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„Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot.“ – Aleš Šteger im Interview über sein Logbuch-Projekt und die schriftstellerische Arbeit

Je zwölf Stunden an zwölf Orten im Laufe von zwölf Jahren. So lange schrieb der slowenische Autor Aleš Šteger an seinem Projekt, das unter dem Titel „Logbuch der Gegenwart“ in drei Bänden im Haymon Verlag erschienen ist. Der letzte Band, „Aufgehen“, ist mit 7. März 2024 im Buchhandel erhältlich. Von Slowenien über China bis nach Chile und Somaliland reiste er, traf auf Kulturen, Schicksale, Geschichten, die er mit Stift und Papier sowie mit seiner Kamera für die Ewigkeit festhielt. Wir haben uns mit Aleš Šteger über die poetische Wahrnehmung der Welt, die Arroganz der Europäer*innen dem Fremden gegenüber und seine Logbücher unterhalten.

Ein im Voraus festgelegter, möglichst öffentlicher Ort, der eine lebendige, unvorhersehbare Geschichte erzählt. Ein ebenso festgelegtes Datum, das mit einer gewissen Menge an Erinnerungsgepäck beladen ist. Eine auf zwölf Stunden begrenzte Schreibzeit, innerhalb derer ein Text entstehen soll, der anschließend schnellstmöglich veröffentlicht wird. Das sind die Grundregeln, die alle drei Logbücher eint. Gehen wir kurz mal zurück ins Jahr 2012, als das alles anfing: Wie kam dir die Idee zum Logbuch-Projekt? Gab es einen konkreten Auslöser oder schlummerte diese Idee schon länger in dir?

Die Idee dazu entstand aus einer Lebens- und Schreibkrise. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot. Ich brauchte eine neue Herausforderung, eine Aufgabe, die mich in meiner Arbeit als Schriftsteller forderte.
Dann kam dieser Einfall, sich selbst ein paar sehr elementare, fast unmögliche Regeln aufzuerlegen, sich an einem Ort niederzulassen, wo jederzeit alles schiefgehen kann. Diese fehlende Planbarkeit und die Offenheit, die viel Vertrauen in sich selbst und in den Prozess erfordern, waren mein Weg zurück. Zurück zur Literatur, zur elementaren poetischen Wahrnehmung der Welt und der Menschen – und zum Logbuch.

Du bist ein unbestechlicher Beobachter, beschreibst deine Wahrnehmungen der Umwelt und die Stimmungen, die dich umgeben, so, dass ein klares Bild entsteht und gleichzeitig Raum bleibt für die literarische Wirkmacht deiner Texte. Siehst du die Welt und die Menschen darin nun nach deinen Reisen mit anderen Augen?

Ich muss mich selbst immer wieder dazu ermahnen, nicht zu genau zu sein und meiner Fantasie und Kreativität genug Raum zu lassen. Denn es geht ja nicht nur um das Gesehene, sondern vor allem um das Erahnte, Erträumte, um Assoziationen und die schwierige Frage dahinter: Warum? Das Reisen hat mich aber zum Menschen gemacht, der ich bin, mit oder ohne Logbuchprojekt im Rucksack. Es hat mich der Welt gegenüber geöffnet und mir gelehrt, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht verstehe. Immer aufs Neue die Welt zu hinterfragen – aber sanft, nie besserwisserisch. Arroganz ist uns Europäer*innen ja von klein auf mitgegeben und man muss sehr viel Selbstreflexion durchlaufen, um sie wieder loszuwerden. Arroganz dem Fremden gegenüber ist ja nichts anderes als die Rückseite der Angst, die Ungewissheit, der wir uns nicht stellen wollen, uns dem Neuen nicht öffnen können.

 

© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Aleš Šteger, geboren 1973 in Ptuj, ist ein slowenischer Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor. Er veröffentlichte bislang mehrere Lyrik- und Prosabände, zuletzt seine Erzählungen „Das Lachen der Götter” (2016). Für seine Gedichte und Essays erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1998 den Veronika-Preis, 2008 den Rožanc-Preis, 2011 den Best Translated Book Award für seinen Gedichtband „Buch der Dinge”, 2016 den Horst-Bienek-Preis. Zudem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.

Du berichtest von politischen Stimmungen, gesellschaftlichen Minderheiten, sozialen Ungerechtigkeiten, von Armut und Lebensfreude, Schicksalsschlägen und Hoffnungsschimmern – ganz gleich, wo du dich befindest. Was macht uns Menschen aus? Konntest du durch deine Reisen Verbindendes entdecken, das in uns allen ist, unabhängig von kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten?

Wir Menschen sind einander viel ähnlicher, als wir es uns eingestehen wollen. Gleichzeitig verbirgt sich in uns vieles, das verschüttet oder verstummt zu sein scheint, in gewissen Konstellationen aber sofort wieder zum Vorschein kommt. Zum Beispiel die Erfahrung der frappanten Möglichkeit, sehr lange Erzählungen nach dem Zuhören wortwörtlich wiederzugeben, was in Somaliland auch heute noch gang und gäbe zu sein scheint. Eine Erinnerungskunst, die bei uns fast gänzlich durch Technik ersetzt wurde. Wir können so vieles sein und sind auch so vieles, ohne es zu wissen.

Welche Begegnung auf deinen Reisen für das Logbuch ist dir besonders in Erinnerung geblieben, welches Bild hat sich in dein Gedächtnis eingebrannt?

Das ist vielleicht das Besondere an diesem Projekt. Da es mit einer im Vorhinein festgelegten Zeitstruktur, einem Zwölf-Stunden-Fenster operiert, in dem alles passiert (oder eben nichts), entsteht ein sehr großer Aufmerksamkeitsdruck. Alles, was ich erlebe, jede*r, dem*der ich begegne, brennt sich mit einer immensen Prägnanz in meine Erinnerung ein. Ich kann alle zwölf Orte, alle zwölf Schreibreisen in mir sofort wieder abrufen. Das gelingt mir sonst im Alltag nicht. Aber die Sprache macht das möglich, wie so vieles …

Du bist Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor und bezeichnest dich selbst als „literarische Amphibie“ und „Grenzgänger zwischen verschiedenen Literaturwelten“. Ist Sprache für dich die beste Ausdrucksform, oder gibt es neben der Literatur auch noch andere für dich?

Sprache ist bestimmt das Medium, in dem ich mich am sichersten bewege. In den letzten Jahren hat sich meine Art des Ausdrückens erweitert, vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem Akkordeonisten Jure Tori auf eine Vortragsart, die wir „poetisch-musikalisches Ritual“ nennen.
Für das Logbuch habe ich mir etwas anderes einfallen lassen: eine Reiseperformance in Worten, Klängen und Bildern. Eine Reise um das Jetzt in zwölf Welten.
In all diesen Vortragsformen geht es aber um dasselbe, nämlich darum, eine Brücke zum Text zu bauen, damit dieser sich im Kontakt mit dem Unbekannten entfalten kann, so wie er sich in mir entfaltet. Das ist eine bereichernde Tätigkeit: die Leute in mein Geheimnis mit einzubeziehen und die Erfahrung der Wachheit des Textes zu teilen.

Wie geht es weiter für dich? Arbeitest du bereits an einem neuen Projekt?

Ich sitze gerade an einem Roman und einem Gedichtband. Es sind diesmal vor allem Reisen ins Innere, in Archive und in den Alltag. Es muss ja nicht immer eine Weltreise sein, um die Welt zu ertasten. Etwas Vergleichbares wie das Logbuch-Projekt nochmal zu machen, scheint für mich nicht realisierbar. Es erfordert schlicht und ergreifend sehr viel Lebenskraft – so etwas machen auch die größten literarischen Draufgänger*innen nur einmal.

Macht canceln Kultur? – Interview mit Kulturjournalist Johannes Franzen

Cancel Culture – ein Begriff, der Schlagzeilen macht und nicht allzu oft missverständlich Verwendung findet. Während ihn viele als moralische Überlegenheit begreifen, stellen andere ihn als linke Diktatur an den Pranger oder läuten gar das Ende der Demokratie ein. Doch was genau verbirgt sich hinter der stark emotional aufgeladenen Debatte zu moralisch korrektem oder inkorrektem Verhalten? Wie spiegeln sich unterschiedliche Wahrnehmungen in unserer Gesellschaft wider? Und wie sinnvoll ist es überhaupt, von Cancel Culture zu sprechen? Wir wollen es genauer wissen und haben Literaturwissenschaftler und Kulturjournalisten Johannes Franzen befragt.

Johannes Franzen, Cancel Culture oder Political Correctness – der Mythos hat viele Namen, deshalb fällt es auch so schwer, eine konkrete Definition dafür zu finden. In einem Ihrer X-Einträge (ehemaliges Twitter) beschreiben Sie Cancel Culture als „Selbsterzählung von Menschen mit Macht, die die Funktion hat, sich selbst als machtlos zu begreifen“. Wie genau kann man das verstehen? Und inwiefern hängt Cancel Culture mit Macht zusammen?

Zunächst muss man in aller Deutlichkeit sagen, dass es Cancel Culture gar nicht gibt. Man hat es, wie Osita Nwanevu schon 2019 in einem brillanten Artikel beschrieben hat, mit einem Schwindel („Con“) zu tun. Bei Cancel Culture handelt sich um eine kulturkritische Erzählung, die davon ausgeht, dass wir in einer Zeit leben, in der Menschen des öffentlichen Lebens von einem progressiven Mob vernichtet werden, weil sie gegen ein angeblich herrschendes Regelwerk (Rassismus, Sexismus) verstoßen haben. Diese „Kultur“ tritt in der paranoiden Fantasie ihrer Kritiker:innen oft als äußerst vager digitaler Mob auf. Diese Erzählung hat den Vorteil, dass sich Menschen, die nach allen soziologischen Kriterien zur Elite des Landes gehören (Professoren, Chefredakteure, Politiker) als Opfer und Außenseiter begreifen können – ein Symptom für die peinliche Machtvergessenheit liberaler Gesellschaften.

Können Cancel Culture und Political Correctness gleichgesetzt werden? Wer bedient sich dieser Begriffe?

Es gibt, wie man in Adrian Daubs Buch Cancel Culture Transfer nachlesen kann, eine Tradition solcher Begriffe, die im Wesentlichen die Funktion haben, progressive Anliegen abzuwehren. Es ist natürlich wirkungsvoller zu sagen: Der Kampf gegen Rassismus oder die Gleichberechtigung der Geschlechter geht zu weit, als offen zuzugeben, dass man ein Problem mit diesen Prozessen hat. So kann man in eine Viktimisierungskonkurrenz zu Menschen eintreten, die tatsächlich diskriminiert werden. Die Begriffe lösen sich dabei gegenseitig ab, immer dann, wenn die Gesellschaft dem Schwindel auf die Schliche kommt. Zuletzt wurde Cancel Culture durch den Kampfbegriff „woke“ ersetzt, der aus der Schwarzen Aktivistenkultur kommt und von rechten Aktivisten zu einem Schimpfwort umgedeutet wird. Es ist eigentlich ziemlich transparent, worum es hier geht.

 

© Katharina Stahlofen

Johannes Franzen ist Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist. Er arbeitet für Medien wie die F.A.Z.tazZeit Online oder den Deutschlandfunk. Er ist Mitgründer, Herausgeber und Redakteur des Online-Feuilletons 54books und betreut die Seite POP Online. Seit April 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Siegen.

Das Phänomen wird auch in der Literaturbranche immer wieder heftig diskutiert. Vor einiger Zeit löste Salman Rushdie eine Debatte über die Bearbeitung von Roald Dahls Kinderbüchern aus. Der britische Verlag Puffin Books ließ dabei diskriminierende Wörter, wie „fett“ oder „hässlich“ streichen und ersetzte sie durch angemessenere Adjektive. Rushdie empörte sich darüber und bezeichnete das Vorgehen als „absurde Zensur“. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie darüber gelesen haben?

Mein erster Gedanke bei solchen Nachrichten ist inzwischen eigentlich immer ein gewisses Grauen vor der Debatte, die das jetzt erzeugen wird. Diese Debatten laufen ja immer nach dem gleichen Muster ab und haben so gut wie keinen intellektuellen Mehrwert. Die neue Zensurdebatte ist dermaßen politisiert, dass ein Denken außerhalb der unmittelbaren Aufregung nicht mehr möglich ist. Dabei lassen sich eigentlich ein paar interessante Fragen stellen. Die Retromanie der Gegenwart – jeder Stoff muss zu einem Remake oder Reboot verwurstet werden – führt natürlich dazu, dass Menschen erst recht mit den Problemen ihrer geliebten ästhetischen Jugenderfahrungen konfrontiert werden. Wenn man Roald Dahl oder James Bond einfach in Ruhe lassen und sich einmal etwas Neues überlegen würde, dann hätte man diese Probleme nicht. Im Endeffekt ist es aber vor allem eine ökonomische Frage. Es ist eine lächerliche Vorstellung, ein Großverlag oder Netflix würden tatsächlich aus politischer Rücksicht irgendwelche Bücher zensieren. Diese Unternehmen haben aber einen gesunden rezeptionstheoretischen Realismus, der davon ausgeht, dass Menschen Bücher einfach nicht kaufen, wenn sie ständig mit der Nase auf politisch ekelerregende Dinge gestoßen werden.

Eine andere Richtung schlägt dagegen eine Debatte aus Amerika ein: In einem Ihrer Artikel von Kultur & Kontroverse berichten Sie von einer Situation an amerikanischen Schulen, an denen Eltern dazu aufrufen, Geschichtslehrende zu verklagen, wenn diese Themen wie Rassismus und Sexismus im Unterricht behandeln. Kann das Canceln eine politische Richtung für sich beanspruchen oder trägt es, abhängig vom Kontext, einfach nur andere Namen?

Ich würde den Begriff wirklich gar nicht verwenden. Canceln hat auch in diesem Fall die Funktion, eine ganze Reihe hochgradig unterschiedlicher politischer Praktiken zusammenzuwürfeln, vor allem um machttheoretische Unterschiede zu nivellieren. So kann dann eine Gruppe von Studierenden, die – wie im Fall der „Avenidas“-Debatte – ein bestimmtes Gedicht nicht mehr an der Fassade ihrer Universität lesen wollte, als genauso schlimm gewertet werden, wie wenn der Gesetzgeber offen die Meinungs- und Redefreiheit einschränkt, wie es in den USA ja schon länger geschieht und sich in Deutschland (Stichwort „Genderverbot“) auch abzeichnet. Das läuft dann alles unter dem vagen semantischen Schirm des Canceln. So können sich dann eben auch die Mitglieder der Elite, mächtige Millionäre wie Dave Chappelle oder Louis C.K. etwa als Opfer von Cancel Culture inszenieren, weil der Begriff einfach nicht mitbedenkt, wer hier mit wem spricht. Klar, es gibt Zensur und ständige Versuche, die Meinung und Kunst anderer Menschen zu verdrängen. Aber das muss mit anderen Begriffen analysiert werden. Ein Ausdruck wie Cancel Culture macht uns in Bezug auf diese Phänomene nicht klüger, sondern dümmer.

Kommen wir nochmals zurück zum oben erwähnten Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Dieser sieht in der Diskussion eine „aufmerksamkeitsökonomische Funktion“, die in der weltweit massiven Nutzung der Sozialen Medien ein Ventil findet. Stimmen Sie dem zu? Und könnte man davon ableiten, dass die Debatte darüber (stellenweise) gezielt von den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft abzulenken versucht?

Ja, das finde ich plausibel. Im Wesentlichen geht es um eine ungeheuer erfolgreiche Form der konservativen Kulturpolitik, die die großen politischen Kämpfe der Gegenwart (ökonomische Ungleichheit, Klimawandel) ständig auf Nebenkriegsschauplätze verschiebt, die für die Lebensrealität der meisten Menschen unerheblich sind, allerdings sehr schnell heftige politische Ressentiments freisetzen. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westerheuser haben in ihrem Buch Triggerpunkte gerade gezeigt, dass die Gesellschaft in vielen Bereichen gar nicht so gespalten ist, dass es aber Bereiche gibt, die unmittelbar zu affektpolitischen Explosionen führen können. Und der ganze Bereich der Cancel Culture gehört dazu. Ob der Ravensburger Verlag zwei Begleitbücher zum neuen Winnetou-Film zurückzieht oder nicht, dürfte für die meisten Menschen komplett egal sein, aber es trifft eben einen Triggerpunkt, der dann von politischen Akteuren ausgenutzt werden kann. Mau, Lux und Westerheuser nennen solche Menschen „Polarisierungsunternehmer“.

Nicht selten hört oder liest man im Zuge dieser Debatten, frei nach Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“ Haben wir Menschen verlernt, sachliche und emotionsfreie Diskussionen zu führen?

Die Vorstellung, dass der Diskurs heute besonders verroht oder gespalten sein soll, beruht auf einer seltsamen diskursgeschichtlichen Nostalgie. Man denkt, dass es früher zivilisierter zuging im öffentlichen Leben. Da wurden Debatten noch mit echten Argumenten ausgetragen von intellektuellen Gentlemen! Da gab es noch nicht das Geschrei der digitalen Massen! Das entspricht natürlich keiner historischen Wirklichkeit. Öffentlichkeit war schon immer eine Hölle der kommunikativen Aggression, weil es auch hier um Macht geht und den Kampf um Macht. Wenn die Geschichte eines zeigt, dann, dass die Wahrheit dem Menschen überhaupt nicht zumutbar ist – mir bitte auch nicht. Der ganze Cancel Culture-Komplex beruht auch auf einer naiven liberalen Fantasie, dass die Gesellschaft sich schon wieder beruhigen wird, wenn wir nur alle etwas netter zueinander sind, etwas weniger polarisiert etc. Ich würde mir in dieser Hinsicht mehr politischen Realismus wünschen. Das bedeutet nicht, dass man netter streitet, sondern besser. Statt z.B. der immergleichen händeringenden Artikel über die Gefährdung der Kunstfreiheit, könnte man ja wirklich mal zu den interessanten und schweren Fragen vordringen, die durch diese Debatten aufgeworfen werden.

Ein Alltag im Ausnahmezustand: Leseprobe aus „Im täglichen Krieg“ von Andrej Kurkow

Februar 2022: Der russländische Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt. Beinahe zwei Jahre später stehen die Menschen in ihrem Land weiterhin unter Beschuss, haben unsägliche Verbrechen und Verluste erlebt. Wie macht man weiter, kämpft weiter, wenn sich alles verändert hat? Und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist?
Andrej Kurkows journalistische Texte, Notizen und Tagebucheinträge zeigen, was der Krieg, der sich immer mehr in den Alltag der Menschen integriert, mit ihnen macht. Die Diskrepanz einer jeden aufeinanderfolgenden Sekunde wird spürbar: Opernaufführungen bei Tageslicht – eine Bombe schlägt ein; Menschen schwimmen im Meer – eine Mine explodiert; eine Nacht durchschlafen – aber das feindliche Militär kennt die GPS-Daten eines jeden Schlafzimmers …
Wie formt sich ein Leben, ein Jahr, ein Tag, wenn die Sirenen niemals aufhören zu erklingen? Wenn Bienen fliehen, um dem Lärm des Krieges zu entkommen, weil der Blütenstaub nach Schießpulver riecht? Wie, wenn man nicht weiß, ob man Freunde und Familie wieder sieht?

22.08.2022

Luftalarm und Crowdfunding

Dieser Tage, wenn es Nacht wird in den Wäldern der Oblast Schytomyr, kann man oft Beilhiebe oder das schrille Surren einer Kettensäge hören. Nach Einbruch der Dunkelheit, spät am Abend und manchmal sogar mitten in der Nacht, vernimmt man vielleicht sogar das Rattern alter Autos, die Anhänger voller Holzscheite hinter sich herziehen, oder das Knattern riesiger Holzlaster, die frisch gefällte Kiefernstämme abtransportieren. Alle sind sie auf dem Weg aus dem Wald heraus.
Die alten Autos mit den Anhängern sind zumeist unterwegs in die umliegenden Dörfer. Das gleiche Bild wiederholt sich derzeit in der gesamten Ukraine: Die Landbevölkerung legt sich ihren Wintervorrat an Brennstoff zu. Natürlich ist diese Art der Brennholzgewinnung illegal, aber die Polizei schert sich nur selten um holzfällende Gelegenheitsdiebe. Früher wurden bisweilen Maßnahmen gegen rechtsbrecherische Waldarbeiter ergriffen, die nachts zugange waren, das Holz im großen Stil weiterverarbeiteten und an Bauunternehmer und Möbelhersteller verkauften. Diese rechtswidrige Holzernte bestückt zwar mittlerweile auch den Wintermarkt für Brennholz, doch die Polizei wird ihr nicht mehr Herr. Seit 2014, als der Krieg mit Russland ausbrach, haben viele Einwohner ukrainischer Dörfer und Städte den Glauben an gasbetriebene Heizkessel verloren. Sie haben ihre Heizsysteme umgesattelt, um sie mit anderen Brennstoffen befeuern zu können, insbesondere Holz.
Seither häufen sich die mit Wachstuch vor Regen geschützten Feuerholzstapel auf sämtlichen Dorfvorplätzen und sogar in den Höfen der Wohnhäuser in den Kleinstädten. Es würde mich nicht wundern, wenn man mir sagte, dasselbe ereigne sich derzeit in Polen, Tschechien oder sogar Österreich. In Europa wäre dieses Phänomen auf die in die Höhe geschnellten Gaspreise zurückzuführen. In der Ukraine sind die Preise für Gas und Gasheizungen weiterhin auf dem Vorkriegsniveau.
Erst vor Kurzem unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Dekret, wodurch die Brennstoffpreise auf dem derzeitigen Stand festgelegt werden, um die Ukrainer angesichts des bevorstehenden Winters nicht zu beunruhigen. Dennoch ist die Gasrechnung für die Menschen, die noch im Land leben, jene, die am meisten schmerzt.
Selenskyj kann zwar die Preise für Gas, Wasser und Strom einfrieren, aber er kann nicht garantieren, dass die Versorgungsbetriebe ukrainische Haushalte diesen Winter tatsächlich beliefern können. Dies hängt nämlich von der russischen Artillerie ab. Es steht jetzt schon fest, dass mehrere ukrainische Städte, sowohl besetzte als auch freie, diesen Winter ohne Heizung auskommen werden müssen.
Während sich die Ukraine konsequent auf den Winter vorbereitet, ertönen die Luftalarmsirenen mehrere Male pro Tag und warnen vor russischen Raketen, die auf militärische und zivile Ziele zusteuern. Durch die Explosionen kommen unsere Mitbürger ums Leben und Gebäude sowie die umliegende Infrastruktur werden zerstört, darunter Gas- und Wasserleitungen, die Kanalisation, Stromnetze und Wärmekraftwerke. Die Monteure machen sich, soweit möglich, umgehend auf den Weg und fangen mit den Reparaturarbeiten an – das heißt, soweit die betroffene Stadt nicht vollständig in Trümmern liegt.
In Mariupol und Melitopol, Slowjansk und Soledar bleibt die Heizung in diesem Jahr aus. In Charkiw und Mykolajiw ist diese Frage noch offen. Vitali Klitschko, der Bürgermeister Kyjiws, hat die Bewohner der Stadt davor gewarnt, dass die Temperaturen in den Wohnungen in diesem Winter nicht über 18 Grad Celsius steigen werden. Dazu muss ich sagen, dass die Temperaturen in unserer Wohnung in der Innenstadt von Kyjiw im Winter noch nie 18 Grad überschritten haben. Ziemlich oft hingegen sanken sie auf 13 Grad ab. Wir sind die Kälte also gewöhnt.
Klitschko rät den Menschen, sich Trockenbrennstoff (für Campingkocher) zuzulegen, warme Kleidung auszumotten und zusätzliche Elektroheizgeräte aufzutreiben. Neulich erklärte der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, Folgendes: „Der Feind zerstört zwar unsere Heizanlagen, aber wir werden durch den Winter kommen.“ Rund um die Uhr werden Wartungsarbeiten am zentralisierten Heizsystem der Stadt unternommen, oftmals unter Bombenbeschuss. Damit das System in diesem Winter störungsfrei betrieben werden kann, muss das gesamte 200 Kilometer lange Netzwerk an unter- und oberirdischen Leitungen im Oktober erneuert werden, doch das lässt sich nur bewerkstelligen, wenn Russland die bereits reparierten Leitungen und Wärmekraftwerke nicht wieder demoliert.
Oleksandr Sjenkewytsch ist der Bürgermeister einer weiteren Stadt, die regelmäßig Bombenhagel erleiden muss: Mykolajiw. Er hat die Einwohner davor gewarnt, dass ihrer Stadt, was die Wärmeversorgung angeht, das Schlimmste noch bevorsteht. „Es kann zu Bombenangriffen kommen. Heute haben wir es noch warm, aber wenn die Heizinfrastruktur morgen bombardiert wird, müssen das Wasser aus dem Kreislauf abgelassen und kaputte Leitungen repariert werden, ehe das System wieder in Betrieb genommen werden kann. In diesem Zeitraum kann es bitterkalt für Sie werden.“
Sjenkewytsch sprach noch etwas Weiteres an, das sämtlichen Großstadtbewohnern Sorge bereitet: die Tatsache, dass die Evakuierung der Bewohner im Falle eines Heizsystemausfalls mit keiner Silbe erwähnt wird. Es wäre aber seltsam, wenn diese Frage nicht doch früher oder später angesprochen würde, zumal die absichtliche Zerstörung der Wärmekraftwerke durch russische Raketen, während Minusgrade herrschen, eine jedwede Stadt unbewohnbar machen würde. Das Wasser in den Leitungen der Gebäude würde gefrieren und die Rohre zum Bersten bringen. Elektroheizgeräte reichen da nicht aus, um eine Wohnung während eines ukrainischen Winters zu beheizen.
Doch wie kann man die Einwohner einer ganzen Stadt evakuieren und wohin bringt man sie? Die Rede ist hier von hunderttausenden Menschen, die alle gleichzeitig in Sicherheit gebracht werden müssen. Keine einfache Aufgabe also.
Die Sirenen, die die Ukrainer vor drohenden Luftangriffen warnen, haben seit Kurzem eine weitere Funktion bekommen: Sie sind zum Signal für spontane Spendenaufrufe für die ukrainische Armee geworden. Auf die Idee für das Crowdfunding kam Natalia Andrikanitsch, eine junge Frau, die in Uschhorod als freiwillige Helferin tätig ist. Ihr wurde bewusst, dass jeder Luftalarm über der Stadt sie wütend machte, also beschloss sie, ihre Einstellung zu ändern und die Sirenen zu einem Mahnruf an sich selbst zu machen, dass die ukrainische Armee Unterstützung braucht, damit mit dem Lärm ein für alle Mal Schluss ist. Seitdem begibt sie sich nun jedes Mal, wenn die Sirene ertönt, nach wie vor in den Luftschutzkeller, überweist aber auch eine kleine Spende – 10 bis 20 Hrywnja (15 bis 30 Eurocent) – auf das Bankkonto der Armee.
Die Idee hat sich in der Ukraine herumgesprochen und viele tun es ihr mittlerweile gleich. Seither lässt jeder Luftalarm in der Ukraine die Kassen der ukrainischen Streitkräfte klingeln. Der Großteil des so gespendeten Geldes kommt aus den Oblasten, die weiter von der Front entfernt sind. „In Charkiw verdient niemand genug, als dass er so oft spenden könnte!“ – so erklärte es mir der bekannte Charkiwer Fotograf Dmitri Owsjankin.
Tatsächlich gibt es Regionen und Städte, in denen die Sirenen ununterbrochen ertönen. So zum Beispiel in Nikopol und Derhatschi sowie in den Rajonen Donezk, Saporischschja, Odesa und Mykolajiw. Dort bleibt den Menschen schlichtweg keine Zeit, eine Internetseite aufzurufen, um zu spenden.
Es ist nicht ganz durchschaubar, was genau mit dem Geld, das auf das Spendenkonto der ukrainischen Armee fließt, geschieht. Diese Information fällt sicherlich unter die Rubrik „Militärgeheimnisse“. Die Ukrainer können hingegen mitverfolgen, wie und wofür die bekanntesten und tatkräftigsten freiwilligen Helfer gesammelte Spenden ausgeben. Der bis heute erfolgreichste freiwillige Spendensammler ist der berühmte Entertainer, Stand-up-Comedian und beliebte Fernsehmoderator Serhij Pritula.
Bis 2019 duellierten sich Serhij Pritula und der damals noch Komiker Wolodymyr Selenskyj in TV ComedyShows. Als Selenskyj dann zum Präsidenten gewählt wurde, entwickelte auch Pritula ein reges Interesse an der Politik. Er ließ sich als Kandidat der Partei „Stimme“ aufstellen, die vom ukrainischen Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk ins Leben gerufen wurde, schaffte den Einzug ins Parlament jedoch nicht. Außerdem nutzte Pritula das Podium, das ihm die „Stimme“-Partei bot, um für das Bürgermeisteramt von Kyjiw zu kandidieren.
Mittlerweile sehen ihn viele Ukrainer als möglichen Rivalen, der Selenskyj die nächste Wahl streitig machen könnte. Seinen Beliebtheitsgrad konnte Pritula bereits bei der Spendenaktion „Bayraktar des Volkes“ unter Beweis stellen. Er hatte sich vorgenommen, 500 Millionen Hrywnja (etwa 13 Millionen Euro) für drei Kampfdrohnen aufzutreiben. In nur wenigen Tagen hatte er dann bereits 600 Millionen Hrywnja beisammen und konnte seine Spendenaktion erfolgreich zum Abschluss bringen.
Als der türkische Hersteller der Bayraktar-Kampfdrohnen dann von Pritulas Spendenaktion erfuhr, gab er kurzerhand bekannt, der ukrainischen Armee die drei Drohnen kostenlos zu überlassen. Folglich entschloss sich Pritula, mit den Spendengeldern stattdessen einen finnischen ICEYE-Mikrosatelliten zu kaufen. Dieser ist in der Lage, selbst bei schlechter Witterung hochwertige Satellitenbilder der Erdoberfläche zu machen. Zusätzlich zu diesem Satelliten schloss er ein Jahresabonnement für eine weitere Satellitengruppe ab, die die Ukraine mit detaillierten Aufnahmen der Positionen des russischen Militärs in der Ukraine und auf der Krim versorgt.
Kurzum: Pritulas Freiwilligenarbeit und seine Beliebtheit haben ungeahnte Höhen erreicht. Nicht jeder freiwillige Helfer ist jedoch gleichzeitig eine TV-Persönlichkeit mit politischen Ambitionen, und das macht es für Normalsterbliche der ukrainischen Gesellschaft schwieriger, Spendengelder aufzutreiben. Der Charkiwer Kultlyriker Serhij Zhadan unterstützt bereits seit Beginn des totalen Krieges sowohl die Spendenkampagnen des Militärs als auch das kulturelle Leben seiner von Bombenanschlägen gerüttelten Stadt aktiv. Vor Kurzem gab er bekannt, Geld für einhundert gebrauchte Jeeps und Kleintransporter fürs Militär sammeln zu wollen. Zhadan hat bereits fünfzehn Fahrzeuge für die Armee beschaffen können.
Der Ushhoroder Kultautor Andrij Ljubka, den ich vor ein paar Monaten schon einmal erwähnt habe, hat bereits Geld für achtunddreißig Fahrzeuge aufgetrieben und diese selbst an die Front gebracht. In der Ukraine witzelt man bereits, dass in ganz Europa keine gebrauchten Jeeps und Kleintransporter mehr erhältlich seien. Bald, so sagt man, müsse man Fahrzeuge per Schiff aus dem fernen Australien kommen lassen. In jedem Witz steckt auch ein Fünkchen Wahrheit: Die Zahl der bis heute an die ukrainische Armee übergebenen Jeeps und Kleintransporter geht in die Tausende. Das Militär hat teilweise bereits Mini Artilleriesysteme auf den Fahrzeugen montiert und sie in den Kampf geschickt.
In den sozialen Netzwerken postet die Armee regelmäßig Fotos kürzlich erhaltener Wagen sowie von Fahrzeugen, die von der russischen Artillerie oder Panzern zerstört worden sind. Diese Bilder bezeugen den Bedarf an weiteren Gebraucht-Jeeps und -Kleintransportern und lassen darauf schließen, dass so lange Nachschub nötig ist, wie der Krieg andauert. Demnach werden ukrainische freiwillige Spendensammler mitunter noch lange die Hauptabnehmer dieser vielseitig einsetzbaren Nutzfahrzeuge aus ganz Europa bleiben.

28.08.2022
Bienen und Verräter

Letzte Woche brachten freiwillige Helfer obdachlose und verwaiste Katzen aus den zerstörten Städten an der Front im Donbass, Bachmut und Soledar nach Kyjiw. Diese Katzen und Kätzchen brauchen ein Zuhause. Obwohl Nachrichten geretteter Haustiere aus den Kriegsgebieten schon lange nichts Ungewöhnliches mehr sind, hat mich die jüngste Meldung eines binnenvertriebenen Bienenvolks aus dem Rajon Bachmut doch aufhorchen lassen.
Vor dem Krieg lebten Tausende Bienenzüchter im Donbass, denn neben Kohle ist die Region seit jeher für ihren Honig bekannt. Noch vor zwei Jahren wurden trotz des Wegfalls der Krim und von Teilen des Donezbeckens immer noch über 80.000 Tonnen Honig pro Jahr aus der Ukraine ausgeführt. Leider kann man das mit dem lukrativen Honighandel die nächsten ein, zwei Jahre, vielleicht sogar noch länger, völlig vergessen.

Wir haben uns bereits an den Umstand gewöhnt, dass Haustiere infolge des Krieges heimatlos werden können. Jetzt müssen wir uns aber zusätzlich mit dem Gedanken abfinden, dass Zehntausende Bienenvölker ihre Heimat im Donbass und in der Südukraine verloren haben.
Wenn ein Bienenstock durch Geschützfeuer beschädigt wird, verwildern die Bienen in der Regel und kehren in die Natur zurück. Sie schwärmen dann von einem Ort zum anderen, lassen sich an Wänden zerfallener Gebäude oder in Baumkronen nieder, bis sie eine dauerhaftere Bleibe gefunden haben, in einer Baumhöhle oder auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause versuchen die Bienen auch, dem Lärm und der Zerstörung des Krieges zu entkommen. Sie fliehen nicht nur, weil Pollen, der nach Schießpulver riecht, nicht besonders gut schmeckt, sondern vor allem auch deswegen, weil Bienen Stille brauchen. Stille, um einander summen hören zu können.
An der Front bei Bachmut ließ sich zu Beginn des Sommers ein Bienenvolk in der Nähe der ukrainischen Militärstützpunkte nieder, weil es seinen vom Krieg beschädigten Bienenstock aufgeben musste. Unter den Soldaten gab es auch einen Imker, Oleksandr Afanassjew, der seine eigenen Bienenstöcke zu Hause in der Oblast Tscherkassy in die Obhut einiger freiwilliger Bienenzüchter gegeben hatte.
Als er den Schwarm fand, nahm Oleksandr eine leere Munitionskiste aus Holz, bohrte ein paar Löcher hinein und ließ das Bienenvolk darin unterkommen. Die Bienen gaben sich mit den beengten Bedingungen ihres neuen Heims zufrieden und, nachdem sie sich eingerichtet hatten, machten sie sich in ihrer neuen Umgebung auf zu einem Erkundungsflug auf der Suche nach Blüten.
Als der Sommer vorüber war, wurde Oleksandr einer neuen Einsatztruppe in einem anderen Frontsektor zugeteilt. Seine Waffenbrüder baten Oleksandr, den Bienenschwarm doch bitte mitzunehmen: Sie verstanden nichts von der Bienenzucht und hatten Angst davor, die Verantwortung für das Volk zu übernehmen. Zudem dürfen Soldaten keine Haustiere halten, schon gar keine Bienenschwärme. Wie es der Zufall aber so wollte, kam Ihor Ryaposchenko, ein freiwilliger Helfer aus der Oblast Tscherkassy, der alte Kleintransporter und Jeeps an die Front bringt, gerade zur rechten Zeit bei Oleksandrs Einheit vorbei und bot an, die Bienen mit zu sich nach Hause zu nehmen, obwohl auch er keinerlei Erfahrung mit der Bienenzucht hatte.
So reisten die Bienen über 700 Kilometer in der Munitionskiste, die zu ihrem neuen Bienenstock geworden war. Sie haben die Reise überlebt und machen es sich nun in Ihors Garten bequem. Um sie nicht weiter zu stören, beschloss Ihor, sie nicht in einen richtigen Bienenstock umzusiedeln, sondern sie in ihrem provisorischen Heim zu lassen.
Glücklicherweise gibt es in seinem Dorf mehrere Imker, die Ihor bei der Pflege der Bienen mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Bald wird er sich eine Honigschleuder von seinen Nachbarn leihen müssen, um den Honig zu gewinnen und einen Teil davon an die Front zu schicken, wo die Bienen ihr erstes Zuhause beim Militär gefunden hatten.
Die Stellung der ukrainischen Militärposten hat sich in letzter Zeit nicht geändert, obwohl sich russische Truppen von Osten her Bachmut nähern und die Stadt jede Nacht mit Artilleriefeuer und mehreren Raketenwerfern beschießen. Vor dem Krieg hatte Bachmut mehr als 70.000 Einwohner; jetzt sind es noch etwa 15.000. Das ukrainische Militär hat wenig Vertrauen in die Bewohner, die trotz des Angebots der Evakuierung in der Stadt oder in den umliegenden Dörfern bleiben wollten.
Viele dieser „Zurückgebliebenen“ beharren darauf: „Wir warten erst einmal ab. Mal sehen, was als Nächstes passiert!“ Ukrainische Soldaten nennen solche Menschen „Abwartende“, weil sie scheinbar darauf warten, dass Russland das Gebiet erobert. Einige dieser „Abwartenden“ scheinen den ukrainischen Soldaten gegenüber positiv eingestellt zu sein und schenken ihnen manchmal Gemüse oder Obst. Dennoch besteht Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Schließlich kann es sein, dass sie die Soldaten nur deshalb aufsuchen, um ausfindig zu machen, wo ihre militärische Ausrüstung untergebracht ist; Informationen also, die sie an die russische Artillerie weitergeben können. Einige derjenigen, die in den besetzten Städten Melitopol und Mariupol geblieben waren, kollaborierten schlussendlich mit den russischen Besatzungsbehörden, darunter auch ehemalige Polizeibeamte.

Das Thema Verrat ist in der Ukraine kein beliebtes und wird definitiv nur ungern angesprochen. Doch in letzter Zeit hört man zunehmend Meldungen über Ukrainer in den verschiedenen Oblasten des Landes, sogar in Kyjiw, die der russischen Armee und den Geheimdiensten in die Hände spielen. Beamte des Ministerkabinetts und der Nationalen Wirtschaftskammer sowie Parteichefs des pro-russischen Oppositionsblocks, Staatsanwälte und Richter sind bereits verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt worden. Aber diese Kreml-Spitzel sind gegenüber den Kollaborateuren in den besetzten Gebieten deutlich in der Unterzahl.
Die Ukrainer bekamen einen anfänglichen Schock, als bekannt wurde, wie viele Richter, Staatsanwälte, SBU und Polizeibeamte nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 in den Dienst der Russischen Föderation übergelaufen waren. Es handelte sich um einen Massenverrat, aber wie sich herausstellen sollte, war es auch das Ergebnis der langwierigen und akribischen Arbeit der russischen Geheimdienste auf der Krim.
Zudem war dieser Verrat auch dem Scheitern der ukrainischen Geheimdienste geschuldet, denn selbst jetzt ist Verrat im Donbass nicht so landläufig wie auf der Krim. Die meisten der verbliebenen Bewohner wollen zwar nicht mit den Besatzern kooperieren, doch Russland hat viele Waffen in seinem Arsenal, um Ukrainer zu zwingen, die Besatzer zumindest passiv hinzunehmen: Um humanitäre Hilfe zu bekommen, die Wasserversorgung wieder anschließen zu lassen oder jegliche Art von Zugriff auf die eigene Rente zu erhalten, muss man sich bei der Besatzungsverwaltung melden.
Wie eine Narbe prägt das Thema des Verrats die Dörfer und Städte rund um Kyjiw, die zu Kriegsbeginn unter russische Besatzung gefallen waren. In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es Moskau-Treue, die für die Invasoren Listen pro-ukrainischer Aktivisten, der Anschriften der Teilnehmer an den Majdan-Protesten und der Veteranen der Anti-Terroroperation im Donbass erstellten.
In Andrijiwka, einem Dorf unweit von Borodjanka, nordwestlich von Kyjiw, stellte sich ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats als eben solch ein Verräter heraus. Er bot nicht nur mehreren Invasoren in seinem Haus Unterschlupf, sondern zeigte ihnen auch prompt, in welchen Häusern im Dorf sich ein Einbruch lohnte und welche Bewohner entführt und gegen Lösegeldforderungen festgehalten werden könnten.
Als das Dorf dann befreit wurde, blieb dem Mönch keine Zeit zur Flucht. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Eine weitere Familie hingegen – Migranten aus Donezk –, die sich nach 2014 in Andrijiwka niedergelassen und auch mit den russischen Besatzern kollaboriert hatte, verließ das Dorf zusammen mit der russischen Armee, als diese nach Belarus abzog. Mehr als dreißig Einwohner Andrijiwkas gelten weiterhin als vermisst. Mindestens siebzehn Menschen wurden von russischen Soldaten erschossen und viele Häuser liegen weiterhin in Trümmern.
Mykola Horobets, ein bekannter Germanist und pensionierter Akademiker, der den Großteil seines Lebens an der Staatlichen Wissenschaftlich-Technischen Bibliothek der Ukraine in Kyjiw angestellt war, kehrte in sein Sommerhaus in Andrijiwka zurück, sobald die russischen Truppen aus dem Dorf vertrieben worden waren. Vor dem Krieg hatte er noch jeden Sommer dort verbracht, aber letzte Woche war er erst das fünfte Mal seit der Befreiung des Dorfes in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
Es ist ihm gelungen, Kartoffeln zu stecken, aber nur in dem Teil des Gartens, der dem Haus am nächsten liegt. Er hat Angst davor, den Boden zu bestellen, der weiter weg liegt: Was, wenn dort Minen vergraben sind? Niemand hat den Garten auf Sprengkörper abgesucht. Trotz der geringeren Fläche seines Kartoffelackers ist Mykola einigermaßen mit der Ernte zufrieden und konnte eine ordentliche Menge Kartoffeln im Vorratskeller einlagern. Jetzt legt er sich Feuerholz für den Winter an. Er denkt oft an den verräterischen Mönch und die Kollaborateure, die aus Donezk umgesiedelt hatten.
Während der Besatzung bewohnten russische Soldaten Mykolas Sommerhaus. Sie waren sehr überrascht, so viele deutschsprachige Bücher in den Regalen vorzufinden und erkundigten sich bei den Nachbarn über den Hausbesitzer: Lebt hier etwa ein Deutscher? Sie ließen ein kaputtes Sofa, mehrere Ausgaben der Zeitung Krasnaja Swesda („Roter Stern“) des russischen Verteidigungsministeriums und viele persönliche Gegenstände zurück, darunter eine Mütze, Pulver zum Anrühren eines Energy Drinks und einen Campingtopf zum Kochen.
Als Mykola nach der Befreiung des Dorfes zum ersten Mal wieder zurückkehrte, betrat die ukrainische Polizei das Haus noch vor ihm. Die Polizisten schauten sich um und fragten Mykola, was die russischen Soldaten zurückgelassen hatten. Im Schuppen fand Mykola einen großen Behälter mit Maschinenöl, wahrscheinlich für den Motor eines Kettenfahrzeugs. Die Polizei war nicht an dem Öl interessiert, aber einem von ihnen gefiel der Campingtopf des russischen Soldaten und so beschlagnahmte er ihn für sich selbst.
Das Motoröl steht noch immer im Schuppen. Vielleicht hat das örtliche Geschichtsmuseum in Makariw, der nächstgelegenen Stadt, ja daran Interesse. Der Museumsleiter arbeitet an einer Ausstellung über die Besetzung des Rajons Makariw und hat sämtliche Bewohner gebeten, dem Museum „Artefakte“ des Angriffs Russlands zu spenden.
„Ich habe Angst und möchte nicht so oft nach Andrijiwka fahren“, gab Mykola mir gegenüber zu. „Abends betrinken sich viele Leute hier und ballern dann im Dunkeln mit Gewehren herum. Die Russen haben wahrscheinlich auch einige Waffen zurückgelassen!“
Die Polizei hat scheinbar keine Eile, die Waffen zu beschlagnahmen, die die Dorfbewohner als Kriegsbeute eingesackt haben. Und niemand will sich über Alkoholiker mokieren, die die Besatzung durchmachen mussten. Manche sind der Ansicht, dass sie wegen des erlittenen psychologischen Traumas zur Flasche greifen, aber das macht die Situation nicht weniger beängstigend.
Tatsächlich sind alle Bewohner Andrijiwkas mittlerweile zutiefst traumatisiert, auch diejenigen, die die Besatzung anderswo ausgestanden haben, so wie Mykola. Er verbrachte sie in Kyjiw mit seiner erwachsenen Tochter, die eine cerebrale Bewegungsstörung hat. Wegen ihr hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, aus Kyjiw fortzugehen.
Auch sein Dorfnachbar Andrij, mit dem er schon seit seiner Kindheit befreundet ist, ist Alkoholiker. Manchmal stiehlt Andrij Gemüse aus Mykolas Garten und verkauft es, um sich dafür eine Flasche zu leisten. Seltsamerweise ist Andrij auch Bienenzüchter, oder vielmehr ehemaliger Imker, der eben noch Bienen hat. Eines seiner Völker „entwischte“ ihm kürzlich und ließ sich auf einem Kirschbaum in Mykolas Garten nieder. Andrij lehnte eine Leiter an den Baum und kletterte hinauf, wobei er mehrere Äste abbrach, es aber schaffte, den Schwarm wieder einzufangen.
Ich habe das schleichende Gefühl, dass die Bienen beim nächsten Mal viel weiter weg fliegen werden – an einen Ort, wo ihr betrunkener Besitzer sie nicht finden kann. Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen, tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.

 

20.10.2022
Zwischen Nationalismus und Patriotismus

Seit Februar dieses Jahres beschäftigt mich die Frage der Identität inständig. Das Thema wird täglich bei meinen Vorträgen und Veranstaltungen in verschiedenen europäischen Städten angestoßen. Ich versuche dann, den Europäern den Unterschied zwischen der russisch-sowjetischen und der ukrainischen Mentalität begreiflich zu machen. Sobald ich diese Differenzierung verdeutlicht habe, fällt es mir viel leichter, über die Ursachen dieses Krieges zu sprechen. So kann ich zudem meine eigene Identität erklären, die meiner Verständigung mit Russland schon lange im Wege steht und mir auch in der Ukraine viele Unannehmlichkeiten bereitet.
Tatsächlich gehörte mein Ich-Bewusstsein bis vor Kurzem zu den akzeptierten Formen der ukrainischen Identität und stand in keinerlei Widerspruch zu den wichtigsten Wertmerkmalen dessen, was einen „echten Ukrainer“ ausmacht. Es gibt jedoch einen Aspekt meiner Identität, der auf einige meiner intellektuellen Mit-Ukrainer ebenso wirkt wie ein rotes Tuch auf einen Stier: Ich bin ethnischer Russe und meine Muttersprache ist Russisch.
In allen anderen Wesensarten bin ich ein typischer Ukrainer. Ich höre nicht auf die mehrheitliche Meinung, sondern vertrete meine eigenen Ansichten. Für mich ist Freiheit – vor allem Redefreiheit und die freie Kreativitätsausübung – mehr wert als Geld und Stabilität. Ich unterstütze nur selten die Politik der machthabenden Regierung und bin stets bereit, sie zu kritisieren.
Kurzum: Ließe sich die Tatsache meiner Muttersprache und russischen Herkunft aus der Liste meiner Eigenschaften streichen, wäre ich der Prototyp eines Ukrainers, der mit Kusshand in den Schoß der „idealen Ukrainer“ aufgenommen würde. Die derzeitigen Mitglieder eben dieser Gruppe verbringen aber viel Zeit damit, auf Facebook öffentlich zu bestimmen, wer ein „waschechter Ukrainer“ ist und wer nicht, und wer partout nicht als Ukrainer gelten kann.
Ich betrachte mich selbst als Ukrainer – als Ukrainer russischen Ursprungs. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich lebe in einem wunderschönen Land mit einer komplexen Wesensart und einer komplizierten Geschichte, in dem jeder Bürger seine ganz eigene Vorstellung davon hat, was den ukrainischen Staat ausmacht, und dabei sein Bild für das richtige hält. Anders ausgedrückt sind wir eine Gesellschaft bestehend aus Individualisten.
Diese Art der Gesellschaft ist durch unsere historisch bedingte Erfahrung der organisierten Anarchie entstanden, welcher die Ukraine über die Jahrhunderte mehrmals verfallen ist. Es verwundert also nicht, dass Europas größtes Anarchistenheer – Nestor Machnos revolutionäre aufständische Armee – in der Ukraine gegründet wurde und dort, und nicht in Russland, kämpfte, einem Land, das traditionell im Kollektiv denkt. Im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 besiegte die Machno-Bewegung sogar sämtliche ihrer Kontrahenten!
Wenn ich mir die Ukraine von heute so ansehe, liefert mir die Tatsache, dass hier über vierhundert Parteien offiziell beim Justizministerium zugelassen sind, den Beweis für den ukrainischen Individualismus. Ich verstehe und respektiere die ukrainische Gesellschaft so, wie sie ist, mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten.
Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre haben mich Bekannte und Unbekannte aus den Rängen ukrainischer Nationalisten immer und immer wieder angehalten, ich solle doch auf Ukrainisch schreiben. Manche unter ihnen akzeptieren meine Begründung, dass ich eben in meiner Erstsprache schreibe – auf Russisch – und dass ich ein Anrecht auf meine Muttersprache habe. Manchmal stößt diese Erklärung aber auch auf Unverständnis und sogar Missfallen. Die Gespräche, die ich über dieses Thema geführt habe, sind aber bislang größtenteils freundlich abgelaufen.
Es kam aber auch schon vor, dass Anonyme, die gegenteiliger Meinung sind, in den sozialen Netzwerken posten, ich sei kein ukrainischer, sondern ein russischer Schriftsteller. Ich gehe darauf einfach nicht ein. Jeder Mensch in der Ukraine hat das Recht auf eine eigene Meinung sowie auf die freie Meinungsbildung und ‑äußerung. Und jeder hat zudem das Recht, die Meinung eines anderen nicht zu teilen.
In der Ukraine gibt es übrigens viele russischsprachige ukrainische Nationalisten. Ein Großteil der Mitglieder der bekannten rechtsextremen Organisation Prawyj Sektor („Rechter Sektor“), die 2014 an Bedeutung gewann, sind russischsprachige Ukrainer. Die ukrainische Sprache war also nicht immer eine Grundvoraussetzung für ukrainischen Nationalismus. Hier sollte ich anmerken, dass es in der Ukraine dutzende verschiedener nationalistischer Gruppierungen gibt, und dass diese oftmals aneinandergeraten, wenn es darum geht, die „korrekte“ Form des Nationalismus zu definieren. Selbst Stepan Bandera, eine Berühmtheit der ukrainischen Geschichte, geriet bereits beim Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1930er- und 1940er-Jahren mit seinen Genossen in Zwist.
Unterdessen sind derzeit keine Nationalisten in der Werchowna Rada vertreten, weil keine einzige der nationalistischen Parteien es geschafft hat, bei den letzten Parlamentswahlen die 5-Prozent-Hürde zu nehmen.
Eine Bewegung, die den Einzug ins Parlament nicht schafft, ist keine reale politische Macht. Im Gegensatz dazu schließt der ukrainische Patriotismus mehr Menschen mit ein. Die Grundbedingung besteht hierbei darin, das Land zu lieben, wobei niemand ein Interesse daran hat, Ausschlusskriterien aufzustellen. Von den krimtatarischen Aktivisten – die von den russischen Geheimdiensten schonungslos angegriffen werden – sprechen die wenigsten Ukrainisch. Die meisten beherrschen Russisch und ihre Muttersprache Krimtatarisch, doch niemand stellt deswegen ihren ukrainischen Patriotismus infrage.
Auch ich bin ukrainischer Patriot. Ich habe miterlebt, wie die Ukraine, als unabhängiger Staat, erwachsen wurde. Dreißig Jahre lang lebte ich in der Sowjetrepublik Ukraine und seit einunddreißig Jahren ist nun die unabhängige Ukraine mein Zuhause. Seit der Unabhängigkeit sind die ukrainische Literatur und Kultur zu neuem Leben erwacht und eine neue, ganz andere Generation europäischer Ukrainer ist herangewachsen, für die alles Sowjetische durch und durch fremd ist. Diese Generation hat die ukrainische Sprache und ukrainischsprachige Literatur populär gemacht. 2012 wurden die russisch und ukrainischsprachigen Ausgaben meines Romans Jimi Hendrix live in Lemberg gleichzeitig in der Ukraine veröffentlicht. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, dass sich ein Buch auf Ukrainisch in der Ukraine besser verkauft als dasselbe Buch in russischer Sprache. Seither haben die ukrainischen Übersetzungen meiner Bücher stets höhere Verkaufszahlen erzielt als die russischen Fassungen. Ich erlebe mit, wie die russische Sprache langsam ihre Stellung in der Ukraine einbüßt und, um ehrlich zu sein, echauffiert mich das nicht einmal. Junge Ukrainer lesen immer seltener auf Russisch.
Im Februar habe ich mich dazu entschlossen, meine Bücher nicht mehr in ihrer Originalsprache, auf Russisch, herauszugeben. Sollen die Bücher in der Ukraine auf Ukrainisch, in Frankreich auf Französisch, in Großbritannien auf Englisch verlegt werden. Russischsprachige Leser brauchen meine Bücher nicht. Die Publikation meiner Bücher in Russland wurde erstmals 2005 unterbunden, nach der Orangen Revolution, an der ich teilnahm. Nach einer kurzen Zeit des „Tauwetters“, während der meine Romane neu aufgelegt worden waren, wurde 2008 zum zweiten Mal ein Verbot verhängt.
Seit 2014 ist es russischen Buchhandlungen untersagt, meine Bücher aus der Ukraine einzuführen. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass es mich als Schriftsteller in Russland nicht gibt. Ich habe dort keine Leserschaft und es tut mir auch nicht um sie leid. In letzter Zeit wird Russisch von ukrainischen Facebook- Nutzern immer häufiger als „Sprache des Feindes“ bezeichnet. Der Kreml hat Himmel und Hölle – wortwörtlich – in Bewegung gesetzt und russischsprachige Ukrainer letztendlich dazu bewegt, ins Ukrainische zu wechseln. Dennoch hört man auf der Straße, wo sich die Menschen sowohl auf Russisch als auch auf Ukrainisch unterhalten, nur selten Auseinandersetzungen über die Sprache und beide Sprachen bestehen friedlich nebeneinander.
Die Sprachenfrage und Streitereien rund um dieses Thema waren früher einmal auf die politische Arena beschränkt, wo vor dem Ausbruch des Krieges 2014 die Verteidiger der ukrainischen Sprache gegen die Verfechter der russischen antraten – oder vielmehr gegen die Verfechter des russischen Einflusses auf die Ukraine. Der andauernde Militärangriff hat die Verteidiger der russischen Sprache jedoch aus der Politik verdrängt. Viele von ihnen haben sich als Verräter, Kollaborateure oder sogar russische Spitzel mit russischen Pässen herausgestellt.
Unter solchen Umständen geben manche ukrainische Intellektuelle sämtlichen russischsprechenden Ukrainern teilweise die Schuld für den Krieg. Es stimmt schon, dass Putin russischsprachige Ukrainer zum scheinbaren Auslöser für diesen Krieg erklärt hat, indem er darauf beharrt, dass seine „militärische Spezialoperation“ notwendig ist, um sie zu beschützen. Weil er diese Idee ständig wiederholt, wurden manche ukrainische Nationalisten zu der Aussage verleitet, dass es nicht zum Krieg gekommen wäre, gäbe es keine russischsprachigen Ukrainer!
Manche Nationalisten, darunter Iryna Farion, scheinen sich damit schwerzutun, sich ein objektives Bild der ukrainischen Gesellschaft zu verschaffen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Ukraine ein multikultureller Staat mit über zwei Dutzend nationalen Minderheiten ist. Glücklicherweise gibt es nur wenige Aktivisten, die die Realität in der ukrainischen Gesellschaft derart ausblenden, und jene, die sie vehement verleugnen, wirken keinerlei Einfluss auf die Staatspolitik aus. Trotzdem nutzen sie jede Gelegenheit, ihre polarisierende Meinung kundzutun und eine Spaltung zwischen Idealisten und Realisten unter der ukrainischen Bevölkerung zu bewirken.

Aus dem Englischen von Rebecca DeWald

 

©Haymon Verlag/Fotowerk Aichner

Andrej Kurkow wurde in St. Petersburg geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, vom Liebenswürdigen und Rätselhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. 2022 erschien sein „Tagebuch einer Invasion“ bei Haymon, in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. Kurkow schreibt weiterhin gegen die Zerstörung – und für die Zukunft der Ukraine.

Interview mit Anti-Work-Ikone Bianca Jankovska

Hast du sie gut überstanden? Die Zeit, in der einen gefühlt alle mit absurd-utopischen Neujahrsvorsätzen nerven, Instagram randvoll ist mit Selbstoptimierungstipps – und man selber einfach nur müde ist nach dem Feiertagsmarathon und von der Tatsache, dass jetzt wieder „der Ernst des Lebens“ beginnt. Ja, wir sprechen von diesem Wieder-arbeiten-müssen-Blues. Von diesem Bedürfnis, sich einfach wieder ins Bett zu legen, die Augen zu schließen und zu hoffen, dass sich niemand daran stört, dass man nicht am Schreibtisch sitzt. Mehr Nichtstun – das wäre mal ein neuer Jahresvorsatz. 
Darum haben wir uns gleich in den ersten Tagen im neuen Jahr mit Bianca Jankovska, Autorin von „Potenziell furchtbare Tage“, über Faulheit unterhalten. Aber nicht nur.

Bianca, auf deinem Instagram-Account (@groschenphilosphin) bezeichnest du dich selbst als „Anti-Work-Icon“. Gehen wir mal ganz an den Anfang, zurück zu dem Moment, als du dir zum ersten Mal dachtest: Hey, ich hab diesen Scheiß nicht nötig. Magst du uns davon erzählen?

Puh, was heißt „nicht nötig“? Ich glaube, ich habe es genauso wie alle anderen Lohnarbeitsabhängigen ohne massivem generational wealth prinzipiell nötig, zu arbeiten – sonst würde ich es ja nicht tun, sonst würde ich mir diverse Stunden meines Lebens sparen, in denen ich Arbeit für andere verrichte und stattdessen im Bett liegen bleiben.
Ich glaube, worauf du hinauswillst, ist mein innerer Widerstand, dieses „Ich habe es nicht nötig, mein Leben für die Kapitalakkumulation irgendeines Konzerns herzugeben“. Das kam schon relativ früh, ich glaube, bei meinem ersten Praktikum mit 16, bei dem ich den ganzen Tag vor dem Computer (ohne Internet, sei dazugesagt) saß, und vor mich hinstarrte. Da habe ich gemerkt: Ui, das soll dieses Erwerbsleben werden? Ich soll acht Stunden pro Tag, also die acht Stunden, in denen ich am wachsten und fittesten bin, hergeben, damit ich am Ende einen – am Gesamtumsatz des Unternehmens gemessen – mickrigen Lohn bekomme? Nein, sicher nicht! Dafür ist mir meine Zeit auf diesem Planeten einfach zu schade.

 

Die Frage „Was kannst du gut?“ beantwortete Bianca Jankovska als 18-Jährige mit „Schreiben“, also studierte sie Publizistik – und Politikwissenschaften noch dazu. Es folgte eine Karriere als Journalistin in verschiedenen Medien und Anstellungsformen, als Autorin, Dozentin und Medienstrategin. 2018 veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Das Millennial-Manifest“, 2020 folgte „Dear Girlboss, we are done“. Das Jurastudium diente nebenher mehr der emanzipatorischen Weiterentwicklung. Heute teilt Jankovska ihr geballtes Wissen über die (Arbeits-)Welt in Kündigungsberatungen („Thx bye“), ihrem Podcast („The Bleeding Overachiever“), auf ihrem Blog („Groschenphilosophin“), auf Social-Media (@groschenphilosophin) und in ihrem neuen Buch „Potenziell furchtbare Tage“.

Anti-Work klingt im ersten Moment nach … Nichtstun. Du selbst bist u.a. Autorin, Podcasterin, Journalistin, Bloggerin, Dozentin, Medienstrategin, Kündigungscoach, Ghostwriterin. Neben Publizistik und Politikwissenschaften hast du auch noch einen Jura-Abschluss – das alles klingt so gar nicht nach Nichtstun. Was meint Anti-Work also genau?

Ich bin das alles in Theorie, aber ich übe nicht jede Profession zu jeder Zeit aus – sondern mixe und wechsle ab. Journalismus mache ich seit 2018 eigentlich gar nicht mehr, unterrichten tue ich aktuell auch nicht. Außerdem muss ich sagen, dass meine Studienabschlüsse aus der Zeit kommen, in der ich mich intellektuell selbst noch sehr verbissen gefordert und danach beurteilt habe, wie produktiv und „erfolgreich“ ich bin. In meinem Buch „Potenziell furchtbare Tage“ gehe ich ausführlich darauf ein, wo mein Leistungsstreben herkommt, und warum ich meinen Selbstwert dadurch generiert habe, möglichst gut in der Uni zu sein und Abschlüsse zu sammeln wie Briefmarken.
Aber kommen wir zurück zu deiner Frage: Anti-Work ist nicht nur eine Bewegung mit konkreten politischen Zielen, sondern auch eine Haltung, die erstmal im Kleinen Wirkung haben kann.
Anti-Work bedeutet für mich als Lohnabhängige nicht, gar nicht zu arbeiten, sondern mich vom schlechten Gewissen der Nicht-Produktivität zu lösen. Von Zeit zu Zeit zu kündigen – nicht um sofort einen neuen Job anzufangen, sondern meine eigene mentale und physische Gesundheit zu retten. Die Lüge vom Traumjob zu verlernen und gleichzeitig neue Praktiken im eigenen Leben zu implementieren, die nichts mit dem ständigen Streben nach mehr zu tun haben.
Anti-Work bedeutet mehr Faulheit für alle – und nicht nur für das obere 1%.

Nochmal kurz zurück zu deiner Kündigungsberatung: Auf der Homepage steht, dass „THX BYE“ eine „ethische Kündigungsberatung für Arbeitnehmer in Bullshitjobs“ sei. Was genau sind Bullshitjobs und wie bist du auf die Idee gekommen, Beratungen für Kündigungen zu machen?

Bullshitjobs sind für mich persönlich Jobs, die nur existieren, damit irgendjemand etwas am Computer zu tun hat, oftmals in Kombination mit einer schlechten Bezahlung, wenig Impact, straffen Hierarchien und digitaler Messbarkeit, sodass jeglicher „Misserfolg“ sofort als KPI dargestellt und dem Arbeitnehmer unter die Nase gerieben werden kann.
Jobs, in denen man jeden Morgen in der Früh von oben „Tasks“ zugeschoben bekommt, die ungefähr so lauten: „Überlege dir, wie wir dieses Waschmittel noch besser verkaufen können, als im Vorjahresquartal!“. Oder: „Schreib doch nochmal diesen einen Webseiten-Text neu, der letzte gefällt mir irgendwie doch nicht ;).“ Oder: „Überleg dir doch mal ein schönes Powerpoint-Design für unseren nächsten Kunden-Call!“
Ich habe selbst vorwiegend im Journalismus und in der Kulturindustrie gearbeitet, und nach meinem Ausstieg im Jahr 2018 gemerkt: Hm, ich glaube nicht, dass irgendjemand meinen 100. Artikel über Fußpilz vermisst hat! Oder meinen Werbeslogan für das neue Label eines deutschen D-Promis. Es ist ganz einfach Arbeit, die krank im Kopf macht und eigentlich wenig bis keinen Mehrwert für Mensch und Umwelt generiert.
Deshalb habe ich thx-bye gegründet. Damit ich einen Ort schaffe, an dem sich Menschen darüber auskotzen und ihren Exit planen können. Ich möchte Arbeitnehmern in Bullshitjobs eine Auszeit vom Erwerbsleben verschaffen, damit ihr Kopf wieder ihnen selbst gehört.

Sehr viel Arbeit (Stichwort Sorgearbeit, um nur ein Beispiel zu nennen) wird nicht oder nicht annähernd fair bezahlt. Dazu kommt, dass zu verrichtende Arbeit für Menschen ganz unterschiedlich belastend sein kann, sie in vielen Fällen körperlich und/oder psychisch ausbeutet. Wie schätzt du diese Ungleichheit ein? Was müsste sich ändern, damit uns unsere Arbeit nicht noch kränker macht?

Als allererstes muss der 8-Stunden-Tag abgeschafft werden. Egal, ob in der Pflege oder in der Kreativindustrie. Ich denke, dass viele der krankmachenden Tätigkeiten besonders ab Stunde fünf krankmachen, weil da die Ressourcen des Arbeitnehmers bereits aufgebraucht sind, da beginnt dann der richtige Raubbau am Körper – sei es physisch oder psychisch. Auch im Verkauf sind meiner persönlichen Erfahrung nach nicht die ersten 30 Kunden „schlimm“, sondern die letzten, es sind die nicht endenden Stunden nach der Mittagspause, in denen man eigentlich längst nach Hause müsste, um Haushalt und Angehörigenpflege zu schmeißen.
Ansonsten reicht es natürlich nicht, wenn Lohnerhöhungen gerade mal die Inflation ausgleichen und Arbeitsstunden mit höheren Prozentsätzen versteuert werden, als Erbschaften (nämlich: gar nicht in Österreich). Auch dazu habe ich mehrere Kapitel in meinem neuen Buch geschrieben, nämlich: „4-Tage-Woche ≠ Teilzeit ≠ Faulheit“ und „Reiche Eltern umverteilen“. Also bitte, wer meine Meinung dazu in ganzer Länge lesen möchte, kann das Buch gerne vorbestellen.

Talking about bluten am Arbeitsplatz: Laut einer Studie schleppen sich 70 % aller Menstruierenden unter Schmerzen und/oder unter Schmerzmitteleinfluss regelmäßig zur Arbeit. Andere Länder, wie z.B. Japan, haben bereits einen „Menstrual Leave“, also Sonderurlaub für Menstruierende. Ist das deiner Meinung nach ein Vorbild-Modell, das du dir auch für den deutschsprachigen Raum wünschen würdest?

Auf jeden Fall. In Deutschland und Österreich droht nach aktueller Rechtslage eine krankheitsbedingte Kündigung bei häufiger Krankmeldung. Alleine juristisch betrachtet wäre ein menstruationsbedingter Urlaub für Menstruierende daher vorteilhaft, damit sie nicht auf Teufel komm raus im Office Pillen poppen müssen, um nicht aufgrund hoher Fehlzeiten gekündigt zu werden. Außerdem zeigte eine 2017 großangelegte Studie in den Niederlanden auf, dass Menstruierende einen durchschnittlichen Produktivitätsverlust von 33 % aufgrund menstruationsbedingtem Präsentismus verzeichneten, was einem durchschnittlichen Verlust von 8,9 Tagen pro Jahr entspricht. Wem bringt es also irgendetwas, wenn Menstruierende im Office erscheinen?
In Spanien wurde übrigens am 17. Mai 2022 ein Gesetzesentwurf gebilligt, der Frauen aufgrund von Menstruationsbeschwerden arbeitsfreie Tage gewährt. Am 1. Juni 2023 trat das Gesetz über Sexual- und Reproduktionsgesundheit schließlich in Kraft, das unter anderem das Fernbleiben von der Arbeit bei Regelbeschwerden ermöglicht. Die Kosten werden vom Staat übernommen. Damit soll verhindert werden, dass eine Kultur der Stigmatisierung entsteht, die sich auf die Einstellung von Frauen im Unternehmenssektor auswirkt.

Wie siehst du die Zukunft unseres aktuellen Arbeitssystems allgemein? Wie wird sich unsere Arbeitswelt, unsere Leistungsgesellschaft deiner Einschätzung nach entwickeln, wenn sich nichts ändert?

Personaler haben jetzt schon Probleme, Stellen zu besetzen. Fachkräftemangel, olé! Das wird durch den Generationenwechsel in Kombi mit den für meine Generation sehr unattraktiven Arbeitsbedingungen nur verstärkt werden. Wenig attraktive Stellen können nicht besetzt werden, vielleicht werden sich dadurch manche Unternehmen weiterentwickeln – Stichwort 4-Tage-Woche bei vollem Gehalt, 6-Stunden-Tage, Tandem-Modelle. Vielleicht werden einige Unternehmen schließen müssen, was – in Anbetracht der vielen unethisch agierenden fossilistisch-industriellen Konzerne – vermutlich nichts Schlimmes wäre. Zumindest nicht aus ökologischer Perspektive.
Zudem braucht es eine Umverteilung von Reichtum (Stichwort Grunderbe, bedingungsloses Grundeinkommen) und faire Erbschaftssteuern. Arbeit soll nicht vor Leben kommen!

Wenn du Arbeitskammerpräsidentin wärst, was wäre das Allererste, das du ändern würdest?

Die 40-Stunden-Woche (runter)
Die Höhe des Karenzgeldes (rauf)
Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds (rauf)
Die Höhe des Bürgergelds und der Mindestsicherung (rauf)
Zudem würde ich eine Grenze beim Monatseinkommen von CEOs in Relation zum am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter einführen.

 

 

Dieses Buch ist das Gegenteil von dem, was auf LinkedIn abgeht.
Hier gibt es keine Tipps für’s Bewerbungsgespräch – und kein schlechtes Gewissen, wenn du am Ende des Jahres keinen Meilenstein zu verkünden hast. Bianca Jankovska verbindet in ihrem Buch persönliche Anekdoten mit strukturellen Problemen und erzählt eindrucksvoll von Therapie im Kapitalismus, PMS und PMDS, von Privilegien-Checks, Kündigungserfahrungen, Scham, Schuld und Schmerz.
Willkommen in der feministischen Anti-Work-Bewegung: für Menstruierende, Arbeitende, Selbstständige und alle, deren psychischen und körperlichen Ressourcen von Tag zu Tag weniger werden.

Ab 06.06.2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich. 

Einen Auszug aus dem Interview haben wir vorab in unserem Newsletter gebracht. Du willst nichts mehr verpassen? Dann melde dich doch gleich an:

„Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch“ – Gespräch mit Bernhard Schöpfer, Gründer von „Der Fährmann”

2013 gründete Bernhard Schöpfer die Bestattung „Der Fährmann“  und damit einen Raum für alternative Verabschiedungen von  Verstorbenen. Das Unternehmen ist seitdem Anlaufstelle für Trauernde; neben der Unterstützung bei der Organisation traditioneller und individueller Abschiedsfeiern und Bestattungen liegt ein großer Fokus auf der Trauerarbeit, denn: Diese ist für die Hinterbliebenen genauso wichtig. Wir haben uns mit ihm über seine Arbeit, Abschiedsrituale und den Stellenwert des Todes in der Gesellschaft unterhalten.

Bernhard, wie kam die Idee für die Bestattung „Der Fährmann“? Was hat dich dazu gebracht, dich beruflich mit Tod und Abschied zu beschäftigen?

Die Idee kam aus dem Bedürfnis heraus, etwas an unserem aktuellen System der Beerdigungen zu ändern. Ich habe gemerkt, ich bin nicht ganz zufrieden mit der Trauerkultur, die bei uns üblich ist – etwas fehlt. Beerdigungen und die damit zusammenhängenden Abläufe werden meistens nach einem bestimmten Muster abgewickelt und möglichst schnell erledigt. Übrig bleibt danach in der Regel nur der Partezettel – der Raum, wo die Trauer ihren Platz findet, wird nicht ausreichend geöffnet für die, die einen geliebten Menschen verloren haben. Genau hier wollte ich ansetzen und eine Lücke füllen, den Hinterbliebenen und ihren Gefühlen Platz geben.
Und nicht zuletzt ist unsere Trauerkultur sehr eng mit dem christlichen Glauben verbunden. Es gibt kaum Rituale in Bezug aufs Begräbnis außerhalb der Kirche, ohne dass ein Pfarrer dabei ist. Viele wissen gar nicht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, im Sinne des*der Verstorbenen einen angemessenen Abschied zu bereiten.

Was genau macht „Der Fährmann“? Was unterscheidet euch von anderen, „klassischen“ Bestattungsunternehmen?

Wir bemühen uns dahingehend, dass auch Beerdigungen außerhalb der Kirche, unabhängig vom Kulturkreis, in welchem (nicht)religiösen Kontext auch immer, würdevoll stattfinden; nicht nur für den*die Verstorbene*n, sondern vor allem für die Angehörigen. Es ist Teil der Trauerarbeit, die wir machen, und diese muss unserer Erfahrung nach möglichst bald losgehen und nicht erst nach dem Begräbnis. Wir versuchen, die Menschen einzubinden, Möglichkeiten zu bieten, sich handlungsfähig zu erleben in ihrer Ohnmacht und nicht alles fernhalten.
Wenn jemand stirbt, kann man als Angehörige*r gewisse Dinge nur zu einem bestimmten Zeitpunkt machen – danach ist es unwiederbringlich. Ich kann nach der Beerdigung dem*der Toten nicht mehr ein letztes Mal über die Wange streicheln, die Hand halten und vieles mehr. Als Bestatter ist es meine Verantwortung, Räume dafür zu öffnen, unwiederbringliche Momente zu ermöglichen. Das kann unterschiedlich aussehen: die Angehörigen fragen, ob sie etwas tun wollen, den*die Tote*n nochmal berühren, zu ihm*ihr sprechen. Oft nehmen sie das dankend an, sind im Nachhinein froh, das getan zu haben. Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch. Deshalb sind Berührungen umso wichtiger in der Trauerarbeit. Beim Abschied von einem geliebten Menschen darf alles Platz haben, alles gesagt werden – auch, was nicht so gut war.

Auf der Homepage von „Der Fährmann“ ist immer wieder die Rede von „Abschiedsfeiern“ – das ist ungewöhnlich. Das Leben feiern – ja. Aber den Tod?

In der röm.-kath. Kirche gibt es einen Beerdigungsritus, der im Grunde immer gleich abläuft. Je nach Pfarrer hat daneben noch etwas Platz oder eben nicht. Wenn man sich für ein freies Begräbnis entscheidet, können Feiern sehr individuell gestaltet werden. Hier steht die verstorbene Person im Mittelpunkt und kann durch die zahlreichen Erinnerungen der Anwesenden noch einmal richtig aufblühen. Es entwickelt sich dadurch viel mehr Platz für Emotionalität, auch wenn man sich nicht bewusst dafür entscheidet, sich dem hinzugeben.
Rituale sind wichtig, um den Abschied zu begehen, ihn vor allem bewusst zu erleben, anstatt nur in starren Riten durchmanövriert zu werden. Trauern heißt auch aktiv zu sein, sich bewusst handlungsfähig zu machen und die Verabschiedung mit seinem Beitrag zu bereichern. Wenn sich der*die Verstorbene immer etwas Bestimmtes für das Begräbnis vorgestellt hat und ich setze mich dafür ein, dass dieser Wunsch erfüllt wird, dann habe ich etwas Schönes für sie*ihn getan. In meiner Erfahrung ist das ein sehr tröstlicher Gedanke für die Hinterbliebenen.
Im Vorfeld ist es natürlich hilfreich zu wissen: Wie will die Person beerdigt werden? Welche Rituale sind wichtig für sie? Das gehört ebenfalls zur Trauerarbeit: den Angehörigen aufzuzeigen, dass sie den Abschied aktiv mitgestalten können, um auch für sich einen Weg der Bewältigung des Verlusts zu finden.

Wie steht die heutige Gesellschaft deiner Einschätzung nach dem Tod gegenüber? Ist er Teil des Lebens oder immer noch ein schwieriges Thema?

Ich würde sagen, es ist nach wie vor schwierig. Die Art und Weise, mit der wir in der Gesellschaft mit dem Tod umgehen, ist geprägt davon, wie wir den Umgang damit erleben – eben meistens als schnelles Abwickeln der üblichen Abläufe ohne die Möglichkeit, angemessen zu trauern. In den letzten Jahrzehnten hat sich diesbezüglich viel getan. Früher war der Pfarrer zuständig, sich um das Seelenwohl des*der Sterbenden zu kümmern. Heute wird das ins Krankenhaus ausgelagert und es geht bis zum Schluss um Heilung. Mittlerweile wird durch Palliative Care versucht dem Sterbeprozess wieder Raum zu geben.
Noch ein kurzer Blick auf den Tod historisch gesehen: Wir haben eine Zeit der Weltkriege hinter uns, wo so viel Tod und Leid passiert ist, dass die Menschen wenig Möglichkeit hatten, die Trauer zuzulassen. Es herrschte eher das Motto „Jammer nicht, wir haben überlebt”. Mittlerweile ist das anders, da (zumindest in unserem unmittelbaren Umfeld) kein Krieg herrscht und der Abschied nun wieder besser möglich ist. Es zeigt sich auch eine erfreuliche Entwicklung in der jetzigen Zeit: Das Bedürfnis, zu trauern, wird wieder größer, die Menschen trauen sich wieder mehr, in diese Emotion reinzugehen.

Oft fällt es uns schwer, unser Beileid auszudrücken, die richtigen Worte zu finden. Wie kann man deiner Erfahrung nach auch ohne große Worte für Hinterbliebene da sein, ihnen Trost spenden?

Ich verstehe die Hilflosigkeit Außenstehender, wenn es um den Umgang mit Trauernden geht, gut. Worte bringen den Menschen nicht mehr zurück, machen die Situation nicht besser. Die Straßenseite zu wechseln, das Gespräch zu meiden, nichts zu sagen ist aber weit schlimmer. Es ist okay und wichtig, den Verlust feinfühlig anzusprechen und Beileid zu wünschen. Für die Trauernden kann diese Wertschätzung, die ihnen und dem*der Verstorbenen so entgegengebracht wird, sehr bereichernd sein. Und es braucht nicht unbedingt viele Worte – manchmal reicht ein feiner Händedruck, ein Blick, eine Berührung.

Du möchtest dich näher zum Angebot des „Fährmanns informieren? Hier geht es zur Website: https://www.der-faehrmann.at/home/ 

Lesen als Gegengift in lärmigen Zeiten – Dankesrede von Christoph W. Bauer anlässlich des Anton-Wildgans-Preises 2023

„Christoph W. Bauer ist in nahezu allen literarischen Genres zuhause. In seinen Prosa-Arbeiten, die vielfach im Grenzbereich zwischen Historiographie und Fiktion angesiedelt sind, dominieren Geschichten, die er im Alphabet ramponierter oder auch längst verschwundener Häuser ermittelt, sei es in Saint-Denis, sei es in Innsbruck-St. Nikolaus. Und in seinen Gedichten setzt Christoph W. Bauer mit seiner ganz eigenen Stimme souverän alle nur denkbaren lyrischen Formen ein, um in einer schier endlosen Kette von intertextuellen Bezügen, die von Homer und Catull über Dante und Villon und Borges bis zum Punk-Rock reichen, immer von neuem auf ein Spiel mit Möglichkeiten zuzusteuern, das ganz wenig übrig hat für scheinbar unverrückbare Gegebenheiten,“ heißt es in der Jurybegründung für den Anton-Wildgans-Preis 2023. Hier gibt’s Christoph W. Bauers Dankesrede in voller Länge zum Nachlesen: 

Sehr geehrte Damen und Herren,

vorab, ich rede nicht gerne, ich schreibe lieber, und noch weit lieber als das Schreiben ist mir das Lesen. Und wenn ich heute vor Ihnen stehe und diese Auszeichnung entgegennehmen darf, weiß ich, wem ich das zu verdanken habe: Dem Lesen. Alles, was ich über Literatur zu sagen weiß, hat mich das Lesen gelehrt. In der Auseinandersetzung mit den Werken anderer hat sich mein Denken geformt, meine Sprache. Ich bin durch die Schule des Lesens gegangen, durfte einige meiner Lehrerinnen und Lehrer persönlich kennenlernen, Julian Schutting, Robert Schindel, Sabine Gruber und Paul Nizon, um hier nur einige zu nennen. Sie haben mich durch ihren Zuspruch gefördert, vor allem aber durch ihre Bücher.

Ich habe keine Lehre abgeschlossen, die Universität einige Monate lang im wahrsten Wortsinn bloß besucht, war also Gast in einem Leben, das für mich keine Möglichkeit darstellte. Die Literatur jedoch begriff ich als ein Spiel mit Möglichkeiten, ein Spiel mit Masken, sie lehrte mich Alternativen, lehrte mich Aufbrüche, Ankünfte. Sie wurde mir Fluchthelferin, selbst wenn ich die Gefahr noch nicht erahnte, sie trieb mich an und ließ mich ins Leere laufen, düpierte meine Denkgewohnheiten, feite mich vor voreiligen Schubladisierungen; immer wieder war sie mir Fallenstellerin, auf sicheren Wegen wähnte ich mich, als sich plötzlich mit wenigen Worten ein Abgrund auftat. Ich lebte in den Tag hinein und dachte nicht an die Zukunft, ich setzte alles auf eine Karte, ich wollte, was ich tat: schreiben.

Das hat nun so gar nichts mit Berufung zu tun, sondern verdankt sich dem Umstand, dass ich mich in die Gegenwart immer erst hineinbuchstabieren muss, um sie mir greifbar zu machen, hineinzweifeln muss ich mich, nach jedem Aufwachen, Wort für Wort setzt sich ein Hier und Jetzt zusammen. Das mag hochtrabend klingen, pathetisch gar, ist aber bloß meinem Wunsch nach Neuanfängen geschuldet, literarischen Wahlverwandten gewiss auch, nicht zuletzt meiner Kindheit.

Vor mir ein Berg, hinter mir einer, links ein Berg, rechts ein anderer, dieses Bild stellt sich mir ein, wenn ich an meine Kindheit denke. Aufgewachsen im Tiroler Unterland, im Brixental, im Schatten des Hahnenkamms wurde mir dieses Bild zur Sprungfeder für Träume, Fantasien, nicht zuletzt für meine Neugier. Es muss noch etwas anderes geben als diese Berge, dachte ich, etwas anderes als Wachsgeruch in der Nase, etwas anderes als rote Tore, blaue, und jeden Tag Skiclubtraining und jedes Wochenende ein Skirennen, fünf vier drei zwo eins ab, fünf vier drei zwo eins ab, und runter den Hang, zweiter ist letzter, zweiter ist letzter, das war die Parole, mit der uns der Trainer in den Ohren lag.

Ja, es muss etwas anderes geben als die Sorge um ausgelastete Hotelbetten, als Nachbarn, die saisonlang mit ihren Kindern in die Keller ziehen, um ihre Schlaf- und Kinderzimmer an Gäste zu vermieten. Etwas anderes als postsaisonalen Baulärm und die herbstliche Zurüstung auf die nächste Wintersaison, schlicht etwas anderes als das Wort Saison, das wie ein Sesamöffnedich verwendet wird.

Etwas anderes als argwöhnische Blicke, die all jene trafen, die sich dem Ganzen entzogen, und die gab es freilich auch, solche, die sich abseits einer Melange aus Blasmusik und Hardrockklängen für andere musikalische Formen interessierten, für Bücher gar, oder sogenannte Zuagroaste. Letztere fielen auf, das hat sich bis heute nicht geändert. War ich einer von ihnen? Gewissermaßen ja. Der Herkunft meines Vaters geschuldet sprach ich zuhause Hochdeutsch, kaum hatte ich die elterliche Wohnung jedoch verlassen, redete ich im Dialekt, früh lernte ich, die Sprachebenen zu wechseln, eine Fähigkeit, wenn es denn eine ist, die ich noch heute beherrsche. Mein Vater zog Beethoven Mozart vor, meine Mutter konnte da nur protestieren, und beide lasen, Tolstoi, Dostojewski, aber auch Dante Alighieri, erinnere ich mich und sofort fällt mir ein, wie alleine die Namen der Schriftsteller meine Fantasie anregten.

Mein Lieblingsbuch im elterlichen Bücherregal war Meyers Universallexikon, in dem ich mich stundenlang vertiefen konnte – und dadurch so manches Skiclubtraining versäumte. Als Grund für mein Fehlen wagte ich, das Lexikon allerdings nicht zu nennen, ich erfand Geschichten, die zumindest für mich plausibel klangen, ich schwadronierte, ich war ein anderer. Ich verwandelte mich und spürte, dass Worte dies ermöglichten. Ob der Trainer mir die Geschichten abnahm, weiß ich nicht, sehr wohl aber, dass er mich ohnehin nicht als künftigen Skiweltmeister einstufte, was ihn mir plötzlich sehr sympathisch macht.

Vielleicht hätte er sogar am wahren Grund für mein Abwesenheit Gefallen gefunden, ja, ich hätte ihm erzählen sollen, was mich umtrieb: Worte, in deren Klang ich rote Tore und blaue Tore hinter mir ließ, ich war sozusagen über alle Berge, wenn ich das Lexikon aufschlug und Begriffe aneinanderreihte zu einer Zauberformel, die ich laut vor mich hin sprach: Madagaskar, Maracuja, Mare internum.

All das kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich in einen Zug einsteige, um ins Dorf meiner Kindheit zu fahren. Dann denke ich wieder an die Faszination, die von Worten ausging, an den Klang, den Worte auslösen können, ich denke an das Bücherregal meiner Eltern und daran, wie sehr sie mich im Lesen immer gefördert haben.

Diese Leseförderung versuche ich seit mehr als zwanzig Jahren auch an andere weiterzugeben, an Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen, ich gehe in Volksschulen, Hauptschulen, Abendschulen, ich gestalte Schreibwerkstätten, Lesungen, lasse mir selbst vorlesen – und merke erschreckend oft, wie sehr es dieser Förderung bedarf. Erst vor ein paar Tagen las ich in einer österreichischen Tageszeitung: „Rund eine Million Erwachsene in Österreich können nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen. 720.000 Menschen zwischen 16 und 65 befanden sich auf Lesekompetenzstufe eins. Das bedeutet, dass sie nur kurze Texte mit einfachen Vokabeln lesen und darin eine einzelne Information finden können, sofern der Text nur wenige widersprüchliche Informationen enthält. 140.000 Personen lagen unter der Kompetenzstufe eins. Sie haben Schwierigkeiten, Verträge zu lesen, Formulare auszufüllen, Beipackzettel von Medikamenten zu lesen oder sich an Fahrplänen zu orientieren. Die Mehrheit der Betroffenen hat Deutsch als Erstsprache, einen niedrigen formalen Schulabschluss trotz in Österreich erfüllter Schulpflicht.“

Wie kann das sein? Wieso misst man dem Lesen im Unterricht so wenig Wert bei? Oder ist es so, dass man die Leseschwächsten einfach mitzieht von einer Schulstufe in die nächste in der Meinung, sie würden ohnehin irgendwann in einem Beruf landen, und dann Extrawurst aufschneiden oder Weingläser nachfüllen oder unseren Müll wegräumen? Hauptsache, sie funktionieren, sie stellen nichts in Frage – wie es gute Literatur immer tun sollte.

Und warum überhaupt wird im Schulunterricht kaum noch Literatur vermittelt? Mehr noch: Warum wurde die Literatur in den letzten Jahrzehnten sukzessive aus den Lehrplänen gestrichen? Und durch welche Inhalte wurde sie ersetzt? Wie man einen Lebenslauf erstellt oder ein Bewerbungsschreiben formuliert, stand schon in meiner Schulzeit auf dem Lehrplan. Den Schülerinnen und Schülern wird hier – mit Vorsatz – etwas vorenthalten, worauf sie ein  Anspruch haben, etwas vorenthalten, das ihr Leben prägen könnte, das ihnen die Augen öffnen und sie dazu bestärken könnte, eine eigene Meinung zu entwickeln: Bildung durch Literatur.

Und ist nicht eine ausreichende Lesekompetenz die Grundvoraussetzung für Bildung schlechthin? Im erwähnten Artikel ist zu lesen: In unserem Schulsystem würden Kinder zwar lernen, wie das Lesen geht, aber das Einüben müsse außerhalb der Schule passieren. Wenn es die Eltern selbst nicht können, können sie die Kinder nicht unterstützen. In Österreich werde Bildung vererbt.“ Nun ja, überspitzt ausgedrückt wage ich die Behauptung: In Österreich wird Unbildung vererbt. Weniger spitz: Hierzulande erhält man Anerkennung über die verschiedensten Kanäle, aber kaum noch über Bildung. Auch eine Folge davon: Kunst und Wissenschaft werden abgetan, wer braucht sie denn noch.

Wenn ich mit Schülerinnen und Schülern arbeite, versuche ich, sie auf dem spielerischen Weg zum Lesen und Schreiben zu verführen. Und sie machen mit, sie wollen ihre Texte schreiben und vorlesen, sie erhalten Applaus. Und ich merke, wie viele von ihnen, gerade die Schreib- und Leseschwächsten, geradezu nach Anerkennung gieren. Sie erhalten sie, so wie ich sie heute erhalte, indem ich den Anton Wildgans Preis empfangen darf.

Bei Paul Nizon lese ich die Sätze: „Es ist ja nicht einfach nur Schicksal oder Pech, dass der eine im Lichte steht und der andere im Dunkel. Es ist die Frage: Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und als Schriftsteller weitermachen zu können.“ Lassen wir den Schriftsteller kurz weg. Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und weitermachen zu können? Egal in welchem Beruf. Wieviel braucht er?

Mir als Schriftsteller wird diese Anerkennung nun zuteil, sie ermöglicht es mir, meinen Weg unbeirrt weiterzugehen, ich setzte alles auf eine Karte, ich tue es immer noch. Anerkennung, also Respekt, und an Letzterem mangelt es leider viel zu vielen Menschen in diesem Land. Ein Blick in Online-Foren genügt, da wird gepostet, was das Zeug hält, Hauptsache, glauben und meinen und dabei zumeist nichts wissen. Unfassbar, mit welcher Häme und Respektlosigkeit hier abgeurteilt wird, ein hartes Wort, aber es trifft zu. Und wäre es nicht so beschämend, was meine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von sich geben, könnte ich mitunter sogar laut auflachen über diesen ungewollt spielerischen Umgang mit Sprache, der jede Grammatik und Rechtschreibung außer Kraft setzt, sodass man sich ob der Unverständlichkeit der geposteten Kommentare schon fragen will, in welcher Sprache sie verfasst worden sind.

Der spielerische Umgang mit Sprache war auch Anton Wildgans nicht fremd. Zumindest glaube ich ihn zu erkennen, schon in seinem frühen Stück Sappho, das er als Neunzehnjähriger schrieb, aber auch in späteren Arbeiten, in der Anverwandlung antiker Motive, in der Abwandlung antiker Versmaße. Ein Gedicht der frühgriechischen Dichterin verwende auch ich bei Lesungen in Klassenzimmern, ein Liebesgedicht, das ich nachgedichtet habe – und immer wieder bin ich erstaunt, welch großen Anklang es bei den Schülerinnen und Schülern findet. Floh Sappho mit ihren nur in Fragmenten vorhandenen Gedichten vor der Realität? Mitnichten.

Auch Anton Wildgans flieht nicht vor der Realität, im Gegenteil, er versucht, sich ihr einzuschreiben, er beschönigt nichts. Eines seiner Gedichte trägt den Titel „Ich bin ein Kind der Stadt“, was mich an dieser Stelle sagen lässt: Ich bin ein Hund meiner Zeit. Als solcher schnüffle ich herum, stöbere ich, belle schon mal vorlaut, aber nie ohne Grund, vor allem aber, ich bin wachsam. In Anton Wildgans Lebenszeit fallen der Zerfall der Monarchie, der Erste Weltkrieg, die Nachkriegszeit, in meine bisherige Lebenszeit der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege und zu viele andere mehr. Und nun erleben wir erneut einen Krieg, wir erleben ihn aus der Ferne, während andere ihn jedoch erleiden, erleiden müssen.

Wir leben in lärmigen Zeiten, Lesen könnte ein Gegengift sein, es ist ein stilles Unterfangen. Und schon klar, das Lesen kann keine Kriege verhindern, so naiv bin ich nicht, aber das Lesen schärft das Bewusstsein für Sprache. Kriege brechen nicht aus, sie sind keine Häftlinge, Kriege werden entfesselt, um im Bild zu bleiben, sie werden entfesselt von Demagogen, Verführern – diesen nicht immer ganz so rasch auf den Leim zu gehen, auch davor kann das Lesen feien.

Ja, lärmig ist unsere Zeit und voll der Debatten, und ich behaupte keineswegs, dass diese nicht geführt werden sollen, ich frage mich nur, warum sie immer so hitzig geführt werden. Und warum sich immer so viele daran beteiligen und das in einer Sprache, die – mit Verlaub – darauf schließen lässt, die Aufwiegler und Abwieglerinnen, die Aufwieglerinnen und Abwiegler haben nicht recht viel Literatur in ihrem Leben gelesen.  Ich will hier keine Beispiele nennen, ich denke, Sie finden selbst viele dafür.

Ich bin ein lesender Dichter, ein poeta legens, auch ein poeta ludens, ein spielender Dichter, was ich mit Sicherheit nicht bin, ein poeta vates, ein gottbegnadeter Seher, ein Genie. Gottbegnadet, ich habe das Wort mit Absicht gewählt, ein Begriff, den ich an sich aus meinem Vokabular gestrichen habe, weil er an die Liste der Gottbegnadeten erinnert in der Zeit des Nationalsozialismus, für mich ein verseuchter Begriff, aber erst das Lesen hat mich zu dieser Einsicht gebracht, das Lesen und sonst nichts. Lesen ist für mich in diesem Sinn auch ein Anlesen gegen das Vergessen, weil die gelesenen Werke ein Anschreiben gegen das Vergessen sind. Weil die gelesenen Werke der Geschichte einen Namen und ein Gesicht verleihen, weil sie Geschichte sichtbar machen. Wenn es heißt, dass Menschen nicht aus der Geschichte lernen, dann hat das auch diesen Grund: Weil sie nicht lesen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte mit einer ernstgemeinten Aufforderung schließen: Lesen Sie, und dann lesen Sie noch ein bisschen mehr, und dann, ja, dann lesen Sie halt bitte noch ein bisserl mehr! Herzlichen Dank.

„Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.“ Christoph W. Bauer zur Erinnerungskultur

Der größte noch bestehende NS-Bau in Tirol ist das Neue Landhaus in Innsbruck, das 1938/39 als Gauhaus für Parteidienststellen errichtet wurde. In diesem Machtzentrum wurde der menschenverachtende NS-Terror in Tirol und Vorarlberg geplant und bürokratisch in die Wege geleitet. 1955 zog die Tiroler Landesregierung in das Gebäude ein. Die historischen Hintergründe des Baus wurden lange verleugnet und verdrängt. Im Herbst 2023 startet die erste öffentlich zugängliche Ausstellung im Landhaus, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in diesem Gebäude anstoßen soll. Der Schriftsteller Christoph W. Bauer hielt anlässlich der Ausstellungseröffnung eine Rede, die zum Nachdenken anregt. 

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich gestehe es, es ist ein ungewöhnlicher Rahmen für mich, ein wenig mulmig zumute ist mir, und wenn ich heute diese Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung Vom Gauhaus zum Landhaus halten darf, ist mir das Würdigung meiner Arbeit wie Last zugleich. Denn dieses Haus ist von der allergrößten Bedeutung für die jüngere Geschichte Tirols, es polarisiert, es löste zahlreiche Debatten aus und wird für weitere sorgen, was unser Demokratieverständnis betreffend nur zu befürworten ist. Ich bin kein Historiker, ich bin Schriftsteller und als solcher gestalte ich meine kurze Rede, ohne dabei im Detail auf Inhalte der Ausstellung einzugehen, das werden Hilde Strobl und Christian Mathies später tun.

Im Jahr 1975 wurde ich schulpflichtig, auf vier Jahre Volksschule in Kirchberg in Tirol, folgte das Gymnasium in St. Johann im Tiroler Unterland. Ich hatte auch gute Lehrerinnen und Lehrer, das muss hier gesagt werden, vor allem im Fach Geschichte, ich lernte viel über die Historie Tirols, über Margarete Maultasch, über Friedl mit der leeren Tasche, über die Schatzkammer im Schloss Ambras, über die Habsburger, über den Kampf gegen Napoleon, ich lernte über einen Hofer alles, über einen anderen nichts, nicht einmal namentlich wurde Franz Hofer im Geschichtsunterricht erwähnt.

Freilich, ich erfuhr viel über den Nationalsozialismus, aber die Darstellung in den Geschichtsbüchern und Reden meiner Lehrerinnen und Lehrer rückten ihn in eine weite Ferne. Als hätte sich der ganze Schrecken nicht auch hier bei uns, vor der eigenen Haustür zugetragen. Ich hörte von den Novemberpogromen in Wien, in Berlin, in München, in Nürnberg und in anderen deutschen Städten, ich erfuhr nichts von der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Innsbruck und in Tirol. Ich erfuhr von Dachau, Mauthausen, Buchenwald, von Auschwitz und Treblinka, ich hörte nichts vom Lager in der Reichenau, und von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen war überhaupt nie die Rede. Auch nicht von jenen Menschen, die in den Baracken hausen mussten, an denen mein täglicher Weg in die Volksschule vorbeiführte, Zigeuner hat man sie despektierlich genannt, auch noch in meiner Kindheit und Jugend. Zunächst nach Innsbruck abgeschoben, wurden sie später nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Oder um Ihnen noch ein anderes Beispiel zu geben, wie mein Unterricht aussah:

Ein Verkehrsknotenpunkt ist Wörgl, das lernte ich in der Schule, ich erfuhr von der Giselabahn, die durchs Brixental führt, wo ich aufgewachsen bin. Namenspatronin der Bahn ist Erzherzogin Gisela Louise Marie von Österreich, die zweite Tochter von Franz Joseph I. Mit Fertigstellung der Bahntrasse im Jahr 1875 begann Wörgls Aufschwung, zuvor war der Ort ein Bauerndorf gewesen, an einer alten Durchzugsstraße im Inntal gelegen. Auch das war Schulstoff.

Christoph W. Bauer, geboren 1968 in Kärnten, wuchs in Tirol auf, wo er heute noch lebt. Er verfasst Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele, Übersetzungen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen dafür, u.a. den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2002), Outstanding Artist Award und Tiroler Landespreis für Kunst (beide 2015) sowie zuletzt den Anton-Wildgans-Preis (2023).

Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Begleiten Sie mich, sehr geehrte Damen und Herren, ein Stück durch die Bahnhofsstraße von Wörgl, wir bleiben stehen vorm Haus Nr. 21. Dort also gingen die Heimischen in den 1920er-Jahren ein und aus, um einzukaufen „beim Jud“, wie das Geschäft im Volksmund genannt wurde. Besitzer des Geschäfts war Rudolf Gottlieb, der sich mit seiner Frau Elisabeth 1906 in Wörgl niedergelassen hatte, die Stadt war in wenigen Jahren zu einem Handels- und Gewerbezentrum geworden. Reaktionen auf den ersten Zuzug eines jüdischen Ehepaars sind nicht bekannt, die beiden mieteten zunächst eine Wohnung in besagtem Haus. Gut zwei Jahre später bekamen sie mit der Familie Ostermann neue Nachbarn, was den Wörgler Pfarrer offensichtlich erzürnte, vorwurfsvoll wandte er sich an den Vermieter: „Z’erst nimmst an Juden, und iatz gar no an Protestanten.“

Gleichwohl begann das Ehepaar Gottlieb mit dem Aufbau eines Textilgeschäfts, das regen Zuspruch fand und bald den Kauf des Hauses in der Bahnhofstraße ermöglichte. 1916 erhielt die Familie Gottlieb, mittlerweile um die drei Kinder Otto, Erwin und Irma angewachsen, das Heimatrecht in Wörgl – von größter Bedeutung für die Erringung der Staatsbürgerschaft nach Kriegsende. Diese feite sie freilich nicht vor den aggressiven Verbal-Attacken des „Tiroler Antisemitenbundes“, der 1919 gegründet wurde.

Zu tätlichen Übergriffen kam es in der Zwischenkriegszeit nicht, auch nicht in den Tagen nach dem sogenannten „Anschluss“. Das Geschäft wurde indes umgehend „arisiert“ und den Gottliebs eine Frist gesetzt, Wörgl zu verlassen. Dies geschah im März 1939, die Familie wurde nach Wien ausgewiesen. Von dort konnten die Söhne Otto und Erwin nach Shanghai flüchten, Irma und ihr Mann versuchten, mit einem illegalen Schiffstransport über die Donau ins Schwarze Meer und weiter nach Palästina zu gelangen. Das Zufrieren der Donau nötigte sie jedoch, den Winter 1939 in einer kleinen jugoslawischen Hafenstadt zu verbringen; sie durften nicht von Bord. Im Sommer 1940 wurden sie mit anderen Vertriebenen in die Nähe von Belgrad verlegt, eine Weiterreise scheiterte. Im Zug des Balkanfeldzugs 1941 holte die Wehrmacht die Flüchtlinge ein und internierte sie in Baracken am Ufer der Save.

Sondereinheiten erschossen in einer „Sühneaktion“ im Oktober 1941 alle Männer unter den Gefangenen, darunter auch Irmas Ehemann Karl Rosenberg. Frauen und Kinder wurden in ein KZ in Belgrad gebracht, wo man ihnen eine „Umsiedlung“ vorgaukelte, täglich kamen zwei Lastwägen ins Lager. Und so stieg auch das jüngste Kind von Rudolf und Elisabeth Gottlieb im Frühjahr 1942 in den Laderaum und wurde während der Fahrt durch eingeleitete Abgase ermordet. Irmas Leiche verscharrte man in Alava bei Belgrad.

In Anbetracht ihres Alters hatten die in Wien zurückgeblieben Eltern kaum noch eine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Mit Ausbruch des Kriegs verschlechterte sich ihre Situation drastisch. Zuletzt lebte das Ehepaar Gottlieb im II. Bezirk in der Großen Mohrengasse 14. Im Oktober 1942 wurde es nach Theresienstadt verschickt und überlebte die katastrophalen Zustände dort nur um wenige Monate.

Davon erfuhr ich in der Schule nichts. Man mag einwenden, dass die Aktenlage damals noch eine andere war und die Archive für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschlossen waren, das stimmt zweifelsohne. Aber mittlerweile hat sich die Lage geändert, Dank der Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck wurde vieles sichtbar gemacht, wie auch durch Künstlerinnen und Künstler und andere kritische Geister in diesem Land. Das Schicksal der Familie Gottlieb ist bekannt und sollte Schulstoff sein. Wie auch die Geschichte dieses Hauses, in dem wir uns befinden, Schulstoff sein sollte, denn was in diesem Haus damals beschlossen und angeordnet wurde, hatte weitreichende und verheerende Folgen. Wer in diesem Haus seit seiner Errichtung und bis Kriegsende ein und aus ging, wer hier Dekrete diktierte, wer sie unterschrieb und weiterleitete, hat sich mitschuldig gemacht. Da gibt es nichts zu beschönigen, das muss sichtbar gemacht werden. Und darum geht es in dieser Ausstellung: um Sichtbarmachung von Geschichte. Um Sichtbarmachung, so hoffe ich, vor allem auch für junge Menschen.

Aber warum denn das alles, kann man diese Geschichte nicht endlich ruhen lassen? Nein, das kann man nicht, mehr noch: das darf man nicht! Und die Frage ist ja nicht neu, ich hörte sie bereits in meiner Kindheit und Jugend, ich hörte sie als Schriftsteller, als ich über das Schicksal der Familie Graubart schrieb und über weitere jüdische Familien, die aus Tirol vertrieben wurden. Über die Familien Bauer und Schwarz, über die Familie Pasch, über Hans und Felix Heimer, über Abraham Gafni und Peter Gewitsch, Menschen, die ich in Israel und England aufsuchte, mit denen ich Gespräche führte, Gespräche führen wollte und musste, ehe es dafür zu spät ist. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben mir ihre Geschichten anvertraut, Geschichten, die ihre Schicksale am Leben erhalten über ihren Tod hinaus. Meine Arbeit verstehe ich in diesem Sinn auch als ein Anschreiben gegen das Vergessen.

Und ich will und werde nicht lockerlassen, im Auftrag des Tiroler Landestheaters habe ich in den vergangenen Monaten ein Stück geschrieben, das bald Premiere haben wird. Kein herkömmliches Stück, nein, ein Klassenzimmerstück, das von Flucht und Vertreibung in der Zeit des Nationalsozialismus spricht und Jugendlichen die Thematik näherbringen soll. Mobiles Theater in ganz Tirol, von einer Klasse in die nächste, ein Stück für Jugendliche, das Geschichte sichtbar machen und ihr ein Gesicht geben soll. Von Verantwortung ist in dem Stück die Rede, von der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, oder um es mit dem bildendenden Künstler Franz Wassermann zu sagen: Wir haften für unsere Geschichte. Aber nichts ist falscher, fataler als Jugendlichen gegenüber heute von Schuld zu sprechen, das greift zu kurz und darüber hinaus längst nicht mehr, damit erreichen wir junge Menschen nicht. Abgesehen davon, sie haben selbstredend keine Schuld, wie auch ich in meiner Schulzeit keine hatte, die drei Jahrzehnte nach Kriegsende begann.

Aber haben Jugendliche heute nicht andere Probleme? Haben sie. Und mir ist klar, dass auch der Unterrichtstoff inzwischen enorm angewachsen ist. Mit einem befreundeten Lehrer, der Geschichte an einer Hauptschule unterrichtet, habe ich oft darüber gesprochen. Der Fall der Mauer, der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege, 9/11 all das ist mittlerweile Lehrstoff. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus von immenser Wichtigkeit ist, da sie den Blick schärft und in der Folge über den eigenen Tellerrand schauen lässt.

Und dieser Teil der regionalen Geschichte beginnt ja nicht am 11. März 1938 und endet im Mai 1945, er beinhaltet auch die Jahre des Austrofaschismus und die Nachkriegszeit, in der sich viele Menschen in diesem Land der Verantwortung entledigten wie eines abgetragenen, zerfledderten Anzugs. Oder ihre Gesinnung weiterhin ohne jegliches Schuldbewusstsein schamlos zur Schau stellten.

Während der Arbeit an dieser Rede, kam mir ein alter Mann im Dorf meiner Kindheit in den Sinn. Meine Freunde und ich spielten oft auf einem Feld nahe dem Haus des Alten Fußball und jedes Mal stapfte er wütend auf uns zu, wild mit seinem Gehstock fuchtelnd und bellte uns an auf gut Brixentoierisch: I drah enk s Gas ob. Auf seiner Oberlippe ein Hitlerbart.

Und ich erinnerte mich an die Landsergrauen Gestalten, die ich bei jedem Kirchgang beim Kriegerdenkmal stehen sah, sie gingen ja lieber ins Wirtshaus, Gottgläubige eben durch und durch. Hoben sie das Glas auf ihn, den Gauleiter, als der im Jahr meiner Einschulung 1975 in Mühlheim an der Ruhr eines natürlichen Todes starb, ohne je für seine Schandtaten zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Der hier in diesem Haus bis 1943 ein und ausging, ehe er von Bozen aus seine menschenverachtende Politik weiter betrieb. Der hier in diesem Haus die Fäden in der Hand hatte; der hier in diesem Haus sich rühmte, den Gau „judenrein“ gemacht zu haben, ehe er in eine Bar ging, um sich zu treffen mit Seinesgleichen, in die Hiebl-Bar eines Totenkopf-SSlers in der Maria-Theresien-Straße, ein arisiertes Lokal, das man der Familie Schindler gestohlen hatte. Alles ging über seinen Tisch im Gauleiterzimmer, dessen Einrichtung Bände spricht vom Geschmack des ehemaligen Radioverkäufers und Briefmarkendiebs.

Und ich erinnerte mich an das Raunen, das jedes Mal anhob, wenn die Rede – etliche Jahre später, ich lebte bereits in Innsbruck und recherchierte für ein Buch, dessen Inhalt die Stadt Innsbruck selbst ist – wenn also die Rede auf das Gauleiterzimmer kam oder auf den Gauleitertresor, als würde es sich um Mysterien handeln, die viele Jahrzehnte durch Köpfe spukten – und denen diese Ausstellung Abhilfe schafft.

Dieses Haus ist ein Unikum, es findet keinerlei Entsprechung in anderen Gauhäusern der damaligen Gauhauptstädte. Es wurde geplant als Zeichen der Macht und ist dem Baustil jener Zeit geschuldet, darüber werden Sie später mehr hören. Schaue ich mir alte Ansichten von Innsbruck an, wirkt das Haus noch wuchtiger und ich bekomme ein Gespür dafür, wie das Haus damals auf die Menschen gewirkt haben muss, ein beinahe angsteinflößender Bau, der Ansitz uneingeschränkter Macht. Aus heutiger Sicht bietet das Haus die Gelegenheit zur direkten Konfrontation mit der Vergangenheit. Und ich selbst lerne durch die Ausstellung und das Buch Vom Gauhaus zum Landhaus von Hilde Strobl und Christian Mathies neues hinzu.

Vor fünfzehn Jahren erschien mein Buch Graubart Boulevard. Es handelt von der Familie Graubart, die einst aus Galizien über Wien nach Innsbruck kommt. Simon Graubart eröffnet hier im Jahr 1888 ein Schuhgeschäft, das Schuhhaus Graubart, das sich zuletzt in der Museumstraße 8 befindet. Simon Graubart ist zweimal verheiratet, er hat drei Söhne – Siegfried, Alfred und Richard – die alle in Innsbruck geboren werden, hier die Schule besuchen und später zu arbeiten beginnen. Die Familie ist – wie die meisten anderen jüdischen Familien in Innsbruck auch – nicht sehr religiös, sie will nicht auffallen, sie will einfach, was auch andere Menschen in der Stadt wollen, ein gutes Leben führen, sommers auf Berge kraxeln, im Winter Schifahren oder Rodeln gehen.

Als Simon Graubart 1936 stirbt, ist die Bestürzung über seinen Tod in der Stadt groß, was eine Todesanzeige in den Innsbrucker Nachrichten bezeugt, dem Vorläuferblatt der heutigen Tiroler Tageszeitung. Zwei Jahre nach Simon Graubarts Tod wird sein jüngster Sohn Richard in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in seiner Villa in der Gänsbacherstraße Nummer 5 von einem Rollkommando der SS ermordet, eines von vier Todesopfern jener Schreckensnacht. Graubarts Frau Margarethe und seine damals vierjährige Tochter Vera werden nach Wien abgeschoben, von dort gelingt ihnen die Flucht nach England.

Was ich damals, als ich an dem Buch schrieb, noch nicht wusste – und das bringt mich jetzt auf das Gauhaus zurück, dass zu dessen Errichtung andere Gebäude auf dem Areal geschleift werden mussten. Das Problem aber war, dass diese Häuser bewohnt waren und man für die Bewohnerinnen und Bewohner neue Unterkünfte auftreiben musste. Die Saggener Villa der Graubarts mit zwei Wohnungen war bereits vergeben, dort lebten der Bürgermeister von Innsbruck und der Direktor der Stadtwerke, aber es gab ja noch die drei Wohnungen über dem arisierten Schuhgeschäft in der Museumstraße, die auch der Familie Graubart gehörten. Also bot man unter anderen auch diese Wohnungen an. Was ich damit sagen will: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kommt nie an ein Ende, sie liefert immer wieder neue Einsichten.

Was reitet der Bauer bloß immer auf der Vergangenheit herum, wir leben im Hier und Jetzt! So ist es, sehr geehrte Damen und Herren, wir leben im Hier und Jetzt, und gerade deshalb scheint eine Beschäftigung mit der Vergangenheit aufs Äußerste geboten zu sein. Wir leben in einer Zeit, in der antisemitische Stereotypen wieder durch die Hintertür hereinkommen, in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden erneut Übergriffe fürchten müssen. Und wie erklären wir einem Kind oder Jugendlichen, warum Polizei vor der Synagoge in der Sillgasse Aufstellung nimmt, um das Gebetshaus und jene, die es betreten oder verlassen, zu schützen. Wer also behauptet, mit der Vergangenheit haben wir nichts mehr am Hut, der oder die irren ganz gewaltig. Auf diese Art und Weise wird unsere Demokratie aufs Spiel gesetzt.

Wir leben in einer Zeit der Islamophobie, der Homophobie, in einer Zeit des Populismus, ob der nun von rechts oder links kommt, spielt keine Rolle. Wir leben in einer Zeit, in der ein Begriff wie Faschismus inflationär verwendet wird, was darauf schließen lässt, dass jene, die das Wort im Mund führen, einfach nichts wissen, ja, wir leben in einer Zeit des Unwissens. Was daraus resultiert, ist offensichtlich, wir leben in einer Zeit des Fremdmachens, was nicht hierher passt, wird fremdgemacht, es wird diskriminiert, es muss weg. Auf diese Methode verstanden sich schon die Nationalsozialisten, wohin das geführt hat, ist wohl jeder und jedem hier bekannt.

Wir müssen uns der Vergangenheit stellen, wenn wir nicht wollen, dass sie uns zur Gegenwart wird. Wir dürfen Kindern, Jugendlichen, wir dürfen Menschen nicht nehmen, worauf sie ein Recht haben: ein Recht auf Wissen.

Diese Ausstellung sorgt für Wissenserweiterung. Aber die Ausstellung darf nicht nur ein Punkt auf der Tagesordnung bleiben, eröffnet, rasch abgehakt und weiter geht’s. Die Inhalte der Ausstellung müssen ins Bewusstsein der Menschen übergehen. Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.

Es ist nie zu spät, Verantwortung zu übernehmen, wenngleich es selbstverständlich längst an der Zeit gewesen ist, die Geschichte dieses Hauses sichtbar zu machen. In diesem Sinne danke ich jenen, die dies ermöglicht haben, so wie ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit danke. Herzlichen Dank.

 

Christoph W. Bauer am 4. Oktober 2023

Coming of Age in Österreich: Drei Haymon-Autor*innen im Interview

Ach, Kindheitserinnerungen: Mit dem Postbus ewig in die Schule brauchen, Jollyeis im Freibad im Sommer genießen, Skifahren lernen (bevor man überhaupt Lesen und Schreiben kann) … Viele Erinnerungen teilen wir mit anderen, viele sind ganz unterschiedlich: Es gibt unzählige verschiedene Lebenswelten in diesem Land, so viele einzigartige Kindheiten und Coming-of-Age-Erlebnisse in Österreich. Vieles, was fast schon als kollektives Kindheitsgedächtnis zählt, ist nur eine Seite, eine Perspektive. Jede*r hat schöne, aber auch schwere Erinnerungen. Vielleicht auch welche, an die man nicht so gern zurückdenkt oder auch erst als Erwachsene*r richtig einordnen kann. Was hat sich seitdem geändert, was ist genau gleichgeblieben? Was vermisst man – und was gar nicht? Im Interview erzählen Nada Chekh, Herbert Dutzler und Precious Chiebonam Nnebedum vom Eiskunstlaufen und Comiclesen, von den Süßigkeiten, die unsere uns Eltern niemals erlaubt hätten (hätten sie davon gewusst) und von den Lektionen, die sie erst heute verstehen gelernt haben …

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. In den 1990ern und 2000ern wuchs sie im Wiener Gemeindebau auf. Heute schreibt sie als Journalistin darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt.
Foto: © Zoe Opratko

Was ist deine prägendste oder präsenteste Kindheitserinnerung?

Nada Chekh: Es gibt viele Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mir – je nach Gefühlslage – in den Kopf kommen. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich unbedingt Eiskunstläuferin werden. Mich in einem Verein anzumelden, konnten sich meine Eltern damals nicht leisten, aber dafür hat mein Vater mich mehrmals die Woche zu einem Eislaufplatz gebracht, wo ich nach der Schule abends zwei Stunden lang üben konnte. Einmal hatte ich den ganzen Platz im Außenbereich für mich alleine, und es schneite gerade so richtig dicke Flocken, und der Himmel war ganz erleuchtet davon, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war. Ich drehte ganz glückselig ein paar einfache Pirouetten vor mich hin und spürte so eine Ruhe in mir, wie selten zuvor. Lustigerweise erinnert mich der Song „Blue Dress“ von Depeche Mode an diesen Moment, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob dieses Lied damals über die Anlage gespielt wurde.

Herbert Dutzler: Wenn ich versuche, mich zurückzuerinnern, fallen mir fast nur Szenen im Freien ein, wo ich mit anderen Kindern zusammen war. Meist beim Radfahren, Fußball spielen oder einfach nur im riesigen Haselnussbusch herumhängen. Ein besonderer Nachmittag sticht aber heraus: Ich war in Bad Aussee bei einem Schulfreund zu Besuch, der eine riesige Sammlung von Micky-Maus-Heften hatte. Ich bin den ganzen Nachmittag auf der Veranda gesessen, der Regen rauschte durch die Bäume im Garten, und ich war völlig in die Comics vertieft.

Precious Chiebonam Nnebedum: Die präsenteste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe, muss mein siebter Geburtstag sein. Das war das Jahr, in dem ich jeden einzelnen Tag genossen habe, und es scheint wirklich sehr, sehr bedeutsam in meiner Erinnerung zu sein. Um ehrlich zu sein, habe ich an dem Tag nicht viel gemacht, aber eine Sache, die ich sehr lebhaft erinnere, ist, dass ich zu Hause einen kleinen Kuchen mit meinen Cous*inen gegessen habe, die zu Besuch gekommen waren. Danach habe ich ein bisschen Geld von der Familie bekommen, und es war nicht einmal viel, aber für eine Siebenjährige war ich reich. Ich bin damit mit meinen Cous*inen zum Laden an der Ecke gegangen und habe Süßigkeiten und Milchpulver gekauft, denn das war für uns damals eine Delikatesse, R.I.P. an unsere Zähne.
Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube ich habe auch eine Geburtstagskarte bekommen. Es muss eine rosa und blau glitzernde Geburtstagskarte gewesen sein, ich habe vergessen, von wem. Und ich war einfach glücklich. Es ist nicht viel passiert, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass dieses Alter der Höhepunkt war. Und jedes Mal, wenn ich denke, oh Mann, Erwachsensein ist eine Abzocke, erinnere ich mich an mein siebtes Jahr zurück. Denn damals war ich einfach am glücklichsten.

Herbert Dutzler ist in den 1960er Jahren in Altaussee im Salzkammergut großgeworden, heute schreibt er Bestseller.
Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

 

Was waren die größten Kämpfe, die du als junge*r Erwachsene*r ausfechten musstest?

Precious Chiebonam Nnebedum: Ich bin sehr dankbar und erkenne an, dass ich zu den wenigen POC in Österreich gehöre, die das Privileg hatten, in sehr jungen Jahren die Möglichkeit geboten zu bekommen, einflussreich zu werden und eine beeindruckende Liste von Erfolgen anzuhäufen. So sehr ich weiß, dass dies eine lobenswerte Tatsache ist, ging es auch mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Fragen einher. Eine der größten hatte definitiv damit zu tun, ob ich überhaupt das Recht hatte, in bestimmten Räumen zu sein, in die ich hineinging. Ich betrat politische Räume, ich betrat leitende, autoritäre Räume und Rollen, und jedes Mal hinterfragte ich die Tatsache, ob es einer jungen Schwarzen Frau erlaubt war, dort zu sein, ob sie dort sein sollte und ob sie überhaupt etwas Wertvolles beizutragen hatte oder ob sie einfach nur eine Beobachterin sein durfte. Ich denke, das Schwierige daran war, dass mir klar wurde, dass das nur in meinem Kopf war, aber aus irgendeinem Grund war es dennoch sehr schwer, diese Hürde zu überwinden und einfach zu handeln.
Ich muss wirklich Anerkennung zollen, wo Anerkennung gebührt, und offenlegen, dass es nur durch die Gnade Gottes war, dass ich in den meisten Fällen tatsächlich gehandelt und gesprochen habe. Ich habe eine Einstellung entwickelt, die besagt: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht ich, wer dann?“ Ich könnte nie sagen, dass es allein meine Leistung war. Ich verdanke das dem Support und Rückhalt von den Menschen um mich herum – meinen Geschwistern, meiner Familie, meinem Partner, meiner Community. Menschen, die Dinge in meinem Leben gesehen und über mich gesprochen haben, so oft, dass ich einfach daran glauben musste. Ich musste daran glauben, um weiterzukommen, und letztendlich habe ich das getan.

Herbert Dutzler: Da ging es vor allem um Kleidung und Haare. Meine Eltern hatten wenig Verständnis dafür, dass es unbedingt Jeans sein mussten, und noch dazu welche einer bestimmten Marke (Levis). Später mussten Jeans her, die einen V-Cut am Knie hatten, der irgendwann in den Siebzigern ein modisches Must-have war. Und unten mussten sie so weit ausgestellt sein, dass man die Schuhspitzen drinnen verstecken konnte. Die Haare waren auch ein ständiges Thema. Sie mussten zumindest so lang sein, dass man sie unterhalb der Ohren zusammenführen konnte, sonst war man komplett und völlig out. „So stellt sich der Bub nicht unter den Christbaum!“, hieß es, wenn die Frisur für die Feiertage dem Vater unpassend erschien.

Nada Chekh: Ich glaube, dass im Allgemeinen der Kampf um meine Privatsphäre der schwierigste in meiner Jugend war. Also nicht nur räumlich – es gab in unserer Wohnung nur drei Schlafzimmer für fünf Kinder und meine Eltern – sondern auch persönlich. Solange man finanziell und strukturell von seiner Familie abhängig ist, gelten auch deren Regeln unter dem Dach. Je erwachsener ich wurde, desto mehr spürte ich gewisse Rollenbilder, die mir als Frau auferlegt wurden. Dazu gehörte nicht nur, keinen Kontakt zum anderen Geschlecht zu haben, sondern auch eine Unfreiheit über meinen eigenen Körper. Als Jugendliche reagierte ich sehr empfindlich und frustriert auf diese Kontrolle, das hat mich ziemlich geprägt. Ich habe mich zudem nie mit meiner Religion wirklich identifiziert, was mich eine Stufe weiter von meiner Familie, meiner Muttersprache und den Sitten entfremdet hat.

 

Precious Chiebonam Nnebedum wuchs in Nigeria und Österreich auf. Nachdem sie zahlreiche Poetry-Slam-Bühnen gestürmt hat, lebt die Lyrikerin und Musikerin heute in Wien.
Foto: © Ella Börner

Gibt es etwas, das dir deine Eltern früher vermittelt haben, das für dich heute noch sehr wichtig ist? Oder gibt es vielleicht Haltungen, Werte, die dir deine Eltern mitgegeben haben, die du irgendwann beim Älterwerden verworfen hast?

Herbert Dutzler: Meine Mutter hat mich ab der ersten Klasse Volksschule wöchentlich in die Bibliothek mitgenommen, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Das Regal mit den Büchern für Leseanfänger war für mich die reinste Wunderkammer, und ich hatte alle Bücher darin noch vor dem Ende der ersten Klasse durch. Die politische Einstellung meiner Eltern und ihre Haltung fremden Menschen gegenüber ist ein Wert, den ich mit etwa 16 endgültig verworfen habe. Ihre Haltung war von distanzloser Verherrlichung einer schrecklichen Vergangenheit geprägt, was später auch zu gröberen Auseinandersetzungen geführt hat, als mein politisches Interesse erwachte und in eine völlig andere Richtung ging.

Nada Chekh: Heute finde ich es sehr schade, dass ich mich in meiner zweiten Muttersprache Arabisch niemals wohlgefühlt habe, obwohl meine Eltern mehrere Offensiven dazu gestartet haben, dass ich richtig lesen und schreiben lerne. Leider hat es mit Diktaten von Koransuren und Gebeten beim Sprachunterricht kaum funktioniert, weil ich nicht religiös war. Das ist so eine Sache, die ich meinen Eltern beim Aufwachsen vorgeworfen habe – dass sie mir die arabische Sprache vor allem über die islamische Religion näherbringen wollten, obwohl ich mich sehr heftig dagegen gesträubt habe. Auch über die Tatsache, dass die Bekannten meiner Eltern sich ohne Weiteres über meinen deutschen Akzent lustig machen konnten, habe ich mich lange geärgert. Mittlerweile sehe ich das gelassener, womöglich weil ich stattdessen Russisch gelernt habe und zuhause mit meinem Mann eine quasi „neue Muttersprache“ spreche, die ich an meine Kinder weitergeben würde, sollte ich eines Tages welche haben.

Precious Chiebonam Nnebedum: Eine der vielen Haltungen, die ich von meinen Eltern übernommen habe, ist die „offene-Haustür-Regel“. Unser Zuhause war immer offen, für jeden, seien es Cous*inen, die kamen und übernachteten. Wir hatten Tanten, Onkel, wir hatten Freund*innen, die kamen und übernachteten. Es wurde nie wirklich in Frage gestellt, ob wir genug zu bieten und teilen hatten, es war einfach die Tatsache klar, dass Menschen Bedarf hatten und wir immer bereit waren, zu helfen. Das ist etwas, dem ich auch heute noch folge. Immer wenn Freund*innen oder Familie oder wer auch immer in meiner Nähe sind, ist meine erste Aussage: „Hast du einen Platz zum Schlafen? Möchtest du bei mir bleiben?“ „Möchtest du abhängen? Ich kann für dich kochen. Du kannst kommen und so lange bleiben, wie du möchtest.“ Das ist mir zuallererst von meinen Eltern eingeprägt worden, bevor es später von Freund*innen und meiner Community verstärkt wurde.
Es gibt jedoch auch bestimmte Dinge, die ich von meinen Eltern gelernt habe und von denen ich mich nun langsam distanziere. Eines davon wäre die Vorstellung, dass Kreativität oder der Wunsch, kreativ zu arbeiten und eine Karriere daraus zu machen, definitiv in einer Sackgasse enden wird. Mir wurde tausendmal gesagt: „Ja, du kannst schreiben, du kannst auftreten, du kannst singen, du kannst all das tun. Aber du brauchst einen richtigen Job. Du brauchst einen richtigen Abschluss.“ Ehrlich gesagt sehe ich die Wahrheit in dieser Angst. Aber ich weiß trotzdem, dass es so viel Potenzial gibt, wenn man die Disziplin und die Arbeit und den Aufwand investiert, um eine Karriere im kreativen Bereich zu starten und aufrechtzuerhalten. Etwas, das ich immer noch anstrebe.

Welcher Sache – das kann ein Lied, eine Fernsehsendung, eine Süßigkeit etc. sein –, die es nicht mehr gibt, träumst du heute noch hinterher?

Nada Chekh: Ui, da gibt es mehrere Sachen. Es gab in Wien ein supertolles Café namens Berfin, das ich als junge Studentin mit meiner Mutter und meinen Geschwistern gerne besucht habe. Es hatte ein wunderbares orientalisches Flair, ohne kitschig zu sein. Wir waren früher manchmal sogar mehrmals die Woche dort, haben Shisha geraucht und miteinander getratscht, da habe ich sehr schöne Erinnerungen daran. Und das erste (und letzte) Mal, als ich in Ägypten war, war mit sechs Jahren. Ich kann mich gut an den Strand in Alexandria erinnern, wo es Verkäufer gab, die Freska – so eine Art Honigwaffel – verkauften. Als Kind habe ich diese Süßigkeit geliebt, aber eben nur bei diesem einen Besuch gegessen. Bis heute denke ich an diese großen, runden Waffeln und frage mich öfter, ob ich sie jemals wieder essen werde.

Herbert Dutzler: Die großen Samstagabendshows, die es heute kaum mehr gibt, waren absolute Straßenfeger, und die ganze Familie saß gebannt vor dem Fernseher. Die beliebteste von allen war „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff. Und den habe ich sogar einmal auf dem Balkon seines Pensionszimmers in Bad Aussee gesehen (von unserer Terrasse aus). Das war eine echte Sensation. Allerdings gibt es die meisten dieser Shows auch heute noch zu sehen – Youtube vergisst nichts!

Precious Chiebonam Nnebedum: Definitiv die Fernsehsendung: „The Grim Adventures of Billy and Mandy“ aus meiner Kindheit!

Warum wir 2023 noch über die Protagonistinnen der 1848er-Revolution diskutieren müssen und wie sich Geschichtsvernebelung aus dem 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit fortschreibt. Ein Interview mit Andreas Kloner

Der Zauberer vom Cobenzl“ von Bettina Balàka ist eine mitreißende und kuriose Geschichte von einem schillernden Wissenschaftler und Entdecker, der dem Altersstarrsinn anheim fällt und sein Denkmal beschädigt. Der Roman ist auch ein lebendiges Epochenbild, das uns Leser*innen aus einer weiblichen Perspektive heraus eintauchen lässt in eine Zeit der Umbrüche, in eine Zeit des erwachenden Widerstands und die Geburtsstunde der ersten politisch organisierten Gruppe, die sich im Kaiserreich der Gleichstellung von Frauen und Männern verschrieb.

Während so manche Begegnung und Bekanntschaft in Bettina Balàkas fiktivem Roman geschichtlich nicht belegbar ist, fußen viele Begebenheiten auf breitem historischen Konsens: Etwa die Rolle der ersten Wiener Frauendemonstration 1848 kurz vor der sogenannten Praterschlacht, oder der solidarische Einsatz des „Ersten Wiener Demokratischen Frauenvereins“

Der Journalist und Autor Andreas Kloner arbeitet seit 2003 als Sendungsgestalter für den Österreichischen Rundfunk, Deutschlandradio Kultur, Radio France und andere europäische Kultursender.
Fotocredit: privat

Obwohl die Ereignisse des Revolutionsjahrs gut dokumentierter Gegenstand geschichtlicher Forschung sind und sich auch im Stadtbild verschiedentlich manifestieren (so gibt es etwa einen Platz der Erdarbeiterinnen im 2. Bezirk), kamen schon während der Recherche am Roman und nach der Veröffentlichung Widersprüchlichkeiten und weit verbreitete Fehlannahmen ans Tageslicht.

Immer wieder wurden wir zum Beispiel mit dem Wikipedia-Eintrag des Protagonisten Karl von Reichenbach konfrontiert, der eine der Hauptfiguren, Ottone, fälschlicherweise nicht anführt. Wo liegt die Ursache für faktische Fehlinformationen, fehlende Quellen und offensichtliche Geschichtsklitterung, die anscheinend unwidersprochen kursieren?

Wir haben Andreas Kloner interviewt, um das herauszufinden, der Journalist und Schriftsteller forscht aktuell selbst für ein Buch über Karoline Perin. Über die 1848-er Revolution, Stolpersteine bei der Recherche und patriarchale Traditionen der Geschichtsschreibung haben wir uns mit ihm unterhalten.

Lieber Herr Kloner, Bettina Balàkas Roman versetzt seine Leser*innen in eine bewegte Epoche. 1848 wurde das Kaiserreich von Aufständen erschüttert, neben Autonomiebestrebungen einzelner Kronländer hatte die Revolution auch eine Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung zum Ziel. Lassen Sie uns kurz in den historischen Kontext eintauchen:

Um die Zusammenhänge während der europäischen Revolutionszeit 1848/49 einordnen zu können, empfehle ich das neue Buch von Christopher Clark „Frühling der Revolution“, in dem der Autor den Leser*innen auf mehr als tausend Seiten eine Gesamtschau der Ereignisse und Beweggründe bietet. In Österreich brach sich die Revolution Bahn von etwa Mitte März 1848, mit der Forderung nach einer Verfassung und nach Pressefreiheit, im Mai 1848 folgte der Studentenaufstand und der damit verbundene Bau zahlreicher Barrikaden innerhalb der Wiener Stadtmauern. Die Geschehnisse gipfelten in der Demonstration der Erdarbeiter*innen und dem Pratermassaker vom 23. August. Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Latour, am 6. Oktober 1848, bildete Argument und Auftakt zur Konterrevolution, die den Aufstand Ende Oktober 1848 blutig niederschlagen ließ. Zart gesprossene liberale und demokratische Pflänzchen wurden zertreten. Das nachhaltigste Ergebnis der Wiener Revolution 1848 war die Bauernbefreiung unter der Ägide von Hans Kudlich.

In dieser turbulenten Zeit kommen zwei Protagonistinnen des Romans – Hermine und Ottone – mit revolutionären Kreisen in Berührung und wir erfahren viel über das Engagement von Teilen der Aristokratie und des Bürgertums. Wir lernen im Roman auch Protagonistinnen der entstehenden Frauenbewegung kennen. Welche Rolle spielte etwa der „Erste Wiener Demokratische Frauenverein“ in dieser Zeit?

Ob Hermine und Ottone Reichenbach definitiv mit den revolutionären Kreisen in Berührung gekommen sind, dazu sind die Quellen zurzeit nicht ausreichend. Die literarische Freiheit Bettina Balàkas, die Schwestern Reichenbach als Mitglied des „Ersten Demokratischen Frauenvereins“ aufscheinen zu lassen, könnte allerdings von der Realität durchaus overruled werden, falls in einer Petition des Frauenvereins an den am 17. Oktober 1848 tagenden Reichstag auch die Unterschriften von Hermine und Ottone auftauchen sollten. Da bin ich noch auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. An einer kleinen, inneren Revolution haben Hermine und Ottone ohne Zweifel teilgenommen, nämlich die Entscheidung, ihren despotisch-psychopathischen Vater in einer regelrechten Nacht- und Nebelaktion zu verlassen.

Was den „Ersten Wiener demokratischen Frauenverein“ betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob sich dieser die politisch heißen Themen, wie Gleichberechtigung oder gleiche Bildung für Frauen, von Anfang an auf die Fahnen geheftet hat. Gegründet wurde der Verein, nachdem ein Protest von Erdarbeitern, aber vor allem auch Erdarbeiterinnen, die wegen einer einschneidenden Lohnkürzung protestiert hatten, von der Exekutive brutal niedergeschlagen wurde. Es gab eine große Anzahl an Toten und Verletzten. Für diese Arbeiterinnen und deren Kinder wollte sich der Frauenverein – so ist es in einem ersten handgeschriebenen Entwurf der Statuten noch zu lesen! – ausschließlich karitativen Angelegenheiten widmen. Wenige Tage später erschienen die Statuten gedruckt. Der karitative Inhalt war jedoch in den Hintergrund gerückt. Plötzlich dominierten die brisanten politischen Forderungen, um offenbar dem Demokratiegedanken dieser Tage Rechnung zu tragen.

Was wurde aus den Forderungen des Frauenvereins und was geschah nach der Niederschlagung der Revolution?

Die Forderungen des 1848er-Frauenvereins, wie Gleichberechtigung und Schulbildung für alle, wurden, wie es bei uns so schön heißt, nicht einmal ignoriert. Allein bei dem Begriff „Gleichberechtigung“ dürften die Männer (aber auch ein Großteil der Frauen) tief nach Luft gerungen haben. – Transferieren wir eine derartig unmögliche Möglichkeit in die heutige Zeit: Vor wenigen Jahren wäre es völlig unvorstellbar gewesen, von rauchfreien Lokalen zu träumen! Heute ist es – zumindest aus meiner persönlichen Erfahrung heraus – eine Selbstverständlichkeit. – Gehen wir einen Schritt weiter, in unsere Tage: Hier wird das Anliegen, neben der männlichen stets auch die weibliche Form zu schreiben und auszusprechen, mehrheitlich noch immer als „Genderwahn“ wahrgenommen. So manchem graut vor einem Gender-Doppelpunkt, -Sternchen, -Binnen-I, -Unterstrich noch immer derartig, als wären sie der in diakritische Zeichen gegossene Gott-sei-bei-uns höchstpersönlich. Die Rede vom alten, weißen Mann ist jetzt zwar auch nur ein Klischee und Narrativ (auch ich bin alt und weiß), aber es gibt ihn immer noch. – Ob die damaligen Forderungen des Frauenvereins nach Gleichberechtigung im Heute des 21. Jahrhunderts bereits zur Gänze angekommen sind, darf sich jede*r selbst ausrechnen.

Bei den Nachforschungen zu ihrem Roman stieß Bettina Balàka auf Ungereimtheiten und Hindernisse. Zur Existenz Ottones von Reichenbach gibt es wohl widersprüchliche Darstellungen, zum demokratischen Frauenverein gibt es noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag (Anm.: Stand 18.10.2023). Sie recherchieren aktuell an einem Buch über Karoline von Perin, die unter anderem die Vorsitzende des ersten politischen Frauenvereins in Österreich war.  Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Errungenschaften dieser mutigen Frauen im öffentlichen Diskurs so wenig präsent sind. (Ganz zu schweigen vom hohen Preis, den sie für ihren Einsatz bezahlen mussten.)

Eine sehr komplexe Frage, die einer komplexen Antwort bedarf. Was die Existenz Ottones betrifft, wäre diese gar nicht so widersprüchlich, wenn nicht der Name „Wurzbach“, der Verfasser des „Biographischen Lexikons des Kaiserthums Österreich“, nicht derartig wuchtig nachwirkte. Im konkreten Fall geht es um seinen 150 Jahre alten Eintrag, es habe einen „Otto Eugen“ (Reichenbach) gegeben, während Bettina Balàka in ihrem Roman „behauptete“, es handle sich um eine „Ottone Eugenie“. So.

Wenn nun die in der Gegenwart lebende (weibliche!) Bettina Balàka, die einen historischen Roman geschrieben hat, dem historisch-biographisch arbeitenden (männlichen) Konstantin von Wurzbach – eine beinahe sakrosankt wahrgenommene Institution in der Wiener Geschichtsforschung – gegenübergestellt wird, wem wird letztlich das bessere Wissen zugeschrieben werden? – Richtig! Dann sehen wir, wie tiefgreifend das patriarchiale System in uns allen weiterhin funktioniert. Und wir sehen auch gerade in diesem Fall, wie schwerfällig moderne Enzyklopädien, wie in diesem Fall Wikipedia, darauf reagieren. Offenbar gilt noch immer das Zitat aus dem Western-Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“

Fundstück: Auszug aus dem Blansker Geburtenregister. „Otto Eugen“ war demnach tatsächlich „Ottone Eugenie von Reichenbach”.
Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, gilt als einzigartige und wirkmächtige historische Referenz und scheint auch hier ursächlich für die nachhaltige Löschung Ottones aus den Enzyklopädien zu sein.
Das Register liegt öffentlich zugänglich im Mährischen Archiv zu Brünn auf. (Moravian Provincial Archives – Book #51, Blansko region, Births 1805-1839). Dig. Archivlink.

Kurios: Ausgerechnet Karoline von Perin erlitt ebenfalls ein „Wurzbach-Schicksal“. Bei den Einträgen unter „Pasqualati“ findet sich auch Andreas Joseph Pasqualati, der Vater von Karoline. Allerdings werden lediglich seine Söhne Joseph und Moritz erwähnt. Die Tochter wird totgeschwiegen.
Gedenkstein im Volksgarten
Credit: Geolina163, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Was den noch nicht vorhandenen Wikipedia-Eintrag zum ersten politischen Frauenverein in Österreich betrifft, bin ich schon froh über den Wikipedia-Eintrag, der Karoline von Perin vor wenigen Jahren gewidmet worden ist. Was die historische Faktizität betrifft, möchte ich den gut versteckten, nicht einmal kniehohen Gedenkstein im Wiener Volksgarten als Beispiel nehmen, auf dem sich eine Minimalstbiographie von Karoline von Perin befindet, der sage und schreibe in einem einzigen Satz gleich drei grobe Fehler beinhaltet: Nein, Karoline von Perin wurde nicht 1808 geboren; nein, sie ist nicht die Gründerin des Vereins gewesen; nein, die Vereinsversammlungen fanden nicht regelmäßig im Volksgarten-Café statt.

Die Errungenschaften des Vereins lagen vor allem darin, etwa zwei Wochen nach seiner Gründung ein Statut herausgegeben zu haben, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Die Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Um es auf den Punkt zu bringen: Es waren die Menschen, sowohl Männer als auch Frauen, die noch nicht reif dafür waren. Den im Raum stehenden psychoanalytischen Ansatz möchte ich nur andeuten: Wie schützen sich Männer vor starken Frauen? Indem sie etwas per Gesetz verbieten oder gesetzliche Vorgaben ohnehin an der Praxis scheitern lassen! Mit letzterem könnten wir gar in der Jetztzeit gelandet sein.

Sind Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch ebenfalls auf Lücken oder gar tätige Geschichtsklitterungen und Hindernisse gestoßen?

Häufig ergeben sich historiographische Fehler aus unabsichtlichen Schlampereien, Missverständnissen, Abschreibfehlern und und und. Klassische Geschichtsklitterungen, im Sinne von absichtlichen Irreführungen, sind mir während meiner Recherche immer wieder untergekommen.

Zwei Beispiele möchte ich nennen, die unterschiedlich motiviert waren: Zum einen hat Karoline von Perin vermutlich selbst geschichtsgeklittert, als sie in ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit dem revolutionären Gedanken abschwor, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Der Treppenwitz daran: Die Rückkehr in die Gesellschaft wurde ihr zeitlebens nicht mehr gewährt. Man hat an ihr – vermutlich zur Abschreckung – ein Exempel statuiert.

Zum anderen gibt es einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen war. Das Bemerkenswerte daran: Einmal erschien der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. Die Einleitung in der ersten Zeitung wurde auf die Zukunft hin formuliert, in etwa: „Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen …“, während in der zweiten Zeitung geschrieben stand: „Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil …“. Hier wird das ursprünglich noch nicht stattgefundene Ereignis in ein historisches Faktum umgeschrieben. Das ist zutiefst infam und beschämend.

Haben Sie zum Abschluss vielleicht einen Tipp für unsere Leser*innen, die mehr über die Zeit und das Schicksal der ersten politisch organisierten Frauenbewegung erfahren möchten?

Über den ersten demokratischen Frauenverein während der Revolutionszeit sind die Bücher und Artikel von der Historikerin Gabriella Hauch zu empfehlen. Das Schicksal des ersten politisch organisierten Frauenvereins war mit der Niederschlagung der Revolution derartig rasch besiegelt, dass der Verein nach nur zwei Monaten Geschichte war. Spannend wäre es – neben Karoline von Perin – weitere Mitstreiterinnen ausfindig zu machen und deren Lebensläufe nach der Revolution weiterzuerzählen. Etwa jene von der Nichte eines Vereinsmitglieds, die einen Vater hatte, der sich zeit seines Lebens für die Frauenrechte einsetzte, und die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität promovieren konnte: Dr. Isabella Eckardt: „Der Romzug Kaiser Sigmunds (1431-33)“ aus dem Jahr 1902.

 

Möchtest auch du mehr erfahren über eine Zeit im Umbruch, einen Roman, der einen Wissenschaftskrimi beinhaltet und der erlebbar macht, wie Frauen in Wien zum ersten Mal organisiert für bessere Lebensbedingungen auf die Barrikaden gehen? „Der Zauberer vom Cobenzl“ ist in deiner Lieblingsbuchhandlung erhältlich. Alle Infos zum Buch findest du hier!

Leseprobe aus „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh

Coming of Age – zwischen Wiener Gemeindebau und rigiden Rollenbildern:
Nada Chekh wuchs zwischen den moralischen Vorstellungen und Werten ihrer Eltern, dem wachsamen Blick „ihrer Community“ und jenen, zu denen sie gehören will und eigentlich auch gehört, auf. Aber Zugehörigkeit ist so viel mehr als nur ein Wort. Und schwer zu finden, wenn man in mehreren Welten lebt. Dann sind da noch die eigenen Wünsche und die Bedürfnisse, das Leben selbst zu gestalten. Mit viel Einfühlungsvermögen und Humor reflektiert Nada Chekh über das Erwachsenwerden in verschiedenen Kulturen. In eindringlichen Anekdoten lässt sie uns ganz nah an sich heran, nimmt uns mit in das Daheim ihrer Kindheit und Jugend. Nimmt uns an der Hand und zeigt uns, wie Selbstermächtigung aussehen kann. Sie schreibt über das Aufstehen im Religionsunterricht, über die Komplikationen, die für eine junge Frau wie sie bei Dates oder Student*innen-Parties lauern. Sie erzählt von der selbstverständlichen Bewertung von Mädchen und Frauen, vom Risiko, eigene Entscheidungen zu treffen, und vom Risiko, es nicht zu tun. Es geht aber auch um das Zusammenfinden, immer und immer wieder, das aufeinander Zugehen, Stück für Stück. Denn manchmal ist es gerade der Abstand, der zu einer neuen Nähe – und zu sich selbst – führen kann.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die Nacherzählung einer Geschichte, die ich selbst nicht glauben würde, hätte ich sie nicht durchlebt. Womöglich ist „Geschichte“ auch nicht der passende Begriff für diese langwierige Reise zu meinem heutigen Leben, das sich so stark von jenem unterscheidet, das mir vorgelebt wurde.

Als Tochter arabisch-muslimischer Migranten, die in den 90ern und frühen 2000ern in einem Gemeindebau, wie die in Wien typischen sozialen Wohnbauten genannt werden, in Wien-Favoriten aufwuchs und dort zur Schule ging, habe ich nie Frauen aus der Community gesehen, die so waren, wie ich es heute bin. Weltoffenheit und Toleranz, zum Beispiel gegenüber der LGBTQ+-Community, weibliche Unabhängigkeit oder Freizügigkeit sind keine erstrebenswerten Dinge in der Community, in der ich, gemeinsam mit meinen Geschwistern, in erster Generation unserer Familie in Österreich aufwuchs. Dieses Aufwachsen, diese Reise erstreckt sich über viele Etappen und birgt auch einige dunkle Abschnitte, mit denen ich mich bis zu dem Moment, in dem ich sie für dieses Buch aufarbeitete, nicht beschäftigen wollte – oder konnte.

Dieses Buch handelt von der Erfahrung, in einer Welt zu leben, in der es ein „Wir“ und ein „die Anderen“ gibt, und reicht bis zu der Erkenntnis, dass selbst, wenn ich mich zu den „Anderen“ zugehörig fühlen würde, diese mich niemals als eine von „ihnen“ sehen würden. Es geht um einen Kampf um Privatsphäre, um das Recht, über meinen Körper und mein Leben verfügen zu können, den ich zuerst mit mir selbst führen musste, bevor ich mich außenstehenden Gegnerinnen und Gegnern stellen konnte. Eine große Stütze beim Schreiben über diese Vergangenheit waren meine persönlichen Tagebücher, die ich umso minutiöser führte, je einsamer ich mich auf diesem Weg fühlte. Bei all der Dramatik erlebte ich aber auch freudige Momente beim Schreiben dieses Buches, in denen sich unerwartete Verbindungen erschlossen oder auch schöne und skurrile Erinnerungen miteinflossen.

Für manch einen Leser oder eine Leserin mag es eine gewöhnliche, wenn nicht sogar banale Sache sein, sich gegen die eigene Familie aufzulehnen, und, wenn nötig, auch einen Bruch mit ihr in Kauf zu nehmen. Doch aus einer Community kommend, in der Familie über allem steht, waren meine Entscheidungen, die ich damals treffen musste, kein leichtes Unterfangen. Ich weiß, dass es gerade sehr viele junge Frauen gibt, die auf eine Geschichte wie meine warten – egal, ob sie ebenso aus muslimischen Familien stammen oder auch anders kulturell geprägt sind, oder ob sie einfach wissen, wie sich religiös-konservative und patriarchale Strukturen am eigenen Leib nun einmal anfühlen.

Nicht nur im Zuge meiner Tätigkeit als Journalistin bei dem transkulturellen Magazin biber, sondern auch als Speakerin an Wiener Schulen begegne ich immer wieder Mädchen und jungen Frauen, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich, von denen manche sagen: „Du hattest einfach Glück mit deiner Familie, dass du dein Leben selbst in die Hand nehmen konntest.“ In Wahrheit ist dies jedoch das Ergebnis eines phasenweise endlos scheinenden, oft auch schmerzhaften Prozesses – wie man hier nachlesen wird –, den ich ohne jene wunderbaren und ermutigenden Menschen, die ich kennenlernen durfte, nicht hätte durchstehen können.

Auch wenn ich selbst ohne Vorbilder aufgewachsen bin, mit denen ich mich identifizieren hätte können, bin ich mir ihrer Wichtigkeit bewusst. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: „Was bedeutet es, den Mut aufzubringen, sich von konservativen und religiösen Vorstellungen zu lösen?“ Die ehrliche Antwort sieht so aus: Ich bin keine „mutige“ Frau. Im Gegenteil, in meinem bisherigen Leben war ich in vielerlei Hinsicht von tiefer Angst getrieben. Die Angst davor, ein Leben führen zu müssen, das nicht meinen eigenen Überzeugungen entspricht, wurde jedoch an einem bestimmten Punkt noch größer als die Angst, von meiner Familie verstoßen zu werden, weil sich unsere Weltansichten nicht vereinbaren ließen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich viele Dinge auch aus Notwendigkeit tun musste, um meine Integrität und Eigenständigkeit überhaupt installieren zu können. Es ist denkbar schwer, seine persönlichen Grenzen festzusetzen und Privatsphäre einzufordern, wenn man nie vermittelt bekommen hat, dass man – gerade als Frau – eine schützenswerte Privatsphäre hat.

Bevor wir uns nun gemeinsam in meine Geschichte stürzen, möchte ich noch einige wichtige Anmerkungen vorweg anführen: Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Namen in diesem Buch zum Schutz der Identität der realen Personen geändert. Zudem möchte ich noch erwähnen, dass ich genderinklusive Sprache in diesem Buch aus Gründen der Einfachheit und zum Erhalt des Leseflusses nach eigenem Ermessen verwendet habe. Mit dem generischen Maskulinum sind selbstverständlich alle Menschen, unabhängig von ihrer persönlichen Identifikation oder Nicht-Identifikation mit dem männlichen Geschlecht mitgemeint, sofern sie sich mitgemeint fühlen.

Dieses Buch soll keine Anleitung zum Ausbruch aus konservativen Familien darstellen, sondern gibt meine individuelle Erfahrung in dieser Sache wieder. Sollte Dich das Lesen von Szenen über Krieg, Gewalt, Depression, Selbstverletzung und ähnlich „triggernde“ Themen verstören, so möchte ich hier davor warnen.

Nachdem wir das alles nun geklärt haben und Du immer noch weiterlesen möchtest: Wollen wir auf eine Reise gehen?

 

Aus dem Buch „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh, ab 31. Oktober 2023 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich. 

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. Interkulturelle Konflikte, die tief in den persönlichen Lebensalltag und die engsten Beziehungen eindringen, hat sie hautnah erlebt. Ihre Erfahrungen prägen, was sie heute tut: Als Journalistin, die ihre Anfänge unter dem Namen Nada El-Azar bei „biber“ machte, schreibt sie darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt, rüttelt an den Missständen in unserer Gesellschaft, fordert Debatten heraus und spricht über Langzeittabus, aber auch Potenziale, die ein Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen bereit halten kann.