourcen des Arbeitnehmers bereits aufgebraucht sind, da beginnt dann der richtige Raubbau am Körper – sei es physisch oder psychisch. Auch im Verkauf sind meiner persönlichen Erfahrung nach nicht die ersten 30 Kunden „schlimm“, sondern die letzten, es sind die nicht endenden Stunden nach der Mittagspause, in denen man eigentlich längst nach Hause müsste, um Haushalt und Angehörigenpflege zu schmeißen.
Ansonsten reicht es natürlich nicht, wenn Lohnerhöhungen gerade mal die Inflation ausgleichen und Arbeitsstunden mit höheren Prozentsätzen versteuert werden, als Erbschaften (nämlich: gar nicht in Österreich). Auch dazu habe ich mehrere Kapitel in meinem neuen Buch geschrieben, nämlich: „4-Tage-Woche ≠ Teilzeit ≠ Faulheit“ und „Reiche Eltern umverteilen“. Also bitte, wer meine Meinung dazu in ganzer Länge lesen möchte, kann das Buch gerne vorbestellen.

Talking about bluten am Arbeitsplatz: Laut einer Studie schleppen sich 70 % aller Menstruierenden unter Schmerzen und/oder unter Schmerzmitteleinfluss regelmäßig zur Arbeit. Andere Länder, wie z.B. Japan, haben bereits einen „Menstrual Leave“, also Sonderurlaub für Menstruierende. Ist das deiner Meinung nach ein Vorbild-Modell, das du dir auch für den deutschsprachigen Raum wünschen würdest?

Auf jeden Fall. In Deutschland und Österreich droht nach aktueller Rechtslage eine krankheitsbedingte Kündigung bei häufiger Krankmeldung. Alleine juristisch betrachtet wäre ein menstruationsbedingter Urlaub für Menstruierende daher vorteilhaft, damit sie nicht auf Teufel komm raus im Office Pillen poppen müssen, um nicht aufgrund hoher Fehlzeiten gekündigt zu werden. Außerdem zeigte eine 2017 großangelegte Studie in den Niederlanden auf, dass Menstruierende einen durchschnittlichen Produktivitätsverlust von 33 % aufgrund menstruationsbedingtem Präsentismus verzeichneten, was einem durchschnittlichen Verlust von 8,9 Tagen pro Jahr entspricht. Wem bringt es also irgendetwas, wenn Menstruierende im Office erscheinen?
In Spanien wurde übrigens am 17. Mai 2022 ein Gesetzesentwurf gebilligt, der Frauen aufgrund von Menstruationsbeschwerden arbeitsfreie Tage gewährt. Am 1. Juni 2023 trat das Gesetz über Sexual- und Reproduktionsgesundheit schließlich in Kraft, das unter anderem das Fernbleiben von der Arbeit bei Regelbeschwerden ermöglicht. Die Kosten werden vom Staat übernommen. Damit soll verhindert werden, dass eine Kultur der Stigmatisierung entsteht, die sich auf die Einstellung von Frauen im Unternehmenssektor auswirkt.

Wie siehst du die Zukunft unseres aktuellen Arbeitssystems allgemein? Wie wird sich unsere Arbeitswelt, unsere Leistungsgesellschaft deiner Einschätzung nach entwickeln, wenn sich nichts ändert?

Personaler haben jetzt schon Probleme, Stellen zu besetzen. Fachkräftemangel, olé! Das wird durch den Generationenwechsel in Kombi mit den für meine Generation sehr unattraktiven Arbeitsbedingungen nur verstärkt werden. Wenig attraktive Stellen können nicht besetzt werden, vielleicht werden sich dadurch manche Unternehmen weiterentwickeln – Stichwort 4-Tage-Woche bei vollem Gehalt, 6-Stunden-Tage, Tandem-Modelle. Vielleicht werden einige Unternehmen schließen müssen, was – in Anbetracht der vielen unethisch agierenden fossilistisch-industriellen Konzerne – vermutlich nichts Schlimmes wäre. Zumindest nicht aus ökologischer Perspektive.
Zudem braucht es eine Umverteilung von Reichtum (Stichwort Grunderbe, bedingungsloses Grundeinkommen) und faire Erbschaftssteuern. Arbeit soll nicht vor Leben kommen!

Wenn du Arbeitskammerpräsidentin wärst, was wäre das Allererste, das du ändern würdest?

Die 40-Stunden-Woche (runter)
Die Höhe des Karenzgeldes (rauf)
Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds (rauf)
Die Höhe des Bürgergelds und der Mindestsicherung (rauf)
Zudem würde ich eine Grenze beim Monatseinkommen von CEOs in Relation zum am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter einführen.

 

 

Dieses Buch ist das Gegenteil von dem, was auf LinkedIn abgeht.
Hier gibt es keine Tipps für’s Bewerbungsgespräch – und kein schlechtes Gewissen, wenn du am Ende des Jahres keinen Meilenstein zu verkünden hast. Bianca Jankovska verbindet in ihrem Buch persönliche Anekdoten mit strukturellen Problemen und erzählt eindrucksvoll von Therapie im Kapitalismus, PMS und PMDS, von Privilegien-Checks, Kündigungserfahrungen, Scham, Schuld und Schmerz.
Willkommen in der feministischen Anti-Work-Bewegung: für Menstruierende, Arbeitende, Selbstständige und alle, deren psychischen und körperlichen Ressourcen von Tag zu Tag weniger werden.

Ab 06.06.2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich. 

Einen Auszug aus dem Interview haben wir vorab in unserem Newsletter gebracht. Du willst nichts mehr verpassen? Dann melde dich doch gleich an:

„Gasperlmaier hängt noch immer das Image des Tollpatschs nach.“ – Herbert Dutzler im Interview

Franz Gasperlmaier hat bereits im Bergwerksstollen ermittelt, sich im Fasching als Trommelweib getarnt, bei Verfolgungsjagden auf Gebirgsstraßen geschwitzt und dabei diverse Verbrecher*innen gestellt. Herbert Dutzler verrät uns, was „Letztes Zuckerl” für den Franz bereithält und inwiefern sich der Ermittler der Herzen über die Jahre verändert hat.

 

Seit Jahren dürfen wir Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen begleiten – in „Letztes Zuckerl“ bereits zum elften Mal. Was würdest du sagen, inwieweit hat sich Gasperlmaier in all den Jahren weiterentwickelt und inwiefern ist er der Alte geblieben? Und wie hat sich die Beziehung zwischen dir und deiner Romanfigur verändert?

Gasperlmaier hängt immer noch das Image des Tollpatschs nach, das ich ihm zu Beginn der Serie selbst verpasst habe. Mittlerweile hat er das Ungeschickte, Umständliche äußerlich abgelegt, das Zögerliche und Nachdenkliche aber sind ihm geblieben. Ich lasse Gasperlmaier nämlich immer noch sehr zaghaft auf Neues, Unerwartetes und Ungewöhnliches reagieren, das bringt auch Spannung in die Figur, sie muss sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen, wie zum Beispiel den Entwicklungen in seiner Familie.

 

Foto: © Haymon Verlag/ Fotowerk Aichner.

Ein altbekanntes Sprichwort lautet „Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen“. Glaubst du, Gasperlmaier würde diesem Spruch zustimmen?

Ja, sicher. Er macht sich um das Wohlergehen seiner Kinder und Enkel viele Gedanken, die ihm manchmal auch den Schlaf rauben. Da Gasperlmaier bereits im ersten Band fast erwachsene Kinder hatte, fehlt mir leider der Einblick in ihre frühe Kindheit und Jugend – welche Rätsel sie ihm damals aufgegeben haben, verbleibt im Dunkel der Vergangenheit. Aber vielleicht gibt es ja einmal einen Band „Gasperlmaier – the early years“!

 

Auch Internetkriminalität wird in „Letztes Zuckerl“ thematisiert. Musstest du selbst schon mal Erfahrungen mit Internettrollen machen?

Das ist mir bisher zum Glück erspart geblieben – obwohl: Bei einigen Büchern tauchten auf der Seite eines bekannten Onlineshops sehr kurz nach dem Erscheinen anonyme Ein-Stern-Bewertungen ohne Kommentar auf – da habe ich mir schon Gedanken gemacht, wer da wohl dahinterstecken könnte!

 

Wer auf der Suche nach einer Wohnung oder einem Eigenheim ist, weiß: Es ist schwierig, etwas Passendes und noch schwieriger, etwas Leistbares zu finden. Selbst im idyllischen Altaussee versucht jemand, dubiose Immobiliendeals zu machen. Hattest du selbst bereits mit Immobilienhaien zu tun?

Da muss ich ein wenig weiter zurückgehen: Während des Studiums habe ich mit meiner damaligen Freundin und jetzigen Frau in einer Garçonnière in Salzburg gewohnt. Der Besitzer verfügte, Gerüchten zufolge, über ca. 80 Wohnungen in Salzburg und hat während der insgesamt 5 Jahre, die wir dort verbrachten, die Miete um ca. 50% erhöht – da konnten wir zum ersten und einzigen Mal spüren, wie schwierig es sein kann, in Gegenden leistbares Wohnen zu finden, die sehr stark nachgefragt sind.

 

Der Franz ist traditionsverbunden, aber auch immer wieder bereit, sich auf Neues einzulassen. Was beschäftigt ihn derzeit? Was tut sich in seinem Leben?

Da gibt es tatsächlich einiges. Gasperlmaier macht sich zu viele Gedanken darüber, ob die Partner seiner Kinder auch wirklich die richtigen für sie sind. Da ist einmal Richelle aus Vancouver, die für seinen Geschmack etwas zu mondän und zu wenig naturverbunden ist. Ob das in Altaussee gut gehen kann, fragt er sich oft. Und die Frau seiner Tochter ist ja bekanntlich Journalistin, und er hat es nicht so gern, wenn sie zusammen mit seiner Katharina in Altausseer Interna herumwühlt. Und zu guter Letzt fragt er sich natürlich auch, ob er es bei der Polizei bis zur Pension schaffen wird – nach einem durchaus unerfreulichen Erlebnis im „Letzten Zuckerl“, über das nichts verraten werden soll. Aber es ist ihm ja schon einige Male übel mitgespielt worden, das darf man hier nicht vergessen!

 

Altausseer Landidylle, Opafreuden und Internetkriminalität  findest du in „Letztes Zuckerl” von Herbert Dutzler.

 

Full House bei den Gasperlmaiers!
Die bereits erwachsenen Kinder kehren mit ihren Familien zurück ins elterliche Nest und auch außerhalb des Gasperlmaier-Hauses geht es rund: Zuerst geschieht ein Unfall mit Todesfolge, dann gräbt ein Hund nicht etwa ein Stöckchen, sondern eine Leiche aus dem Schnee. Dass es Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen mit Männern zu tun bekommt, die sich mit Frauenhass brüsten, jemand um jeden Preis Altausseer Immobilien ergattern will und ein Hauch von Marihuanaduft in der Luft liegt, lässt seinen Vorsatz, es ruhiger anzugehen, gehörig wackeln.

 

Komm mit ins Ausseerland! Hier geht’s in die Welt von Franz Gasperlmaier.