Autor: Marina Höfler

Eine Liebe, allen Hindernissen zum Trotz, festgehalten für die Ewigkeit

Eine Vielzahl an Briefen, jahrzehntelang auf einem Dachboden vergessen. Der Inhalt: voller Sehnsucht, Frustrationen, Alltagserlebnisse, Berichte und Liebesbekundungen. Die Verfasser: zwei Männer im England der 40er-Jahre, der eine Student, der andere Professor der Philosophie.

Ludwig Wittgenstein gilt als einer der führenden Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die Überlegungen in seinem Werk „Tractatus logico-philosophicus“ haben die Geschichte der modernen Philosophie grundlegend verändert.
Ben Richards war Student der Medizin an der Universität in Cambridge.

Was die beiden verbindet?
Eine innige Beziehung, festgehalten in mehr als 370 Briefen. Der Altersunterschied von 35 Jahren und die Ablehnung der Gesellschaft gegenüber homosexuellen Beziehungen rücken in den Hintergrund. Stattdessen erzählen die Briefe von den Leben zweier Männer, ihren Ängsten, Zukunftsträumen und einer tiefen Verbundenheit miteinander. Ergänzt durch Abbildungen beigelegter, getrockneter Pflanzen, Fotografien und Zeichnungen werden die Worte lebendig, lassen uns spüren, welche Zuneigung Wittgenstein und Richards füreinander empfinden.

Aus dem Englischen übersetzt, geben die Briefe einen erstmaligen, bisher unbekannten Einblick in diesen Teil des Privatlebens von Ludwig Wittgenstein und zeigen ihn von einer neuen Seite: als Liebenden und Geliebten, geplagt von Verlustängsten, Einsamkeit und dem Wunsch, alles mit Richards teilen zu wollen – bis zum letzten Brief kurz vor seinem Tod im April 1951.

>>I think of you constantly with love …<< Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards 1946-1951, herausgegeben und übersetzt von Alfred Schmidt

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 31.8.1946

2, Cwmdonkin Terrace
Swansea
31.8.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief! Du sagst, Du bist sehr geneigt, gedankenlos zu sein. Ich nehme an, das ist so. Aber ob das allein erklärt, dass Du mir einen Monat lang nicht geschrieben hast, obwohl Du wusstest, was Du wusstest – ich werde es nicht sagen. – Bitte urteile selbst. Du kannst es besser als ich. – Wenn Du nach Swansea kommst, möchte ich, dass Du eine gute Zeit hast. Und Du weißt natürlich, dass eine gute Zeit mit uns (egal ob wir ernst sind oder nur herumalbern) ganz auf der Tiefe und Wärme unserer Beziehung beruht. Wenn sie da ist, dann kann ich Dir eine gute Zeit versprechen. Wenn nicht, komm nicht. Wie auch immer – Gott segne Dich! Mögest Du im Laufe der Zeit ein bisschen weniger gedankenlos, weniger egoistisch, freundlicher und zuverlässiger werden. Und bitte vergib mir, wenn ich Dich verletzt habe, indem ich selbst dumm und gemein war!
Lass mich wissen, ob und wann Du kommst.
In Liebe, wie immer
Ludwig

Bitte lies diesen Brief noch einmal langsam durch. In Liebe Ludwig
Gott segne Dich! Noch einmal.

Ben Richards an Ludwig Wittgenstein, 1.9.1946

GREENOGE
40, SWAKELEYS ROAD
ICKENHAM
UXBRIDGE
RUISLIP 2114
1. September 1946

Lieber Ludwig,
ich hoffe, es geht Dir sehr gut und Du bist glücklich. Ich habe gerade zwei weitere Briefe von Dir bekommen, die aus Norwegen nachgeschickt wurden; einer datiert mit 3. August und mit etwas Minze, die
immer noch ziemlich stark riecht, und eine Postkarte vom 2. Juli vom Swansea Civic Center (das Du mir sicherlich unbedingt zeigen willst), die zuerst nach Langdale geschickt wurde, dann zum King’s College,
dann nach Ickenham, dann nach Turtagrö, dann zurück nach Ickenham und schließlich runter nach Cornwall. Ich habe mich sehr über beide gefreut – vielen Dank!
Das Wetter in Cornwall ist immer noch so schlecht wie zuvor. Am Dienstagabend wurden sieben von acht Dutzend Hummerfangkörben in einem Sturm zertrümmert, der auch die meisten unserer Zelte umgeweht hat. Am nächsten Tag haben wir alle unsere Campingsachen in Mr. Michells Scheune gebracht und Platz für alle gefunden, um drinnen zu schlafen. Einigen anderen Campern wurde in derselben Nacht zum zweiten Mal in drei Wochen die Zeltstange gebrochen, und sie haben aufgegeben und sind am Donnerstag nach Hause gefahren. Ich fahre jetzt für eine Woche nach Skye, wo es normalerweise ziemlich nass ist.
Ich hoffe, wir sehen uns am 12. Kannst Du mich bitte wissen lassen, welche Züge Du mir empfiehlst und was Deine Pläne sind? Ich kann den Schubert wieder mitbringen, und ich möchte mit Dir und allein etwas lesen und lange Spaziergänge machen. Kannst Du William James’ Buch noch einmal bekommen oder hast Du Vorschläge für Bücher, die ich mitbringen könnte?
Immer in Liebe,
Ben

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 6.9.1946

2 Cwmdonkin Terrace
Swansea
6.9.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief aus Uxbridge. Es tut mir sehr leid, dass Du in Cornwall so ein Pech mit dem Wetter hattest. Natürlich war es auch hier schlimm, nur hatte ich ein festes Dach über dem Kopf. Leider habe ich Dir am Sonntag, den 1., einen Brief nach Cornwall geschickt, der Dich nicht erreicht haben kann und vielleicht wieder auf eine wilde Gänsejagd geschickt wird. Das ist bedauerlich, denn der Brief war mir wichtig. Ich meinte jedes Wort, das ich schrieb, sehr ernst. Eine Sache, die ich geschrieben habe, möchte ich hier wiederholen, falls Du den Brief nicht erhältst. Ich sagte, ich möchte, dass Du eine wirklich gute Zeit hast, wenn Du nach Swansea kommst, und dass, wie Du weißt, eine gute Zeit für uns auf der Tiefe und auf der Wärme unserer Beziehung beruht; dass, wenn sie da sind, wir eine gute Zeit haben werden, wenn aber nicht, Du nicht kommen solltest; und dass, wie auch immer Du fühlst, Gott Dich segnen möge! Wenn Du am 12. kommst, ist es wunderbar. Dein bester Zug, denke ich, ist der 13:55 Uhr aus Paddington (vergewissere Dich aber). Er kommt hier gegen 19 Uhr an und ich werde am Bahnhof sein. – Ich habe keine psychologischen Bücher hier. Tatsächlich denke ich, es wäre vielleicht besser, wenn ich jetzt keine Psychologie mit Dir lese, weil mein Gehirn oft sehr müde ist. Ich habe ziemlich viel gearbeitet und tue es immer noch und ich muss mich vielleicht entspannen. Ich würde gerne Tolstoi mit Dir lesen, sagen wir „Hadschi Murat“ oder „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Könntest Du es mitbringen? (Und, wenn Du möchtest, auch etwas Psychologie, nur für den Fall?) Mein Geist fühlt sich, wie gesagt, manchmal etwas erschöpft an und ich werde viel von Deiner Nachsicht, Geduld und Freundlichkeit brauchen.
Lass mich wissen, ob Du kommst und, wenn ja, wann. Telegrafiere einfach. – Sollte ich aus unvorhergesehenen Gründen daran gehindert werden, Dich vom Zug abzuholen, nimm bitte am Bahnhof den Bus Nr. 74 (alle zeigen Dir, wo er hält) und sag dem Schaffner, dass Du an der Haltestelle „Uplands“ aussteigen möchtest. Von dort sind es 2 bis 3 Minuten zu Fuß (und jeder wird Dir den Weg weisen).
Nochmals: Gott segne Dich. Ich denke immer in Liebe an Dich.
Ludwig

Das Wetter war die letzten zwei Tage besser. Nicht weit von Swansea gibt es einen Ort, an dem viele Pferde und Fohlen grasen. Die Fohlen sind lieb und so zahm, dass man ihnen nahe kommen und sie streicheln
kann usw. Neulich, als ich mit einem von ihnen sprach, habe ich bemerkt, dass ich dieselben Worte verwende, die ich oft benutze, wenn ich mit Dir spreche. Das ist eine Tatsache, in Liebe Ludwig

Mehr Lyrik für die Welt

„Gedichte sind Wort gewordene Lieder der Seele”,

befand die österreichische Philosophin und Künstlerin Lisz Hirn und versuchte damit, eine geeignete Metapher für das zu finden, was Lyriker*innen erschaffen. Ihre Worte verschmelzen zu einer Melodie, die uns zum Tanzen bringt, wo wir gar nicht anders können, als lautstark einzustimmen und den Groove zu spüren. Reime, gepaart mit Rhythmus und Sprachtönen werden zu Symphonien, denen wir gebannt lauschen.

Wirf einen Blick durch sieben Fenster, die dich in die Lyrik-Klang-Welten unserer Autor*innen entführen:

Nachts wird mir wetter – Andreas Neeser


Wettermachen

Unverhofft

finde ich manchmal den eigenen Namen: Ich
rede mich rückwärts zum Anfang des Tages
und Silbe für Silbe verschluck ich den Hochnebel
Schauer, Gewitter und Graupel
verworte ich farbig
ins heitere Blau aber
sprech ich mich
frei
von Gespinst und Gehudel
und mache das Wetter zuinnerst
im Wortlaut
ganz luft.

Nachts wird mir wetter“ – Andreas Neeser schreibt von Sinnlichkeit, Zerfall, Augenzwinkerndem und Ungeheurem: Der Autor schafft eine schier unglaubliche Verflechtung literarischer Vielseitigkeiten; schafft Gedichte, die uns mit dem Außen verbinden, unser Innerstes zusammenbringen mit all dem, das um uns geschieht, das vorbeizieht, sich windet und erblasst.

 

weich werden – Anja Bachl

 

 

ich schaffe Webstücke aus Fetzen und nenne das Liebhaberinnen
nie nervenendende Linien und darauf slacklinen
glaube an Wiedergeburt nach acht Stunden Schlaf
zünde Fackeln an um Schlangen zu locken die sich als meine Schwestern verkleiden
ich habe Schlupflöcher gesammelt und Blickwinkel und heimlich auch Berechnungen
und deshalb werde ich anstatt Stufen zu steigen Almwiesen bewandern

weich werden“ – Anja Bachl: Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert – darüber, wie wir uns Narben körpereigen machen, welche Spuren wir nicht hinterlassen und die Gespenster, die bleiben. Der Rausch einer Sprache, wie wir ihn selten erreichen: Anja Bachls Gedichte fangen uns ein, pflanzen ihre Gedanken dort, wo wir schon längst das Saatbeet vorbereitet, aber keine Worte gefunden haben. Tief im Innersten schürfend, trägt sie ins Bild, was Menschwerdung, Menschsein bedeutet. Ein Gedichtband, der Verletzlichkeit als widerständigen Fluss im eigenen Ich freilegt.

STRAND DER VERSE LAUF – Ferdinand Schmatz

 

das, da

das
seichte,
wärmend ohne rand
umspielt es fuss wie auge
ausgelaugt die poren es sich traut
an zu tupfen, ein zu sickern sachte
im brand von oben scheu zu hauten
und zurück sich pfropfend
tropfen weise, um zu spülen
nahes weg zu weitendem hinaus

STRAND DER VERSE LAUF“ – Ferdinand Schmatz: Wo stehen wir, mittendrin im Drumherum? Wie fühlt sich der Sand unter unseren Füßen an, wie die feuchte Luft auf unserer Haut? Seine Lyrik lässt innehalten im alltäglichen Treiben, schärft unsere Sinne, lässt sie weich werden für die Feinheiten unserer Wahrnehmung. Ferdinand Schmatz’ Verse sind eine Aufforderung, stehenzubleiben und trotzdem weiterzugehen; die Augen zu öffnen und die unerwarteten Tiefen dessen zu beforschen, was Sprache vermag uns bewusst werden zu lassen.

birthmarks – Precious Chiebonam Nnebedum

 

it is
in the crushing and the breaking,
the uprooting and the shaking,
the pressing and the stressing,
that wine is made.
believe it or not, you are
a vineyard.

es passiert
im zerstampfen und im brechen
im entwurzeln und im schütteln
im drücken und im belasten,
dass wein gemacht wird.
glaube es oder nicht, du bist
ein weingarten.

birthmarks“ – Precious Chiebonam Nnebedum beweist: Sie ist die Kraft, mit der zu rechnen ist.
Wer sind wir, wenn uns die Worte fehlen?
 Wer, wenn wir sie kaum aufhalten können? Wenn wir in verschiedenen Sprachen leben, uns nicht nur aus ihnen bedienen wollen, sondern sie für uns selbst finden. Uns durch Sprache ermächtigen und gleichzeitig durch sie ermächtigt werden. Precious Chiebonam Nnebedums Gedichte sind eindringlich, schimmernd. Sie begibt sich mit ihrer Lyrik auf eine Suche: Nach einer Antwort auf die Frage, was wir uns nehmen dürfen und müssen, was wir für uns fordern.

[ anich.atmosphären.atlas ] – Barbara Hundegger

 

äquator zodiacus circulus horarius primum
mobile: sobald der äußerste himmels-kreis
bewegt wird trägt er alle anderen sanft mit
sich | am horizont das uhrwerk: es führt die
kugel | am nordpol: 8 zahnräder im stundenrund
| innen 3 zeiger: für die verschiedenheit
von zeit | miniatur-gemälde die 76 gestirne:
aus winzigsten punkten ergeben sie ihr bild |
von den sternen: nicht einer der nicht richtig
wär’ | mit der feder gerissen | gestochen auf
6 tafeln | dein werk-stück: tadellos | aus sich
selber zeigt es: welches meister-werk es ist

[ anich. atmosphären. atlas ]“ – Preisgekrönte Dichtkunst: Barbara Hundegger bietet einen einzigartigen Einblick in das Tirol des 18. Jahrhunderts. In ihrem Gedichtband zeichnet sie gleichermaßen poetisch wie gesellschaftspolitisch die inneren Konflikte einer zerrissenen Existenz nach. Sie erschafft einen Gedichte-Atlas über das Aufeinanderprallen verschiedener Welten und Wortlandschaften: eine poetische Topografie von Peter Anichs Leben und Werk.

an den hunden erkennst du die zeiten – Christoph W. Bauer

auf grauer straßen rand
was traten wir doch in die pedale
bloß weg von den kopfnüssen
dreißig jahre ist das her unsere
lehrer alt aber nicht alle von ihnen
nazis auch die linken pfiffen wie
finke uns hunde herbei zogen
uns an den ohren aus den bänken
wir verstanden die warnung
nicht lernten für die schule selbst
die lieder die wir sangen und
trauten auf den droben
an weihnachten waren wir noch
ein wenig andächtiger als sonst
und dankten dem christkind
im voraus für den osterhasen

an den hunden erkennst du die zeiten“ – Der Dichter kommt uns auf die Schliche.
Von Fußstapfen und Hundeleben, Spinnenblut und Frömmigkeit, faulem Zauber und Odysseen, von der Sehnsucht nach und der Furcht vor sprachlosen Momenten: Christoph W. Bauer setzt zu Zeit- und Raumsprüngen an, wittert und nimmt Fährte auf, sucht das Weite und die Zerstreuung. Macht sich ein Bild, liest in den Geschichten, die auf der Straße liegen, und findet mit Sätzen Schlupflöcher aus der Enge. Genussvoll gibt er sich den Widersprüchen hin. Enthüllt das alles mit Worten, trägt es mit Humor und fasst es in widerständige und schelmische Verse.

Am besten lebe ich ausgedacht – Sabine Gruber


Anfang März

Wien

In China sitzen die Schlangenzüchter
Auf ihrer Ware, als seien ihnen die
Diebe ausgegangen. Dantes Höllen
Verdammte können von gebratenem
Schlangenfleisch nur träumen. Die
Hände hat man den Nackten noch
Gelassen, sie kriegen aber nichts zu
Fassen, tragen sie doch Natterfesseln
Und Handschleichen, schreien und
Gellen im offenen Graben. Ich sehe
Den Erben an so viel Recht verderben
Den Erben in der Schlangengrube mit
Fremden Werken werben. Es gehörte
Ihm nichts.

Am besten lebe ich ausgedacht“ – Über Sehnsuchts- und Erinnerungsorte, die von Brüchen und wiedergewonnener Lebensfreude zeugen
In dem ihr eigenen, verblüffend lebensnahen Ton entlockt Sabine Gruber den Augenblicken des Alltags ihre poetische Kraft. In ihrem Gedichtband verknüpft sie Liebessterben und LiebeswerbenGelebtes und ErdachtesHistorisches und Eigenes zu einem faszinierenden poetischen Kalendarium.

„In der Medizin wird von männlichen Körpern ausgegangen” – Mag. Barbara Haid MSc im Interview

Mag. Barbara Haid MSc ist Psychotherapeutin am Landeskrankenhaus Hall, betreibt ihre eigene psychotherapeutische Praxis in Innsbruck und ist Präsidiumsmitglied des ÖBVP (Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie). Wir haben uns mit ihr darüber unterhalten, wieso die Covid-19-Pandemie zu einem erhöhten Bewusstsein für die psychische Gesundheit geführt hat und warum die Frauenquote bei medizinischen Studien steigen muss.

© Ricardo Gstrein

Wie sehen Sie die Entwicklungen in Bezug auf die psychische Gesundheit und deren Stellenwert in der heutigen Gesellschaft? Ist sie immer noch ein Tabuthema?

Psychische Gesundheit hat u.a. durch die Begrifflichkeit „Mental Health“ einen anderen Stellenwert bekommen. Es wird heute viel mehr über das Thema, auch über psychische Erkrankung, gesprochen als noch vor wenigen Jahren.
Viele Initiativen, die in den vergangenen drei Jahren entstanden sind, leisten hier einen wertvollen Beitrag. Als Beispiele seien die multiorganisationale Initiative „Gut, und selbst?“ mit dem „Mental Health Jugendvolksbegehren“, das demnächst im Familienausschuss behandelt wird, oder die Kampagnen „#darüberredenwir“ (PSD Wien*) und „#mehrpsychotherapiejetzt“ (ÖBVP*) erwähnt. Die Vielzahl an Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und über ihre psychischen Erkrankungen sprechen, durchbrechen dieses Tabu ebenso.
Aber von einer gänzlichen Enttabuisierung und vor allem Entstigmatisierung zu sprechen, wäre vermessen. Immer noch werden psychische Erkrankungen als Zeichen von Schwäche gesehen. Sehr eng einher gehen Begrifflichkeiten wie „Schuld“ und „Scham“.
Und leider ist das Thema psychische Gesundheit immer noch ein Randthema – vor allem, wenn es um die Finanzierung der Behandlung von psychischen Erkrankungen geht.

*PSD Wien – Psychosoziale Dienste Wien

*ÖBVP – Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie

Inwiefern hatte die Corona-Pandemie darauf Einfluss?

Die Corona-Pandemie und deren Maßnahmen, die vor allem unser soziales Gefüge massiv beeinflusst und verändert haben, haben sich wie ein Brennglas auf die mentale Verfassung von uns Menschen und die Gesellschaft im Allgemeinen gelegt. Vieles, das bereits vorher vorhanden war, ist dadurch stark in den Vordergrund getreten. Wir waren als Kollektiv davon betroffen. Die Ängste, die Sorgen, die Unsicherheiten – in unserer unsicher gewordenen Welt – betreffen uns alle. Diese allgegenwärtige Verunsicherung hat es aber auch ermöglicht, dass es heute leichter ist, zu sagen „es geht mir nicht gut, ich bin belastet, ich habe Sorgen, Ängste …“. Kurz gesagt: Ja, die Corona-Pandemie hat das Sprechen über das eigene psychische Wohlbefinden leichter gemacht!

Was genau ist der „Gender Health Gap“ und wie entsteht er? Welche Auswirkungen hat er auf die Medizin und daraus resultierend auf den Besuch beim Arzt?  

Unter „Gender Health Gap“ versteht man das Fehlen einer geschlechterspezifischen Medizin bzw. den Unterschied in Bezug auf den Gesundheitszustand bzw. die Gesundheitsversorgung zwischen Männern und Frauen*.
In der Medizin wird nach wie vor von männlichen Körpern ausgegangen. Obwohl Frauen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Fakt ist, dass Frauen und Männer biologisch unterschiedlich sind und dementsprechend auch medizinisch unterschiedlich behandelt werden müssten. Bei Versorgungsstudien, bei der Testung von Medikamenten und bei der Entwicklung von passenden Behandlungs- und Therapieformen wird primär der männliche Körper berücksichtigt.
Da dies bis heute nicht ausreichend geschehen ist, kommt es häufig zu Fehlbehandlungen bei Frauen.

*Wir sind uns bewusst, dass diese Thematik bisher nur auf der binären Geschlechterebene Mann-Frau erforscht wird – betroffen sind aber alle Personen und Lebensrealitäten, die nicht cis männlich sind.

Was sind Beispiele für sogenannte „Frauenkrankheiten“ und wieso werden diese nicht ausreichend ernst genommen? Woher kommt es, dass Frauen Schmerzen abgesprochen werden?

Auf psychischer Ebene kann hier die Depression genannt werden. Depressionen werden oft als Zeichen von Schwäche gesehen. Bei Männern wird häufig von „Burn-out“ gesprochen: das Ausgebranntsein wegen zu viel Arbeit. Hier wird die Arbeit (ein Faktor von außen) dafür verantwortlich gemacht, bei Depressionen ist die Ursache („die Schuld“) im Innen zu sehen. Aber auch psychosomatische und somatoforme Störungen, wie beispielsweise Essstörungen oder verschiedenste Schmerzerkrankungen, werden viel häufiger bei Frauen diagnostiziert.
Die Gründe dafür sind, dass diese Erkrankungen bei Männern ein anderes Gesicht haben. Essstörungen bei Männern werden oft nicht erkannt, da ein bulimisches Verhalten häufig mit extremem Sport (weniger mit Hungern oder Erbrechen) ausgeglichen wird. Sportlich zu sein ist ein „sozial erwünschtes“ Verhalten und wird nicht bzw. oft erst viel zu spät als pathologisches, dysfunktionales Bewältigungsmuster (Symptom) erkannt. Depressionen werden bei Männern oft nicht diagnostiziert, da sich das äußere Erscheinungsbild häufiger in aggressiven Verhaltensmustern, Substanzmittelkonsum usw. zeigt. Unerkannte und daher nicht behandelte Depressionen führen nicht selten zu Suiziden bei Männern.

Wie kann diesem Ungleichgewicht entgegengewirkt werden? Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass sich die Umstände verbessern?

Gesundheitskompetenz ist hier wohl das Mittel der Wahl. Je mehr alle Menschen über psychische Gesundheit und psychische Erkrankung wissen, desto besser kann man auch damit umgehen. Das Wissen über die unterschiedlichen Symptome bei physischen und psychischen Erkrankungen von Männern und Frauen ist dabei zentral.
Das Einrichten von Lehrstühlen an Universitäten und Kliniken zur Gendermedizin ist ein weiterer wichtiger Punkt. Die Gendermedizin beschäftigt sich mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden von Mann und Frau, wobei hier sowohl biologische als auch soziale und soziokulturelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
Und schließlich: die Gesundheitsversorgung als Ganzes. Die Gesundheitsversorgung muss so ausgerichtet sein, dass die bio-psycho-soziale Wirklichkeit der Menschen abgebildet wird. Gerade was die psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung der Menschen in Österreich betrifft, haben wir auch hier einen großen Gap. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von kassenfinanzierten Psychotherapieplätzen. Daher müssen sich viele Menschen einen Teil der Kosten selbst finanzieren. Da Frauen nach wie vor massiv weniger verdienen, können sich auch vermehrt Frauen die Psychotherapie nicht ausreichend leisten. Armut ist weiblich und Armut macht krank, vor allem auch psychisch krank!

Gibt es in der Wissenschaft mittlerweile eine Tendenz zu mehr Bewusstsein für den Gender Health Gap? In Großbritannien wurde 2022 eine „Women’s Health Strategy“ vorgestellt, die sich bemüht, die Frauenquote in medizinischen Studien zu heben und einen Schwerpunkt auf die Gesundheit von Frauen zu richten. Gibt es auch in Österreich neue Strategien dahingehend?

Ja, es gibt Tendenzen in diese Richtung. Es gibt den „Aktionsplan Frauengesundheit“. Es gibt den Frauengesundheitsdialog. Es gibt u.a. das Wiener Programm für Frauengesundheit. Es gibt das Fach Gendermedizin an den Medizinischen Universitäten und es gibt vereinzelt Lehrstühle für Gendermedizin. Aber es gibt vor allem noch sehr viel zu tun!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Leseprobe aus „Wie rote Erde“ von Tara June Winch

Tara June Winch ist eine in Frankreich lebende Wiradjuri-Autorin und Teil einer jungen Generation selbstbewusster, indigener Kulturschaffender aus Australien. ⁠Mit „Wie rote Erde“ („The Yield“) erschien im Oktober 2022 erstmals ein Buch von Tara June Winch in deutscher Übersetzung. Darin setzt sie der Sprache ihrer Vorfahren ein Vermächtnis. 

Eins

Ich wurde geboren auf Ngurambang – hörst du das? – Nguram-bang. Wenn du es richtig aussprichst, schlägt es hinten im Mund an, und du solltest in deinen Worten Blut schmecken. Jeder Mensch in diesen Gegenden sollte das Wort für Land in der alten Sprache, der ersten Sprache, lernen – denn das ist der Weg, der zu allen Zeiten hinführt, zu mythischen Reisen! Ihr könnt euch ganz zum Anfang zurückbegeben.

Mein Daddy war Buddy Gondiwindi, er starb als junger Mann aufgrund einer inzwischen ausgerotteten Krankheit. Meine Mutter war Augustine, und sie starb als alte Frau – nun, auch an einer Krankheit der alten Welt.

Doch tatsächlich stirbt nichts, vielmehr gerät alles unter eure Füße, neben euch, wird Teil von euch selbst. Schaut hin – das Gras am Straßenrand, der Baum, der sich im Wind biegt, die Fische im Fluss, der Fisch auf eurem Teller, Fisch, der euch ernährt. Nichts verschwindet jemals. Wenn ich mich bald verändere, werde ich nicht tot sein. Stets habe ich Johannes 11:26 im Gedächtnis behalten: Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben, doch das Leben ist durch mich hindurch und an mir vorbeigeeilt, wie es jedem Menschen geschieht.

Bevor ich alles geglaubt habe, was man mich lehrte, dachte ich, wenn alle tot sind, dann wären alle nicht mehr da, und so versuchte ich als junger Bursche meinen Platz in diesem kurzen Leben zu finden. Ich war nur darauf aus, selbst zu entscheiden, wie ich leben würde, aber das war viel verlangt in einem Land, das einen Plan für mich bereithielt, der bereits vor der Geburt in meinen Adern angelegt war.

Was ich wenigstens beherrschen zu können glaubte, war mein eigener Verstand. Gut lesen zu lernen schien mir das Sinnvollste, was ich tun konnte. In einem Land, wo zu sein uns eigentlich nicht erlaubt war, beschloss ich also zu sein. Die Sterne vom Himmel zu holen, versteht ihr?

Später lernte ich meine schöne Frau kennen, wenn auch die Schönheit das Geringste an ihr war, weit größer war ihre Stärke und Furchtlosigkeit –, nun, sie brachte mir eine Menge bei. Das Größte, Beste, was sie mir beibrachte, war, die Wörter auch zu schreiben, sie brachte mir bei, dass ich nicht nur ein zweitklassiger Mann war, aufgezogen mit weißem Mehl und Christentum. Es war meine Frau Elsie, die mir das erste Wörterbuch kaufte. Ich glaube, sie wusste, dass sie damit einen Samen pflanzte, der in mir keimte. Was für ein treuer Gefährte das Wörterbuch ist. In diesem Buch stehen Geschichten, die euch glatt umhauen. Bis heute ist es mein wertvollster Besitz, und um nichts in der Welt würde ich es hergeben.

Wegen des Wörterbuchs von Elsie schreibe ich dies nieder – es führte mich an die Idee heran, ein Verzeichnis anzulegen, in schriftlicher Form, so wie der Reverend einst die Geburten und Taufen in der Mission erfasste, wie der Farmvorsteher die Zuteilungen notierte, wie die Dienstherrinnen und -herren unser gutes Benehmen im Jungenwohnheim zu Papier brachten – eine Liste von Wörtern, in der jeder Dummkopf nachschlagen und erfahren kann, was sie bedeuten. Ein Wörterbuch, selbst wenn diese Sprache nicht nur meine ist, selbst wenn wir nur in sie hineinwachsen und, wenn wir genug gelebt haben, uns von ihr entfernen. Ich schreibe, weil die Geister mich mahnen, dass ich mich erinnere, und weil die Stadt wissen muss, dass ich mich erinnere, mehr denn je müssen die Menschen das wissen.

Am Anfang – aber es gibt sehr viele Anfänge für uns Gondiwindi, damit wurden wir durch ein und dieselbe zwielichtige Magie beschenkt wie verflucht – war ein ewiges Es war einmal. Es heißt, die Kirche habe uns die Zeit gebracht, und die Kirche werde sie uns, wenn ihr es geschehen lasst, wieder nehmen. Ich schreibe jedoch über die andere Zeit, die abgrundtiefe Zeit. Dies hier ist eine große, große Geschichte. Die großen Dinge nehmen ihren ewigen Lauf, die Zeit zieht sich hin und windet sich, niemals verläuft sie geradlinig, das ist die wahre Geschichte der Zeit.

Das Problem, dem sich jetzt mein eigenes Es war einmal gegenüber sieht, besteht darin, dass mir Doktor Shah von der Praxis in der High Street ein lausiges Gesundheitszeugnis ausgestellt hat: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Demzufolge bin ich ein hoffnungsloser Fall.

Weil es also heißt, es sei dringend, und weil ich die Kirchenzeit gegen mich habe, greife ich zur Feder, um alles, was jemals jemandem im Gedächtnis war, weiterzugeben.

All die Wörter, die ich im Wind gefunden habe.

Dankesrede von Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis 2022

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow erhielt am 28. November 2022 den Geschwister-Scholl-Preis 2022 für sein „Tagebuch einer Invasion“. Das Buch sei zugleich als „eindringliche Chronik wie auch als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen, so die Jurybegründung. Die Auszeichnung wird jährlich an ein Buch verliehen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern.

Der Preis wird vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München vergeben.

Hier die berührende Dankesrede von Andrej Kurkow im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, den Sophie- und Hans-Scholl-Preis zu erhalten. Ich bin den Mitgliedern der Jury für diese Entscheidung dankbar und nehme diese Auszeichnung an, im Bewusstsein der großen Verantwortung für mein weiteres Handeln.

Wenn Sie heute Abend von oben aus dem Kosmos auf Europa blicken, werden Sie sehen, dass Europa hell erleuchtet ist. Aber es gibt auch einen dunklen, unbeleuchteten Flecken auf seinem Territorium. Das ist die Ukraine. Die Ukraine ist aber kein schwarzes Loch in Europa. Die Ukraine lebt heute wegen der russischen Aggression in Dunkelheit und Kälte. In den meisten ukrainischen Haushalten werden jetzt Kerzen statt Glühbirnen angezündet. Statt fernzusehen oder Radio zu hören, sitzen die Ukrainer jetzt an ihren Küchentischen. Sie trinken Tee und reden über die Zukunft.

Ja, in der Ost- und Südukraine finden schwere Kämpfe statt. Russische Truppen bereiten einen erneuten Versuch vor, Kyjiw von Belarus aus anzugreifen. Das Ende dieses Krieges ist vielleicht noch weit weg, aber viele Ukrainer sind bereits in Gedanken mit Plänen für die Zukunft beschäftigt. Und all diese Pläne beziehen sich auf den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Städte und Dörfer, die Wiederherstellung zerstörter Museen, Universitäten, Schulen und Kirchen.

Übrigens brennen jetzt in vielen ukrainischen Haushalten auch Kirchenkerzen. Aber nicht etwa vor Ikonen wie in Kirchen. Wenn einem Dorfladen die gewöhnlichen Kerzen ausgehen, gehen die Ukrainer nicht nur in die Kirche, um für Siege und für ihre Familien zu beten, sondern auch, um von dort Kerzen nach Hause zu bringen.

Leider wiederholt sich die Geschichte viel zu oft. Im Januar 1918 griff der General der Roten Armee, Michail Murawjow, Kyjiw an, die Hauptstadt der damals schon unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik. Er marschierte 1918 auch von Nordosten auf Kyjiw – so wie Putins Armee am 24. Februar dieses Jahres. Am 10. Oktober dieses Jahres feuerte Russland Raketen auf die Straßen des historischen Zentrums von Kyjiw, einschließlich der Wolodymyrska-Straße. Dieselben Straßen wurden im Januar 1918 vom bolschewistischen General Murawjow mit Kanonen beschossen, bevor er die Stadt stürmte. Nach der Eroberung Kyjiws durch die Bolschewiki gab General Murawjow die Stadt zur Plünderung frei, er erlaubte den Soldaten die Bevölkerung Kyjiws zu töten und auszuplündern [mit der Begründung, es handle sich um ukrainische Nationalisten!]. Die Gewalt von damals kann nur mit der Gewalt verglichen werden, die die Bewohner der Städte Bucha, Irpin, Hostomel und Worzel im Februar/März dieses Jahres ertragen mussten. Es sind diese Vororte in der Nähe von Kyjiw, die zu Symbolen des russischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine geworden sind. Dort werden noch immer Bürger der Ukraine gefunden, die von russischen Soldaten gefoltert und erschossen wurden. Dort, in Bucha, wurde Oleksandr Kisljuk, Professor an der Pädagogischen Universität Drahomanov und Übersetzer aus dem Altgriechischen, vor seinem Haus erschossen. Die Werke von Aristoteles in seiner Übersetzung ins Ukrainische werden immer noch in ukrainischen Buchhandlungen verkauft, zusammen mit Büchern anderer Autoren, die in diesem Krieg getötet wurden, wie Ilya Chernilewskyj, Ewgen Bal, Wolodymyr Wakulenko und drei Dutzend anderer ukrainischer Dichter und Schriftsteller.

Aber trotz der Opfer in diesem Krieg planen die Ukrainer weiterhin die Zukunft ihres Landes. Eines der bereits in Umsetzung befindlichen Projekte ist die Restaurierung des alten Gebäudes der Tschernihiwer Regionalbibliothek für Jugend, das von russischer Artillerie zerstört wurde. Dieses Gebäude überlebte den Krieg von 1918-1921, es überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber nicht die russische Aggression von 2022. Freunde der Bibliothek wollten anfangen, Geld für die Restaurierung der Bibliothek zu sammeln, aber dann entschieden sie, dass es jetzt wichtiger sei, die Armee mit Spenden zu unterstützen. Aber sie begannen, Bücher für die Bibliothek von Tschernihiw zu sammeln, und wenn das Gebäude nach dem Krieg restauriert wird, wird die Bibliothek neue ukrainische Bücher anstelle der verbrannten Bücher bekommen. Das gilt nicht nur für die Bibliothek von Tschernihiw, sondern auch für viele andere von der russischen Armee zerstörte Bibliotheken.

Auf dem Rückzug aus der Region Cherson plünderten russische Truppen und die Besatzungsverwaltung lokale Museen und nahmen mehr als 15.000 Gemälde und andere Artefakte mit. Aus Cherson wurden alle Archive, einschließlich der historischen, gestohlen. Russland will die Geschichte der Ukraine stehlen und zerstören. Aber das wird sie nicht können. Die Geschichte der Ukraine gehört der Ukraine.

Die Ukraine kennt und schätzt ihre Geschichte. Die Ukraine bewahrt ihr historisches Gedächtnis. Und nur eines kann bei den Ukrainern wie bei den Einwohnern jedes anderen demokratischen Landes Bedauern hervorrufen: dass sich die Geschichte wiederholt. Dass Putin glaubt, das Ergebnis des bolschewistischen Generals Murawjow wiederholen und Kyjiw erobern zu können, ist sein persönlicher Irrglaube. Die Tatsache, dass sein Wunsch, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören, von der großen Mehrheit der russischen Bürger unterstützt wird, ist eine russische Entscheidung und russische Verantwortung. Eines Tages werden ihre Kinder und Enkel das verstehen und für ihre Sünden büßen, aber heute stehen die Russen auf der Seite des Bösen, auf der Seite von Gewalt und Aggression.

Aber die Ukrainer sind heute anders als 1918. Die Ukrainer sind heute bereit, die Unabhängigkeit ihres Landes zu verteidigen, und tun dies erfolgreich. Auch während der Okkupation.

Während der gesamten 9 Monate der Besetzung Chersons operierte in der Stadt die patriotische Untergrundorganisation „Gelbes Band“, deren Mitglieder jeden Tag patriotische Flugblätter und Plakate in der Stadt aufhängten. Sie haben unter hohem persönlichem Risiko russische Fahnen abgehängt und ukrainische aufgehängt. Unter den Aktivistinnen dieser Organisation sind viele Frauen. Eine von ihnen, die 50-jährige Swetlana, erzählte nach der Befreiung der Stadt, dass sie das Haus während der Besetzung nie ohne ein gelb-blaues Band in der Tasche oder versteckt in ihrer Kleidung verlassen habe. Während der Besetzung verbrannte das „Gelbe Band“ Auflagen russischer Propagandazeitungen und zerstörte Bestände an SIM-Karten für Mobiltelefone, die aus Russland mitgebracht worden waren. Sie führten sogar illegale Importe von Sprühdosen mit Graffiti-Farbe durch, und nachts bemalten Cherson-Teenager die Wände von Häusern mit der Erinnerung, dass Cherson Teil der Ukraine ist. All dies geschah während der vollständigen Informationsblockade der Stadt, als es nicht möglich war, mit dem freien Territorium der Ukraine zu kommunizieren. Und das zu einem Zeitpunkt als die russischen Invasoren ständig und immerzu wiederholten: „Die Ukraine hat dich vergessen. Russland wird für immer hier sein!“

Am meisten beeindruckten mich die Flugblätter des Gelben Bandes, auf denen ein einzelner Buchstabe „Ї“ abgebildet war, ein Buchstabe, der zum Symbol des Widerstands wurde, ein Buchstabe, der die Besatzer wütend machte, in Rage brachte. Er wurde auf Wände und auf Säulen gemalt. Der Buchstabe „Ji“ ist ebenso zu einem Symbol des Widerstands geworden wie die gelb-blauen Bänder, die die Bewohner Chersons abends heimlich an Äste banden.

Die Verleihung dieses Ehrenpreises hat mich in die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs zurückversetzt. Sophie und Hans Scholl und ihre Mitstreiter liebten ihr Land, liebten Deutschland und wollten das Beste für ihre Heimat. Sie wollten in einem anderen Deutschland leben, ohne Antisemitismus, ohne Nazi-Ideologie. Sie hatten die Wahl zwischen Konformismus und dem Kampf für ein anderes, demokratisches, vor allem freies Deutschland. Sie entschieden sich für den Kampf. Mit friedlichen Mitteln versuchten sie, die deutsche Gesellschaft mit Worten zu erreichen.

„Man darf nicht nur dagegen sein, man muss etwas tun,“ sagte Sophie Scholl.

Die Ukrainer lernen heute zu gewinnen. Sie kennen den Preis, der für die Freiheit und eine glückliche Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu zahlen ist. Sie lernen, dem Bösen und Unrecht zu widerstehen, unter anderem von der Weißen Rose, von Sophie und Hans Scholl und ihren Gleichgesinnten.

„Die Sonne scheint noch,“ sagte Sophie Scholl vor ihrem Tod.

Die Sonne scheint immer noch und wird immer scheinen. Auch im Dunkeln. Sonne der Hoffnung. Die Sonne, die täglich die Dunkelheit besiegt.

Das Engagement und die Aufopferungsbereitschaft von Hans und Sophie Scholl, 80 Jahre nach ihrem Tod, ist ein Beispiel für staatsbürgerliche Verantwortung. Ihr Kampf und ihr Schicksal werden zukünftige Generationen immer inspirieren.

Ja, die Geschichte wiederholt sich. Aber sie wird sich auf beiden Seiten der Front wiederholen. Und wenn eine Seite das alte Böse wiederholt, dann wiederholt sich auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen dieses Böse. Und am Ende besiegt stets das Gute das Böse, so wie die Sonne immer die Dunkelheit besiegt.

 

Herzlichen Glückwunsch, Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis!

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt

Magdalena Baran-Szołtys ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte Germanistik und Slawistik an der Universität Wien, der Jagiellonen-Universität in Krakau und der Universität Breslau und forscht seit März 2021 zu ihrem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation – Transformations- und Ungleichheitsnarrative im postsozialistischen Polen“. In unserem Beitrag erzählt sie uns, wie wichtig Literatur für die Erinnerungskultur ist und welche Transformation die Ukraine durchläuft.


© Pamela Rußmann

In deinen Forschungen beschäftigst du dich mit der Beziehung zwischen Literatur und Politik. Wie hängt dies für dich, gerade in Hinblick auf die derzeitige Situation in der Ukraine, zusammen?

Ganz grundsätzlich gilt, dass es keine Literatur ohne Politik gibt, denn Politik bestimmt die Welt, in der wir leben, in der Literatur entsteht und von der sie erzählt. Das ist ein Gemeinplatz, grundsätzlich ist es aber gut, sich das vor Augen zu halten, vor allem in Anbetracht von Künstler*innen und Bürger*innen, die meinen, „neutral“ oder „politisch nicht interessiert“ zu sein oder sich von der Politik abschirmen wollen.

Literatur und Kunst entstehen nicht im luftleeren Raum und ihr Wert besteht im Spiegeln der Realität, im Aufbrechen von Vorstellungen und Imaginieren von Möglichkeiten. Das ist der gesellschaftliche Sinn von Kultur, weit mehr als nur Unterhaltung ist sie der Ort für unsere Ängste und legt den Finger in unsere Wunden. Sie lässt uns Angst und Trauer artikulieren und macht diese zugänglich.

Literatur tröstet uns, gestaltet unsere Deutung der Welt und nimmt damit Einfluss auf unser Handeln sowie den öffentlichen Diskurs.

 

Besonders in Zeiten von großen Erschütterungen wie dem Krieg sind diese Funktionen wichtig. In Krisen ist sinnstiftendes Erzählen essenziell, denn es animiert zum Verstehen und Weitermachen, zum Kämpfen. Wir können uns in ihren Utopien und Dystopien verlieren und lassen uns von ihnen gleichzeitig den Weg weisen.

In der Ukraine sieht man das gerade besonders gut. Schriftsteller*innen sind hier im Kampfmodus. Manche sind an der Front im Einsatz, andere unterstützen die Armen und alle schreiben gegen den Krieg an. Ihre neuesten vom Krieg handelnden Werke sind nicht nur eine Quelle der Dokumentation, sondern vor allem auch eine Quelle der Hoffnung für die ukrainische Bevölkerung. Im Zentrum dieser Werke stehen die Freiheit und der Sinn des Überlebens, des Kämpfens. Dies motiviert, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen. Die Sachen klar zu benennen und zu sehen. Das ist ein politischer Akt.

Ukrainische Kulturschaffende sind zudem die Sprachrohre der Ukraine im Ausland, mit einer klaren diplomatischen Agenda. Durch ukrainische Literatur lernt das Ausland die Ukraine kennen und wird zum Verbündeten. Autor*innen als Intellektuelle sind mit ihren Büchern, Texten und Auftritten die Botschafter*innen des Landes. Das ist ein nicht zu unterschätzendes, politisch sehr einflussreiches Kapital.

Welche Bedeutung hat Kriegsliteratur für die Geschichtsschreibung?

Zunächst muss hier zwischen zwei Sachen unterschieden werden: der Geschichtsschreibung in einem wissenschaftlichen Sinne als Geschichtswissenschaft und der Geschichtsschreibung in einem gesellschaftlichen, viel breiteren Sinne als Gedächtnispolitik bzw. Erinnerungskultur, also der Umgang der Gesellschaft mit der Erinnerung allgemein. Beide bestimmen, was ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und woran überhaupt erinnert wird. Wir haben es mit Politiken der Erinnerung zu tun. Vieles wird bewusst oder unbewusst vergessen. Den unerzählten Teil der Geschichte muss man mitdenken, denn viele Stimmen bleiben stumm.

In der Erinnerungskultur hat Literatur einen fixen Platz, weil der*die Rezipient*in zu ihr eine emotionale Verbindung herstellt. Während uns Daten oft unberührt lassen, können wir mit literarischen Figuren empathisch sein, mit ihnen mitleiden. Botschaften kommen so besser an und bleiben in unserer Erinnerung, weil sie uns berühren. So kann man uns leichter überzeugen. Nicht zu unterschätzen ist, dass unsere Vorstellung von historischen Ereignissen und Zeiten oft auf Kunst, Literatur oder Film zurückgeht. Oft verbinden wir Geschichte im Kopf unmittelbar mit Bildern, die aus der Kultur kommen. Wenn ich an die Französische Revolution denke, habe ich unmittelbar das Gemälde von Eugène Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ vor Augen. Beim Ersten Weltkrieg denke ich an „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Diese Vorstellungen müssen nicht unbedingt viel mit den historischen Abläufen zu tun haben, aber sie bestimmen unsere Erinnerung daran. Das ist ihre große Wirkmacht. So spielen gegenwärtig die literarischen Texte über die Ukraine eine ausschlaggebende Rolle – sie erinnern uns an den Krieg, geben uns Einblicke und wecken unser Mitgefühl. Gleichzeitig werden sie als Dokumente in die Geschichtsschreibung eingehen und unsere Vorstellung von diesem Krieg prägen.

In deinem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation“ beschäftigst du dich mit Transformation und Ungleichheit. Wie siehst du diese zwei Punkte in der Ukraine? Welche Entwicklungen gibt es?

Für die postsozialistischen und -sowjetischen Länder Ostmitteleuropas ist dieses Thema bestimmend. Diese Länder, u.a. eben die Ukraine wurden auch nach 1989 bzw. 1991, dem Jahr der Wende bzw. des Zerfalls der Sowjetunion, vom Westen und Russland nie als ebenbürtig angesehen, sondern als Objekte ihrer eigenen Wirtschaft, Politik und Kultur. Das fühlten auch die Betroffenen und wussten, dass sie aus einer unterlegenen Position agieren. Das russische Volk und ukrainische Volk wurden seit Jahrhunderten als Brudervölker bezeichnet, wobei die Russen sich in der Rolle des großen Bruders sehen. Der Westen sah sich wiederum gegenüber den postsozialistischen Ländern als Erzieher in Sachen Kapitalismus, Konsumtionismus und Demokratie und investierte viel Geld in diese Staaten. Dazu kommt der Antislawismus, ein Rassismus gegenüber den slawischen Völkern, der im Westen immer noch weit verbreitet ist. Die Konsequenzen dieser historischen Entwicklungen sehen wir heute.

Die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus vergrößerte überdies die sozioökonomische Ungleichheit in der Bevölkerung. Es gab zahlreiche Menschen, die ihr Vermögen und ihre Freiheit vergrößern konnten, doch für eine größere Anzahl war es eine sozioökonomische Katastrophe, auch in der Ukraine. Die sozialistischen Länder wiesen weltweit ein sehr niedriges Niveau der Ungleichheit auf. Der Staat versorgte seine Bürger*innen mit dem Wichtigsten: Wohnen, Essen, Bildung etc. Doch musste man auf viele Freiheiten wie Reisen oder vollständige Meinungsfreiheit verzichten. Das Problem vieler ehemals sozialistischen Länder, einschließlich vieler der Erfolgsbeispiele wie Polen, besteht darin, dass die Profite der Transformation so ungleich verteilt sind, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Veränderungen in dieser Form nicht mehr unterstützt.

In der Ukraine war die Situation noch dramatischer: Sie ist eines der sechs postsozialistischen Länder, deren Bruttoinlandsprodukt 2016 unter dem von 1989 lag. Nicht einmal das Kapital, das ungleich verteilt werden könnte, war hier groß. Dazu kommen Probleme wie die Korruption. Die Lage ist deshalb besonders schwierig, da die Ukraine zwischen Ost und West gefangen ist, somit aus geopolitischen Gründen nicht in die NATO oder EU aufgenommen wurde, gleichzeitig aber aufgrund der Geschichte verständlicherweise mehrheitlich keine gemeinsame Politik und Wirtschaft mit Russland mehr haben wollte. Das war eine Pattsituation.

Gibt es etwas, das du den Leser*innen noch mitgeben möchtest?

Nicht aufzugeben, an seine Ideale zu glauben und sich davon in seinem Lebensweg leiten und von der Literatur unterstützen zu lassen. Dies gilt in Zeiten des Friedens wie des Krieges. Wir dürfen nicht auf unsere Werte vergessen, auch wenn es scheint, dass wir dafür einen hohen Preis bezahlen könnten.

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt.

 

Und auch in schwierigen Zeiten gibt es immer etwas, was wir lieben können – unser Leben und die Literatur: „Ich liebe alles, was mir geschenkt ist, ich muss es einfach teilen. Ich muss einfach über die Freude und Bitterkeit, über die Sorge und Melancholie reden. Dazu habe ich tausend Bücher, die ich lesen soll, dazu habe ich das Schreiben.“ Literatur ist und bleibt. Wie diese von Zhadan.

„Ich denke, fast alle Menschen ertappen sich irgendwann einmal bei dem Gedanken, jemanden aus dem Weg räumen zu wollen.“ Interview mit Herbert Dutzler

Herbert Dutzler beschäftigt sich in seinem neuen Roman „In der Schlinge des Hasses“ mit der Frage, wie es kommt, dass viele Menschen ihre negativen Gefühle für realer und bedeutsamer halten als Tatsachen. Zu Beginn ist der Protagonist Leo ein ängstliches Kind, das sich im Laufe des Romans durch Wut und Hass zu einem Menschen entwickelt, der uns das Fürchten lehrt. Wir haben mit dem Preisträger des Österreichischen Krimipreises 2022 über die Recherche zu seinem Buch, den Schreibprozess und seine Erfahrungen als Lehrer mit dem Thema Radikalisierung gesprochen.

In deinem neuen Roman blickst du direkt in den Kopf eines Täters: Du erzählst die Geschichte eines unschuldigen Kindes, das zum rechtsradikalen Mörder wird. Wie kam es dazu, dass du über dieses Thema schreiben wolltest? Und warum hast du diese Erzählperspektive gewählt?

In den beiden Thrillern zuvor – „Die Einsamkeit des Bösen“ und „Am Ende bist du still“ – hatte ich jeweils Frauen als Täterinnenfiguren dargestellt – das entsprach natürlich nicht der Realität der Gewalt in unserer Gesellschaft. Deswegen wollte ich unbedingt auch einmal die Geschichte eines männlichen Täters schreiben. Auf das Thema bin ich gekommen, weil ich leider viele Eltern kennenlernen musste, die nicht gut für ihre Kinder, nicht gut zu ihnen waren – deshalb die Verbindung von Kindheit und Erwachsenem. Man fragt sich als Lehrer oft, was aus Kindern wird, deren Schulprobleme sich auf lieblose und autoritäre Eltern zurückführen lassen. Zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt habe ich die Erzählperspektive vom „Ich“ zum „Er“ aus zwei Gründen gewählt: Erstens sind die ineinander verwobenen Erzählstränge auf diese Weise deutlich unterscheidbar, und zweitens wünsche ich mir, dass man zum erwachsenen Protagonisten mehr Distanz aufbauen kann – das geht in der dritten Person besser.

Wie bist du bei der Recherche für das Buch vorgegangen?

Meine Recherche-Taktik ist immer die gleiche: Ich versuche, das Internet zu plündern, soweit die Realität außerhalb meiner Protagonisten von Bedeutung ist. In diesem Fall habe ich mich sehr lang auf den Homepages diverser Studentenverbindungen herumgetrieben, habe vieles gelesen, das über sie und von ihnen geschrieben wird, habe mir Videos von ihren Feierlichkeiten und Ritualen reingezogen, bis ich ein Bild hatte, das mir Eindruck genug gemacht hat, um darüber schreiben zu können – obwohl man natürlich anmerken muss, dass die Aktivitäten einer Burschenschaft nur ein „Hintergrundrauschen“ in meinem Buch sind. Was die Aktivitäten einer weiteren, weit rechts stehenden Gruppierung angeht, habe ich mich auf Medienberichte gestützt, der Rest ist Fantasie – da ja der Großteil der Handlung im Kopf des Täters stattfindet.

Hat sich der Schreibprozess anders angefühlt als bei deinen Gasperlmaier-Krimis? Ist es dir schwerer gefallen, aus der Perspektive eines Mörders zu erzählen?

Nein, ist mir nicht schwergefallen. Ich habe es ja schon zum dritten Mal getan, die beiden ersten Male („Die Einsamkeit des Bösen“ und „Am Ende bist du still“) hatte ich aber viel mehr Verständnis und Sympathie für die Täterinnen, diesmal musste ich schon auch Ängste und Besessenheiten darstellen, die mir persönlich fernliegen. Die Lektüre von Hasskommentaren auf sozialen Netzwerken lässt einen aber ganz schnell und tief in die Psyche solcher Menschen eindringen.

Hast du in deinem Lehrerdasein Schüler*innen getroffen, bei denen du dich gesorgt hast, sie könnten ein Leo werden?

Ja, ich habe mehrere Schüler kennen gelernt, die mir Angst machten – in der Hinsicht, dass sie dazu in der Lage wären, Amok zu laufen und anderen Gewalt anzutun. Es hat auch Schüler gegeben, die gewaltbereit und sogar gewalttätig waren, aber die größte Sorge hat in mir ein stiller, zurückhaltender Schüler geweckt, der sich von allen anderen absonderte und sehr seltsame Aktivitäten entfaltet hat – die aber nichts mit Rechtsradikalismus zu tun hatten, aber zeigten, wie einsam und verloren er war.

Was denkst du, könnte oder sollte getan werden, damit sich Kinder wie Leo im Buch nicht radikalisieren?

Das ist sehr schwierig, denn in der Regel ist es doch so, dass ein hohes Aggressionspotential aus dem Leben in einer nicht funktionierenden Familie kommt – Vernachlässigung, Lieblosigkeit, Gewalterfahrung. Natürlich spielen auch andere Faktoren noch eine Rolle, aber ich halte es – leider – für eine Illusion, zu glauben, man könne erreichen, dass alle Kinder behütet und geliebt aufwachsen. Als Lehrer:in kann man ein bisschen dazu beitragen, indem man solchen Kindern wenigstens in der Schule ein Umfeld gibt, das ihnen Aufmerksamkeit und ein bisschen Geborgenheit vermittelt.

Gibt es für Menschen wie den erwachsenen Leo einen „Weg zurück“?

Da bin ich, ehrlich gesagt, pessimistisch. Wenn ein Mensch einmal tief in der Spirale der gewaltsamen „Konfliktlösungen“ drinnensteckt, kann er/sie sich, glaube ich, nur schwer daraus befreien. Wie bei vielen Formen von Sucht ist die Rückfallquote leider sehr hoch, zumal solchen Menschen ja selten eine glückliche Beziehung zu anderen Menschen gelingt. Deswegen tendiere ich selbst eher zu der Haltung, Kinder aus nicht funktionierenden Familien zu befreien und ihnen die Möglichkeit zu geben, z.B. in einem Kinderdorf aufzuwachsen. Ich habe selbst Schüler:innen unterrichtet, die in einem Kinderdorf wohnten, und habe erlebt, wie wohl sie sich dort gefühlt haben. Einer meiner Schüler war phasenweise in seiner Herkunftsfamilie – immer dann ging es mit ihm bergab. Dann war er wieder im Kinderheim – und man hat gesehen, wie er aufgeblüht ist. Die Herkunftsfamilie scheint mir daher in vielen Fällen nicht die beste Lösung für Kinder zu sein, denen Wesentliches in ihrem Leben fehlt.

Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert: Interview mit Anja Bachl

© Theresa Wey

Leise Töne, zarte Erschütterungen, aber auch Selbstbewusstes, das mutig in die Welt schreit. Anja Bachl wird weich, lässt uns weich werden, verortet sich selbst und stellt gleichzeitig fest, dass wir uns nicht verorten lassen. Mit ihren Texten verstehen wir, wer wir sind und was uns als Menschen ausmacht.

Wir haben mit der Autorin und Kunsttherapeutin über ihr Leben und ihren Gedichtband „weich werden“ gesprochen. Im Interview betont Anja Bachl, wie wichtig es ist, einfühlsam zu sein. Sie spricht über ihre Erfahrungen mit dem Mental Load als getrennt Erziehende und welche Dinge im Arbeitsalltag wirklich wichtig sind.

 

Deine Gedichte sind sehr eindringlich, treffen uns genau dort, wo wir uns oft nicht trauen, hinzuhören. Wie entstand die Idee zum Gedichtband?

Erst einmal Dankeschön für das feine Feedback! Das ist tatsächlich etwas, das mir am Herzen liegt – das Thematisieren und mich nicht scheuen, in Thematiken einzutauchen und diese dann in Formen zu legen.

Die Idee entstand aus zwei Motivationen heraus. Zum einen habe ich eines Abends angefangen, meinen vollen Kopf zu entleeren, indem ich dieses Erleben, die Gleichzeitigkeit der Dinge, dieses viele Fühlen und Denken und das an Grenzen Stoßen zu versprachlichen. Die Gedichte waren mir ein Ventil, um mich zu orientieren oder mich auszuschütten, mich zu positionieren.

Zum anderen wollte ich es bei „weich werden“ einfach wissen: Wo stehe ich mit meinem Können ungefähr, was schaffe ich wie anzuwenden, welche Bögen sind spannbar? Ich hatte Lust, an etwas länger zu feilen und diese fancy Disziplin anzuwenden, von der alle reden. Zumindest meine eigene Version davon, die so geht: Ich schäle alle möglichen Schichten an Bewertungsstrukturen und deute und erstelle mich, abseits von starren und kurzsichtigen Mustern. Bleibe dran, ohne mich anzuleinen.

 

„If they cannot love and resist at the same time, they probably will not survive.” – Audre Lorde*
Dieses Zitat hast du für dein neues Buch gewählt. Warum genau dieses? Welche Verknüpfungspunkte hast du dazu?

Dieser Satz, so wie ich ihn deute oder verstehe, definiert für mich etwas, das in „weich werden“ eine tragende Rolle spielt: lieben und Widerstand leisten als ein Gleichzeitigkeitsprinzip, das sich bedingt. Wir brauchen die Liebe, das Zarte, das Weiche, um über das Fühlen zu einer Kraft zu kommen, zu einer Wut, zu einer Stärke, die uns mobilisiert und antreibt, für ein Leben einzustehen, das nicht vorrangig für eine Mehrheitsgesellschaft und für weiße Männer mit Macht funktioniert.

Von Audre Lorde durfte und darf ich da viel lernen. Ich sehe dieses Zitat auch als Erinnerung, besonders an weiße Feminist*innen, also auch an mich, nicht stehen zu bleiben bei einem „das ist ein schönes Zitat“, etwas Performativem, sondern es als meine Verantwortung zu verstehen, aktiv zu werden und zu handeln.

 

Der Titel und die Gedichte deines Buches greifen ein Thema auf, das in der heutigen Gesellschaft oft ausgekapselt wird: Einfühlsamkeit, das weich werden von Menschen. Warum genau dieses Thema?

Verletzlichkeit, Offenheit und Fühlfähigkeit haben eine unglaubliche Kraft, Prozesse ins Rollen zu bringen und eigenes Involviertsein einerseits griffig zu machen und andererseits zu transformieren und zu kontextualisieren. Wenn du sagst, das Thema wird gesellschaftlich oft ausgekapselt, dann stimme ich dir insofern zu, als dass Sensibilität und Durchlässigkeit immer wieder als Eigenschaften interpretiert werden, die es von Stärke oder Resilienz zu überwachsen lassen gilt. Was ein Trugschluss ist. Denn Nahbarkeit, sich selbst und seiner Umwelt gegenüber, ist eine wilde Ressource, die es uns ermöglicht, eine emphatische Sicht zu etablieren und so Verständnis zu lernen. Und dieses Verständnis und Wissen über Vorgänge ist wiederum ein sperrender Schlüssel in Bezug auf Diversität und wie viel Sinn es macht, Menschen ihre Facetten, ihre Unterschiedlichkeit zu lassen. Das Aufmachen verkrusteter Denkdynamiken macht uns nahbarer und so empfänglicher für Entwicklung. Widerstandskraft ist nicht das Fernbleiben von Emotion, das sofort wieder Aufstehen oder das Hartwerden, im Gegenteil. Sie ist die Fähigkeit Zusammenhänge herzustellen und sanft mit sich zu sein, hinzuhorchen und an Situationen zu wachsen. Das tun wir nicht, wenn wir spalten, da verschieben und verdrängen wir nur. Weich zu werden meint eben auch die Überzeugung, sich als Ganzes zu verstehen und uns verletzlich zu zeigen – wider diesen absurden Duktus einer objektifizierenden Gesellschaft und dem immerwährenden Appell an Funktionsfähigkeit zum Trotz. Mensch kann es als einen revolutionären Akt verstehen, weil sich für Verwundbarkeit und Spüren zu entscheiden etwas mit Entgegensetzen und Solidarität zu tun hat.

 

Du bist Autorin und Kunsttherapeutin. Wie sieht dein Alltag momentan aus? Was ist dir in deiner Arbeit besonders wichtig? Was bedeutet Schreiben für dich?

Gerade versuche ich mein Berufsleben noch mehr entlang meiner Fähigkeiten und meiner Passion zu formen, das bedeutet, ich schreibe viel, suche mir Aufträge und lasse mich für Aufträge finden. In der Arbeit als Kunsttherapeutin spezialisiere ich mich auf Mental Load, Care-Arbeit und alternative Familienmodelle. Das heißt, mein Alltag ist gerade ein arbeitsreicher, ein emsiger, einer voller Ideen, eigener Struktur und bewegt Sein.

Die Frage nach Dingen, die mir in meiner Arbeit besonders wichtig sind, hat auch viel mit Wünschen, Möglichkeiten und Privilegien zu tun. Ich weiß sehr genau, was mich mit Freude erfüllt, was ich gut kann oder worin ich aufgehe. Dem kann ich mal mehr, mal weniger nachgehen. Ich habe viele Jahre wenig geschlafen und unzählige Stunden gearbeitet, an verschiedenen Stellen. So entlang der Bedürfnispyramide Vorstellungen wachsen lassen. Als Erstes muss halt einfach Einkommen gesichert sein, die Fixkosten bezahlt werden können. Das ist mir primär wichtig, meine Miete bezahlen zu können und meinem Sohn eine Winterjacke. Es ist eine Illusion zu glauben, Mensch kommt als getrennt Erziehende, Studierende, pflegende Angehörige mit ausreichend Schmalz und Power und Willen, oder wie all diese toxic heuchlerischen Positiv-Mantren heißen, als Konsequenz des Fleißes an einen Punkt, wo man richtig gestalten kann. Es ist eine Systemschwierigkeit, die es manchen Menschen schlichtweg nicht ermöglicht, sich die Frage stellen zu können, wie sie wo und wieviel arbeiten wollen. Ich betone das, weil ich mir diese Frage, also das „Was ist mir besonders wichtig?“ zwar schon lange stelle und auch beantworten kann, es für die Durchführung aber nochmal mehr als die reine ausgeklügelte Theorie braucht. Das heißt, nach Miete und Jacke gehe ich auf in einer Arbeit, wo ich in Resonanz gehen kann, mit Menschen und ihren Themen. Bestmöglich biete ich also etwas an, das da draußen widerhallt, nachhallt und weitergesponnen wird. Des Weiteren ist es für mich wichtig, mich weiterzubilden und nicht unflexibel zu werden, mich einzusetzen und Freude zu haben an dem, was ich tue. Wenn ich nämlich Freude habe und die Möglichkeit, auf meine Grenzen zu achten, dann kann ich intensiv und effektiv arbeiten, ohne am Ende des Tages nur mehr eine Hülle zu sein.

Schreiben bedeutet für mich atmen und mich neu erfinden und mich wieder fassen und aus den Winkeln hervorzukramen und schreiben bedeutet für mich, mich ordnen und die Zügel zu verräumen. Schreiben ist mein Ventil und mein Werkzeug, der Versuch, über das Konkretisieren zu verstehen und die Gelegenheit, das Spiel und die Leichtigkeit nicht zu verlernen. An manchen Tagen sage ich „Schreiben, das kann ich halt!“ und an manchen Tagen sage ich „Kann ich überhaupt schreiben?“. Aber eines ist sicher. Ich muss.

 

Deine Gedichte legen einen Teil von dir selbst offen. Wie findest du die Kraft, dich immer wieder mit dem auseinanderzusetzen, was vielleicht auch schmerzhaft sein kann/ist? Wie bleibst du dabei in Kontakt mit dir selbst?

Das Ziehende, das Zerschmetternde und das Zerrüttende ist zwar nicht das lässigste Life, das stimmt, es schmerzt sich auf die Bruchstellen und die mürben Tage einzulassen, beziehungsweise sie einfach sein zu lassen. Aber schlussendlich bleibt uns nichts anderes übrig. Denn das ist es nun mal, dieses Leben. Ein Sammelwerk aus all the feels. Zum einen habe ich für mich überhaupt keine andere Wahl, denn ich kann nicht erfolgreich verdrängen, ohne, dass es dann an einer anderen Stelle herausquillt. Also. Themen finden schon ihren Weg durch das Gestrüpp. Mensch kann vielleicht vertagen oder in Dosen Dingen ins Gesicht schauen. Aber wegschieben, das geht nur temporär. Andererseits bin ich ein Fan einer Idee von Menschsein, die nicht ausklammert, sondern integriert und bindet. Das bedeutet nicht, alles muss Sinn ergeben oder solche Trugschlüsse. Nicht jeder Schmerz macht uns widerstandsfähiger, das ist eine Mär und eine nette Masche von irgendwelchen Esoteriken. Was wir lernen können, ist, Strategien und Mechanismen zu finden und zu etablieren, ganz individuelle, die uns helfen, mit Dingen umzugehen. Vielleicht, damit sie weniger kratzen oder offene Stellen hinterlassen. Damit nicht Erfahrungen und die Gefühle dazu uns herumreißen, sondern wir selbst verstehen, was vor sich geht, und so über Wasser bleiben. Kunst und Kreativität hat sich für mich da auch bewährt als Kitt, als Verständnismaschine, als Übersetzerin und als Methode, zu realisieren, zuzulassen, gehen zu lassen oder mich ins Jetzt zu holen. Mich kostet es viel mehr Kraft, mich nicht auseinanderzusetzen mit der Welt, der inneren und der äußeren. Es ist viel schmerzhafter für mich, Augen zu kneifen, als Augen zu öffnen.

Ich bleibe durch pragmatische Komponenten in Kontakt mit mir selbst, ich brauche ausreichend Schlaf, genügend Frischluft, Zeit für mich, Zeit für meine Liebsten, Austausch und Rückzug, Sonne und Humor. Um mich nicht zu verlieren, brauche ich finanzielle Sicherheit, Leichtigkeitsinseln, Liebe und Verständnis. Ich achte sehr bewusst darauf, diesen Kontakt zu mir erstens zu sichern, oder ihm möglichst nahe zu kommen, und zweitens ist es kein starres System, sondern etwas Bewegliches, Fluides, Organisches, das ich immer wieder neu hinterfrage und dem ich immer wieder neu begegne.

Liebe Anja, herzlichen Dank für das Gespräch und den sehr persönlichen Einblick in dein Denken.

*Audre Lorde war eine US-amerikanische Dichterin und Aktivistin und beschrieb sich mit folgenden Worten: „Ich bin schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter“. Durch ihre das Leben beobachtenden Gedichte und Essays wurde sie zu einer der wichtigsten Theoretikerinnen der Frauenbewegung.

„Ein seltenes Buch. Von einer seltenen Autorin.“ – Laudatio an Marlen Pelny

Was ist das, „Liebe“? Was macht sie mit uns? Marlen Pelny hinterfragt das Glücksversprechen hinter gesellschaftlichen Idealen und zeigt, dass sich diese Offenheit lohnt. Für ihren Roman „Liebe / Liebe“, der 2021 bei Haymon erschienen ist, wurde die Autorin kürzlich mit dem Klopstock-Förderpreis ausgezeichnet.

Seit 2015 verleiht das Land Sachsen-Anhalt jährlich den „Klopstock-Preis für neue Literatur“ und den „Klopstock-Förderpreis”, der sich an Nachwuchsautor*innen aus Sachsen-Anhalt richtet, deren Debüt bundesweit Beachtung gefunden hat. Nina Gruber vom Haymon Verlag hielt bei der Verleihung diese sehr berührende Rede auf die Autorin, deren Werk sie als Lektorin begleiten durfte.

Ich freue mich darüber, heute anlässlich der Verleihung des Klopstock-Förderpreises meine Worte zu Marlen Pelnys Debütroman „Liebe / Liebe“ an Sie richten zu dürfen. Ich bedanke mich für diese Gelegenheit.

In seiner Besprechung zu Marlen Pelnys Roman sagt Ralf Julke: „Er geht an die Substanz.“ Und das tut „Liebe / Liebe“.

„Es braucht Mut, diese Geschichte zu erzählen. Marlen Pelny beweist ihn.“ – Isabelle Lehn über Marlen Pelnys Roman „Liebe / Liebe“

Dieses Buch rüttelt an den Grundfesten unseres Zusammenlebens. An Begriffen, über deren Bedeutung wir viel zu selten nachdenken. Am Schweigen, das wir uns angewöhnt haben und das wir verbreiten, wenn wir Dinge wahrnehmen, die eigentlich nicht existieren dürften. Dieses Buch rüttelt auch an einer gewissen Dichotomie der Emotionen. Damit meine ich den Eindruck, den dieses Buch hinterlässt. Den Eindruck, den „Liebe / Liebe“ in uns hinterlässt.

„Liebe / Liebe“ ist die Geschichte von Sascha, einer jungen Frau, dessen Kindheit vom Fehlen der Worte geprägt ist. Ihre Mutter spricht kaum mit ihr. Für sie ist Sascha unsichtbar. Dafür quält ihr Vater sie mit viel zu viel Nähe: Er missbraucht sie. Sascha weiß, dass diese Nähe nicht richtig ist, auch wenn sie als Kind die Begriffe dafür noch nicht kennt. Eine Wendung erfährt ihr Leben, als Saschas Eltern sie unter einem Vorwand bei ihrem Großvater zurücklassen. Dieser Großvater stellt sich als überraschend herzlicher, liebenswürdiger Mensch heraus. Sascha trifft Charlie, das Mädchen, das sie am ersten Schultag an der Hand nimmt und nie wieder loslässt. Da sind auch Rosa, die Hündin, und das neue Ich, das in Sascha wächst. – Als Leser*innen dürfen wir Sascha bei diesem Wachsen begleiten. Dieses Wachsen und Werden, dieses Heute und der Weg ins Morgen werden angegriffen: vom Gestern, das sich immer wieder in die Gegenwart drängt.

Dieses Gestern trägt die Namen „Liebe“ und „Familie“. Genauso wie das Heute diese Namen trägt. Und genau da ist sie, die Irritation, mit der uns Marlen Pelny zurücklässt. Diese zwei Wörter, die im Gestern und Heute identisch ausschauen, identisch klingen. Die Bedeutungen der Worte „Liebe“ und „Familie“, die Saschas Eltern ihr in der Vergangenheit beibrachten, haben mit dem, was Sascha im Laufe des Romans kennenlernt, allerdings kaum mehr gemeinsam als ein paar Buchstaben.

Was ist das, „Liebe“? Was macht sie mit uns? Ist sie Täuschungsmanöver, Waffe? Oder kann sie ein Zuhause sein? Und was ist das überhaupt, „Familie“? Wer ist Teil davon? Wer muss, wer darf Teil davon sein? – Marlen Pelny hinterfragt das Glücksversprechen der Konstellation Vater-Mutter-Kind. Sie hinterfragt Blutsverwandtschaft als Bedingung für „Familie“. Sie erkundet in ihrem Roman behutsam die Möglichkeiten einer Verbundenheit in anderen Konstellationen. – Ihr Roman zeigt, dass sich diese Offenheit lohnt. Und dass sie manchmal – wie bei Sascha – überlebenswichtig ist. Denn Saschas Leben, ihr Dasein als geliebter Mensch, beginnt, als ihre Eltern sie zurücklassen.

Was Sascha in ihrer Kindheit und Jugend durchlebt, ist schmerzhaft. Die Autorin beschreibt diese kräftezehrenden Veränderungen hin zu einem besseren Leben. Marlen Pelny versteckt nicht vor uns, dass dies auch ein Abschied ist, der Sascha den Mut abverlangt, verletzlich zu sein und verletzlich zu bleiben. Dass er auch ein Abschied von einem Teil des eigenen Selbst ist. Eine Konfrontation mit den eigenen Sehnsüchten und Wünschen, von denen sich Sascha schließlich trennen muss. Aber eben auch: das Erlangen von Freiheit, Selbstermächtigung, ein Befreiungsschlag.

Besonders augenscheinlich wird dieser Befreiungsschlag für mich in folgender Passage:

„Ich schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche, als wäre er mein Eigentum. In diesem Moment, den Schlüssel in der Tasche, Rosa wie immer direkt hinter mir, spürte ich, dass ich jemand ganz Neues war. Mein alter Name konnte hier in den Straßen kleben wie er wollte, der neue hatte mir einen anderen Kern gegeben, ein stärkeres Herz. Eines, das nicht mehr schwieg, und eines, das nicht mehr zusammengedrückt wurde, von Papas Brust, die auf mir gelegen hatte, wie eine Million Steine, während er von Liebe sprach. Ich war jetzt die, die bei dem Wort Liebe an Charlie dachte.“

 

Marlen Pelny begleitet Sascha auf diesem Weg: von Nähe, die zerstörerisch wirkt, hin zu einer Nähe, die guttut. Von einer vermeintlichen Liebe, die nichts mit Wohlwollen und Fürsorge zu tun hat, hin zu einer Liebe, die Geborgenheit und Lebenskraft potenziert.

Dass Marlen Pelny von diesem Weg erzählt, und auf welche Art und Weise sie es tut, hat uns heute hier zusammengebracht. Das Gefühl, mit dem der Roman nach dem Lesen entlässt, ist eines der Verwunderung: Wie konnte die Autorin es schaffen, diese Geschichte, diese Wucht, diese Fülle, diese Gewalt, diese Verletzlichkeit und diese Verletzungen mit so viel Hoffnung, Stärke, Kraft und Zuversicht zu verbinden? Ohne dass der jeweilige Pol den anderen aufhebt, sondern im Gegenteil: so, dass sich diese Gegensätze gegenseitig verstärken. Und so, dass trotz allem ein tröstliches Gefühl zurückbleibt. – Dieser Roman führt zuerst dorthin, wo man nicht sein will. Dann überwältigt er mit seinem Vertrauen darauf, dass Empathie und Liebe tatsächlich möglich sind. Sascha ist eine Heldin, die nicht aufhört zu glauben: an das Heilen von Wunden, an das Leben und an all die innigen Beziehungen, die es für sie bereithält.

Marlen Pelny plakatierte deutsche Städte mit Lyrik und veröffentlichte die Gedichtbände „Auftakt“ (2007) und „Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen“ (2013). Ihre Worte bringt sie nicht nur auf Wände und Papier, sondern mit ihrer Band Zuckerklub auch zum Klingen. Marlen Pelnys klare Poesie durchströmt auch ihr Romandebüt „Liebe / Liebe“: Für jede Phase, jedes Gefühl Saschas findet sie einen eigenen, eindringlichen Ton. – Foto: Mike Auerbach

Marlen Pelny ist eine aufmerksame Beobachterin und Erzählerin. Sie zeigt wahres Interesse an Menschen. Saschas Geschichte erzählt sie einfühlsam, findet für jede Situation, für jedes Alter ihrer Protagonistin, die man zurecht eine Heldin nennen kann, den richtigen Ton. Bei aller Feinfühligkeit ist Marlen Pelny jede Form von Euphemismus fern. Sie hat mit „Liebe / Liebe“ einen Roman geschaffen, der ermutigend ist, ohne beschönigend zu sein. Da liegt Klarheit in ihrer Sprache, und Poesie. Ich könnte es nicht besser ausdrücken, als Jakob Hein es getan hat: „Ich habe das Buch als ein wunderbares, langes Gedicht gelesen.“

Diese Poesie steht in Kontrast zur Umgebung, in der Sascha aufwächst. Marlen Pelnys Sprache beschreibt diese Umgebung, die arm ist an Ansprache, Aufmerksamkeit und Geborgenheit, eindrücklich und treffend. Nicht nur in Saschas engster Umgebung – der „biologischen“ Familie. Auch die Besuche der Mitarbeiterin des Jugendamts und die Kommunikation mit den Nachbar*innen im Hochhaus sind geprägt davon, möglichst nicht zu viel zu erfahren. Möglichst nicht mitzubekommen, was da hinter den Wänden passiert, die eigentlich viel zu dünn sind, um nichts zu ahnen. Möglichst nicht hinsehen. Möglichst nicht hinhören.

Ja, Saschas Schicksal ist hart zu ertragen. Ein Grund dafür ist auch, dass ihre Geschichte in sich trägt, in was für einer Gesellschaft wir leben und welchen Machtverhältnissen wir ausgesetzt sind. Diese Machtverhältnisse finden sich auf allen Ebenen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Sie wirken bis in den Kern hinein – in die Familie. Und sie nehmen keine Rücksicht auf die, die unseren besonderen Schutz benötigen.

Marlen Pelny lenkt unseren Blick in „Liebe / Liebe“ auf diese Verhältnisse. Sie macht die menschliche Ebene der Missstände begreifbar, an denen wir als Gesellschaft arbeiten müssen. Das zeichnet Marlen Pelny als Autorin eben auch aus: Sie schaut hin. Marlen Pelnys Literatur ist Literatur, die hinsieht. Literatur, die nicht schweigt. Literatur, die aufwühlt. Literatur, die Raum lässt. Und Literatur, die Raum gibt – auch für Hoffnung.

Ein Buch wie „Liebe / Liebe“ ist ein seltenes Buch. Von einer seltenen Autorin.
Wir dürfen gespannt sein auf alles, was von Marlen Pelny noch zu lesen und zu hören sein wird.
Ich bin überzeugt, wir können viel erwarten.

„Bevor ich anfange zu schreiben, male ich mir immer mit Kugelschreiber einen Smiley aufs Handgelenk, damit ich nie vergesse, dass ich die Menschen zum Lächeln bringen will.“ Interview mit Tatjana Kruse

Spannende Kriminalfälle spinnen und die Menschen dabei zum Losprusten bringen, das schafft vermutlich niemand so unglaublich gut wie Tatjana Kruse. In ihrem neuesten Roman stellt sie eine krimödiantische Verbindung zwischen Büroalltag und Jenseits her. Wir haben sie gefragt, wie sie auf ihre ganz spezielle neue Ermittlerin kam, was es mit ihrem Insiderwissen über den Büroalltag auf sich hat und was sie als Geist so alles anstellen würde.

Die Figuren in deinen Romanen sind immer außergewöhnlich – ein Männersticker aus Schwäbisch Hall, eine ermittelnde Opernsängerin, ein Kitzbüheler Zimmermädchen mit Spürnase. Dieses Mal hat deine Protagonistin aber eine noch überraschendere Eigenschaft: Sie ist tot. Wie ist es dazu gekommen?

Womöglich wurde ich mir einfach zu Beginn der Pandemie meiner eigenen Mortalität besonders bewusst. Jedenfalls dachte ich eines Tages: Was, wenn du morgen aufwachst und merkst, du bist tot. Nicht nur tot, sondern ermordet! (Klar, ich bin Krimiautorin – ein schnöder Virus als Killer hat mir nicht gereicht.) Damit war die kleine Dampf-Lokomotive meiner Fantasie in Gang gesetzt und rollte und dampfte und zischte unaufhaltsam weiter.

Börnie stirbt in ihrem Büro – umgeben von Kolleginnen und Kollegen. Inwiefern ist ein großes Büro der perfekte Spielplatz für eine Krimiautorin?

Ich habe mir mein Studium als Sekretärin verdient – anfangs in einem Großraumbüro. Ich fand diese vielen Menschen auf einen Haufen total spannend – und habe immer mit offenen Augen und Ohren alles, was so passierte, in mich aufgenommen und im Hinterkopf zur späteren Verwendung zwischengelagert. Schon damals habe ich gedacht: Hier geschehen derart schräge Dinge, über die sollte man schreiben. Wobei das Leben ja oft so viel schräger ist als die Fiktion: Vieles, was tatsächlich passiert ist, würde einem zwischen zwei Buchdeckeln niemand glauben; alle würden es als hanebüchen abtun. Und natürlich hat die mir innewohnende kriminelle Fantasie aus jedem noch so kleinen Informationsbrocken ein potenzielles Verbrechen gemacht.

(PS: Ich möchte darauf hinweisen, dass alle Kolleg*innen bei meinem Ausscheiden aus der Firma noch am Leben waren. Nicht, dass da ein falscher Verdacht aufkommt …)

Nehmen wir an, du könntest dich wie Börnie einen Tag lang unbemerkt von allen, unsichtbar und unhörbar, durch die Welt bewegen. Was oder wen würdest du beobachten?

Foto: © Jürgen Weller

Ganz ehrlich, es ist meine große Hoffnung, dass der tibetische Buddhismus recht hat und man nach dem eigenen Ableben noch 49 Tage auf der Welt unterwegs ist. Wenn das stimmt, würde ich definitiv an meiner eigenen Trauerfeier teilnehmen wollen. Ich würde ein letztes Mal alle be- bzw. heimsuchen, an denen mir etwas lag, respektive die ich nicht ausstehen konnte. Und ich würde mich nochmal an all meine vielen Lieblingsorte auf dieser Welt „beamen“ – Berge, Meer, Museen, Kneipen. Danach könnte ich zufrieden ins Licht gehen mit der Gewissheit: Ich hatte ein gutes Leben!

Wie viele der skurrilen Momente in deinen Romanen beobachtest du im echten Leben und wie viel ist der Phantasie entsprungen?

Der überwiegende Teil meiner Geschichten ist vom wahren Leben inspiriert. Nur ein paar Beispiele aus dem Buch: Börnies Abschiedsparty war quasi meine eigene (nur dass ich damals überlebte), ich habe vor vielen Jahren als Medium aus den Tarotkarten gelesen und die „Zukunft“ vorhergesagt, auf einer Lesung in einer fernsehbekannten Gerichtsmedizin konnte ich dort hinter die Kulissen schauen und auch „schnuppern“ – alles, was in meinen Büchern steht, hat mehr oder weniger einen realen Hintergrund. Nur die Morde sind erfunden!

Krimi und Komödie, Mord und Gelächter: auf den ersten Blick überraschend in der Kombination. Du aber hast das Genre der Krimödie perfektioniert. Wie bist du ursprünglich zu diesem charmanten Genremix gekommen?

Das Leben ist ernst genug, da braucht es meiner Meinung nach so viel Humor wie nur möglich! Mein Credo: Ich will den Leser*innen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Wer meine Bücher als „pure Eskapismus-Lektüre“ bezeichnet, beleidigt mich damit nicht. Im Gegenteil, ich finde: Humor hilft nicht nur heilen, Humor ist auch essenziell, um unser verrücktes Dasein einigermaßen unbeschadet an Leib und Seele zu überstehen. Bevor ich anfange zu schreiben, male ich mir immer mit Kugelschreiber einen Smiley aufs Handgelenk, damit ich nie vergesse, dass ich die Menschen zum Lächeln bringen will.

Im Nachwort zu „Es gibt ein Sterben nach dem Tod“ dankst du dem Geist deiner Kindheit. Kannst du uns etwas über ihn verraten?

Diesen Geist gibt es wirklich! In bin in einem mittelalterlichen Fachwerkhaus aufgewachsen, dessen Mauern schon so einiges zu sehen bekommen haben. Der Geist, von dem ich im Nachwort erzähle, war mir ein treuer Kindheitsbegleiter. Er hauste im Treppenhaus. Anfangs habe ich mich gefürchtet, und sobald es dämmrig wurde, habe ich immer erst alle Lichter eingeschaltet, bevor ich das Treppenhaus betrat. Aber was Geister angeht, war er einer von den Guten. Wenn ich heutzutage an meinem ehemaligen Elternhaus vorbeigehe, steht manchmal die Haustür offen und man sieht das Treppenhaus. Dann rufe ich ihm immer einen Gruß zu. Natürlich stumm, nur in Gedanken, damit man mich nicht in eine Zwangsjacke steckt und abführt …

Gibt es ein Lied, das du während des Schreibens besonders oft gehört hast?

Alle meine Bücher haben einen eigenen Soundtrack. Während ich die Geschichte von Börnie, Jenny und Kai-Uwe aufschrieb, lief im Hintergrund in Dauerschleife Smooth Jazz. Bevor ich anfing, habe ich Börnie gechannelt und sie gefragt, was sie hören will, und sie erklärte, dass sie als Geist diese eingängigen Klänge – die man ja oft auch in Kaufhaus-Aufzügen zu hören bekommt – total beruhigend findet. Selbstverständlich war mir Börnies Wunsch Befehl. Mittlerweile bin ich ein großer Fan von Smooth Jazz. Börnie weiß eben, was gut ist!