Autor: Christophe

Christoph W. Bauer und Andreas Neeser unter den Lyrik-Empfehlungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung

Zwei Autoren des Haymon Verlags, der Österreicher Christoph W. Bauer und der Schweizer Andreas Neeser, stehen mit ihren aktuellen Gedichtbänden auf der Liste der renommierten Lyrikempfehlungen 2016 – wir freuen uns!

Die Lyrik-Empfehlungsliste erscheint jährlich. Sie wird präsentiert von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stiftung Lyrik Kabinett und der Literaturwerkstatt Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bibliotheksverband.

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Empfehlung von Michael Krüger

Stromern heißt so viel wie ziellos wandern, sich herumtreiben (statt zu arbeiten), streunen oder strolchen, in Österreich heißt es: strawanzen.

Der aus Innsbruck stammende Dichter Christoph W. Bauer bevorzugt natürlich die erste Bedeutung: die nicht auf ein Ziel hin gerichtete Bewegung. Ersetzt man Bewegung durch Schreiben, hat man die Definition der Poesie, wie sie Paul Valéry gegeben hat.

Bauer, 1968 in Kärnten geboren, hat sich als Begleitung für seine sehr unterschiedlichen Wanderungen den französischen Dichter des Spätmittelalters François Villon gewählt, den großen Dichter von Balladen über die Zweifelhaftigkeit des Ruhms, der Ehre, der Anständigkeit. Mit Villon ist er unterwegs in Kärnten oder Paris, in den Welten der Mythologie und der sehr realen Gegenwart. Bauer ist ein belesener Dichter und ein Kenner der Geschichte der Formen, aber auch ein Eulenspiegel, der vermischen und verwandeln kann:

fremd bin ich eingezogen unter meine haut, beginnt ein Gedicht, das mit der Zeile endet: ich weiß nur eins: fremd zieh ich wieder aus.

Es wäre schön, wenn dieser kluge Vagant bei uns etwas bekannter würde!

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Empfehlung von Daniela Strigl

Andreas Neeser ist kein Freund großer und vieler Worte.

Seine Erkundungen im Zwischenmenschlichen, im Naturraum draußen und drinnen, im Kopf des Ichs, sind beeindruckend konzentriert, wirken wie hingetupft und nehmen doch präzise Gestalt an. Man könnte an Aquarelle denken, aber meist düster getönt:

Seit Jahren mein einziger Bruder / kriech ich beim Rastplatz ans Ufer / im fahleren Licht / bin ich nichts als mein dunkelstes Wort.

(Drei Schwestern)

Im Zyklus Schichten von Haut entblättert Neeser kunstvoll die Zwiebelhäute der Erinnerung, die zusammenhängen wie die einzelnen durch einen jeweils weiterwandernden Vers miteinander verknüpften Gedichte. Die Kindheit ist es, die den Erwachsenen im Halbschlaf bespricht, die handfest und körperlich wird:

ein paar Krautstiele wachsen mir mundartlich / urlaut / im Gaumen / behauptet die Sprache die Herkunft, Geruch und Geschmack.

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Nicht nur in ihren Heimatländern Österreich und Schweiz zählen Christoph W. Bauer und Andreas Neeser zu den wichtigsten Lyrikern. Ihre Dichtkunst bereichert den gesamten deutschsprachigen Raum, was die Wahl auf die renommierte Lyrik-Empfehlungsliste 2016 bestätigt.

Sizilien-Krimi für (ent)spannende Strandlektüre!

Und zu Ihrer Linken sehen Sie: Mord!

Reiseziel Sizilien: Die engagierte und couragierte Reiseleiterin Elena Martell führt in „Mörderküste” durch die Heimat der Cosa Nostra und des Limoncello.

Für alle, die schon sehnsüchtig gen Sommer und Urlaub blicken, sich Sonne und Strand des letzten Jahres noch einmal in den Sinn rufen wollen, oder all jene, die ihren Ausbruch aus dem Alltag schon geplant haben und jetzt noch auf der Suche nach dem Spannungsfaktor im Entspannungsurlaub sind, haben wir den perfekten Sizilien-Krimi!

Urlaubskrimi als Reiseführer

Nicht nur mitreißende Spannung, sondern auch Informationen zu Schauplätzen und Sehenswürdigkeiten; Elena Martell und Eva Gründel begleiten euch an den Strand und durch die Landschaften und Städte Siziliens  – und wir liefern schon mal einen kleinen Vorgeschmack ihrer Reiseroute, der Lust auf Sonne, Strand und mehr macht:

Bergstadt Erice

Sie griff wieder zum Mikrofon, denn in diesem Moment kam das Bergstädtchen Erice erstmals in Sicht. „Wir sprechen später darüber“, bemerkte sie noch, bevor sie mit ihren Erläuterungen über die große Vergangenheit der kleinen Stadt hoch über den Salzgärten von Trapani begann. Auch den Venustempel, einst das begehrte Ziel der Seeleute aus allen Teilen der damaligen Welt, unterschlug sie nicht. Nur die Scherze über die Rolle der Tempelpriesterinnen, die in Wahrheit ein florierendes Bordell betrieben hatten, verkniff sich Elena diesmal. Weil ihr Gelächter im Bus in dieser Situation doch nicht so recht passend erschien, unterschlug sie die pikanten Details und erzählte ausführlicher als sonst die Geschichte des trojanischen Helden Äneas, der mit seinen Argonauten der Legende nach hier gestrandet war.

Selinunte

Ihr Vortrag konnte warten, das milde Licht, in dem die Säulen lange Schatten warfen, hingegen nicht. Eine gute Stunde würde es noch hell genug sein, um ohne zu stolpern zwischen den aufgeschichteten Kapitellen zu spazieren. Im Mittelalter hatte ein Erdbeben die drei Heiligtümer in sich zusammenstürzen lassen. Von den mächtigen Monumenten, die in der Folge vom feinen Flugsand vollständig bedeckt worden waren, war bald nichts mehr zu erahnen gewesen. Erst Jahrhunderte später hatte man die Tempel von Selinunte wieder entdeckt, aber nur einen wieder aufgerichtet. Glücklicherweise, denn ein imposanteres Ruinenfeld war kaum denkbar, wirkten doch die Überreste in Augenhöhe noch gigantischer. Nur wer ein tonnenschweres Kapitell auf dem Boden liegen gesehen hat, kann die Dimensionen der einstigen Tempel wirklich ermessen.

Fresko Bildcredit: By Anachoret (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Fresken in der ehemaligen Kapelle des Palazzo Abatellis

Das Gerippe hoch zu Ross macht keinen Unterschied zwischen Arm und Reich, zwischen Bauer, Bürger, Edelmann. Ob kleiner Priester oder mächtiger Bischof, ob junge Schönheiten oder Verkrüppelte und Ausgestoßene, ausnahmslos holt er sie alle, die unter die Hufe seines gespenstischen Pferdes geraten. Schweigend stand Elena vor dem Fresko aus dem 15. Jahrhundert, das eine ganze Wand in der ehemaligen Kapelle des Palazzo Abatellis ausfüllte. Noch bei keinem Besuch des großartigen Regionalmuseums von Palermo hatte sie sich der bedrückenden Faszination dieses Meisterwerks der frühen Renaissance entziehen können. Diesmal aber traf sie der „Triumph des Todes“ mit voller Wucht. „Grauenhaft. Und in all dem Grauen schaurig schön. Doch wie konnten die Menschen mit solchen Bildern vor Augen leben?“

Also, worauf wartest du noch? Sonnencreme, Strandhandtuch, Bikini oder Badehose eingepackt – und auf zum Strand mit dem perfekten Sizilien-Krimi: „Mörderküste” von Eva Gründel! Und sollte Sizilien nicht ganz deinen Urlaubswünschen entsprechen, haben wir auch Reisen nach Kroatien und England im Angebot – natürlich inklusive charmanter Reisebegleitung!

Von Karl May bis Elfriede Jelinek, von Lwiw bis Berlin – dürfen wir vorstellen: Natalka Sniadanko!

„Chrystyna und Solomija sind jung, klug und selbstbewusst“, heißt es über Natalka Sniadankos Romanheldinnen, und das kann von der Autorin erst recht behauptet werden.

Genauer betrachtet: eine seltene Sprachbegabung, charmante Klugheit und großartiger Humor zeichnen die Lwiwer Schriftstellerin aus. Als Verfasserin von mehreren Romanen sowie Übersetzerin und Journalistin hat sie sich in ihrer Heimat, der Ukraine, ebenso wie in Deutschland und Polen einen Namen gemacht. Unter ihren Übersetzungen aus dem Deutschen und Polnischen finden sich Bestsellerautoren, Klassiker und Nobelpreisträger: von Elfriede Jelinek und Günter Grass bis Franz Kafka und Friedrich Dürrenmatt, von Zbigniew Herbert und Czesław Miłosz bis Judith Hermann und Feridun Zaimoglu. Und nicht zuletzt ist Karl May zu nennen, dessen weltberühmter „Winnetou“ mit Sniadankos Übersetzung erstmals auf Ukrainisch zugänglich ist.

Als Autorin gehört Sniadanko der Generation von Serhij Zhadan und Tanja Maljartschuk an, lange etablierte und international bekannte ukrainische Autoren wie Juri Andruchowytsch und Andrej Kurkow sind hingerissen von Sniadankos erzählerischem Talent – das unter anderem in ihrem Roman „Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen“ zu genießen ist, der 2016 übersetzt von Lydia Nagel bei Haymon erschien.

Natalka Sniadanko, Foto: © Kateryna Slipchenko

Sniadanko, die selbst mehrere Jahre in Deutschland gelebt hat, schickt darin zwei Musiklehrerinnen von Lwiw, dem „Berlin der Westukraine“, ins wahre Berlin. Von ihren Erfahrungen dort, zwischen eigenwilligen Arbeitgebern und komplizierten Liebesgeschichten, weiß Sniadanko auf höchst unterhaltsame, und auch berührende Weise zu berichten. Und wie tief Sniadanko unter die Haut der Stadt Berlin eindringt, bekommt man bei der Lektüre angenehm zu spüren. Ein Leben zwischen zwei vermeintlichen Heimaten also, zwischen zwei Mentalitäten – spannend nicht zuletzt in Zeiten wie diesen, wo es allerorten darum geht, sich in der Fremde einzurichten, sich mit Fremden vertraut zu machen.

Von dieser Erfahrung hat Sniadanko bereits in ihrem Debütroman „Sammlung der Leidenschaften“ furios witzig und geistreich erzählt: Eine ukrainische Studentin in Freiburg im Breisgau, zwischen deutschen Gutmenschen und italienischen Machos – da ist der Culture Clash vorprogrammiert, den die Autorin klug und humorvoll in Szene setzt. In der Ukraine als Kultroman gefeiert, ist der Roman seit 2017 übersetzt von Anja Lutter bei Haymon erhältlich.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?

Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Natalka Sniadanko haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

„Es gibt keine kulturelle Identität” – ein Gespräch mit Selim Özdogan

Warum die Weihnachtsbeleuchtung auf der İstiklal Caddesi nie ausgeht, wie es ist, in mehreren Kulturen aufzuwachsen und was das alles mit Heimat zu tun hat – dies und noch einiges mehr haben wir Selim Özdogan zum Erscheinen seines neuen Romans Wieso Heimat, ich wohne zur Miete  gefragt.

Das Gespräch führte Georg Hasibeder, Lektor des Haymon Verlags.

Heimat, was ist das eigentlich? Findet man die Heimat im Reisepass, im Meldeschein oder in der Geburtsurkunde? Oder ist Heimat eher ein Gefühl?

Foto: © Tim Brüning

Für die meisten Menschen ist Heimat ein Ort, mit dem man ein bestimmtes Gefühl verbindet. In diesem Sinne kann ich mit dem Begriff nicht viel anfangen, einfach weil Gefühle von Verbundenheit, Geborgenheit und Sicherheit keine Resonanz gefunden haben in dem Raum, in dem ich aufgewachsen bin.

So ist Heimat für mich frei geworden als Begriff, den ich selber füllen konnte. Mit Literatur, mit Musik und mit Menschen, die mir das Gefühl von Verbundenheit und Kontakt geben können.

Du bist selbst Deutschtürke und zweisprachig aufgewachsen. Empfindest du dich als jemanden, der in, oder zwischen, zwei Kulturen lebt?

Ich habe dieses ‚Zwischen-zwei-Kulturen-leben’ nie ganz verstanden. Jeder Mensch erfüllt verschiedene Rollen in seinem Leben, trotzdem sagt man nie, jemand würde zwischen seinen Rollen leben. Der Arbeitgeber erwartet etwas anderes als der Partner und der etwas anderes als die Kinder und die Freunde wollen etwas ganz anderes. Je nach Zusammenhang benimmt man sich anders. Das ist völlig normal und führt auch schon mal zu Spannungen. Wenn man in mehr als einer Kultur aufgewachsen ist, kommt die Kultur halt noch hinzu.

An deinem neuen Roman hast du u.a. während eines Schreibaufenthalts in Istanbul gearbeitet. Wie hast du die Stadt erlebt?

Ich bin ja kein Freund von Metropolen, die übervoll sind und sich von Menschen ernähren. Aber Istanbul mochte ich sehr gerne, auch weil meine Zeit von vorneherein begrenzt und damit klar war: Ich werde wieder gehen. Das hat dazu geführt, dass ich Widersprüche, Irrsinn, Gentrifizierung, Chaos und Stau ohne Mühe aushalten konnte.

Die Sprache zu können hat sicherlich dazu beigetragen, dass ich mich wohl gefühlt habe. Die Kontaktfreudigkeit in unterschiedlichsten Zusammenhängen hat dazu geführt, dass ich selber offener durch die Stadt gehen konnte. Ich mochte dieses Quirlige, Lebendige, die Kreativität, die Bereitschaft, Pläne und vorgefertigte Muster zu vergessen und nach Lösungen dann zu suchen, wenn man sie braucht.

Gibt es in Istanbul tatsächlich das ganze Jahr über weihnachtliche Beleuchtung? Findet man in der Stadt tatsächlich leichter eine Kirche als eine Moschee? Und begegnet man tatsächlich christlichen Missionaren, die Gratisbibeln verteilen?

Ja, es gibt auf der İstiklal Caddesi tatsächlich das ganze Jahr über Weihnachtsbeleuchtung. Und in Beyoğlu, dem ehemaligen Pera, das hauptsächlich von Europäern bewohnt wurde, gibt es wahrscheinlich tatsächlich mehr Kirchen als Moscheen. Und ja, es gibt Missionare, die in der Fußgängerzone und auf den Prinzeninseln Bibeln verteilen.

Liegt Istanbul (nicht streng geographisch betrachtet) näher an Kars – der ostanatolischen Stadt, aus der Krishnas Vater Recep stammt – oder näher an Freiburg – der deutschen Stadt, in der Krishna später lebt?

Istanbul ist eine Stadt, die auf den ersten Blick modern wirkt, westlich, an manchen Stellen amerikanisch. Somit wäre es näher an Freiburg. Auf den zweiten Blick ist diese Stadt geprägt von einer immensen Zuwanderung der Landbevölkerung in den letzten Jahrzehnten. Ist also deutlich anatolisch geprägt. İzmir, wo es diese Zuwanderung in dieser Form nicht gibt, ist in vielerlei Hinsicht eine modernere, westlichere Stadt als Istanbul.

Proteste am Taksim-Platz 2013. © Fleshstorm (Own work) via Wikimedia Commons

Die gewaltsamen Proteste im Gezi-Park in Istanbul spielen eine wichtige Rolle in deinem Roman. Oberflächlich ging es dabei um den Widerstand gegen die Bebauung einer Grünfläche, aber worum ging es eigentlich?

Es geht um die Richtung, in die das Land seit Jahren steuert: weniger persönliche Freiheit, weniger Demokratie, weniger Selbstständigkeit, mehr Ausbeutung, mehr Gewalt, mehr Chaos, mehr Autorität. Der Park war nur der Auslöser, der das Unbehagen über diese Richtung zum Ausdruck gebracht hat.

Aus deutschsprachiger Perspektive ist das „Phänomen Erdoğan“ nicht leicht zu verstehen. Wer trägt in der heutigen Türkei das System Erdoğans, wer sind seine Gegner?

Erdoğan-Gegner und Gezi-Sympathisanten finden sich quer durch alle Gesellschaftsschichten und Generationen. Wer genau die Befürworter sind und wer die Gegner, lässt sich nicht so leicht in wenigen Sätzen wiedergeben.

Dass die Dinge komplex sind, kann man auch daran ablesen, dass die hiesige Lesart jahrelang war, dass Erdoğan die Demokratisierung des Landes vorantrieb, indem er das Militär schwächte. Und dann hat man sich gewundert, woher denn dieser Autokrat kommt.

Dein Romanheld Krishna Mustafa beschäftigt sich viel mit dem Islam – so viel, dass er schließlich in seiner deutschen Heimat in Verdacht gerät, sich zum gewaltbereiten Islamisten zu radikalisieren. Wo verläuft in Zeiten, wie wir sie aktuell erleben, der Mittelweg zwischen hysterischer Panikmache und berechtigter Vorsicht?

Ich glaube nicht, dass es um einen Mittelweg geht, sondern darum, die Dinge in Relation zu setzen. Eine größere Perspektive zu entwickeln. Das war allerdings nicht das Thema des Romans, hier ging es mir eher darum, die Hysterie als Hysterie darzustellen und nicht als ein Streben nach Sicherheit.

Radikalisierung ist ja kein Problem, das dem Islam innewohnt, auch wenn das gerne behauptet wird. Genauso wenig wie Gewaltbereitschaft. Es gab und gibt scheinbar politisch motivierten Terrorismus, von links wie von rechts, es gab und gibt scheinbar religiös motivierten Terrorismus. Schuld sind aber nicht die Religion oder die Ideologie. Radikalisierung und Gewaltbereitschaft sind in erster Linie psychologische Probleme und nicht politische oder religiöse. Religion und Politik sind hier nur Zuschreibungen, die dazu beitragen, die Empathie der Menschen zu mindern. Wenn ich überzeugt davon bin, dass die andere Gruppe aufgrund ihrer Einstellung, Religion, Hautfarbe, Ethnie oder sonst was tatsächlich anders ist als meine eigene Gruppe, kann ich sie entmenschlichen, kann ich mich innerlich so weit von diesen Menschen distanzieren, dass ich ihnen unmenschlich erscheinende Dinge antue und mir nicht denke: Das sind auch nur Mütter und Väter und Kinder, die Sorgen und Ängste und Nöte und Sehnsüchte haben, genau wie ich auch. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagen wir, aber sie wird antastbar, wenn ich den anderen aufgrund irgendeiner Zugehörigkeit als grundsätzlich anders betrachte als mich selber.

Die für mich interessante Frage ist, warum wir eine Gesellschaft sind, die das Problem der Radikalisierung mitproduziert. Globalisierung meint ja, dass die Grenzen weitgehend offen sind für Informationen, Waren und Geld. Aber nicht für Menschen. Wir sind die Nutznießer dieser Situation. Wir leben in einer Welt, die ungerecht ist. Es geht uns auch deswegen so gut, weil es anderen Menschen woanders schlechter geht. Ungerechtigkeit ist ein Fakt. Das scheint mir ein Ausgangspunkt zu sein, der zur Radikalisierung führen kann. Ich weiß nicht, was wir konkret dagegen tun können, aber es ist ein Gemeinplatz, dass man nicht weiterkommt, wenn man die Schuld immer nur bei den anderen sucht.

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Dein Romanheld Krishna Mustafa ein eigenwilliger Typ, mit einer kindlichen Naivität und Neugier begabt. Wie ist es dir in den Monaten, die du schreibend mit ihm verbracht hat, ergangen?

Ich mag Krishna Mustafa gerne, auch weil er mich anfangs beim Schreiben oft dazu gezwungen hat umzudenken. Er fühlt sich selten persönlich angegriffen, egal, was passiert, er ist fast nie beleidigt und fühlt sich nur in Ausnahmefällen ungerecht behandelt. Er hat in der Regel eine Perspektive, die es ihm ermöglicht, bei Widrigkeiten heiter zu bleiben.

In den ersten Kapiteln hat Krishna häufig so reagiert, wie ich es vielleicht tun würde und wie es auch für natürlich halte. Das musste ich dann streichen und musste diesen Schalter im Kopf finden, den man umlegen muss, damit das Ganze mehr Humor bekommt, Humor in dem Sinne, dass man auch Abstand zu der Situation findet und neue Interpretationsmöglichkeiten für das Geschehene. Dieser Schalter ist mir nach dem Schreiben geblieben und bereichert mich weiterhin.

In Wieso Heimat, ich wohne zur Miete trifft Till Eulenspiegel auf Forrest Gump. In einem leuchtend-bunten Road Trip zu den eigenen Wurzeln jongliert Selim Özdogan mit Pegida, Starbucks, Dschihad und Gezi-Park und gleitet mit spielerischer Leichtigkeit über das Minenfeld der political correctness hinweg.

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Selim Özdogan liest dieses Jahr auf Einladung von Stefan Gmünder bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur und nimmt am Wettlesen um den Ingeborg Bachmann Preis teil!

Alle Informationen und das Videoporträt unseres Autors gibt es hier: Selim Özdogan beim Ingeborg Bachmann Preis 2016.

Vom Mozartkugelmassaker zur Primadonna im Fleischwolf – Krimödien-Queen Tatjana Kruse packt aus

Im herrlich schrägen Krimi „Bei Zugabe Mord!” von Tatjana Kruse darf man sich auf  tragische Komik, komische Tragik, herrlich schräge Figuren und jede Menge Mozartkugeln freuen. Es geht um Schokoholikerinnen, die auf Mozartkugeln starren, um muskulöse Kampfschwimmer, um einen narkoleptischen Hund und um ganz viel Liebe.

Während die Starsopranistin Pauline Miller ihre himmlischen Stimmbänder wohl irgendwo mit einer Flasche Taittinger salbt und Schoßhündchen Radames ein Nickerchen hält, haben wir die Autorin gefragt, wie sie vom strickenden Ex-Kommissar auf die liebenswerte Operndiva gekommen ist und wo all die Ideen für ihre spektakulären Morde herkommen.

Das Nachrichtenmagazin „Focus” nennt Sie nicht ohne Grund Ladykracher unter den deutschen Krimi-Comedians. Gehen Ihnen lustige Texte leichter von der Hand?

Foto: © Jürgen Weller

Ich kam schon lächelnd zur Welt und kann nicht anders. Menschen, die mich mögen, nennen mich heiter, die anderen bezeichnen mich als albernes Huhn.

Ganz ehrlich, das Leben ist doch für jeden von uns – trotz gelegentlicher Highlights – echt schwer genug, da muss es gewisse fröhliche Konstanten wie mich geben. Meine Bücher dürfen gern als Inseln für Eskapismus-Kurzurlaube vom  Alltag betrachtet werden. Das Schmunzeln meiner LeserInnen ist für mich als Autorin der wahre Ritterschlag!

Sie sind im Internet und in sozialen Netzwerken sehr aktiv und stehen so in gutem Kontakt zu Ihren LeserInnen. Inwiefern hat das Einfluss auf Ihr Schreiben?

Es inspiriert mich. Buchstäblich. Ich muss mir beispielsweise bis circa Ende 2031 keine Mordmethoden mehr einfallen lassen, die liefern meine LeserInnen. Ärzte, Apotheker, Jäger, Metzgermeister – Vertreter aller möglichen Berufsstände (meistens Männer) geben mir regelmäßig Tipps, wie man jemanden umbringen könnte. Sogar einige „perfekte Morde“ wurden mir schon anvertraut. Da kann ich aus dem Vollen schöpfen.

Sie haben einmal erwähnt, dass Agatha Christie für Sie als Krimischriftstellerin eine ganz besondere Rolle spielt.

Sie war es, die mich zur Krimiautorin machte! Als junges Mädchen las ich nicht Fünf Freunde oder Hanni und Nanni, sondern schlich mich in der Stadtbücherei meiner Heimatstadt immer zu den Büchern von Agatha Christie in die Erwachsenenabteilung. Ich wurde jedes Mal erwischt und rausgeworfen – zu einer Karriere als Kriminelle würde es nie reichen, das wurde mir damals klar, aber selber schreiben, das sollte gehen. Und es ging!

Nun haben Sie nach Ihrer erfolgreichen Serie um einen stickenden Ex-Kommissar eine neue Krimiheldin, die exzentrische Primadonna Pauline Miller, geschaffen.

Ja, das stimmt. Mein neues Buch ist eine Krimödie um die Liebe und die Folgen ausbleibender Liebe. Es geht um eine liebeskummerkranke Frau und ihren narkoleptischen Hund und ihre kleinwüchsige Agentin und einen feschen Kommissar und durchtrainierte Kampfschwimmer und ganz viele Mozartkugeln …

Und das alles vor der Kulisse der berühmten Salzburger Festspiele, bei denen dann auch dreieinhalb Leichen auftauchen. Die übrigens unschön zu Tode kommen – da sollte man sich als LeserIn ein wenig wappnen. Hier schließt sich der Kreis zur Oper: Wer das Libretto von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ kennt, weiß, mit welchen Mordarten man rechnen muss. Aber es ist fast besser, es nicht zu wissen: Dann erlebt man beim Lesen das Kribbeln der schockierten Überraschung. Und grundsätzlich gilt natürlich auch hier wie bei all meinen Krimis: Bei mir gibt es nichts, was Alpträume beschert – ich liefere nur saubere Leichen!

Sind KrimiautorInnen die besseren Menschen?

Absolut! Wir toben unsere Aggressionen auf dem Papier aus, folglich sind wir im Alltag handzahme, harmoniesüchtige Häschen, pflegeleicht und liebenswert.

Man hört, Sie haben mit Marcel Reich-Ranicki geschlafen. Erzählen Sie uns mehr darüber?

Ja, und ich war mit Arnold Schwarzenegger auf der Herrentoilette eines Luxushotels … Da stecken natürlich Geschichten dahinter! Aber als Dame genieße und schweige ich. Außer auf meinen Lesungen, da plaudere ich – im Rausch des Gruppenhappenings – immer alles aus. Hemmungslos und en détail. Also auf zu einer meiner Lesungen! Und keine Sorge, liebe Eltern, so süffig es klingt, es ist dann doch jugendfrei!

Old, but Polt. Auf einen Veltliner mit dem Kultgendarmen

„Grenzenlos gutmütig und harmoniebedürftig. Aber mutig und nicht mehr aufzuhalten, wenn er sich einmal dazu entschlossen hat zu tun, was getan werden muss. Wenn er jemanden mag, schätzt oder gar liebgewinnt, bleibt er dabei, auch wenn es schwierig werden sollte. Isst und trinkt und liebt fürs Leben gerne. Ruht in sich selbst, und es ist klüger, daran nicht zu rühren.”

Seit 18 Jahren ermittelt Simon Polt nun schon in den verwinkelten Kellergassen des Weinviertels. Unter der Feder Alfred Komareks hat der liebenswerte Gendarm wider Willens Gestalt angenommen. Unser Interview mit dem Autor gewährt tiefe Einblicke in die mal gutmütige, mal eher störrische Gemütslage des Dorfpolizisten.

Folge uns. Auf ein Glas selbstgekelterten Veltliner, in einem gewissen Presshaus im Wiesbachtal. Dort, wo der Wein noch aus echten Holzfässern kommt, fernab von der „Weinlauntsch” und den „siebengscheiten Bemerkungen von ein paar dahergelaufenen Weinkennern”. Dort, wo im Licht einer flackernden Kerze die Welt ganz anders aussieht und wo Polt, mittlerweile pensioniert, gemütlich seinen Gedanken nachhängt.

Melancholisch und langsam geht es hier zu. Und doch macht das Verbrechen keinen Halt vor der verschlafenen Burghofer Kellergasse.
Zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, zwischen den „Lokeischns” und Vereinslokalen, zwischen Weltoffenheit und Dorfdünkel muss noch Zeit für ein Gläschen sein. Für einen echten Grünen Veltliner aus Polts Weinheber.

Beim Lesen Ihrer Bücher tritt einem Simon Polt wie ein Mensch aus Fleisch und Blut aus den Seiten heraus entgegen. Wie sind Sie eigentlich auf diese Romanfigur gestoßen?

Als ich damit begonnen habe, über die literarische Figur eines Gendarmen im Weinviertel nachzudenken, lagen schon gut zwei Jahre Leben, Mitleben, Erleben und Beobachten im Weinviertel hinter mir. Für einen Fremden, einen allmählich vertrauten Gast in einer Region gehört insistierende Neugier ganz einfach dazu.

Foto: © Michael Himmel, mit freundlicher Genehmigung der Initiative Pulkautal

Auch mit der Gendarmerie hatte ich immer wieder zu tun. Das lag weniger an meiner kriminellen Energie als daran, dass ich viele Jahre einen 2 CV, also eine Ente fuhr – oder eben nicht fuhr. Bei Nässe oder Kälte – und somit recht häufig – verweigerte dieses Auto nämlich den Dienst. Da half auch die wohlweislich angeschaffte Handkurbel nicht, das unwillige Gefährt musste angeschleppt werden. Letzteres besorgte relativ häufig ein Gendarm mit seinem Streifenwagen – und dieser Gendarm hieß Polt. Der Name war allerdings das Einzige, was er (von der Hilfsbereitschaft abgesehen) mit der späteren Romanfigur gemeinsam hatte. Aber der Name gefiel mir: prägnant, aber nicht aufdringlich, und vom Klang her ein sanfter Schuss.
Später ist mir dann noch mehr und mehr dieser für ländliche Gegenden so typische Zwiespalt aufgefallen: Die Pflicht zu Amtshandlung im Widerstreit zum Dienst an der Dorfgemeinschaft.

Oft hat man das Gefühl, der Beruf als Gendarm sei für Simon Polt mehr Last als Lust, die Uniform eine Bürde, die er gern ablegt, sobald er darf. Warum hat er diesen Berufsweg überhaupt eingeschlagen?

Weil ihm nichts anderes übrig blieb. Sein Vater, Heinrich Polt, ist als Landwirt gescheitert. Damals, in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, war das Wiesbachtal eine ärmliche Gegend dicht an der bedrohlichen Grenze zu Tschechien. Für jemanden, der sich nur auf sein bäuerliches Handwerk verstand, blieben kaum mehr als irgendwelche Hilfsarbeiten, um über die Runden zu kommen.

Der junge Simon Polt hätte damals gerne Lehrer werden wollen. Aber es war einfach zu wenig Geld für die Ausbildung da. Immerhin konnte der Vater den Wunsch seines Sohnes nach einer sinnvollen Aufgabe in der Dorfgemeinschaft verstehen. Die Ausbildung zum Gendarmen bot sich als finanziell gerade noch mögliche Alternative an. Vermutlich war der kleine Simon nicht gerade begeistert, aber doch ganz zufrieden damit.

Als Gendarm steht Simon Polt für das Recht, als Mensch für die Gerechtigkeit. Als Gendarm vertritt er das Gesetz, als Mensch das, was er für richtig hält. Dieser Zwiespalt begleitet Simon Polt stetig – wie geht er damit um? Wie löst er die Widersprüche auf?

In den ersten Jahren als Gendarm hat Polt diesen Widerspruch seufzend hingenommen, auch die sich schmerzlich vertiefende Erkenntnis, dass sein Beruf als Gendarm trotz allen Bemühens, verständnisvoll vorzugehen und Widerstände auszugleichen, nicht zu ihm passte. In „Polt muss weinen“ kulminiert diese Entwicklung in einem Schock. Seit damals tut es wirklich weh, wieder einmal tun zu müssen, was er nicht tun will. Polt wird noch eigensinniger und störrischer, als er es ohnehin schon war, und er erkennt schließlich, dass sich seine Eigenmächtigkeit nicht mehr mit seinem Beruf vereinbaren lässt. Er entledigt sich schließlich, in „Polterabend“, der Uniform – nicht aber seiner Verantwortung für die Menschen ringsum.

Der Simon Polt, den wir in seinen Romanen kennenlernen, ist Junggeselle – ein ganz klassischer noch dazu. Warum eigentlich? Hat er kein Bedürfnis nach einer Gefährtin an seiner Seite? Würde eine Frau die behagliche Ordnung seines Alltags durcheinanderbringen? Oder ist er einfach zu schüchtern?

Polt radelt wieder. Foto: © F. Enzmann, mit freundlicher Genehmigung der Initiative Pulkautal

Polt ist nicht schüchtern. Er sucht ja oft und unbefangen die Nähe zu Frauen, wenn es sich ergibt. Die Frauen im Dorf sind es auch, die ihm helfen, wenn er mit seiner klugen, aber einfach gestrickten Weltsicht wieder einmal nicht mehr weiterkann. Aber Polt muss seit jeher mit einer gewissen Distanz zur – von ihm so sehr geschätzten – Dorfgemeinschaft leben. Er ist das einzige Kind eines Weinbauern, der Hab und Gut verkaufen musste, und einer Mutter, bei der man sich nicht einmal die Mühe macht, schlecht über sie zu reden. Familien, die es nicht fertig bringen, wenigstens den äußeren Schein zu wahren, gehören im Dorf nur am Rande dazu, werden gering geachtet.

Als Gendarm ist Polt dann zwar mit einer gewissen Autorität ausgestattet, doch auch die ist nur eine obrigkeitliche Leihgabe und hat den üblen Geruch der Willkür an sich. Polt hat also genug damit zu tun, sich als aufrechter, aufrichtiger Mann zu beweisen, der wenigstens versucht, seinen Beruf anständig auszuüben. Das tut er unverdrossen, tapfer und oft genug im Zwiespalt mit sich selbst. Einer wie er, ist Polt zutiefst überzeugt, sollte den Frauen als Partner besser erspart bleiben. Also richtet er es sich behaglich ein in seinem Junggesellen-Leben. Das gelingt ihm so gut, dass er an seiner Eignung zur Zweisamkeit auch dann noch zweifelt, als Karin Walter immer wichtiger in seinem Leben wird. Eines Tages zwingt ihn dann sein Beruf in einen bösen Streit mit der Lehrerin, und das bestätigt seine Befürchtungen.

Später dann tritt mit Karin Walter doch noch eine Frau in Polts Leben. Ist sie, die zielstrebige, moderne, offene Frau, die ideale Ergänzung zum oft zögerlichen, zurückhaltenden Polt? Oder ist sie – auch eine Art von Außenseiterin im Dorf, unangepasst und eigensinnig – eher eine Seelenverwandte?

Natürlich sind beide dörfliche Sondererscheinungen, haben also zumindest etwas gemeinsam. Auch spüren, ahnen, wissen beide, dass sie bei aller Verschiedenheit verblüffend gut zusammen und ineinander passen – so wie zwei Teile eines Puzzles. Andererseits weiß Polt sehr gut, dass es um zwei Lebenswelten geht, die nicht allzu viele Berührungspunkte miteinander haben, dass er für intensiv und alltäglich gelebte Zweisamkeit wenig Begabung mitbringt und Karin Walter seiner schlicht möblierten Welt irgendwann überdrüssig werden könnte. Aber Polt ist, wie viele Männer, auch ein großes Kind und darf hoffen, dass die Lehrerin Karin Walter nie aufhören wird, diesen Umstand pädagogisch reizvoll zu finden.

Von Roman zu Roman wird die Liaison zwischen Simon Polt und Karin Walter ein wenig enger – wenn auch in kleinen, sehr vorsichtigen Schritten. Was ändert sich dadurch für Simon Polt? Und wie verändert er sich selbst?

Simon Polt entdeckt neue Farben, Konturen, Bilder in sich, die ihn verwirren und betören, die ihm aber auch Angst machen. Bisher kannte er sich recht gut aus in sich und in der Welt um ihn, fand sich auch mit geschlossenen Augen zurecht. Jetzt ist er sich selbst zu einem Rätsel geworden, das er nicht lösen kann und nicht lösen will, oder zu einem Wunder, an das er kaum zu glauben wagt. Andererseits erfährt er zum ersten Mal in seinem Leben, dass er für jemanden wichtiger ist als alles andere auf der Welt. Das versteht er zwar nicht, aber er nimmt zur Kenntnis, dass er in irgendeiner Weise wertvoll und beachtenswert sein muss. Das macht ihn selbstbewusster und sicherer.

Manchmal wirkt Simon Polt ein bisschen aus der Zeit gefallen; einen „altmodischen Menschen“ nennt ihn Karin einmal. Hat sie recht damit?

Ein bisschen? Polt ist ein Fossil, von einer erschreckend rasch schwindenden Gruppe weiterer Fossilien umgeben. Er ist in einer festgefügten Welt aufgewachsen: das Dorf als Schicksalsgemeinschaft mit strengen, aber auch beruhigend verlässlichen Regeln, die Kellergasse als Arbeitswelt, die auch eine trunkene Gegenwelt zur dörflichen Ordnung ist – aber auch hier ist nicht alles erlaubt. Über Jahrzehnte hinweg hat sich dieser Lebensraum – nicht zuletzt durch den Mangel an Perspektiven im stillen, allzu stillen Land an der Grenze – kaum merklich geändert. Seit ein paar Jahren ist der Fortschritt nicht mehr aufzuhalten. Aber Polt weigert sich stur, mit der Zeit zu gehen. Möge die Zeit doch gefälligst mit ihm gehen.

Wenn Sie Simon Polt in ein paar Stichwörtern charakterisieren sollten – wie würde so ein Porträt aussehen?

Gutmütig und harmoniebedürftig bis an die Grenze zur Dummheit. Gefährlich, mutig und nicht mehr aufzuhalten, wenn er sich einmal dazu entschlossen hat, mit aller Kraft und Zähigkeit zu tun, was getan werden muss. Wenn er jemanden mag, schätzt oder gar liebgewinnt, bleibt er dabei, auch wenn es schwierig werden sollte. Ablehnung, Verachtung oder gar Feinschaft spricht er offen aus. Isst und trinkt und liebt fürs Leben gerne. Ruht in sich selbst, und es ist klüger, daran nicht zu rühren.

Meister des „Dazwischen-Seins”: Joseph Zoderer wird 80

Foto: © Max Lautenschläger

Der wohl bekannteste Autor Südtirols feierte am 25.11.2015 seinen 80. Geburtstag und bekam zu diesem Anlass die Ehrenbürgerschaft der Stadt Meran überreicht.

In seinem über 40-jährigen Schaffen erhielt Joseph Zoderer zahlreiche Ehrungen und Preise für seinen literarischen Verdienst, wie den Hermann-Lenz-Preis und den Walther-von-der-Vogelweide-Literaturpreis. Auch die Verfilmung seines bekanntesten Werkes „Die Walsche“ wurde mit dem Preis der Confédération Internationale des Cinémas d’Art et d’Essai beim Filmfestival von Locarno und dem Fernsehpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichnet.

Joseph Zoderer und seine literarischen Texte stehen in einer engen persönlichen Verbindung mit dem Leben des Autors, der ein Meister darin ist, aus biografischem Material zu schöpfen, dieses dann aber in Erzählkunst zu verwandeln, in der die Entstehungsgeschichte keine Rolle mehr spielt.

In „Das Glück beim Händewaschen“, einem seiner ersten Romane, wird die Jugend des gebürtigen Meraners aufgearbeitet. Die Eltern, sowohl Zoderers als auch die des Protagonisten, verließen Südtirol zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und lebten bis Kriegsende in Graz. Prägendes Erlebnis war der Besuch eines Schweizer Gymnasiums, in dem Disziplin und Schweigsamkeit eiserne Regeln waren. Rückblickend empfindet Joseph Zoderer die Striktheit des Internats allerdings als eine Vorbereitung für das Schreiben, das ebenfalls ein hohes Maß an Disziplin erfordert.

Beim Schreiben schöpft Joseph Zoderer oft aus seinem Leben und seinen Erfahrungen, so entstand auch das Werk „Das Schildkrötenfest“ aus den 20 Jahre alten Tagebüchern des Autors, in denen er seine Reise durch San Francisco, Santa Cruz und Mexiko dokumentierte.

Joseph Zoderer bezeichnet sich selbst als „deutschsprachigen Autor mit österreichischer kultureller Prägung und italienischem Pass“ – diese Selbstbezeichnung illustriert treffend seine Beziehung zu den für ihn fragilen und ständig in Auslotung begriffenen Konzepten von Heimat und Identität – eine sehr persönliche Thematik, die sich in seinen Werken widerspiegelt und dadurch die Person Joseph Zoderer zwischen den Zeilen seiner Texte immer wieder durchscheinen lässt.

Sowohl sein literarisches Schaffen als auch er selbst zeichnen sich durch ein „Dazwischen-sein“ aus – zwischen Kulturen, Identitäten, irgendwo zwischen Fremdheit und Heimat, zwischen der gelernten Disziplin beim Schreiben und dem Drang auszubrechen. Letzteres zeigt sich in den vielen Reisen des Autors – nach China, Amerika, Frankreich, Griechenland.

Am 24. März diesen Jahres wurde der erste Band seiner Werkausgabe im Brenner-Archiv präsentiert: „Dauerhaftes Morgenrot”. Im Rahmen der Werkausgabe werden die Romane, Erzählungen und Gedichte in Einzelbänden neu aufgelegt und durch Nachworte sowie zusätzliche Materialien aus dem Vorlass Joseph Zoderers ergänzt.

In Kärnten fällt die Sonne vom Himmel, ein tibetischer Mönch fällt vom Gebetspfad, beim Villacher Fasching fallen alle Hüllen – und ein toter Ex-Häftling fällt für die Behörden kaum ins Gewicht.

Die Krimis um Ernesto Valenti von Kärnten-Insider Wilhelm Kuehs

Österreich gebiert nicht nur große Töchter und Söhne, sondern auch wunderbar abgründige Kriminalromane. Wilhelm Kuehs, Kärntner Autor und langjähriger Journalist, beschäftigt sich in den seinen unter anderem mit einer weiteren österreichischen Spezialität: der Korruption, oft einhergehend mit diversen Freunderlwirtschaften und Buberlpartien – gerade im schönen Kärnten. Als Berichterstatter besuchte Wilhelm Kuehs Gemeinderäte, Zeltfeste und Bürgerversammlungen und lernte so zu verstehen, wie sein Land tickt, wo vertuscht, wo sich bereichert und wo ausgegrenzt wird. In seinen Kärnten-Krimis lässt er tief in die Seele des Landes blicken.

Ermittler Ernesto Valenti, ebenso wie sein Schöpfer Journalist, arbeitet für die Kärntner Tagespost und ist ein überaus kritischer Kopf, der sich nicht mit leeren Phrasen und zurechtgebastelten Erklärungen abspeisen lässt – schon gar nicht von zweifelhaften Regionalpolitikern. Valenti ist einer von den Guten, und damit ist er in den Kreisen, in denen er sich beruflich bewegt, ein Querulant und nicht überall gern gesehen. Durch seinen Beruf ist er auf Du und Du mit den „üblichen Verdächtigen“, den wichtigsten Köpfen aus Politik, Wirtschaft und Unterwelt – und geübt darin, unter die Oberfläche unserer Gesellschaft und mitten in deren Abgründe einzutauchen.

Der Blick vom Lingkor des Heinrich Harrer Museums. Hier tun sich Abgründe auf. Foto: © Wikimedia Commons

In seinem ersten FallDer letzte Rock hat keine Taschen“ stürzt im Hüttenberger Tibet-Zentrum ein buddhistischer Mönch in den Tod. Der Pressesprecher des Landeshauptmanns ist erpicht darauf, den Todesfall schnell als Unfall abzutun und nur ja kein großes Aufheben zu riskieren. Das macht Ernesto misstrauisch – er beginnt, Nachforschungen anzustellen. Offensichtlich ist man in Sorge, dass die gute Beziehung zum Dalai Lama und damit die Errichtung einer Tibet-Universität in Hüttenberg durch den Tod des Mönchs vor dem Aus stehen könnte. Und von dieser Tibet-Uni hätten offenbar so einige profitiert … Was offiziell als Versuch dargestellt wird, die Wirtschaft in einem aussterbenden Ort anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen, entpuppt sich schnell als perfide Strategie, Geld und Prestige unter einigen wenigen aufzuteilen und sich zu bereichern – natürlich in Hinterzimmern und bei geschlossenen Türen.

In Ernestos zweitem Fall, „Wer zuletzt lacht“, gibt der Villacher Bürgermeister während einem Faschingsempfang den Löffel ab: Er kippt in seinen Teller mit Heringssalat und stirbt. Ein skurriler Tod, findet Ernesto, und tippt auf einen Giftmord. Die Polizei schießt sich schnell auf einen Verdächtigen ein, doch Ernesto ermittelt weiter – und stößt auf seltsame Verbindungen. Weshalb hat der Bürgermeister derart vehement gegen einen Bordellbesitzer gekämpft? Inwiefern stehen die Herren der Faschingsgilde mit ebenjenem in Verbindung? Ernesto erkennt: Die Faschingsgilde ist alles andere als ein lustiger Verein, vielmehr eine Vereinigung von Männern, die unter dem Deckmäntelchen ihrer Narrenkappen die Macht im Land an sich reißen. Dass sie ganz nebenbei wilde Orgien feiern und auch Menschenhandel und brutale Ausbeutung von wehrlosen Prostituierten kein Problem darstellen, schockiert selbst den mit vielen Wassern gewaschenen Ernesto.

Kaum hat er die Hintergründe des bürgermeisterlichen Ablebens aufgeklärt, stolpert Ernesto in seinen brisanten dritten Fall. In „Mein letzter Wille geschehe“ wird er von einem ehemaligen Häftling aufgesucht. Der wegen Mordes an seiner Ehefrau verurteilte Friedrich Schatz wurde nach mehreren Jahren Haft entlassen und bittet Ernesto, seine Unschuld zu beweisen. Ernesto zweifelt zunächst an Schatz’ Geschichte, beschließt dann aber doch, der Sache nachzugehen. Plötzlich wird sein Auftraggeber tot aufgefunden: erschossen auf Schloss Waldenstein, an der Wand eine rätselhafte Botschaft …

Valenti recherchiert im Umfeld des Verstorbenen: Zusammen mit anderen arbeitslosen Menschen hat man Friedrich Schatz die alte Volksschule Waldenstein am Ortsrand von Wolfsberg verbannt. Bei Ermittlungen tauchen Notizhefte von Schatz auf, die angesehene Lokalpolitiker schwer belasten:  „Soziales Gewissen“ schaut anders aus. Schmerzlich wird Ernesto bewusst, wie stark die Mechanismen der Ausgrenzung auch im Kleinen, am Käntner Land, funktionieren. Mit scharfem Blick zeigt Wilhelm Kuehs, was ebendiese Mechanismen mit dem Individuum anstellen und wohin die so entstehende Ohnmacht führen kann.

Wirtschaftskriminalität und politische Ignoranz in a nutshell: Am Beispiel von Kärnten rechnet Wilhelm Kuehs schonungslos ab mit einer korrupten politischen Kaste, die stets nur gute Wahlergebnisse und den eigenen Vorteil anstrebt – und dabei das eigene Land ohne jeden Skrupel ausplündert. In seinen Kriminalromanen wird das Bundesland zum Modellfall für den Niedergang von Politik und Gesellschaft. Was in seinem fiktiven Kärnten geschieht, kann man ebenso gut auf ganz Österreich, ja, auf ganz Europa umlegen.

Angesiedelt dort, wo laut Kärntner Hymne „Mannesmut und Frauentreu’ / Die Heimat sich erstritt aufs neu’ / Wo man mit Blut die Grenze schrieb / Und frei in Not und Tod verblieb“, schafft Wilhelm Kuehs Szenarien, die so erschreckend sind, dass man kaum glauben mag, dass Ähnliches auch in der Realität vor sich geht. Doch Medienberichte, wie etwa kürzlich die Berichterstattung über das „Erotikhotel Wellcum“ im Gailtal, zeigen:

Genau so könnte es passiert sein. Und genau so passiert es. Tag für Tag. In Kärnten. In Österreich. Überall.

Zart, aber hart: Valerie „Veilchen” Mauser im Porträt

Das heiß ersehnte Erscheinen von Joe Fischlers fünftem Veilchen-Krimi „Veilchens Show” haben wir zum Anlass genommen, uns das vielleicht beliebteste Ermittlerduo der Alpen einmal genauer anzusehen: Valerie „Veilchen“ Mauser und Manfred Stolwerk.

Thrill in Innsbruck

Wer denkt, im „Heiligen Land Tirol” geht alles besinnlich und mit rechten Dingen zu, der hat sich geirrt! Man sollte sich nicht vom malerisch beschriebenen Patscherkofelidyll oder der atmosphärischen Altstadt ums Goldene Dachl täuschen lassen, denn in dunklen Gassen wird hier Lösegeld übergeben, in eisiger Kälte wird beschattet – und zwischendurch wird auch mal ein Graukäs gegessen.

Ein Ermittlerduo mit Persönlichkeit und Wiedererkennungswert

Thrill und Unterhaltung pur mit Joe Fischlers Veilchen-Krimis! Foto: © Watzek Photografie

Joe Fischlers Debütroman Veilchens Winter ist nicht nur eine charmante Hommage an seine Heimatstadt Innsbruck, sondern auch ein unterhaltsamer und temporeicher Krimi. Die entführte Tochter eines Oligarchen und dessen fragwürdige Verbindung zum Landeshauptmann bringen den Stein für Valerie „Veilchen“ Mauser ins Rollen. Gerade erst von der Wiener Kripo als Leiterin der Abteilung Leib und Leben ans LKA gewechselt, schon befindet sie sich mitten in einem Netz aus Freunderlwirtschaft, Intrigen, Luxushotels und permanentem Unterzucker. Da muss sie natürlich nicht alleine durch – ihr ehemaliger Partner und jetzt Sicherheitsbeauftragter Manfred Stolwerk lässt es sich nicht nehmen, seinem Veilchen, für diesen Spitznamen ist er verantwortlich, mit Rat und Tat und dem einen oder anderen Anti-Witz zur Seite zu stehen. Ihr Spitzname, bei dem man zuerst an fragile, kleine lila Blumen denken mag, rührt übrigens daher, dass Valerie besagte Blume schön öfter ums Auge getragen hat.

Charme und Spürsinn im Doppelpack

Die Neo-Tirolerin, die anfangs noch auf kulturelle Barrieren stößt, wie zum Beispiel richtige Anrede („Sie“? Vorname oder doch Nachname? Oder„du“ und Nachname?), mag zwar manchmal etwas durch den Wind wirken, der unkontrollierbare hellbrünette Afro hilft da auch nicht, sie ist aber nichtsdestotrotz eine ausgezeichnete Kriminalbeamtin. Zusammen mit dem etwas fülligeren Stolwerk, der jederzeit einen Kaiserschmarren einer schönen Frau vorziehen würde – also eine passende Namensverwandtschaft mit dem gleichnamigen Karamell-Kauzuckerl – bildet sie ein überaus sympathisches und zutiefst menschliches Ermittlerduo. Sie ergänzen einander, und vor allem das Zusammenspiel der beiden Protagonisten ist es, was den Veilchen-Krimis ihren besonderen Charme gibt. Sei es Veilchens kleine Souffleuse, die sie ständig dazu auffordert, Dinge zu sagen, die man sich nur denken sollte, oder Stolwerks markanter Lieblingspullover, der gleich in mehrfacher Ausführung gekauft wurde; diese Marotten machen Stolwerk und Veilchen zu etwas Besonderem.

Steckbrief Valerie „Veilchen” Mauser

Spitzname: Veilchen

Geburtsdatum: 03.01.1973

Geburtsort: Wien

Größe: 170 cm

Größe mit Haaren: 183 cm

Haarfarbe: Blond

Augenfarbe: Grün

Besondere Merkmale: Afro-Frisur

Wohn- und Dienstort: Innsbruck

Polizeiliche Funktion: Leiterin EB 01 Leib/Leben am LKA Tirol

Vater: Staatsanwalt Doktor Hartmut Mauser, geboren am 18.05.1940 in Innsbruck, verstorben am 03.12.1986 in Wien

Mutter: Pauline Mauser, geboren am 10.08.1947 in Wien, Pensionistin

Kinder: Eine Tochter, geboren und zur anonymen Adoption freigegeben am 04.12.1991, Name und Aufenthalt unbekannt

Für alle, deren Spürsinn nun geweckt ist und die selbst Ermittlungen zu den Büchern anstellen wollen, führt hier eine heiße Spur zum ersten Abenteuer mit Valerie und Stolwerk und so manch ein Indiz unter diesem Link führt zu Valerie „Veilchen” Mausers neuestem Fall!