Kategorie: Allgemein

Eine Liebe, allen Hindernissen zum Trotz, festgehalten für die Ewigkeit

Eine Vielzahl an Briefen, jahrzehntelang auf einem Dachboden vergessen. Der Inhalt: voller Sehnsucht, Frustrationen, Alltagserlebnisse, Berichte und Liebesbekundungen. Die Verfasser: zwei Männer im England der 40er-Jahre, der eine Student, der andere Professor der Philosophie.

Ludwig Wittgenstein gilt als einer der führenden Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die Überlegungen in seinem Werk „Tractatus logico-philosophicus“ haben die Geschichte der modernen Philosophie grundlegend verändert.
Ben Richards war Student der Medizin an der Universität in Cambridge.

Was die beiden verbindet?
Eine innige Beziehung, festgehalten in mehr als 370 Briefen. Der Altersunterschied von 35 Jahren und die Ablehnung der Gesellschaft gegenüber homosexuellen Beziehungen rücken in den Hintergrund. Stattdessen erzählen die Briefe von den Leben zweier Männer, ihren Ängsten, Zukunftsträumen und einer tiefen Verbundenheit miteinander. Ergänzt durch Abbildungen beigelegter, getrockneter Pflanzen, Fotografien und Zeichnungen werden die Worte lebendig, lassen uns spüren, welche Zuneigung Wittgenstein und Richards füreinander empfinden.

Aus dem Englischen übersetzt, geben die Briefe einen erstmaligen, bisher unbekannten Einblick in diesen Teil des Privatlebens von Ludwig Wittgenstein und zeigen ihn von einer neuen Seite: als Liebenden und Geliebten, geplagt von Verlustängsten, Einsamkeit und dem Wunsch, alles mit Richards teilen zu wollen – bis zum letzten Brief kurz vor seinem Tod im April 1951.

>>I think of you constantly with love …<< Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards 1946-1951, herausgegeben und übersetzt von Alfred Schmidt

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 31.8.1946

2, Cwmdonkin Terrace
Swansea
31.8.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief! Du sagst, Du bist sehr geneigt, gedankenlos zu sein. Ich nehme an, das ist so. Aber ob das allein erklärt, dass Du mir einen Monat lang nicht geschrieben hast, obwohl Du wusstest, was Du wusstest – ich werde es nicht sagen. – Bitte urteile selbst. Du kannst es besser als ich. – Wenn Du nach Swansea kommst, möchte ich, dass Du eine gute Zeit hast. Und Du weißt natürlich, dass eine gute Zeit mit uns (egal ob wir ernst sind oder nur herumalbern) ganz auf der Tiefe und Wärme unserer Beziehung beruht. Wenn sie da ist, dann kann ich Dir eine gute Zeit versprechen. Wenn nicht, komm nicht. Wie auch immer – Gott segne Dich! Mögest Du im Laufe der Zeit ein bisschen weniger gedankenlos, weniger egoistisch, freundlicher und zuverlässiger werden. Und bitte vergib mir, wenn ich Dich verletzt habe, indem ich selbst dumm und gemein war!
Lass mich wissen, ob und wann Du kommst.
In Liebe, wie immer
Ludwig

Bitte lies diesen Brief noch einmal langsam durch. In Liebe Ludwig
Gott segne Dich! Noch einmal.

Ben Richards an Ludwig Wittgenstein, 1.9.1946

GREENOGE
40, SWAKELEYS ROAD
ICKENHAM
UXBRIDGE
RUISLIP 2114
1. September 1946

Lieber Ludwig,
ich hoffe, es geht Dir sehr gut und Du bist glücklich. Ich habe gerade zwei weitere Briefe von Dir bekommen, die aus Norwegen nachgeschickt wurden; einer datiert mit 3. August und mit etwas Minze, die
immer noch ziemlich stark riecht, und eine Postkarte vom 2. Juli vom Swansea Civic Center (das Du mir sicherlich unbedingt zeigen willst), die zuerst nach Langdale geschickt wurde, dann zum King’s College,
dann nach Ickenham, dann nach Turtagrö, dann zurück nach Ickenham und schließlich runter nach Cornwall. Ich habe mich sehr über beide gefreut – vielen Dank!
Das Wetter in Cornwall ist immer noch so schlecht wie zuvor. Am Dienstagabend wurden sieben von acht Dutzend Hummerfangkörben in einem Sturm zertrümmert, der auch die meisten unserer Zelte umgeweht hat. Am nächsten Tag haben wir alle unsere Campingsachen in Mr. Michells Scheune gebracht und Platz für alle gefunden, um drinnen zu schlafen. Einigen anderen Campern wurde in derselben Nacht zum zweiten Mal in drei Wochen die Zeltstange gebrochen, und sie haben aufgegeben und sind am Donnerstag nach Hause gefahren. Ich fahre jetzt für eine Woche nach Skye, wo es normalerweise ziemlich nass ist.
Ich hoffe, wir sehen uns am 12. Kannst Du mich bitte wissen lassen, welche Züge Du mir empfiehlst und was Deine Pläne sind? Ich kann den Schubert wieder mitbringen, und ich möchte mit Dir und allein etwas lesen und lange Spaziergänge machen. Kannst Du William James’ Buch noch einmal bekommen oder hast Du Vorschläge für Bücher, die ich mitbringen könnte?
Immer in Liebe,
Ben

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 6.9.1946

2 Cwmdonkin Terrace
Swansea
6.9.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief aus Uxbridge. Es tut mir sehr leid, dass Du in Cornwall so ein Pech mit dem Wetter hattest. Natürlich war es auch hier schlimm, nur hatte ich ein festes Dach über dem Kopf. Leider habe ich Dir am Sonntag, den 1., einen Brief nach Cornwall geschickt, der Dich nicht erreicht haben kann und vielleicht wieder auf eine wilde Gänsejagd geschickt wird. Das ist bedauerlich, denn der Brief war mir wichtig. Ich meinte jedes Wort, das ich schrieb, sehr ernst. Eine Sache, die ich geschrieben habe, möchte ich hier wiederholen, falls Du den Brief nicht erhältst. Ich sagte, ich möchte, dass Du eine wirklich gute Zeit hast, wenn Du nach Swansea kommst, und dass, wie Du weißt, eine gute Zeit für uns auf der Tiefe und auf der Wärme unserer Beziehung beruht; dass, wenn sie da sind, wir eine gute Zeit haben werden, wenn aber nicht, Du nicht kommen solltest; und dass, wie auch immer Du fühlst, Gott Dich segnen möge! Wenn Du am 12. kommst, ist es wunderbar. Dein bester Zug, denke ich, ist der 13:55 Uhr aus Paddington (vergewissere Dich aber). Er kommt hier gegen 19 Uhr an und ich werde am Bahnhof sein. – Ich habe keine psychologischen Bücher hier. Tatsächlich denke ich, es wäre vielleicht besser, wenn ich jetzt keine Psychologie mit Dir lese, weil mein Gehirn oft sehr müde ist. Ich habe ziemlich viel gearbeitet und tue es immer noch und ich muss mich vielleicht entspannen. Ich würde gerne Tolstoi mit Dir lesen, sagen wir „Hadschi Murat“ oder „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Könntest Du es mitbringen? (Und, wenn Du möchtest, auch etwas Psychologie, nur für den Fall?) Mein Geist fühlt sich, wie gesagt, manchmal etwas erschöpft an und ich werde viel von Deiner Nachsicht, Geduld und Freundlichkeit brauchen.
Lass mich wissen, ob Du kommst und, wenn ja, wann. Telegrafiere einfach. – Sollte ich aus unvorhergesehenen Gründen daran gehindert werden, Dich vom Zug abzuholen, nimm bitte am Bahnhof den Bus Nr. 74 (alle zeigen Dir, wo er hält) und sag dem Schaffner, dass Du an der Haltestelle „Uplands“ aussteigen möchtest. Von dort sind es 2 bis 3 Minuten zu Fuß (und jeder wird Dir den Weg weisen).
Nochmals: Gott segne Dich. Ich denke immer in Liebe an Dich.
Ludwig

Das Wetter war die letzten zwei Tage besser. Nicht weit von Swansea gibt es einen Ort, an dem viele Pferde und Fohlen grasen. Die Fohlen sind lieb und so zahm, dass man ihnen nahe kommen und sie streicheln
kann usw. Neulich, als ich mit einem von ihnen sprach, habe ich bemerkt, dass ich dieselben Worte verwende, die ich oft benutze, wenn ich mit Dir spreche. Das ist eine Tatsache, in Liebe Ludwig

Podiumsdiskussion: „Queere Sichtbarkeit – Trendiges Nice-to-have oder Ausdruck gesellschaftspolitischer Wertedebatten?“

Im Rahmen der Leipziger Buchmesse diskutierten Verlagsleiterin Katharina Schaller, Netzwerker der Queer Media Society Alexander Graeff und Lektor Christian Lütjens mit Kabarettistin und YouTuberin Teresa Reichl über queere Sichtbarkeit in den deutschsprachigen Verlagsprogrammen. Hier ein Auszug aus der Paneldiskussion:

Teresa: Mein erster Gedanke, als ich den Titel dieses Panels gelesen habe, war: Was glaubt ihr denn, woher kommt der Gedanke, dass das alles ein Trend sein könnte, wenn’s das doch schon seit immer gibt?

Christian: Ich glaube, Alexander kann am besten anfangen, weil wir uns ein bisschen auch aufgehängt haben an dem Erfolg von Kim de l’Horizon letztes Jahr mit „Blutbuch“ und dem Deutschen Buchpreis. Das wurde ein bisschen auch so verkauft, als ob jetzt auf einmal große Verlage – es war der Dumont Verlag, das ist ein großer Mainstream-Verlag – queere Stoffe entdecken würden, was natürlich Unsinn ist.

Teresa (zum Publikum): Komplettes Novum, es gibt nicht-binäre Menschen, habt’s ihr das gewusst?

Alexander: So haben sie’s aber in den Medien auch dargestellt. So als hätten sie jetzt die nicht-binäre, queere Literatur erfunden. Da haben wir dieses Trend-Problem, dass große Verlage jetzt aufspringen, wo sie merken, dass die Leser*innennachfrage steigt, was queere Literatur anbelangt – vor allem im Jugendbuch-Bereich. Die [großen Verlage] wollen halt jetzt ein Stück vom Kuchen abhaben und machen damit aber wiederum Independent-Verlage, die seit Jahrzehnten eben in diesem Feld tätig sind und auch diese Kämpfe leisten – die Autor*innen und auch die Verleger*innen – unsichtbar. Also nicht nur im ökonomischen Sinne, auch in einem symbolischen Sinne, im kulturellen Sinne, werden die unsichtbar gemacht.

Katharina: Ich glaub auch, dass das ein grundsätzliches Thema ist, das die Literaturbranche ja immer wieder diskutiert. Also bei allem, wo Verlage merken, dass sie Geld machen können, steigen sie mit ein. Seien das jetzt rassismuskritische Literatur oder queere Literatur, also alles wo sie das Gefühl haben, das könnte jetzt kurzzeitig ein Trend werden, versuchen sie natürlich, die Hand drauf zu legen und deshalb kommt es auch immer wieder auf, ob das ein Trend ist oder nicht.

Teresa: Queere Literatur kann natürlich alles sein – angefangen von den Themen bis hin zu den Leute, die sie schreiben. Und vor allem da ist ja das Defizit da. Es ist halt, finde ich zumindest, gefährlich, wenn dann Leute, die gar keine Ahnung haben und die selber gar nicht queer sind, anfangen, queere Literatur schreiben zu wollen. Weil dann kommen wir wieder in Stereotype rein, die wir eh schon alle kennen und die es wirklich nicht mehr braucht. Was kann man denn da tun, als Verlagsmensch, als Pressesprecher*in, als Netzwerker*in?

Christian: Also man kann einfach dazu beitragen, dass queere Menschen, die schreiben und bereit sind, ihre Geschichten zu erzählen, sichtbar gemacht werden. Das ist ja erstmal auch noch ein Schritt, die queere Sozialisation zu erleben, da gibt’s ja wirklich sehr unterschiedliche Biographien. […] Das mit dem Trend ist ja auch ein bisschen ambivalent, man muss jetzt sagen, dass „Blutbuch“ ein großer Erfolg war und deswegen ist das Queer-Thema in die Debatte gekommen, aber es gab ja vorher schon Ocean Vuong und Bryan Washington, das waren ja erfolgreiche Bücher, die auch im Feuilleton besprochen wurden. Das Ding ist nur, dass oft das Queere dann nicht so benannt wird. Es wird so ein bisschen umgangen, genau wie es mit Sexualität generell oft ist in der allgemeinen Debatte. In der Geschichte, in der wir uns als Verlag befinden, dadurch, dass wir aus der queeren Bewegung kommen und immer queere Autor*innen und Stoffe verlegt haben, muss man immer aufpassen, dass diese Schieflage nicht reinkommt, dass eben diese Sicht von außen aufgrund eines Trends überhandnimmt. Also, die Aufgabe wäre: queere Menschen zu Wort kommen zu lassen, denen Sichtbarkeit und eine Stimme zu geben als Autor*innen.

Teresa: Wie würdest du denn das machen im Verlag, Katharina, wenn ein Hans-Peter Müller kommt, der ein Buch geschrieben hat und da sind sehr stereotype Dinge drin und dann stehst du da als Lektorin und sagst „Naaa ugh“?

Katharina: Als Verlagsleiterin ist das Schöne natürlich, dass ich das Buch gar nicht annehmen würde. Aber man hat ja nicht immer die Chance, auch als Lektor*in, sich gegen die Bücher aufzulehnen, die in einem Verlag veröffentlicht werden. Aber bei uns im Haymon Verlag ist es schon so, dass wir sehr daran arbeiten, das Verlagsprogramm zu diversifizieren, in jeder Hinsicht, und auch bei unseren Büchern, die wir dann machen, Sensitivity Readings durchführen zu lassen, also uns wirklich dafür einzusetzen, das entsprechend auf den Markt zu bringen. Das Wichtigste ist, glaube ich auch, wie du jetzt gesagt hast, die Sichtbarkeit der Autor*innen zu gewährleisten, sich die Geschichten zu suchen. Man spürt ja auch bei diesen Geschichten, dass das ganz andere Perspektiven sind, dass da ganz was anderes reinkommt, und ganz andere Lebensrealitäten drin stecken, als wenn Hans-Peter Müller versucht, eine queere Geschichte zu erzählen.

Teresa: Ganz kurz als Erklärung: Sensitivity Readings werden außerhalb vom Verlag gemacht. Es gibt extra Agenturen, die das anbieten. Da wird über den Text, wenn der fertig ist und bevor der rauskommt, nochmal drüber gelesen von Leuten, die von verschiedenen Diskriminierungen betroffen sind und die Expert*innen sind. Die schauen dann nochmal, wo etwas unsensibel ausgedrückt ist. In meinem Manuskript habe ich zum Beispiel ein paar Mal African-American Language benutzt und hab das einfach nicht gewusst, weil das in der Pop-Kultur so drin ist. Dann schauen die da nochmal drüber, damit jede Person dieses Buch lesen kann, ohne verletzt zu werden, was ein Wahnsinns-Konzept ist – mega geil!

Alexander: Stichwort Sensitivity: ich würde nicht so weit gehen, dass man vielleicht einem Hans auch nicht zutrauen kann, dass er queere Figuren baut, die sensitiv oder sensibel mit Verletzungen und queerer Geschichte umgehen […] Nein, ich würde nicht so weit gehen, ich würde das nicht kausal verketten, dass das per se so ist. Ein bi-sexueller Autor kann auch über Monosexualität schreiben, monosexuelle Figuren kreieren, wenn er es eben sensibel tut und wenn er sich damit beschäftigt. Und, da kommen wir wieder zum Trend, es nicht als einen Trend begreift. Da war mir jetzt wichtig, an der Stelle die Ambivalenz zwischen Stoff, Figur und Autor*innenschaft nochmal darzustellen.

Teresa: Da hast du voll Recht! Ich bin wahrscheinlich ein bissl voreingenommen gegen Hans-Peters. Das kann ich durchaus zugeben. Das ist mein großer Fehler.

Christian: Ich wollt auch schon sagen, wir wollen ja nicht Hans-Peter Müller diskriminieren, der kann ja auch ein ganz netter Kerl sein.

Teresa: Insgesamt, wenn es um Diskriminierung geht und auch wenn’s um queere Diskriminierungen geht, dann ist immer ganz viel die Rede von Repräsentation. Dass es eben wichtig ist, dass wir sichtbar gemacht werden, dass wir zu sehen sind und dass sich, ein so ein Stück weit hab ich zumindest das Gefühl, die Leute an uns gewöhnen und dann nicht mehr so reagieren: „Ahh, a gay!“ sondern es einfach irgendwie normal wird. Was ist denn der Sinn von Repräsentation, was bringt es denn in der Literatur?

Christian: […] Im Grunde ist der Auftrag queerer Literatur der gleiche, den Literatur generell hat: nämlich, dass die Leute sie als Zufluchtsort begreifen und als Erfahrungsraum, in den sie vielleicht selbst gar nicht reingucken können. Insofern hat das schon einen aufklärerischen Effekt, wenn queere Menschen ihre Geschichten erzählen und sich anhand eines Romans oder eines Memoirs oder Bildbänden da rantasten können. Das ist eine eigene [queere] Kultur, das muss man immer sagen, deswegen ist das mit dem Trend ja ganz falsch und ganz zynisch.

Katharina: Ich glaub auch, die Repräsentation ist am Ende wichtig, weil es die Literatur zur Aufgabe hat, ein Literaturverlag zur Aufgabe hat, die verschiedenen Teile der Gesellschaft abzubilden und denen eine Stimme zu geben. Und das funktioniert nur, wenn man nicht nur den weißen cis-hetero Männern, die vorherrschend sind – überall, aber auch in der Literatur und in den Büchern – eine Stimme gibt, sondern das sukzessive erweitert oder sich überhaupt als Verlag zur Gänze dafür einsetzt. Ich glaub nur, wir müssen aufpassen bei der Erwartung, dass queere Menschen, Schwarze Menschen, People of Color auch nur Literatur und Texte zu diesen Themen schreiben. Weiße cis-Männer sind die, die dazu befähigt sind, über alles zu schreiben, sich immer gesellschaftspolitisch, immer wertvoll, überall hineinversetzen zu können. Das spricht man anderen Autor*innen ganz selten zu und ich glaube, da müssen wir aufpassen.

Christian: Schön, das Positiv-Klischee.

Katharina: Genau!


 

 

„Queere Sichtbarkeit – Trendiges Nice-to-have oder Ausdruck gesellschaftspolitischer Wertedebatten?” Von links nach rechts: Alexander Graeff, Katharina Schaller, Christian Lütjens und Teresa Reichl.

 


Über die Mitwirkenden:

Teresa Reichl
Germanistin, Autorin, Kabarettistin, YouTuberin

Katharina Schaller
Verlagsleitung & Programmleiterin Haymon Verlag

Alexander Graeff
Autor, Literaturvermittler und QMS-Netzwerker

Christian Lütjens
Lektor und Pressesprecher der Salzgeber Buchverlage

„Weil ich vom zugleich berührenden und subversiven Potential der Lyrik zutiefst überzeugt bin.” – Barbara Hundegger im Interview

Pünktlich zum Erscheinen ihres Gedichtbandes [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ] und zu ihrem 60. Geburtstag haben wir mit der Autorin Barbara Hundegger über ihr politisches und gesellschaftskritisches literarisches Schaffen gesprochen. Im Interview erzählt sie uns, wie der Feminismus sie und ihre Arbeiten prägt, was sie an österreichischer Literatur fasziniert und wie Kunst im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen zugänglicher gemacht werden können.

Deine Lyrik zeichnet sich durch einen starken gesellschaftskritischen Zugang aus. In deinem neuen Gedichtband [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ] thematisierst du unter anderem die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Erinnerungen jüdischer Frauen, die als Kinder vor dem Holocaust fliehen mussten, den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche oder den Brenner-Basistunnel. Warum funktioniert für dich Lyrik so gut als literarische Gattung, um gesellschaftspolitische Themen kritisch zu beleuchten?

Weil ich vom zugleich berührenden und subversiven Potential der Lyrik zutiefst überzeugt bin. Die Lyrik ist ja eine der ältesten Künste der Menschheit, die sich über Jahrtausende gehalten hat: etwas zwischen Mensch und Lyrik muss also so gut klappen, dass wir so lange an ihr festgehalten haben. Die komplexe Wirkung oft nur weniger – gut gemachter! − Zeilen ist ja wirklich erstaunlich.

© Fotowerk Aichner

Mehr als um die Benennung gesellschaftlicher Missstände – das wäre ein zu banales lyrisches Unterfangen − geht es mir in meiner Arbeit aber um die Atmosphären, die dadurch erzeugt werden, und um die Ankunft dieser Umstände und Zustände im konkreten Leben von Menschen. Diese permanent vorhandenen gesellschaftspolitischen Vorgaben in mein Schreiben nicht miteinzubeziehen wäre für mich: literarische Ungenauigkeit. Und die Lyrik lebt ja auch davon, im Gesagten das Mitschwingende, die Unter- oder Nebentöne mit abzubilden – das allerdings nicht als ein bei Lyrik ganz gern aufgerufenes Nebulöses, sondern eben im Sinne von Genauigkeit.

Du engagierst dich seit Jahren für die autonome Frauenbewegung in Österreich, inwiefern ist das feministische Prinzip der Politisierung des Privaten für dein künstlerisches Schaffen ausschlaggebend?

Nicht (nur) dieses Prinzip, das ja den problematischen und dehnbaren Begriff des „Privaten“ enthält, der vom Patriarchat je nach eigener Interessenslage verwendet wird (z.B. scheint ja der männliche Körper ein Anrecht auf Privatheit zu haben, während der weibliche als öffentliches Gemeingut gehandhabt wird und das Patriarchat von dessen Kontrolle geradezu besessen ist), sondern der Feminismus insgesamt war lebensprägend für mich – auch im Sinne einer umfassenden „Gerechtigkeitsbewegung“: Die Verwüstung von Weiblichkeit durch das Patriarchat ist markerschütternd, die Gewalt von Männern gegen Frauen sowie gegen andere abgewertete Gesellschaftsgruppen ein abgekartetes brutalstes Herrschaftsinstrument, der unverhohlene Frauenhass auch im Netz sichtbares Zeichen der Vulgarität des Patriarchats, die Verteilung von Ressourcen, Macht, Geld usw. spricht eine eindeutige Sprache. Die Abwertung alles Weiblichen (da hilft auch Mutter-sein, Schön-sein, sexuelles Verfügbar-Sein nicht!) und alles Non-Binären, das nicht der primitiven Definition von Männlichkeit entspricht, ist eine Tiefenstruktur des Patriarchats. Wie Frauen angesichts dieser Lage nicht Feministinnen sein können, ist mir ein Rätsel.
Und über seine analytische und gesellschaftspolitische Kraft hinaus hat der Feminismus mir herzerwärmende individuelle und kollektive Erlebnisse und Abenteuer geschenkt: hochinteressante Debatten, lebensverändernde Begegnungen, mutige und witzige Aktionen, rauschende Feste − und tiefe Frauen-Freundschaften, die ein Leben lang gehalten haben und eine unglaubliche Bereicherung waren und sind.

Österreich ist dieses Jahr Gastland der Leipziger Buchmesse. Eine der bekanntesten Autorinnen Österreichs ist ganz sicher Elfriede Jelinek, der du dein Gedicht [ angst-partie ] widmest. Was fasziniert dich an Jelineks Werk und was macht für dich österreichische Literatur aus?

Jelinek ist eine Sprach-Göttin: wie keine andere bringt sie in ihren Textflächen ans grelle Licht, was in der Sprache steckt, sich in ihr versteckt! In jeder einzelnen Wendung, in jedem Wort, den Floskeln, den Parolen, den Slogans, den Alltagssprachen, Wissenschaftssprachen, Tätersprachen usw. Ihre Arbeiten sind einzigartig! Und in ihrer messerscharfen, verspielten, doppelbödigen usw. organischen Verbundenheit mit „Sprache an sich“ österreichisch in dem Sinn, dass eine der literarischen Traditionslinien österreichischer Literatur keine Berührungsängste mit dem sprachspielerischen Aspekt des Schreibens kennt und ihn nutzt. Das und den oft recht harmlos daherkommenden strizzi-artigen, abgründigen, schlampigen, mieselsüchtigen, entlarvenden, lavierenden, bitteren, bodenlosen Humor – das ist es, was ich an der österreichischen Literatur besonders schätze. Ich sage z.B. nur: „Der Herr Karl“. Oder: Sargnagel.

Du feierst dieses Jahr deinen 60. Geburtstag (Gratulation!) und veröffentlichst nun seit 25 Jahren vielfach ausgezeichnete Lyrik. Was würdest du Autor*innen mit auf den Weg geben, die gerade am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere stehen?

Das mit den Ratschlägen an nächste Generationen ist so eine Sache – denn jede Generation lebt unter anderen und sich ändernden Bedingungen, und das Nervende an vielen Ratschlägen von Altvorderen ist ja, dass sie mit alten Rastern und Bestecken auf neue Probleme zugreifen wollen, auch als eine Art Bestätigung für das Unvergängliche der eigenen, aber eben verglimmenden Lebensphilosophie. Diese Renitenz ist mir aus eigener Erfahrung noch zu gut in Erinnerung − und ich möchte nur ungern zu jenen Boomern gehören, die sich selbst bis zum letzten Atemzug für den Inbegriff von Coolness halten. Die Devise sollte deshalb wohl eher sein: was sagen, wenn man von den Jungen gefragt wird, aber sie mit ungefragten Zurufen tunlichst verschonen.

In ihrem Nachwort bezeichnet Daniela Strigl deine Gedichte als „Lyrikangst-Desensibilisierungstherapie“ und bewundert deine demokratische Sprachkunst, die trotz komplexer Inhalte niemanden ausschließt. Braucht es in unserer Gesellschaft generell einen inklusiveren und niederschwelligeren Zugang zu Kunst, und hättest du konkrete Ideen, wie man den Berührungsängsten mit Lyrik entgegenwirken könnte?

Ja, den Zugang braucht es auf alle Fälle – und weil ich aus sogenannten „kleinen Verhältnissen“ stamme und aus dem ganz und gar Unintellektuellen, weiß ich von daher, dass die Kunst in solchem Umfeld gar nicht als relevantes „Lebens-Mittel“ wahrgenommen und davon eine Bereicherung fürs eigene Sein erwartet wird. Und das liegt neben anderen Faktoren auch daran, dass diese Bevölkerungsgruppen so mit Existenziellem eingedeckt sind, dass sie für Kunst schlicht keinen Nerv mehr haben. Es liegt an den Künstlern und Künstlerinnen, ihren Themenentscheidungen und Bearbeitungsweisen, und aus welchen Soziotopen Künstler:innen kommen – denn man muss es sich zunehmend leisten können, Künstler:in überhaupt zu sein. Und es liegt am Kunstbetrieb, wo „niederschwellig“ mit minderer Qualität assoziiert wird.
Das gilt auch für die Lyrik: sie hat sich sehr in die Unzugänglichkeit verabschiedet – und davon nehme ich mich nicht aus. Die Randexistenz der Lyrik innerhalb des Literaturbetriebes hat sie sich zu einem gewissen Teil also auch selbst zuzuschreiben – verschärft dadurch, dass sie in unseren Breiten vom Monopol des Romans (der auch leichter zu rezensieren ist!) − erdrückt wird. In anderen Kulturen oder zu anderen Zeiten war die Lyrik aber: das höchste der Gefühle! Auch meine eigene Bereitschaft, mich durch sehr gut gemachte, sehr hochwertige Lyrik zu kämpfen, von der man ohne intertextuelles Wissen sehr wenig versteht, ist gesunken. Und ich habe deshalb innerhalb meiner eigenen Arbeit einen gewissen Schwenk in Richtung mehr Zugänglichkeit gemacht – z.B. bei meinem [ anich.atmosphären.atlas ] und auch beim aktuellen Buch.
Vielleicht müssen wir Lyriker:innen einfach wieder etwas verständlicher schreiben und uns anderen Themen widmen – denn verstanden zu werden ist kein Makel, verstanden werden ist auch schön.
Und vielleicht müssen wir uns solche Gedanken bald gar nicht mehr machen – wenn die KI uns atemberaubende Gedichte schreibt . . .

„… manchmal haben Frauen Angst vor beidem: vor der Gewalt, in der sie leben, und vor dem Urteil der anderen.” – Natalja Tschajkowska im Interview

Autorin Natalja Tschajkowska hat mit uns im Interview über ihren neuen Roman „All die Frauen, die das hier überleben” und über Gewalt in Beziehungen gesprochen.

Dein Roman beginnt am Grab von Martas verstorbenen Ehemann Maksym. Marta nimmt Beileidsbekundungen entgegen, was sie selbst aber im Innersten spürt, ist keine Trauer, sondern Erleichterung. Was bedeutet es für einen Menschen, die eigene persönliche Freiheit erst durch den Tod einer anderen Person zurückzuerlangen? Was leitest du daraus über zwischenmenschliche Abhängigkeit ab?

Bevor ich mit dem Schreiben dieses Romans begann, hatte ich mir genau so einen Anfang ausgedacht. Mit der Szene auf dem Friedhof wollte ich zeigen, wie müde und erschöpft ein Mensch durch das Leben mit jemandem, der einen missbraucht, sein kann. So erschöpft, dass im Herzen kein Mitgefühl und kein Schmerz mehr vorhanden sind. Da sind nur noch Leere und eine gewisse Erleichterung. Das zeigt, dass Frauen wie Marta im Allgemeinen vieles in der Beziehung nicht erfahren – keine Liebe, keine Fürsorge, keine Freude. Sie sind abhängig von der Stimmung ihres Mannes. Sie haben sich selbst verloren. Manchmal geschieht das ganz leise, Tag für Tag, und dann ist es zu spät. Und diese Szene ist wie eine Befreiung, aber ohne zu solchen Taten zu verleiten. Dies ist nur ein Buch, kein Handbuch, wie man aus einer missbräuchlichen Beziehung herauskommt.

Der Roman liest sich streckenweise wie ein Thriller – da gibt es diesen mysteriösen Tod und diese untergründige Spannung, die die Leser*innen durch das ganze Buch trägt. Wie lebensnah, wie realistisch ist dein Buch?

Grundsätzlich ist das Buch nur eine Fiktion, aber es wurde aufgrund von Beobachtungen von Menschen, die ich kenne, geschrieben. Leider haben viele dieser Frauen unter häuslicher Gewalt gelitten. Zum Beispiel ist die Szene, in der der Ohrring in Form eines Rings durch den Aufprall zusammengedrückt wird, wirklich passiert. Ich habe also viele Momente aus dem Leben von Frauen, die ich kenne, übernommen, natürlich mit ihrem Einverständnis.

 

© Volodymyr Tschajkowsky
Natalja Tschajkowska ist eine ukrainische Autorin. Sie hat mehrere Kurzgeschichten und Romane verfasst. Neben dem Schreiben arbeitet sie in der Kommunikationsbranche. Mit „All die Frauen, die das hier überleben“ erscheint das erste Mal eines ihrer Werke auf Deutsch.

Anhand der Geschichte von Marta und ihrem verstorbenen Mann Maksym sezierst du die vermeintlich unergründlichen Prozesse, die eine liebevolle Beziehung zur wahrhaften Hölle werden lassen. Eine Thematik, die in der Literatur kaum bis gar nicht behandelt wird. Was denkst du, woran liegt das?

Nach der Veröffentlichung des Romans bin ich erneut zu der Überzeugung gelangt, dass solche Literatur wirklich notwendig ist. Der Grund dafür ist einfach: Nicht jeder versteht die Tiefe des Schmerzes, der manchmal hoffnungslos ist, mit dem eine Frau konfrontiert wird. Man hört oft den Satz: „Warum ist sie nicht gegangen?”, aber manchmal haben Frauen Angst vor beidem: vor der Gewalt, in der sie leben, und vor dem Urteil der anderen. Und aus diesem Grund schweigen sie. Und aus demselben Grund ist dieses Thema ein Tabu. In der Belletristik habe ich Bücher über häusliche Gewalt gelesen, manche sorgfältig geschrieben, manche ergreifend. Ich bin mir nicht sicher, aber mir scheint, dass Autor*innen, die ein solches Thema anschneiden, auch mit Kritik rechnen müssen. Vielleicht ist das der Grund, warum dieses Thema oft umgangen wird.

Häusliche Gewalt, psychische und physische Gewalt gegen Frauen, toxische Beziehungen, Machtmissbrauch, Misogynie … das alles sind Themen, die gerade mehr und mehr in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Häufig verfällt die Debatte aber in eine Richtung, in der die Schuldzuweisungen verdreht werden. Wie siehst du diese Form der Auseinandersetzung mit dem Thema? Wie war dein Ansatz in dieser Hinsicht beim Schreiben deines Romans?

Ich wollte das Bild einer Frau mit Schwächen schaffen, die Angst hat, besorgt und nicht immer in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen. Eine gewöhnliche Frau mit gewöhnlichen Gefühlen, die nicht weiß, wie sie sich aus der Situation befreien kann. In der Literatur sehen wir oft starke Frauen, aber nicht jeder ist im Leben stark. Marta hat Angst, bereut viele ihrer Handlungen, redet sich manchmal ein, dass alles gut werden würde und dass man einem Menschen eine zweite Chance geben sollte. Der Roman will zeigen, wie Marta aus ihrer Schwäche stärker wird, wie sie lernt, Entscheidungen zu treffen, zu kämpfen, wie sie ihre Angst Schritt für Schritt überwindet.
Sie kämpft allein. Denn oft haben solche Frauen Angst, dass sie nicht gehört werden und die Pfeile der Anschuldigungen nicht in Richtung ihres Mannes fliegen, sondern in ihre eigene. Sie ist auch vorsichtig, weil sie die ihr nahestehenden Menschen nicht gefährden will.

Marta versucht nach Kräften, sichtbare Male, die von der Gewalt Maksyms zeugen, vor ihren Freund*innen, ihrer Familie zu verbergen. Was denkst du, warum Marta das macht, warum sie sich niemandem anvertraut?

Es sieht nicht so aus, als könne sie niemandem vertrauen, es ist eher so, dass sie sich für die Situation schämt, in der sie sich befindet. Ich treffe oft Frauen, denen von Kindheit an beigebracht wurde, über Probleme in der Familie zu schweigen, zu ertragen, nichts und niemandem etwas zu erzählen, weil die Gesellschaft die Tatsachen verurteilen und verdrehen kann. Auch auf gesetzlicher Ebene ist es nicht immer möglich, Gewalt zu ahnden. Einem Mann mag es verboten sein, sich einer Frau zu nähern, aber würde das einen Mann wie Maksym aufhalten? Nicht unbedingt. Marta schweigt, weil sie Angst hat. Und wie ich schon sagte, ist sie besorgt über das Schicksal der Menschen, die ihr nahe stehen.

„Gaslighting“ oder „Love Bombing“ sind Begriffe, die man immer öfter hört. Immer mehr Menschen, besonders auch jüngere, tauschen sich auf Social-Media-Plattformen über Phänomene wie diese und auch über ihre eigenen Erfahrungen aus. Auch du bist auf deinem Instagram-Account sehr aktiv. Was ist deine Einschätzung: Werden wir sensibler, feinfühliger bezüglich toxischen Verhaltens in der Partnerschaft und anderen Beziehungs-Themen, die lange Zeit tabuisiert wurden und als „privat“ galten?

Es ist traurig, das zugeben zu müssen, aber ich habe den Eindruck, dass wir an diesem Thema noch arbeiten müssen. Ich bin davon überzeugt, dass in allen Gewaltsituationen der Vergewaltiger die Schuld trägt und das Opfer der Gewalt leidtragend ist. Und der Vergewaltiger kann keine Ausreden finden. Aber es kommt oft vor, dass die Opfer beschuldigt werden, es provoziert zu haben, man hört den formelhaften Spruch „selbst schuld”. Das ist erschreckend. Deshalb dürfen diese Themen kein Tabu sein, die Menschen müssen darüber sprechen. Auf Instagram sieht man unterschiedliche Positionen – von Verständnis für das Thema bis hin zur vollständigen Verurteilung von Marta. Daher fällt es mir schwer zu sagen, dass wir sensibler geworden sind und bereit sind, Unterstützung zu leisten.
Nach der Veröffentlichung des Buches erhielt ich viele Nachrichten von Leser*innen, die entweder selbst etwas Ähnliches erlebt hatten oder jemand aus ihrer Familie. Es waren zu viele Nachrichten und da wurde mir wieder einmal klar, dass wir über dieses Thema sprechen müssen. Die Menschen wollen gehört werden. Aber manchmal haben sie Angst, ihre Meinung und ihren Standpunkt zu äußern. Ich sage immer, dass manchmal die beste Unterstützung darin besteht, nicht zu urteilen. Wenn die Menschen aufhören, die Opfer häuslicher Gewalt zu verurteilen, wenn sie aufhören, Mutmaßungen anzustellen und die Situation in Frage zu stellen – „wer auch immer sie festgehalten hat, ich wäre entschlossener gewesen”, „ich hätte das nicht zugelassen”, „sie ist schwach, ich bin stark” –, werden die Opfer selbstbewusster werden. Sie werden keine Angst haben, aus toxischen Beziehungen auszusteigen und allgemeine Verurteilung zu erfahren. Es hängt viel von der Gesellschaft ab. Das ist zumindest meine Überzeugung.

Jede*r von uns hat eine individuelle Lebensrealität, unterschiedliche Einflusssphären, Talente, Fähigkeiten, Möglichkeiten. Jede*r von uns hat eine Stimme. Und jede einzelne Stimme ist entscheidend, um der Gewalt ein Ende zu bereiten. Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

In Deutschland: Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch an Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

In Österreich: für (akute) Hilfe: frauenhelpline.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.

„Das Frau- und Kind-Sein ist weltweit zu einem Überlebenskampf geworden.” – Gastbeitrag von Anna Herzig

Liebe Leser*innen!

Die Welt hat sich seit 2020 verändert, läuft schneller, unbarmherziger und wandelt sich rasanter als einem liebt ist. Diese Veränderungen und deren (mögliche) Auswirkungen haben mich unter anderem zu meinem neuen Roman 12 Grad unter Null, der im Haymon Verlag ein wundervolles Zuhause gefunden hat, inspiriert.
12 Grad unter Null ist keine Temperatur, der man gerne ausgesetzt ist. Unabhängig davon, in welchem Körper man in diesem Leben wohnt.
Beim Schreiben dieses Romans, der mir näher geht als alle anderen Texte, die ich bisher geschrieben habe, bin ich weit über meine Grenzen gegangen. Das lag zum einen an der pausenlosen Care-Arbeit und zum anderen an den schweren Themen, die dieser Text behandelt. Dennoch war es mir wichtig, diese Geschichte zu erzählen. Und darum geht es:
Elise und Greta, zwei mittlerweile erwachsene Schwestern, leben 2024 in einem Land, das ein unvorstellbar misogynes und gleichsam grausames Gesetz erlässt. Etwas, das so widerlich ist, dass ich es hier nicht vorwegnehmen möchte.
Alles, was in Sandburg passiert, ist kaum einen Schritt weiter weg als die Dinge, mit denen wir uns – vor allem weibliche Personen – tagtäglich konfrontiert sehen. Tag für Tag, immer, seit jeher. Eine Besserung scheint nicht in Sicht.
Jahre zuvor: Die Mutter von Elise und Greta beschließt, sich stark zu machen, und kämpft neun Jahre lang gegen den Vater der Mädchen an. Eine hoffnungslose Aussicht von Anfang an. Weshalb? Nicht, weil sie nicht jederzeit gehen könnte, sondern weil – und hier sind wir mehr in der Realität als in der Dystopie – es einer alleinerziehenden Mutter unmöglich gemacht wird, ihren Alltag mit Job und Kindern, mit dem ständigen nervenaufreibenden Jonglieren zwischen verschiedenen Welten, finanziell abgesichert zu erleben. Sich aus einer toxischen Ehe zu lösen, bedeutet für eine Frau auch heute noch und nicht seltener: ein Leben an der Armutsgrenze oder knapp oberhalb davon.

Die Geschichte dieser zwei Schwestern und ihrer Mutter, die immer noch an der Suppe von damals schlucken, die niemals kalt werden durfte, geht mir so sehr unter die Haut, dass das Fortkommen während des Entstehungsprozesses mit vielerlei unterschiedlichen Schmerzen einherging.
Soll eines der Anliegen des Feminismus tatsächlich sein, patriarchale Strukturen aufzubrechen, und zwar nachhaltig? Dann muss endlich und nachdrücklich dort angesetzt werden, wo es Frauen unmöglich gemacht wird, ohne die Hilfe und Unterstützungsleistungen von Partnern und Ehemännern nicht nur zu überleben, sondern sich auch sicher fühlen zu können: in der Gesetzmachung und -erlassung. Dort, wo entschieden wird, wieviel Kinderbetreuungsgeld einer Frau zusteht, wie hoch oder, nach derzeitigem Stand, nieder die Sozialleistungen sind. Wie eine Frau (mit und ohne Kinder) aufgefangen werden kann, wie der safe space aussehen soll, den sie benötigt, wenn sie den Schritt wagt, sich aus toxischen Verhältnissen zu lösen. Aber das ist nur ein Aspekt. Welche Gesetze müsste es geben, damit Frauen endlich Beruf und Familie vereinbaren können, ohne Zuverdienstgrenzen unterworfen zu sein, ohne Abhängigkeit vom Ehemann? Wie soll eine Frau, nach derzeitigem Stand, nicht in der Armutsfalle landen, wenn sie sich trennt und dann mit einem Teilzeitjob sich und ihr Kind versorgen muss? Die wenigsten Frauen haben Eltern und Schwiegereltern, die ihnen helfen. Die meisten Frauen sind auf sich alleine gestellt. Und mit einem Mann, der die Psyche einer Frau, einer Mutter ständig attackiert, fehlt die Kraft und der Glaube, sich jemals aus einer solchen Situation lösen zu können.

Alles, was man einer Frau antut, wird eine Frau niemals vergessen.

Alles, was man einem Kind antut, kann ein Kind niemals vergessen.

Das Frau- und Kind-Sein ist weltweit zu einem Überlebenskampf geworden.

Wenn wir patriarchale Strukturen brechen möchten, beginnen wir doch damit, zusammenzuhalten und uns nicht gegeneinander aufzubringen.
Ich empfehle euch dazu eindringlich die Lektüre „Einzeller“ von der grandiosen Schriftstellerin Gertraud Klemm, ein bedeutender wie unverzichtbarer Roman, der im Kremayr & Scheriau Verlag erschienen ist.

Abschließend möchte ich noch sagen: Mein Roman behandelt sensible Themen, u.a. häusliche Gewalt sowie psychischen und physischen Missbrauch. Es liegt mir fern, Menschen mit Gewalterfahrungen traumatisieren zu wollen, was ich möchte, ist Awareness dafür zu schaffen, dass wir aufeinander aufpassen, genauer hinsehen müssen. Es war mir ein Anliegen, mich den Themen dieser Geschichte zu stellen, die für viele weibliche Personen keine Geschichte, sondern Vergangenheit und/oder Gegenwart ist.

In 12 Grad unter Null geht es um das, was hinter den Augenfenstern anderer Menschen lauert und hinter unseren eigenen.
12 Grad unter Null ist eine Warnung. Nicht an Männer. Sondern an uns.

Eure Anna Herzig

 

„Unerschrocken und heiter”: Wildgans-Preisträger Christoph W. Bauer im Interview

Am 13. September wird Christoph W. Bauer der Anton-Wildgans-Preis verliehen. Die Jury der hochkarätigen Auszeichnung betont in ihrer Begründung die Vielseitigkeit des Schriftstellers, der uns in seiner Prosa durch das Alphabet historischer Häuser und Straßenzüge streifen lässt und mit seiner Lyrik spielerisch zwischen The Clash und griechischer Mythologie auf abenteuerliche Entdeckungsreisen schickt. In unserem Interview sprechen wir mit dem Schriftsteller über die jüngste Auszeichnung, über unmodernes Zaudern und über Punk-Rock und Poesie.

Portrait: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Christoph W. Bauer, geboren 1968 in Kärnten, aufgewachsen in Tirol. Verfasst Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele und Übersetzungen. Zahlreiche Veröffentlichungen, mehrere Auszeichnungen, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis (2001), Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2002), Preis des Kärntner Schriftstellerverbands (2010), Kärntner Lyrikpreis (2014), Outstanding Artist Award und Tiroler Landespreis für Kunst (beide 2015), Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck (2021), sowie zuletzt den Anton Wildgans Preis der Österreichischen Industrie 2023.

Was bedeutet dir der Wildgans Preis?

Diese Auszeichnung hat eine lange Tradition – und mit Blick auf die Liste der Autorinnen und Autoren, die mit dem Wildgans-Preis ausgezeichnet wurden, ist das schon etwas Besonderes. Und ich freue mich darüber. Auch über das Preisgeld, klar doch.

Haben Preise einen Einfluss darauf, wie Literatur wahrgenommen wird?

Ich weiß nicht, mag sein. Wenn ja, beschränkt sich dieser Einfluss aber wohl auf recht kurze Zeit. Heute eine Pressemeldung, morgen schon die nächste. Heute eine Auszeichnung hier, morgen ein Preis dort. Wichtig ist die Anerkennung für jene, die sie erhalten, ohne Anerkennung kann kein Mensch leben, egal in welchem Beruf. Anerkennung, das bedeutet, wahrgenommen zu werden – ach, ich weiß es wirklich nicht. Du siehst ja, ich zögere, ich zaudere …

Daran anschließend: Wie steht es um die Produktionsbedingungen in der Literatur, im Feuilleton, in der Kulturvermittlung? Blickst du eher optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft, was das angeht?  

Dazu könnte zweifelsohne ein Verlag mehr sagen, denke ich. Fest steht freilich, dass es mittlerweile verschiedenste Möglichkeiten der Vermittlung gibt, die von den klassischen der vergangenen Jahrzehnte abweichen. Manche eignen sich dafür mehr, manche weniger, aber ohne neue Entwicklungen geht es nicht – ist es auch nie gegangen. Insofern lasse ich mich überraschen, was die Zukunft angeht, meine eigene Arbeit, also mein Schreiben, wird das wohl wenig beeinflussen. Ein Verriss macht ein Buch nicht schlechter, eine Laudatio ein Werk aber auch nicht besser. Ignoranz ist zu ignorieren, einfach weiterschreiben, das ist meine Devise, mein Wahlspruch, das kingt markiger: unerschrocken und heiter.

Ist in einer (digitalen) Öffentlichkeit, die von starken, kategorischen Meinungen geprägt ist und besonders die grellen und polarisierenden Zurufe begünstigt, das Suchen, Abwägen und Unschlüssigsein gewissermaßen in der Krise?

Ich würde nicht gerade sagen „in der Krise“, aber in einer Zeit der Behauptungen und der verbalen Schnellschüsse ist es unmodern geworden, zu zaudern, zu hinterfragen, sich Zuschreibungen zu verweigern. Daraus ziehe ich die Kraft, es dennoch zu tun.

Ist der abwägende Zauderer ein „unsung hero“ oder ein Antagonist unserer Zeit?

Er ist wohl beides.

Zaudern, spielen, augenzwinkern und bitter lachen: Liegt darin ein subversives Moment?

Unbedingt!

Kann Literatur, kann insbesondere Lyrik ein „nachdenklicheres“ Gegengift sein für das Stakkato der Gewissheiten, das uns von Titelseiten und Twitterbeiträgen entgegengeschrien wird?

Ich denke schon, dass Literatur da etwas bewirken kann, vorausgesetzt freilich sie findet Leserinnen und Leser, vorausgesetzt sie findet Verlage, die sich nicht von Twitterbeiträgen in ihrer Programmgestaltung beeinflussen lassen.

Wildgans-Preis Jurybegründung:

„Christoph W. Bauer ist in nahezu allen literarischen Genres zuhause. In seinen Prosa-Arbeiten, die vielfach im Grenzbereich zwischen Historiographie und Fiktion angesiedelt sind, dominieren Geschichten, die er im Alphabet ramponierter oder auch längst verschwundener Häuser ermittelt, sei es in Saint-Denis, sei es in Innsbruck-St. Nikolaus. Und in seinen Gedichten setzt Christoph W. Bauer mit seiner ganz eigenen Stimme souverän alle nur denkbaren lyrischen Formen ein, um in einer schier endlosen Kette von intertextuellen Bezügen, die von Homer und Catull über Dante und Villon und Borges bis zum Punk-Rock reichen, immer von neuem auf ein Spiel mit Möglichkeiten zuzusteuern, das ganz wenig übrig hat für scheinbar unverrückbare Gegebenheiten.“

Was bedeutet es für dich heute, engagierte Kunst zu machen?

Ich weiß nicht, engagierte Kunst, was ist das? Ich weiß nur, ich lebe nun mal in dieser Zeit und diese Zeit färbt auf meine Arbeit ab. Ich kann nicht so tun, als ginge mich das alles nichts an. Was jetzt nicht heißt, dass ich mir sage, du musst über bestimmte Themen schreiben. Die Themen kommen, sie holen mich im besten Wortsinn ein. Wenn dies der Fall ist, geht es mir aber immer darum: Wie schreibe ich das?

Zwischen den Toten Hosen und Ovid, zwischen Street Art und Nibelungenlied: Ist das Balancieren zwischen Hoch- und Populärkultur ein wichtiges Motiv in deinem Werk?

Die Hosen, The Clash, die Ramones – das sind frühe und prägende Einflüsse, die in mein Schreiben eingezogen sind. Und das ist mir sehr recht so. Manch ein Lied von den Hosen hat mich weit mehr beeinflusst als ein von der Kritik in den Literaturhimmel gelobtes Buch. Diese Lieder sind ständige Wegbegleiter, wie die antike Poesie das mitunter eben auch ist. Diese von Rhythmik und Klangfarbe geprägte Sprache, diese Mythen und Figuren – war nicht auch Odysseus ein Zauderer? Ein Saumseliger?

Mehr Lyrik für die Welt

„Gedichte sind Wort gewordene Lieder der Seele”,

befand die österreichische Philosophin und Künstlerin Lisz Hirn und versuchte damit, eine geeignete Metapher für das zu finden, was Lyriker*innen erschaffen. Ihre Worte verschmelzen zu einer Melodie, die uns zum Tanzen bringt, wo wir gar nicht anders können, als lautstark einzustimmen und den Groove zu spüren. Reime, gepaart mit Rhythmus und Sprachtönen werden zu Symphonien, denen wir gebannt lauschen.

Wirf einen Blick durch sieben Fenster, die dich in die Lyrik-Klang-Welten unserer Autor*innen entführen:

Nachts wird mir wetter – Andreas Neeser


Wettermachen

Unverhofft

finde ich manchmal den eigenen Namen: Ich
rede mich rückwärts zum Anfang des Tages
und Silbe für Silbe verschluck ich den Hochnebel
Schauer, Gewitter und Graupel
verworte ich farbig
ins heitere Blau aber
sprech ich mich
frei
von Gespinst und Gehudel
und mache das Wetter zuinnerst
im Wortlaut
ganz luft.

Nachts wird mir wetter“ – Andreas Neeser schreibt von Sinnlichkeit, Zerfall, Augenzwinkerndem und Ungeheurem: Der Autor schafft eine schier unglaubliche Verflechtung literarischer Vielseitigkeiten; schafft Gedichte, die uns mit dem Außen verbinden, unser Innerstes zusammenbringen mit all dem, das um uns geschieht, das vorbeizieht, sich windet und erblasst.

 

weich werden – Anja Bachl

 

 

ich schaffe Webstücke aus Fetzen und nenne das Liebhaberinnen
nie nervenendende Linien und darauf slacklinen
glaube an Wiedergeburt nach acht Stunden Schlaf
zünde Fackeln an um Schlangen zu locken die sich als meine Schwestern verkleiden
ich habe Schlupflöcher gesammelt und Blickwinkel und heimlich auch Berechnungen
und deshalb werde ich anstatt Stufen zu steigen Almwiesen bewandern

weich werden“ – Anja Bachl: Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert – darüber, wie wir uns Narben körpereigen machen, welche Spuren wir nicht hinterlassen und die Gespenster, die bleiben. Der Rausch einer Sprache, wie wir ihn selten erreichen: Anja Bachls Gedichte fangen uns ein, pflanzen ihre Gedanken dort, wo wir schon längst das Saatbeet vorbereitet, aber keine Worte gefunden haben. Tief im Innersten schürfend, trägt sie ins Bild, was Menschwerdung, Menschsein bedeutet. Ein Gedichtband, der Verletzlichkeit als widerständigen Fluss im eigenen Ich freilegt.

STRAND DER VERSE LAUF – Ferdinand Schmatz

 

das, da

das
seichte,
wärmend ohne rand
umspielt es fuss wie auge
ausgelaugt die poren es sich traut
an zu tupfen, ein zu sickern sachte
im brand von oben scheu zu hauten
und zurück sich pfropfend
tropfen weise, um zu spülen
nahes weg zu weitendem hinaus

STRAND DER VERSE LAUF“ – Ferdinand Schmatz: Wo stehen wir, mittendrin im Drumherum? Wie fühlt sich der Sand unter unseren Füßen an, wie die feuchte Luft auf unserer Haut? Seine Lyrik lässt innehalten im alltäglichen Treiben, schärft unsere Sinne, lässt sie weich werden für die Feinheiten unserer Wahrnehmung. Ferdinand Schmatz’ Verse sind eine Aufforderung, stehenzubleiben und trotzdem weiterzugehen; die Augen zu öffnen und die unerwarteten Tiefen dessen zu beforschen, was Sprache vermag uns bewusst werden zu lassen.

birthmarks – Precious Chiebonam Nnebedum

 

it is
in the crushing and the breaking,
the uprooting and the shaking,
the pressing and the stressing,
that wine is made.
believe it or not, you are
a vineyard.

es passiert
im zerstampfen und im brechen
im entwurzeln und im schütteln
im drücken und im belasten,
dass wein gemacht wird.
glaube es oder nicht, du bist
ein weingarten.

birthmarks“ – Precious Chiebonam Nnebedum beweist: Sie ist die Kraft, mit der zu rechnen ist.
Wer sind wir, wenn uns die Worte fehlen?
 Wer, wenn wir sie kaum aufhalten können? Wenn wir in verschiedenen Sprachen leben, uns nicht nur aus ihnen bedienen wollen, sondern sie für uns selbst finden. Uns durch Sprache ermächtigen und gleichzeitig durch sie ermächtigt werden. Precious Chiebonam Nnebedums Gedichte sind eindringlich, schimmernd. Sie begibt sich mit ihrer Lyrik auf eine Suche: Nach einer Antwort auf die Frage, was wir uns nehmen dürfen und müssen, was wir für uns fordern.

[ anich.atmosphären.atlas ] – Barbara Hundegger

 

äquator zodiacus circulus horarius primum
mobile: sobald der äußerste himmels-kreis
bewegt wird trägt er alle anderen sanft mit
sich | am horizont das uhrwerk: es führt die
kugel | am nordpol: 8 zahnräder im stundenrund
| innen 3 zeiger: für die verschiedenheit
von zeit | miniatur-gemälde die 76 gestirne:
aus winzigsten punkten ergeben sie ihr bild |
von den sternen: nicht einer der nicht richtig
wär’ | mit der feder gerissen | gestochen auf
6 tafeln | dein werk-stück: tadellos | aus sich
selber zeigt es: welches meister-werk es ist

[ anich. atmosphären. atlas ]“ – Preisgekrönte Dichtkunst: Barbara Hundegger bietet einen einzigartigen Einblick in das Tirol des 18. Jahrhunderts. In ihrem Gedichtband zeichnet sie gleichermaßen poetisch wie gesellschaftspolitisch die inneren Konflikte einer zerrissenen Existenz nach. Sie erschafft einen Gedichte-Atlas über das Aufeinanderprallen verschiedener Welten und Wortlandschaften: eine poetische Topografie von Peter Anichs Leben und Werk.

an den hunden erkennst du die zeiten – Christoph W. Bauer

auf grauer straßen rand
was traten wir doch in die pedale
bloß weg von den kopfnüssen
dreißig jahre ist das her unsere
lehrer alt aber nicht alle von ihnen
nazis auch die linken pfiffen wie
finke uns hunde herbei zogen
uns an den ohren aus den bänken
wir verstanden die warnung
nicht lernten für die schule selbst
die lieder die wir sangen und
trauten auf den droben
an weihnachten waren wir noch
ein wenig andächtiger als sonst
und dankten dem christkind
im voraus für den osterhasen

an den hunden erkennst du die zeiten“ – Der Dichter kommt uns auf die Schliche.
Von Fußstapfen und Hundeleben, Spinnenblut und Frömmigkeit, faulem Zauber und Odysseen, von der Sehnsucht nach und der Furcht vor sprachlosen Momenten: Christoph W. Bauer setzt zu Zeit- und Raumsprüngen an, wittert und nimmt Fährte auf, sucht das Weite und die Zerstreuung. Macht sich ein Bild, liest in den Geschichten, die auf der Straße liegen, und findet mit Sätzen Schlupflöcher aus der Enge. Genussvoll gibt er sich den Widersprüchen hin. Enthüllt das alles mit Worten, trägt es mit Humor und fasst es in widerständige und schelmische Verse.

Am besten lebe ich ausgedacht – Sabine Gruber


Anfang März

Wien

In China sitzen die Schlangenzüchter
Auf ihrer Ware, als seien ihnen die
Diebe ausgegangen. Dantes Höllen
Verdammte können von gebratenem
Schlangenfleisch nur träumen. Die
Hände hat man den Nackten noch
Gelassen, sie kriegen aber nichts zu
Fassen, tragen sie doch Natterfesseln
Und Handschleichen, schreien und
Gellen im offenen Graben. Ich sehe
Den Erben an so viel Recht verderben
Den Erben in der Schlangengrube mit
Fremden Werken werben. Es gehörte
Ihm nichts.

Am besten lebe ich ausgedacht“ – Über Sehnsuchts- und Erinnerungsorte, die von Brüchen und wiedergewonnener Lebensfreude zeugen
In dem ihr eigenen, verblüffend lebensnahen Ton entlockt Sabine Gruber den Augenblicken des Alltags ihre poetische Kraft. In ihrem Gedichtband verknüpft sie Liebessterben und LiebeswerbenGelebtes und ErdachtesHistorisches und Eigenes zu einem faszinierenden poetischen Kalendarium.

Leseprobe aus „ungeheuer“ von Lena Johanna Hödl

Das ist nicht normal, das hier. Oder doch?
Ein Kind, das versucht, die gekappte Mutter-Beziehung zu reparieren, indem es den Knopf, der einst die Verbindung darstellte, malträtiert: den Nabel. Ein Mann beteuert beim ersten Date, sie nicht vergewaltigen zu wollen – und tut es unter dem Schauer der Perseiden dann doch. Hitler und Churchill liegen sich reumütig und weinend in den Armen. Lena Johanna Hödl gießt das Ungeheure, das Bedrohliche, aber auch das Alltägliche, die Gefühle im Menschen in literarische Texte und erzeugt ein berauschendes Kondensat.

Zwei zerfleischen #157: Desmond Doe

Hallo, Anna-Sophie!

Hallöchen Sophie-Anna! Wie geht’s dir, meine Liebe?

Ach, ich muss sagen, wirklich toll in letzter Zeit. Ich liebe den Herbst ja. Die Blätter fallen von den Bäumen, es wird kälter, bei mir in Attnang-Puchheim ist es gerade ganz neblig seit ein paar Tagen, und ich find das so toll! Das ist so richtig schaurig-schön, man fühlt sich direkt, als würde Ted Bundy gleich bei der Tür reinspazieren. Und wie geht’s dir?

Oh, das klingt wirklich super! Ich bin ja auch schon voll im Herbstmodus. Sich einfach mal richtig schön cosy aufs Sofa kuscheln mit den Hunden und meinem Mann und sich die neue Dahmer-Serie reinziehen. Also bei uns zu Hause, da zelebrieren wir den Spooktober auch schon total.
Also, herzlich willkommen zu einer neuen Folge Zwei zerfleischen, deinem internationalen True-Crime-Podcast. Hier präsentieren wir euch jede Woche einen internationalen, wahren Kriminalfall und tratschen ein bisschen miteinander. Perfekt zum Entspannen nach einem harten Tag im Büro, mit der Schwiegermutter oder anderen menschlichen Monstern!

Wow, Anna-Sophie, okay! Wobei ich deine kenne, und so schlimm wie Ed Gein oder Jürgen Bartsch der Kirmesmörder aus unserer letzten Folge ist sie dann doch nicht, oder?

Na ja, so schlimm wie die nicht. Aileen Wuornos höchstens. War nur ein Witz, Waltraud, liebe Grüße!

Haha, na dann, gut zu wissen. Ihr wisst ja, bei uns geht es auch mal etwas lockerer zu. Das ist aber nicht respektlos gemeint. Bei so schrecklichen Verbrechen brauchen wir das einfach zwischendurch.

Genau!

Diese Woche hast du einen Fall mitgebracht, auf den ich schon total gespannt bin. Davor lesen wir aber noch ein paar liebe Zuschriften vor, die uns erreicht haben.

Juhu, Fanpost!

(Feuerwerk- und Applaus-Soundeffekte)

Also, die liebe Kathi aus Klagenfurt hat geschrieben: „Hallo ihr Lieben! Ich bin von Anfang an ZZ-Fan und habe alle eure Folgen schon mehrmals gehört. Tagtäglich versüßt ihr mir mit eurer charmant-lustigen und doch professionellen Art den Weg zur Arbeit. Sophie-Annas Anekdoten aus ihrem verrückten Alltag und Anna-Sophies minutiöse Recherchen machen euch für mich zum besten True-Crime-Podcast der Welt. Macht weiter so, ihr zwei!“ Oooh, vielen Dank, Kathi! Wir freuen uns immer sehr über Feedback, denn ohne unsere Zuhörerinnen und Zuhörer gäbe es uns schließlich gar nicht.

Genau, im Endeffekt seid ihr der Grund, dass wir unsere Jobs bei der Versicherung aufgeben und unserem Traum folgen konnten, nämlich Wein zu trinken und die Abgründe der menschlichen Seele zu erforschen. Und hey, falls ihr auch mal hier erwähnt werden wollt, schreibt doch an hilfeschrei@zweizerfleischen. at. Eine kleine Auswahl aus den Hunderten Nachrichten, die uns jede Woche erreichen, stellen wir dann im Podcast vor.
Ich habe eine ganz liebe Nachricht vom Stefan über Instagram bekommen: „Hallo Sophie-Anna, hallo Anna-Sophie! Meine Verlobte hat mir vor einer Woche euren Podcast empfohlen und seitdem bin ich süchtig! Keine Sekunde vergeht mehr für mich ohne eure angenehmen Stimmen im Ohr. Meine Verlobte ist mittlerweile schon etwas eifersüchtig, wie könnte sie auch nicht, bei solcher Konkurrenz. 😉 Das Pfingst-Special mit Florian Fabian von Guten Morg(d)en hat mir besonders gut gefallen, und auch die Halloween- Folge über paranormale Verbrechen. Sophie-Annas laszive Darstellung des Slender Man hat ganz neue Gefühle in mir entfacht. Für mich seid ihr die schönsten, klügsten, charmantesten und lustigsten Frauen der Welt und ich frage mich oft, was ihr eigentlich nicht könnt. Bleibt, wie ihr seid!“ Und dann schickt Stefan noch ein ganz liebes Foto von seinem Hund mit!

Zeig mal. Urlieb! … Oh, ich glaub, das ist sein Penis.

Mein Fehler. Vielen Dank, Stefan. – Wow, er hat dich lasziv genannt!

Na ja, da ist er nicht der Erste, muss ich sagen …

Das glaub ich dir gerne!

Ich les noch die Mail von Olga aus Oer-Erkenschwick vor. Also: „Na, ihr zwei Frauen fürs Grobe, alles gut bei euch? Ich nehme mir schon ewig vor, euch mal zu schreiben, um euch einfach mal ein Riesenlob für eure Arbeit auszusprechen. Auch ernsthafte Themen und das eine oder andere klare politische Statement so locker-flockig und unterhaltsam zu vermitteln, gelingt keinem Duo so gut wie euch. Jeden Sonntagabend warte ich sehnsüchtig auf Mitternacht, damit ich die neue Folge gleich zum Einschlafen hören kann. Mit euch starte ich einfach am besten in die Woche! Am liebsten hätte ich jeden Tag eine neue Folge.“
Tja, liebe Olga, da kann ich dir nur unser Patreon-Abo empfehlen. Ab zwei Euro bekommt ihr dort monatlich eine kleine Bonusfolge, ab fünf Euro zusätzlich noch ein Interview mit einem Experten oder einer Expertin und die restliche von uns vorgelesene Hörerpost, und ab zwanzig Euro zusätzlich noch den Hoodie aus unserer neuen Merch-Kollektion mit der Aufschrift „Mordsjunge“ oder „Killerbraut“. Den gibt’s in fünf verschiedenen coolen Pastelltönen, ich trag meinen lavendelfarbenen zum Beispiel total gern beim Pilates.

Mir hat es ja der in Mauve angetan. So wirke ich auf alle immer erst ganz normal und unauffällig, und wenn sie mir dann näherkommen und lesen, was oben steht …

Dann wissen sie, dass du eigentlich ein Psycho bist, haha! Aber das ist mir und unseren Zuhörerinnen und Zuhörern eh schon lange klar.

Für zweihundert Euro überraschen wir euch ohne Vorwarnung mit einem realistisch wirkenden Mordanschlag, einem signierten Hoodie, und die exklusive ZZ-Trinkflasche gibt’s natürlich noch obendrauf.
Aber was schreibt Olga denn weiter?

Jetzt waren wir so begeistert von der neuen Merch-Kollektion, dass wir ganz darauf vergessen haben! Die Hoodies sind aber auch zuuuu kuschelig!
Also, Olga schreibt weiter: „Was euch aber zu den wahren Heldinnen der True-Crime-Podcast-Szene macht, ist euer kontinuierliches Engagement für Feminismus und gegen jede Art von Diskriminierung. Wie wichtig das ist, zeigen ja die vielen Femizide, über die ihr leider immer wieder sprechen müsst. Es braucht starke Frauen wie euch, die sich gegen jede Art von Gewalt aussprechen und ein klares Zeichen setzen! Ihr beiden seid meine großen Vorbilder – einfach nur super!“ Die Olga war so lieb und hat uns gleich noch eine zuckersüße Überraschung mitgeschickt: selbst gemachte Lebkuchen nach dem Rezept ihrer Uroma! Tausend Dank dafür, Olga, die sind einfach köstlich.

Oooh, wie lieb! So was lesen wir wirklich nur OL-zu GA-rne. Haha.

Achtung, der kommt tief!

Haha. Wir sind schon echt zwei verrückte Hühner. Aber jetzt ernsthaft, es ist so schön zu wissen, dass Menschen wie Olga hinter uns stehen. Wir bekommen ja leider auch viele nicht so nette Nachrichten. Aber es ist uns wichtig, zu unserer Meinung zu stehen.

Genau. Es ist 2022 und Frauen haben die gleichen Rechte verdient. Und eine Vergewaltigung ist nie okay, egal, was die Frau anhatte.

Absolut. Und Rassismus und Homophobie sind ebenfalls nie okay. Wenn du so wütend bist, dass du denkst, du musst wen umbringen, mach einfach hundert Hampelmänner. Das hilft mir immer. Oder iss ein großes Stück Schokolade.

Oder mal ein Schaumbad! Geh mit dem Hund spazieren! Jedenfalls ist das hier ein feministischer Podcast und das soll auch so bleiben. Jede Art von Diskriminierung hat hier nichts verloren und wir sprechen uns für eine bunte, vielfältige Gesellschaft aus. Mord oder Gewalt gehen halt wirklich gar nicht, und das muss man auch aussprechen und ein Zeichen damit setzen. Und, weil jetzt schon viele Nachrichten dazu gekommen sind, wie wir dazu stehen: Wir sprechen den Frauen im Iran unsere volle Solidarität aus! Wirklich toll, was die Mädels da leisten.

Absolut.

(Pause)

Puh, das war jetzt kurz nicht so lustig, aber darüber muss man auch reden. Politisches Engagement gehört für uns einfach dazu.

Genau, wir haben jetzt auch mal eine kurze Pipipause eingelegt, uns mit lecker Glühwein und Schokomandeln versorgt und jetzt, endlich, können wir loslegen. Was hast du mir denn heute mitgebracht?

Also, Anna-Sophie, nach den letzten paar Folgen, in denen es ja eher um nicht so blutige Verbrechen ging wie Betrug, oder auch die Folge mit der Bankraub-Barbie, hast du dir ja heute mal wieder so was richtig Deftiges gewünscht.

Yes, super!

Und das führt uns zu einer Geschichte voller Blut, Hass und Ungerechtigkeit, die Triggerwarnungen findet ihr in der Folgenbeschreibung. Die Geschichte, die ich euch heute erzählen will, beginnt im Jahr 1957 in New Orleans, Louisiana. Hier wird an einem warmen Sommermorgen Desmond Doe geboren. Von Anfang an ist klar, dass der kleine Desmond, dieses unschuldige, süße Baby, es nicht leicht haben wird. Denn Desmond ist Schwarz, und in den USA herrscht noch strenge Rassentrennung.

Oh nein. Typisch Amis, die sind ja echt verrückt, auch mit ihren Waffen und so.

Voll. Desmonds Familie genießt in dem heruntergekommenen Viertel, in dem das Häuschen der Does steht, ohnehin schon einen zweifelhaften Ruf, ist seine Mutter doch Sexarbeiterin und schon seit ihrer Jugend schwer heroinabhängig. Ja, also ich denke, die haben’s halt wirklich nicht leicht gehabt.

Ja, voll. Also, Sexarbeit ist Arbeit, das ist ganz wichtig, aber damals ist man ja wirklich nicht gut mit solchen Frauen umgegangen.

Genau. Also ich konnte in meinen Recherchen nichts Genaues dazu finden, aber ich kann mir schon vorstellen, dass Dana, Desmonds Mutter, auf der Straße oft ganz, ganz schlimme Dinge zu hören bekommen hat. Also so was wie „Du Hure, verpiss dich von hier, du eklige Junkiesau!“ vielleicht.

Schrecklich, einfach schrecklich. Sucht ist eine Krankheit, das muss die Gesellschaft endlich verstehen. Die Leute können da ja nichts dafür, und ob du Drogen nimmst oder für Geld mit jemandem schläfst, ändert nichts an deinem Wert als Mensch! Aber klar, das war damals wohl für sie Alltag. Ich habe total viel Respekt vor solchen Frauen, aber für die Nachbarschaft war Dana halt nichts anderes als eine abgefuckte, wertlose Nutte. Damals war man halt noch nicht so aufgeklärt wie heute. Ich persönlich würde jemanden nie so nennen.

Das gehört sich einfach nicht. Respekt ist oberstes Gebot, auch wenn ich selbst so was nie könnte.

Für die Menschen damals war sie eben nur eine dumme, gschissene, nach Fisch stinkende Funzn, die ihre ausgeleierte Mietmöse fremden Männern zur Verfügung stellt. Schlimm war das damals.

Genau. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass man sie als „ekelerregende Taschenfotze, die es gar nicht verdient hat, zu leben, und die man am besten stundenlang durchnehmen und dann leblos im Straßengraben liegen lassen sollte“ bezeichnet hat.

Ganz bestimmt. Wirklich schockierend, was die Leute zu ihr gesagt, also wahrscheinlich gesagt haben. Das geht halt echt gar nicht. Dagegen sprechen wir uns klar aus. Also das kam noch zusätzlich zu der rassistischen Gesellschaft dazu. Für die weiße Mehrheitsgesellschaft waren Schwarze Menschen sowieso nichts weiter als *****, *** *** ** ****** ************, ***** *** **** ** ****** ****** **********.

Ja, so war das damals leider. Ich versteh das nicht, wir sind doch alle nur Menschen!

Und einigen mag es jetzt vielleicht krass erscheinen, dass wir solche Worte aussprechen, aber das müssen wir eben tun, damit ihr begreift, wie rassistisch die Gesellschaft damals war.

Darum geht es schließlich in einem True-Crime-Podcast: die Fakten ungeschönt darzustellen. Solche, also verzeih jetzt den Ausdruck, Arschlöcher, die Desmond und seine Familie so behandelt haben.

Um Verzeihung brauchst du bei mir nicht zu bitten, wir sind ja beide erwachsen und du hast voll recht. Black Lives Matter. Die Nachbarn mögen die Does damals für Abschaum gehalten haben und für Gesindel, das man am besten direkt vom Antlitz dieser Erde tilgen sollte, aber wir teilen diese Ansicht definitiv nicht. Darüber reden wir übrigens auch nächste Woche beim Welser Podcast-Festival, den Ticket-Link findet ihr in den Shownotes. Für uns gilt: Mensch ist Mensch!

(Jingle, Stimme: Werbung)

Wenn man sich, so wie wir, regelmäßig mit dem ultimativen Bösen beschäftigt, kann das schon mal auch psychisch belastend werden. Depression kann jeden treffen, aber was die wenigsten wissen, ist, dass Depressionen unter anderem durch Nährstoffmängel begünstigt werden.

Und da kommt unser Partner Nutri3000 ins Spiel. Nutri3000 ist ein Nahrungsergänzungsmittel aus echtem Gemüse und mit dem Besten aus der Amalfi-Alge. Schon ein Esslöffel des köstlichen Pulvers pro Tag deckt all eure Bedürfnisse ab und ihr könnt jeden Tag mit dem Elan beginnen, den ihr braucht. Schon ab neunundvierzig Euro neunundneunzig pro Monat.

Und mit dem Code ZERFLEISCHEN schenkt Nutri3000 allen Hörerinnen und Hörern dieses Podcasts minus fünf Prozent auf die erste Bestellung. Nutri3000: Elan für den Alltag!

Und wie geht es jetzt mit den Does weiter?

Nun, am 27. September 1963, da ist Desmond gerade mal neun Jahre alt, wird eine stark verstümmelte Frauenleiche nur fünfhundert Meter Luftlinie vom Haus der Does gefunden. Was jetzt kommt, ist sehr grafisch, aber ihr habt es verdient, die Details zu erfahren. Man muss sich ja vorstellen, das waren damals alles echte Menschen. Und wir sind es ihnen schuldig, ihre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und unseren Hörerinnen und Hörern alles darüber zu erzählen. Also, die Leiche konnte schon bald als die fünfzehnjährige Laura Parsonski identifiziert werden. Laut ihren Eltern wollte Laura an diesem Abend mit einer Schulfreundin spazieren gehen, kam aber niemals zurück. Ihre Mutter beschrieb Laura der Polizei gegenüber als ein aufgewecktes, hilfsbereites und einfühlsames Mädchen, das später Kindergärtnerin werden wollte. „Wenn Laura einen Raum betrat, dann war es, als würde die Sonne aufgehen. Alle Köpfe drehten sich nach ihr um. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich sie an diesem Abend nicht gebeten habe, zu bleiben.“

Die Mutter muss das ja komplett zerstört haben. Entsetzlich.

Ja, gerade bei so einem lieben, jungen Mädchen. Laura wurde übrigens auch als außergewöhnlich hübsch beschrieben, mit langen, blonden Locken und strahlend blauen Augen.

Also versteht uns nicht falsch, ein Todesfall ist natürlich immer tragisch, aber wenn sie wenigstens schiach gewesen wäre oder eine extrem nervige Stimme gehabt hätte …

Oder dumm gewesen wäre! Es hat ja auch einen Grund, dass die Kronenzeitung bei solchen Fällen immer ein Foto der Betroffenen abdruckt und betont, einen dann doch mehr, als wenn ein fettes Mädchen mit Skoliose das Opfer ist.

Und das ist auch völlig okay, so sind wir Menschen nun mal.

So, und jetzt wird’s grauslich: Lauras Leichnam fehlten beide Augen sowie die Klitoris. Der gesamte Körper war von Verbrennungen fünften Grades überzogen, doch das Verstörendste: Vom Scheitel bis zum Schritt war Laura, dieses beliebte, nette, blonde Mädchen, mit einem einzelnen Schnitt sauber aufgeschnitten und ihr ganzer Körper auf links gedreht worden. Auch Kokain fand man in ihrem Körper.

Oh Gott.

Mhm.

Aber na ja, man kennt es: erstes Date, erst mal gemeinsam koksen und dann die andere Person auf links drehen! (lacht)

Haha, also mit Drogen und so komischem Zeug habe ich ja nichts am Hut, ich backe lieber mal einen Kuchen. Wirklich ein sehr skurriler Fall. Perfekt für nasskalte Herbsttage am Sofa!

Übrigens könnt ihr von diesem und zwölf anderen Fällen in unserem neu erschienenen Buch Hinterfotzig weggemeuchelt lesen. Die schamlosesten Schändungen der Antike, die furchtbarsten Foltermethoden der Achtziger und die turbulentesten Totschläge von heute! Wir haben zwar beide schon alle Hände voll zu tun mit Podcast, Tournee, Interviews und Auftritten in ganz Europa, aber wir wollen euch einfach noch mehr zum schaurig-schönen Gruseln anbieten. Das Buch erscheint in zwei Wochen, bestellt es am besten jetzt schon mal vor! Das perfekte Weihnachtsgeschenk für Familie, Freunde und alle anderen.

Wirklich entsetzlich, was Laura da zugestoßen ist, und ich bin schon gespannt, wann und wie jetzt der arme Desmond mit ins Spiel kommt. Aber ich tröste mich damit, dass die beiden bestimmt stolz wären, wenn sie diese spannende Folge hören könnten. Euer Schicksal war nicht umsonst!

Die Polizei jedenfalls begann sofort mit den Ermittlungen und befragte Zeuginnen und Zeugen in der ganzen Nachbarschaft. Dabei stellte sich schnell heraus, dass …

Aus dem Erzählband „ungeheuer“ von Lena Johanna Hödl

Leseprobe aus „Muss ich das gelesen haben?“ von Teresa Reichl

Was wir lesen, ist eben, was wir lesen. Oder? Falsch. Welcome to patriarchy! Ja, das Patriarchat hat überall Einfluss – auch auf das, was und wie wir lesen. Wie könnte es sonst sein, dass „gute“ und „wichtige“ Literatur praktisch nur von Männern geschrieben wird?! Genauer von weißen, christlichen, heterosexuellen Männern ohne Behinderung aus der „oberen Gesellschaftsschicht“. Und warum wird über andere Autor*innen behauptet, sie hätten nichts geschrieben, wenn das doch gar nicht stimmt? Teresa Reichl hat die Schnauze voll davon. Es ist an der Zeit für den nächsten logischen feministischen Schritt: Die Literatur und ihre Geschichte werden umgeschrieben. Werden divers. Werden endlich korrigiert. Wie? Mit Basics zur Literaturgeschichte, einem ausgewachsenen Alternativ-Kanon und geballtem Wissen: in verständlich und für alle!

Vorwort
Servus und willkommen in meinem Buch! Wie wild, das zu tippen. Ich bin Teresa und ich wollte dieses Buch richtig lange richtig dringend schreiben. In der Schule war ich der Deutsch-Nerd, der zum Spaß so Sachen wie Gustav Freytags Die Technik des Dramas gelesen hat. Später dann habe ich Deutsch und Englisch auf gymnasiales Lehramt studiert – und selbst da war ich noch manchmal die größte Streberin im Raum. Das muss man echt erstmal schaffen. Sosehr ich alles geliebt habe, was ich lernen durfte, so sehr habe ich mich immer schon geärgert über scheinbar unveränderliche Leselisten, immergleiche Vorgehensweisen und Blickwinkel bei der Analyse oder Interpretation und müdes Lächeln auf Fragen, die ich wohl nicht hätte stellen – oder noch besser, gar nicht erst haben sollen. Dann habe ich angefangen, mich im Internetz über literarische Klassiker aufzuregen, mich in YouTube-Videos, Instastories und TikToks über Literatur zu freuen, sie zusammenzufassen und zu versuchen, einen Kontakt zu den Leuten herzustellen, die am meisten (und unfreiwilligsten) damit zu tun haben: Jugendliche. Und sie haben geantwortet. Ihr habt geantwortet. Ihr habt mich gefragt, was ihr euch im Unterricht nicht getraut habt zu fragen. Ihr habt verstanden, was ihr zuvor im Unterricht nicht verstanden habt. Und ihr habt euch bestätigt gefühlt, weil ich die gleichen Werke wie ihr gelesen und auch verstanden habe, sie aber trotzdem teilweise scheiße finde. Das ist erlaubt, es ist sogar normal. Bücher können die größten Klassiker der Welt sein und trotzdem euren persönlichen Geschmack nicht treffen. Darüber ist ein richtiger Austausch entstanden. Viele von euch haben anschließend tatsächlich Bock bekommen, die Werke zu lesen, die für die Schule gelesen werden sollten. Was mich allerdings am meisten umgehauen hat: Ihr habt begonnen, ein Mitspracherecht einzufordern darüber, was ihr in der Schule lesen sollt.
Erwachsene sind leider gut darin, sich darüber aufzuregen, dass Jugendliche immer weniger lesen, immer weniger davon verstehen, sich immer weniger für literarische Klassiker interessieren. Die eigentlichen Fragen sind jedoch: Ist das wirklich so und, falls ja, warum? Wenn ein literarischer Klassiker ach so zeitlos ist, wieso interessieren sich dann immer weniger Leute für ihn? Wieso finden Jugendliche (sowie Erwachsene) den Zugang dazu nicht mehr? Müssen Jugendliche wirklich ohne Hilfestellung Goethe lesen können? Müssen sie sich denn unbedingt ausschließlich in die Lage von längst toten weißen Männern versetzen? Gibt es nicht vielleicht (klassische) Literatur, die einen persönlicheren Zugang ermöglicht? Was zur Hölle sind Klassiker in der Literatur überhaupt, wer entscheidet das denn? Sind die wirklich so komplett genial, wie wir glauben? Und was können wir, die Erwachsenen, Lehrkräfte und Menschen, die Literatur vermitteln, tun, um den Zugang zu Klassikern leichter und diverser zu machen?
Jetzt hat sie schon in der Einleitung „weiße Männer“ gesagt, holy shit! Wenn wir schon dabei sind, kann ich da gleich noch ein bisschen aufräumen: Das hier ist kein Männerhassbuch. Es ist auch kein Autorenhassbuch (mit einer Ausnahme, hehe). Es ist auch kein Weiße-, Christ*innenoder cis Menschenhassbuch. Das hier ist ein Patriarchat und White Supremacy-Hassbuch. Ich hasse nicht, dass weiße Männer Bücher geschrieben haben. Ich hasse, dass Frauen und alle FLINTA+-Personen (also Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre und agender Personen), Bi_PoC Autor*innen (also Black, Indigenous und People of Colour), queere Autor*innen und Autor*innen, die behindert, nicht christlich oder aus der „Oberschicht“ sind, vom Schreiben, Veröffentlichen und Gelesenwerden abgehalten wurden und werden. Und, sorry not sorry, das ist die kollektive Schuld der weißen cis Männer. Lässt sich aber alles ändern (in verschiedenen Ausmaßen natürlich) und genau das soll dieses Buch zeigen.
Was wird also hier passieren? Drei Dinge im Groben. Zuerst schauen wir uns an, wozu Literatur eigentlich gut ist: Wieso gibt’s die, was tut sie, was bringt sie mir und was will die Schule damit? Was nützt mir das Analysieren und Interpretieren von Literatur fürs Leben und wieso muss ich die Epochen auswendig wissen? Solche Fragen. Im zweiten Teil nehmen wir den Schulkanon unter die Lupe, den es offiziell gar nicht gibt. Von dem außerdem immer behauptet wird, er wäre total neutral, objektiv und nach Niveau der Literatur zusammengestellt (Spoiler: Quatsch). In diesem Teil hinterfragen wir, wieso die brains hinter diesen Texten alles Männer sind, wieso die alle weiß, gebildet sind und aus den „oberen Gesellschaftsschichten“ kommen und so weiter. Und wo da die Diskriminierung steckt. Im dritten Teil werde ich dann zeigen, wen und was es da noch so gibt. Welche Werke und Stimmen verdrängt und aus dem Kanon verbannt wurden, wo die Frauen sind, die (gender)queeren Menschen, die Bi_PoC, die behinderten Menschen und so weiter. Es soll dabei auch um die Frage gehen, wie wir es vielleicht hinkriegen, dass diese Bücher auch Jugendliche (wieder) interessieren – und zwar mehr als den einen Nerd in der Klasse.
Versteht mich bitte nicht falsch: Ich liebe Literatur. Vielleicht mehr, als gut für mich ist. Ich liebe auch klassische Literatur. Nur war ich damit vor zehn Jahren schon die Ausnahme im Klassenzimmer und das ist so, so schade. Wer also einen Blog hat und bereits die Clickbait-Schlagzeile „Influencerin cancelt im Rundumschlag die ganze deutschsprachige Literatur“ vorbereitet hat, soll bitte erstmal weiterlesen. Wir sind auf derselben Seite, ich versprech’s.
Dieses Buch hier ist übrigens mit Absicht nicht in wissenschaftlichem Sprachstil geschrieben. Bücher über Literatur sind fast immer von und für Literaturwissenschaftler*innen. Und wenn Teenager keinen Bock haben, Goethe zu lesen, haben sie auch keinen Bock, einen wissenschaftlichen Aufsatz über Goethe zu lesen, komplett verständlich. Da mein Buch für alle lesbar sein soll, besonders für Jugendliche, die sich mit Literatur befassen möchten (oder müssen), gebe ich mein Bestes, mich so einfach wie möglich auszudrücken – und so, wie ich mit 16 gewollt hätte, dass es mir jemand erklärt.
Trotz aller Einfachheit will ich so genau wie möglich sein. Deshalb werde ich nur von „Autoren“ schreiben, wenn ich nur Männer meine. Genauso wie ich „Autorinnen“ nutze, wenn ich nur Frauen meine, und Autor*innen, wenn ich alle Geschlechter meine (nicht beide, alle!). Und wo man über Diskriminierung spricht, muss man ganz klar über Rassismus sprechen. Deshalb wird von weißen Autor*innen, Black, indigenous und/oder Autor*innen of Colour die Rede sein (gesammelt abgekürzt Bi_PoC). Diese sprachliche Unterscheidung macht die strukturelle, unser gesamtes gesellschaftliches System betreffende Diskriminierung sichtbar, unter der negativ Betroffene täglich leiden. Dementsprechend schreibe ich auch weiß kursiv und Schwarz groß. Das waren jetzt viele Fach- und Fremdwörter auf einmal, ich weiß. Zum Schluss ergibt das allerdings alles Sinn, trust me.
Ich bin mir sehr bewusst darüber, dass ich dieses Buch als nicht-behinderte, weiße cis Frau schreibe, also aus einer sehr privilegierten Position heraus. Deshalb schreibe ich hier teilweise über Diskriminierung, die ich nie erfahren habe und nie erfahren werde, und das ist immer eine schwierige Gratwanderung. Weil ich einerseits den Raum, der mir hier gegeben wird, nutzen und möglichst viel beleuchten will – und nicht nur das, was mich persönlich betrifft. Weil ich den Raum und die Privilegien, die ich habe, auch als Verpflichtung sehe, meinen Beitrag zu leisten. Es kann schließlich nicht immer nur an negativ Betroffenen hängenbleiben, aufzuklären und auf strukturelle Diskriminierung hinzuweisen. Und das ist, was ich hier tun will. Auf der anderen Seite will ich natürlich keinen Raum einnehmen, der mir nicht gehört oder zusteht. Deshalb verlasse ich mich an vielen Stellen auf die Expertise negativ betroffener Personen.
Man könnte über jedes Kapitel in diesem Buch ein ganzes Buch schreiben – und über manche Kapitel gibt es bereits welche. Was ich hier tun will, ist: zusammenfassen und in Zusammenhang setzen. Denn Feminismus darf nicht nur darauf aus sein, weiße Frauen weißen Männern gleichzustellen, sondern er muss gegen alle strukturellen Diskriminierungen kämpfen. Wenn ich also „feministisch“ schreibe, meine ich intersektionalen Feminismus. Also einen Feminismus, der berücksichtigt und sichtbar macht, dass Menschen mehrfach marginalisiert und auch mehrfach privilegiert sein können. Nur dadurch wird eine bessere und gerechtere Zukunft für alle möglich. Vor diesem Hintergrund will ich zeigen, wer im literarischen Kanon alles nicht auftaucht, warum das so ist und dass es noch sehr viel mehr Werke gäbe, die in diesen Kanon gehören sollten. Müssen sogar. Okay? Cool.
Also, auf los geht’s los.
Los.

Der Kanon ist ein Gewohnheitstier
Ich verstehe also rein strukturell echt, wieso die meisten Werke, die man in der Schule liest, von weißen, christlichen, hetero cis Männern ohne Behinderung aus der „oberen Gesellschaftsschicht“ sind. Sie hatten in der Literatur immer schon die Oberhand, die Werke sind bekannt, die Autoren sind bekannt, und, ja, ich gebe es zu, die meisten Werke, die es gibt, sind von ihnen. Doch das ist eben nicht einfach so passiert, sondern liegt daran, dass alle anderen aktiv unterdrückt wurden. Ich kann ja aber nicht die Erste sein, der dieses Ungleichgewicht aufgefallen ist¹ – bin ich auch nicht! Bei weitem nicht. Es gibt schon so viele Bücher und Artikel und Projekte für einen diverseren Kanon. Kritik an kanonisierter Literatur gibt es also schon lange und sie wird immer lauter – nur leider kommt sie immer nur von Einzelnen und meist auch eher aus wissenschaftlichen Kreisen, wodurch sie nicht bis außerhalb dieser Grenzen dringt. Aber wieso wird denn immer noch das Gleiche gelesen, wenn man längst weiß, dass es viel mehr gibt? Der Grund, wie immer: das Patriarchat, White Supremacy und die Macht- und Diskriminierungsstrukturen, in denen wir leben. Die gibt es schon sehr lang und deswegen ist es super schwierig, sie aufzubrechen. Wir müssen aber. Vielleicht kann ich dafür ein paar Schrauben aufzeigen, an denen man drehen kann.
Ein Grund dafür, dass in der Schule immer das Gleiche gelesen wird, ist der damit verbundene Aufwand für die Lehrkräfte. Ist das Buch lieferbar? Wie teuer ist es? Gibt es Unterrichtsmaterial dazu? Gibt es Filme oder Inszenierungen online? Das alles muss man erst mal checken, bevor man ein Buch auf die Leseliste setzt. Da spielen Verlage, wie zum Beispiel der Reclam Verlag, eine große Rolle. Denn die meisten Bücher, die ich in der Schule gelesen habe, gab es als günstige Reclam-Ausgabe und das hat mir den Arsch gerettet. Sie sind klein und günstig und sie machen klassische Literatur leichter zugänglich. Und es gibt Lektüreschlüssel und Ausgaben für Schüler*innen, in denen Wörter oder Anspielungen erklärt werden. Ich besitze selbst über 100 von den Dingern² und liebe sie komplett. Natürlich gibt es noch die Hamburger Lesehefte oder andere Verlage, aber Reclam hat schon eine gewisse Oberhand – und damit auch eine große Verantwortung. Zum Beispiel gibt es beim Reclam Verlag Sonderausgaben für die größten Schulklassiker und da ist exakt eine Frau dabei: Annette von Droste-Hülshoff mit Die Judenbuche. Von den 23 Autor*innen sind auch nur fünf nicht christlich und das sind Sophokles, der im antiken Griechenland lebte, und Kafka, Schnitzler, Heine und Zweig, die Juden waren. Schwarze Menschen, indigene Menschen und Personen of Colour sind keine dabei. Genauso wenig eine (offen) queere Person, eine behinderte Person oder eine aus der „Arbeiter*innenklasse“, geschweige denn eine mehrfachmarginalisierte Person. Begründet hat Reclam das damit, dass sie sich mit ihren Programmen einfach nach den Lehrplänen richten – Ministerien aber sagen, sie orientieren sich am Reclam Verlag und damit daran, was günstig und lieferbar ist. Dabei hätten beide Seiten, also Verlage und Ministerien, die Macht, sich gegenseitig zu beeinflussen. Und entweder checken sie das nicht, oder sie wollen einfach nicht anders.
Wie ganz am Anfang des Buchs schon gesagt: Damit will ich überhaupt nicht die Lehrkräfte bashen, ich will nur betonen, dass die Verantwortung für den Schulkanon hin- und hergeschoben wird. Damit „neue“ Klassiker verlegt werden, braucht es Nachfrage. Es muss jemand anfangen – sei es eine übermotivierte Lehrkraft oder ein Kulturministerium. Auch die Verlage könnten bestimmt ein bisschen mehr Aufsehen für „neue“ Klassiker generieren, wenn sie wirklich wollen würden. Das Problem ist eben fehlendes Interesse. Der Kanon wird nicht hinterfragt, geschweige denn geändert. Viele Lehrkräfte wollen nichts lesen, bei dem es eventuell ein bisschen zu viel um Sexismus, Rassismus, Klassismus oder Ableismus geht oder einfach um marginalisierte Perspektiven. Weil das unbequem ist und Arbeit macht. Oder leider, weil immer noch viele Menschen denken, das gäbe es alles gar nicht und die jungen Leute wären alle „snowflakes“ – was natürlich kompletter Quatsch ist, wir fordern nur unsere Rechte ein. Ich versteh auch irgendwie, dass das ein bisschen viel ist alles, aber so geben wir diese Diskriminierungen halt Generation um Generation weiter anstatt sie zu bekämpfen und zu beenden. Und damit ist wirklich niemandem geholfen. Nicht den Autoren, die längst tot sind, nicht dem Unterricht oder den Lehrkräften und vor allem nicht den Kindern und Jugendlichen. Diskriminierung existiert nun mal, wir werden die nicht von heute auf morgen beseitigen können. Negativ Betroffenen zuhören und von ihnen lernen (und sie entsprechend entlohnen!), sich der eigenen Privilegien bewusst werden und sich selbst hinterfragen wären schon mal geile erste Schritte, find ich.
Ein weiterer Grund ist auch relativ simpel: fehlendes Interesse an der Sache insgesamt. Ich will der Literaturwissenschaft jetzt nicht zu nahetreten, doch für die meisten Leute ist das nicht das spannendste Feld der Welt, schon überhaupt nicht für Jugendliche. Die Diskussion darüber, was jetzt genau an Schulen gelesen werden sollte, ist eben sehr literaturwissenschaftlich. Heißt, es wird hauptsächlich an den Universitäten diskutiert, auch da mehr unter den Dozierenden als den Studierenden oder angehenden Lehrkräften. Wenn dann Artikel oder Sachbücher rauskommen, die sich mit dem Thema befassen, wer liest die? Leute, die sich eh schon sehr für Literaturwissenschaft interessieren. Und das sind nicht unbedingt die Deutschlehrkräfte (die haben wissen müssen) und auf keinen Fall die Schüler*innen. Das ist eigentlich genau, was ich mit diesem Buch will: das Thema an die Schüler*innen und jungen Menschen bringen. Weil genau ihr mir gezeigt habt, dass eine Veränderung so herum klappt.
Meine Videos im Internet hatten nie den konkreten Plan, relevant für den Deutschunterricht zu werden, wirklich nicht. Mein Konzept am Anfang, als das YouTube-Format noch „Drunk Classics“³ hieß, war, mir zwei Weinschorlen in den Kopfbahnhof zu schaffnern und über klassische Literatur zu ranten – weil ich das ein bisschen zu gern mache, weil es die Leute in meinem Privatleben herzlich wenig interessiert und auch einfach, weil halt Lockdown war und ich was zu tun brauchte. Was dann aber passiert ist, seid ihr Geilen. Ihr habt meine Videos Lehrkräften gezeigt und, noch viel krasser: Ihr habt angefangen, zu diskutieren, was ihr lesen wollt und was nicht. Meine Videos konnten so beispielsweise schon einige Klassen davor bewahren, Die Marquise von O. … zu lesen – weil ihr euch gewehrt habt! Wenn du also der eine Literaturnerd in deiner Klasse bist, der dieses Buch gelesen hat: Danke dir! Fang an, zu diskutieren! Der dritte Teil dieses Buches ist komplett voll mit Alternativen für (ich hoffe) jede Vorgabe im Literatur-Lehrplan. Niemand soll je wieder alternativlos Die Marquise von O. … oder Effi Briest lesen müssen.
In der klassischen Literatur haben wir also leider im Vergleich wirklich wenig, was nicht von weißen, christlichen cis Männern geschrieben wurde (oder wo zumindest ihr Name draufsteht). Das ist super schade, aber leider auch nicht mehr wirklich zu ändern. Es kann natürlich gut sein, dass noch ein paar Mal rauskommt, dass in Wirklichkeit die Frau des ach so großen Dichters und Denkers „genial“ war und er einfach seinen Namen auf ihr Werk draufgeklatscht hat. Oder dass noch ein paar verdrängte Werke auftauchen. Aber wir werden einfach damit arbeiten müssen, dass wir – zumindest wenn wir uns mit Klassikern beschäftigen – nicht immer eine andere Perspektive als diese haben. Da sollte es doch förderlich und wünschenswert sein, an den Stellen im Lehrplan, wo man Literatur von marginalisierten Menschen zur Verfügung hat, ebendie zu lesen. Gezielt und mit Absicht. Das heißt auch, dass man absichtlich etwas liest, was (noch) nicht zu 110 Prozent Klassiker ist wie das. Das wird sich aber erstens mit der Zeit ändern – weil was Klassiker sind, entscheiden wir, und was wir unaufhörlich lesen, wird zum Klassiker – und zweitens muss es uns das wirklich wert sein, finde ich. Wenn es sowieso Stellen im Lehrplan gibt, wo es beispielsweise um Frauen oder Menschen aus der „Arbeiter*innenklasse“ geht, dann sollten wir uns zumindest bemühen, Bücher zu lesen, die von negativ Betroffenen selber kommen. Damit nicht nur über sie gelesen und geredet wird, sondern wirklich ihre Perspektive gesehen und gelesen wird. Das wäre nicht nur schön, es ist einfach nötig.


¹ Ich find mich schon clever, aber so clever bin ich auch nicht.
² Das ist der nischigste Flex, den ich je gemacht habe, und ich bin komplett stolz drauf.
³ Das musste ich ändern, weil der Algorithmus das gehasst hat.

Leseprobe aus „Du Herbert“ von Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser

Eine Komposition männlicher Gewalt: Im Jahr 2020 gab es auf orf.at über 450 Berichte über Gewalt von Männern. Die Zahl scheint hoch, doch umfasst sie längst nicht alle Taten. 450 Screenshots, die als Ausgangspunkt für „Du Herbert“ dienen – eine Auseinandersetzung mit der Grausamkeit, die den gewalttätigen Handlungen zugrunde liegt: Männlichkeit. Bereits in der Einleitung zum Buch trifft uns die grausame Realität wie ein Schlag in die Magengrube. Einmal mehr. Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser haben die Normalität männlicher Gewalt in Kunst verwandelt, die nicht mehr loslässt. Literatur, Wissenschaft und Beweisführung vereinen sich und machen deutlich: Die Auswirkungen von Männlichkeit sind keine Minute länger erträglich.

Anleitung zur Grausamkeit!

Männliche Gewalt ist allgegenwärtig. Ob in Beziehungen, im Berufsleben, an öffentlichen Orten oder in dunklen Ecken: Es sind in der Regel Männer, die zerstören, verletzen, rauben, morden, über andere herfallen, Macht und Kontrolle ausüben und ihre langsam bröckelnde Vorherrschaft um jeden Willen verteidigen wollen. Sie stellen eine Bedrohung für sich selbst und ihre Umwelt dar, glauben sich dennoch stets im Recht und verstehen sich als Ma stab aller Dinge. So sind diese toxischen Verhaltensweisen auch Beweis dafür, dass unzählige Männer nie gelernt haben, mit Konflikten, Streit und Zurückweisung konstruktiv umzugehen und sich selbst sowie mit männlicher Sozialisation verbundene Privilegien einer kritischen Reflexion zu unterziehen.
Ein Jahr lang – 2020 – haben wir Screenshots der orf.at-Startseite (Chronik Österreich) gesammelt, um zu dokumentieren, in welcher Fülle und Rasanz die unterschiedlichsten Taten von Männern begangen werden. Sie liefern die Grundlage für die hier abgedruckte, vielschichtige Auseinandersetzung mit der Gewaltförmigkeit unterschiedlicher Männlichkeiten, die sich aus dokumentarischen, literarischen wie auch wissenschaftlichen Elementen speist und ein hybrides Text-Bild-Format entstehen ließ. Aus den Geschichten und Themen der Berichterstattung sowie der darin erwähnten Gewalttaten von Männern schuf Lydia Haider das hier vorliegende literarische Werk, das von Judith Goetz durch die Taten erklärende Fußnoten ergänzt wurde, während Marina Weitgasser die von ihr gesammelten Screenshots aufgearbeitet und im Text platziert hat.
Die rund 450 Berichte, die wir dabei zusammengetragen haben, stellen jedoch nur einen kleinen Ausschnitt aller gewalttätigen Handlungen von Männern dar, da unsere Sammlung doppelt begrenzt wurde: einerseits dadurch, welche Taten – beispielsweise über Anzeigen, polizeiliche Meldungen oder politische Skandale – überhaupt Eingang in die öffentliche Wahrnehmung fanden, und andererseits dadurch, welche Ereignisse orf.at als so relevant eingestuft hat, dass sie es auf die Startseite schafften. Die sogenannte Dunkelziffer muss folglich noch deutlich höher eingeschätzt werden.
Die Informationen, die wir aus den Beiträgen zusammengetragen haben, sind oft selektiv und spärlich. Durch die Berichterstattung finden bereits erste Interpretationen statt, und bei vielen Einordnungen handelt es sich um Spekulationen, da ausreichende Informationen oftmals fehlen. Diese Herausforderungen haben an dieser Stelle jedoch keine Bedeutung, denn letztlich sind die konkreten Taten und Täter austauschbar, weil sich ähnliche Muster immer wieder wiederholen. Entsprechend kam es im Jahr 2020 nicht nur einmal dazu, dass Burschen oder Männer aus Langeweile mit verschiedenen Waffen aus ihren Wohnungen schossen oder im stark alkoholisierten Zustand sowie unter Drogeneinfluss (zu schnell) Auto fuhren und dadurch andere Menschen verletzten oder zumindest gefährdeten. Zigfach missbrauchten Männer in diesem Jahr Kinder, Mädchen wie Burschen und Frauen sexuell, bedrohten andere Menschen – häufig mit dem Umbringen – und/oder taten ihnen Gewalt an. 31 Mal wurden Frauen von Männern ermordet, in den allermeisten Fällen kannten sich Opfer und Täter und standen entweder in einer (Liebes-)Beziehung zueinander oder hatten sich gerade getrennt. Oft sind die den Taten zugrundeliegenden Motive (noch) unbekannt, und werden diese in der Berichterstattung genannt, stehen nicht selten verharmlosende, sexistische Deutungsmuster wie Eifersucht als Begründung der Taten im Mittelpunkt. So zeigt sich wiederholt, dass Trennungen und Scheidungen die gefährlichsten Phasen im Leben von Frauen darstellen, da zahlreiche Gewalttaten gegen Frauen – auch in diesem Jahr – genau zu ebendiesen Zeitpunkten verübt wurden.
Wenngleich die häufigsten Mittel der männlichen Gewaltanwendung 2020 (Küchen-)Messer und Schusswaffen sowie körperliche Gewalt darstellten, reichten sie von einem Fondue-Spie , einem Sparstrumpf über Schwerter, Schnitzelklopfer, Golfschläger, Pfefferspray, Schraubenzieher, Macheten bis hin zu Schuhlöffeln, Lattenroststangen oder Äxten und Hundeleinen. Ebenso unterschiedlich sind die beruflichen und sozialen Hintergründe der Täter, zu denen neben (hochrangigen) Polizisten oder (Polizei-)Ärzten u.a. auch Gastwirte, Köche, Lehrer, Bankmanager, Feuerwehrmänner, Politiker, Busfahrer oder (einfache) Jugendliche zählten. Entgegen hegemonialer Vorstellungen findet männliche Gewalt in allen Berufsgruppen statt und wird mit allen möglichen und vorhandenen Mitteln von Männern ausgeübt. Durch den Ausbruch von Covid-19 zeigte sich zudem spätestens ab Mitte März 2020, dass zahlreiche Taten in direktem Zusammenhang mit der Pandemie oder den Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung standen.
Wenn wir im Folgenden Bezug auf die in Österreich von Männern verübten Gewalttaten nehmen, verzichten wir darauf, diese im Konjunktiv zu beschreiben und von Unschuldsvermutungen oder ‚mutmaßlichen‘, ,vermeintlichen‘ oder ,angeblichen‘ Tätern zu schreiben – auch wenn entsprechende strafrechtliche Verurteilungen zumeist (noch) nicht gegeben waren oder bis heute nicht sind. Wir haben diese aus mehreren Gründen nicht weiterverfolgt oder recherchiert. Weder schenken wir der Berichterstattung, die unsere zentrale Informationsquelle darstellt, kritiklos Glauben, noch vertrauen wir der Polizei und Justiz, geschlechtsbezogene Gewalt als das zu erkennen, was sie ist, und sie innerhalb des bestehenden Rechtssystems adäquat bestrafen zu können. Nicht zuletzt wissen wir, dass Bestrafungen oder auch die Androhung selbiger Täter nicht davon abhält, anderen Menschen Gewalt anzutun, und entsprechend sehen wir den Handlungsbedarf auch und vor allem an anderer Stelle. Insofern ist es für unser Projekt irrelevant, ob und wer rechtlich belangt wurde oder nicht, und so werden Verurteilungen ebenso wie Freisprüche nur dann erwähnt, wenn sie Thema der gesammelten Berichte sind. Wir setzen die beschriebenen Taten als gegeben, denn selbst wenn sich eine dieser unzähligen ungeheuerlichen Geschichten als unwahr herausgestellt hätte oder ein Täter – aus welchen Gründen auch immer – freigesprochen worden wäre, können wir uns sicher sein, dass die erwähnten Taten auf ähnliche Art und Weise in anderen Kontexten von Männern verübt wurden (und lediglich von der Berichterstattung unerwähnt blieben). Sie fungieren somit als Ausgangspunkt unseres Texts, den wir mit der Intention verfasst haben, männliche Gewalt und patriarchale Verhältnisse sichtbar zu machen und zu benennen. Es geht uns dabei weniger um die individuellen Vorfälle, als darum, die hohe Frequenz, Brutalität und Systematik, mit der die Taten vollzogen werden, aufzuzeigen.
In unserem Text verzichten wir weitgehend darauf – wie in der österreichischen Berichterstattung zumeist üblich –, die in den Reisepässen angegebenen Staatsbürgerschaften oder sogenannten, ‚ursprünglichen Herkunftsländer‘ der Täter zu erwähnen, weil wir glauben, dass diese Informationen in erster Linie dazu dienen, Rassismus zu schüren und von den eigentlichen Problemen abzulenken. Alle in unserem Text erwähnten Täter teilen sich schließlich nicht den gleichen Geburtsort, sondern weisen eine andere, ganz zentrale Gemeinsamkeit auf: ihre Männlichkeit. Auch die hinter den Taten stehenden Legitimationsmuster wie die Vorstellung männlicher Überlegenheit, Dominanzansprüche, patriarchales Besitzdenken und Kontrollstreben, Selbstüberschätzung oder heteronormative Geschlechterrollen unterscheiden sich weniger im Hinblick auf Nationalitäten als auf gelebte und angestrebte Männlichkeitsbilder. So haben selbst Dschihadisten mit autochthonen Rechtsextremen mehr gemeinsam, als ihnen lieb ist.
Da die Berichterstattung, auf die wir Bezug nehmen, von einem binären Geschlechtersystem ausgeht und nur Männer und Frauen als geschlechtliche Identitäten anerkennt, haben wir diese Logik in unserem Text übernommen, auch wenn wir wissen, dass sich abseits dieser Positionen noch viele andere geschlechtliche Lebensentwürfe finden. Diesen Widerspruch, dass wir von den Gewalttaten aus jenen Medien erfahren, die geschlechtliche Vielfalt nicht berücksichtigen und es daher verunmöglichen, die jeweiligen Selbstbezeichnungen der Betroffenen adäquat wiederzugeben, konnten wir hier folglich nicht auflösen. Dennoch ist es nicht unsere Intention, dazu beizutragen, die Lebensrealitäten und insbesondere die Gewalterfahrungen von Lesben, intergeschlechtlichen, nichtbinären und trans* Personen unsichtbar zu machen. Vielmehr wollen wir dazu auffordern, beim Lesen des Texts immer mitzudenken, dass nicht alle von Gewalt Betroffenen sich in der Geschlechterdichotomie von Mann und Frau wiederfinden – auch wenn die jeweiligen Identitäten nicht immer explizit benannt werden (können).
Nicht nur die Gewalttaten selbst, sondern auch die Art und Weise, wie darüber auf orf.at berichtet wird, macht Teil unserer Auseinandersetzung aus. Neben den bekannten irreführenden und dadurch verharmlosenden Schlagwörtern wie ‚Bluttaten‘, die 26 Mal in der Berichterstattung vorkommen oder ‚Beziehungstaten‘, die fünf Mal erwähnt werden, ist die Häufigkeit, mit der orf.at von ‚Situationen‘ (34 Mal) oder ‚Streits‘ (145 Mal, davon zehn Familien- und vier Beziehungsstreits) schreibt, die ‚eskaliert‘ (39 Mal) seien, gelinde gesagt, auffallend. Gerade die Rede von ,Situationen‘ versucht vermutlich, Bewertungen und (vorschnelle) Einordnungen zu vermeiden, um dadurch vermeintliche (journalistische) Neutralität und Äquidistanz zu transportieren, die eine Teilschuld aller Beteiligten zumindest als möglich einräumt. Genau diese Darstellung blendet aber aus, dass diese ‚Situationen‘ nicht vom Himmel fallen oder ohne das Mitwirken bestimmter Personen entstehen. Dadurch wird schlichtweg verschwiegen, wer die eigentlichen Verursacher dieser Gewalttaten und -dynamiken sind, und unsichtbar gemacht, dass kein Verhalten oder Tun der Betroffenen es rechtfertigt, auf die in den gesammelten Beispielen veranschaulichte Art und Weise mit Gewalt zu reagieren. Dasselbe gilt auch für das in der Berichterstattung häufig wiederkehrende Erklärungsmuster, dass den Taten ein ‚Streit‘ vorausgegangen sei, obgleich auch Streitigkeiten keinen hinreichenden Grund darstellen, anderen Menschen Gewalt anzutun, sie zu verletzen, zu missbrauchen, zu bedrohen, zu demütigen oder im schlimmsten Fall zu ermorden. Nicht selten werden in der Berichterstattung den Perspektiven der Täter bzw. deren Erklärung ihrer Gefühle umfassend Raum gegeben, während die Perspektiven der Betroffenen oder ihrer Angehörigen ausgespart bleiben – und dadurch auch die zumeist fatalen Konsequenzen der Taten.
Sich selbst nicht als potentielle Betroffene dieser Gewalt zu sehen oder entsprechende Taten zu leugnen, kleinzureden und runterzuspielen, ermöglicht und erleichtert es vielen Menschen, sich zu distanzieren und nicht dort hinzusehen, wo es wehtut. Die hier in diesem Buch zusammengetragene Auswahl männlicher Gewalttaten übersteigt in vielerlei Hinsicht unsere Vorstellungskraft – in Hinblick auf die Grausamkeit, die Alltäglichkeit oder auch die Häufigkeit der Taten. Aber das ist gut so, denn nur, wo sich die Abstumpfung noch nicht gänzlich ausbreiten konnte und die Normalisierung noch nicht abgeschlossen wurde, besteht die Möglichkeit, in den Wunden dieser Gesellschaft zu bohren und die Unerträglichkeit in den Blick zu rücken.
In diesem Buch wollen wir daher nicht nur die männlichen Gewalttaten benennen und sichtbar machen, sondern auch (erklärende) Verbindungslinien zeichnen und zeigen, was Taten wie Täter mit Patriarchat, Sexismus, Misogynie und Männlichkeit zu tun haben.
Mit diesem Buch wollen wir aber auch zu einem oder mehreren Arschtritten ausholen, die die Perspektive hin zum Unerträglichen verschieben und längst überfällige Veränderungen dahingehend einleiten, (gewalttätigen) Männlichkeiten ihre konstitutiven Fundamente zu entreißen.

Wien, am Valentinstag 2022

 

Aus „Du Herbert“ von Judith Goetz, Lydia Haider und Marina Weitgasser