Autor: Marina Höfler

Von Biber-Fieber und Naturzerstörung: Leseprobe aus Bettina Balàkas Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen“

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seinen eigenen Lebensraum zerstört. In unserer Gesellschaft kontrastiert das permanente Bedürfnis, Tiere, Pflanzen, Ökosysteme unter Kontrolle zu bringen und nutzbar zu machen, mit dem mittlerweile ebenso großen Bedürfnis, die Wildnis zu sehen, zu bereisen, zu genießen, der Natur nahe zu sein. Wir lieben und vernichten sie zugleich. Die Autorin Bettina Balàka versteht es, Geschichte, Forschung und literarische Erzählung über die Zerstörung der Natur durch den Menschen auf beeindruckende Weise zu vereinen. In einer Reihe von Essays arbeitet sie dieses ambivalente Verhältnis auf.

Beaver believer

Mit dem Biber verbindet mich eine lange Liebesgeschichte. Sie begann mit einem Kinderbuch. Es war Anfang der 1970er-Jahre, als die schlaue Bilderbuchserie „Meine erste Bücherei“ im Verlag Brönner Kinderbücher erschien, der ich auch Informationen über Piraten (besonders liebte ich die Doppelseite „Piratinnen“) oder Sauriern verdankte. Aus einem der Bände ist mir die Zeichnung von der Wohnstatt der Biber noch eindrücklich im Gedächtnis: von außen ein riesiger Ästehaufen mitten in einem Teich. Im Querschnitt aber, vom durchdringenden Auge des Illustrators gleichsam geöffnet, sah man die geschickte Anlage der Burg. Ihr Eingang lag unter Wasser, vor Raubtieren geschützt. Die Wohnhöhle selbst befand sich über dem Wasserspiegel im Trockenen. Das Biberelternpaar brachte Nahrung zu den dort in gemütlicher Sicherheit kuschelnden Babys.
Was mir das Büchlein nicht verriet und was ich erst gute vierzig Jahre später erfahren sollte, war, dass Biber ihre Jungen nach zwei Jahren rauswerfen. Auf die Straße setzen beziehungsweise auf den Fluss. Das hat seine biologische Sinnhaftigkeit. Da jedes Frühjahr neuer Nachwuchs kommt, muss der halbwüchsige ausziehen und sein eigenes Revier suchen. Da sitzt so ein heimatloser Biberjugendlicher dann tagsüber zitternd im Schilf und arbeitet sich nachts Flussläufe hinauf oder hinunter, durch fremde Biberreviere hindurch, wo er nicht gerade freundlich empfangen wird.
Während des ersten Lockdowns ist einem solchen Wiener Jungbiber ein besonderes Meisterstück gelungen: Nachts marschierte er durch dicht verbautes Wohngebiet sowie über eine normalerweise stark befahrene Durchzugsstraße, um die Wienerbergteiche, die er wohl von der Ferne gewittert hatte, als Erster zu besiedeln. Nun ist so ein Biber zwar ein Nagetier, aber alles andere als ein Mäuschen. Etwa einen Meter lang und bis zu dreißig Kilogramm schwer ist er im Wasser sehr wendig, an Land jedoch gemächlich unterwegs. Ich habe mir oft vorgestellt, wie dieser Biber nachts durch die Stadt schlurfte, ohne Wasser und ohne Nahrung (oder vielleicht fand er eine Pfütze, eine Grünflächenweide?), wahrscheinlich irgendwo in einem Loch oder Gebüsch übertagte, dank der Ausgangssperre unbemerkt und unversehrt.

Als ich die ersten leibhaftigen Biber sah, war ich selbst gerade von zu Hause ausgezogen. Es war in Kanada, wo Castor canadensis lebt, der nordamerikanische Verwandte des europäischen Castor fiber. Er sieht genau gleich aus, hat aber acht Chromosomen weniger, die er offenbar vor tausenden von Jahren auf der langen Reise über die Beringstraße verloren hat – man weiß nicht warum. Einen interessanten Unterschied im Verhalten hat man herausgefunden: Biberpaare bleiben, was für Säugetiere außergewöhnlich ist, ein Leben lang zusammen. Europäische Biberpaare sind dabei, wie DNA-Analysen der Jungen ergaben, einander bedingungslos treu, wohingegen ihre kanadischen Verwandten recht gerne fremdgehen. So mancher kleine Biber ist dort ein Kuckuckskind.
Ein weiterer Unterschied ist der Besiedelungsgeschichte geschuldet. Der amerikanische Biber hat viel mehr unberührte Natur zur Verfügung als der europäische und kann sie großflächig gestalten. Der größte Biberdamm der Welt wurde mit Hilfe von Bildern aus dem Weltall entdeckt. Er befindet sich im Wood-Buffalo-Nationalpark in Alberta, wurde über Jahrzehnte hinweg von vielen Generationen gebaut und ist achthundertfünfzig Meter lang. In ganz Nordamerika gibt es Anlagen, die über Jahrhunderte genutzt und immer weitergebaut wurden. Dabei ist es verblüffend, was diese Nagetier-Architekten ganz ohne Baumaschinen schaffen. Mit ihren Vorderpfötchen holen sie Schlamm vom Teichgrund, um ihren Bau immer wieder zu verputzen und damit regelrecht zu betonieren. Alte Burgen können so massiv sein, dass man sie sprengen muss, sollten sie einem menschlichen Bauvorhaben im Wege stehen.
An einem sonnigen Tag Mitte der 1980er-Jahre also begannen die Zeichnungen aus meinem Kinderbuch dreidimensional zu werden, von Wind, Lauten und Gerüchen belebt. Ich stand an einem riesigen Stauteich, eine Burg in der Mitte, und Biber werkelten geschäftig herum. Bei jeder späteren Begegnung sollte sich dieses Bild wiederholen. Biber sind fleißig. Sie arbeiten, tüfteln, bauen, reparieren, schleppen, nagen. Nie habe ich einen Biber faulenzen gesehen.
Eine Besonderheit gab es hier, die mir neu war. Ich hatte immer gehört, Biber seien nachtaktiv, doch diese waren im hellen Sonnenschein zugange. Tatsächlich, erfuhr ich, sind Biber genauso tagaktiv wie wir, sofern sie in Ruhe gelassen und nicht gejagt werden, wie etwa in dem Nationalpark, in dem ich mich befand. Bis heute tut es mir leid für die Biber in Wien, die im Dunklen leben müssen, weil tagsüber alle Ufergebiete voll sind von Spaziergängern, Hunden, Radfahrern und im Sommer natürlich Badenden. Hier, wo die Fließgewässer tief genug sind, bauen die Biber keine Dämme und in der Wassermitte stehenden Burgen. Sie graben ihre Baue einfach in die Uferböschung. Da sitzen sie dann direkt unter dem Trubel und warten, bis spät nachts das Kreischen, Plantschen, Bellen und die Techno-Musik aus Lautsprechern verklingen und sie endlich herauskommen können.

Der erste Wiener Biber, den ich sehen sollte, war allerdings ebenfalls tagaktiv. Er hieß Flumy, lebte in einem großen Gehege mitten im Nationalpark Donau-Auen, war praktisch zahm und sehr dick. Auch wenn ich bereits von politisch korrekten Personen des Fatshamings bezichtigt wurde: Alle Biber sind dick. Sie haben eine zwei (Sommer) bis drei (Winter) Zentimeter dicke Fettschicht, die sie brauchen, um sich im Wasser warm zu halten. Flumy jedoch war besonders dick, er wurde nämlich von manchen Besuchern trotz entsprechender Verbotsschilder mit Karotten gefüttert. Da er handaufgezogen war, hatte er sich an den Menschen gewöhnt und konnte nicht mehr ausgewildert werden.
Natürlich kann man einen Biber nicht so einfach einsperren. Der Architekt unterirdischer Tunnelsysteme ist ein Ausbrecherkönig. Deshalb sieht man ihn auch selten in Zoos. Auch Flumy grub sich unter allen Barrieren hindurch und erkundete das umliegende Gelände. Im Winter konnten die Tierpfleger gut erkennen, wo er sich gerade befand. Schwebte im benachbarten Damhirschgehege ein Atemwölkchen, kam es aus einem von ihm angelegten Belüftungsschacht. Er kehrte jedoch immer wieder in sein Gehege zurück – warum sollte er sich in der Wildnis plagen, wenn dort Karotten gereicht wurden.
Flumy, der das stattliche Alter von fünfundzwanzig Jahren erreichte, ist mittlerweile in die ewigen Weidenauen eingegangen. Dafür gab es für mich andere denkwürdige Biberbegegnungen. Mit meinem Hund Bubi gehe ich häufig in den Donauauen spazieren. Bubi ist ein Dackel-Mischling und das bedeutet, auch er ist zum Graben geboren. Eines Tages saß ich am Ufer der Neuen Donau, während Bubi neben mir grub. Plötzlich bemerkte ich, dass er in den „Jagdmodus“ geriet, sein Scharren war angespannt, durch die konkrete Anwesenheit eines Wildtieres motiviert. Als das Loch schon ziemlich tief war, fiel mir ein durchdringender Geruch auf. Er erinnerte an penetrantes Herrenparfum mit Moder, Harz, Vanille, Leder, einem Hauch Achselschweiß und Gammelfisch. Es ist der Geruch des Castoreums, auch Bibergeil genannt, mit dem der Biber sein Revier markiert. Früher wurde er gejagt, weil man es für eine hochwirksame Medizin hielt. Etwas Wahres dürfte dran sein. Da der Biber Weidenrinde frisst, die Salicylsäure enthält, die dadurch wiederum im Bibergeil enthalten ist, könnte es wie schwaches Aspirin wirken. Man hätte allerdings auch direkt Weidenrinde auskochen können.
Kaum hatte ich versucht, diesen Geruch einzuordnen, machte es „Platsch“. Ein Biber tauchte aus dem Wasser auf. Bubi hatte seinen Bau von oben angegraben, die Situation war ihm zu heikel geworden und er war durch seinen Unterwassereingang geflohen, wollte sich aber durchaus bemerkbar machen. Vor uns patrouillierte er auf und ab und schlug immer wieder mit der Kelle laut klatschend auf das Wasser, um uns zu vertreiben. Da wir uns nicht von der Stelle rührten, kletterte er irgendwann auf einen Stein und begann sich ausgiebig zu putzen. Denn auch das gehört zu den Tätigkeiten der fleißigen Biber: Fellpflege. Schließlich müssen sie sich permanent mit ihrem öligen Analsekret einreiben, damit ihr Pelz wasserabweisend bleibt.

Seit ruchbar wurde, dass ich das bin, was man im Englischen einen „beaver believer“ nennt, wurde ich so etwas wie eine Biberbeschwerdeanlaufstelle. Immer wieder schicken mir Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis Fotos von Bäumen, die der Biber angenagt oder gar gefällt hat, und garnieren diese mit mehr oder weniger subtilen Verwünschungen des Übeltäters.
Jemand, der noch weitaus mehr solcher Beschwerden entgegennimmt, ist Wiens Forstdirektor Andreas Januskovecz. Bei ihm läuft alles zusammen: begeisterte Berichte von Biberspurensichtungen in neu erschlossenen Revieren, ernstzunehmende Meldungen von angenagten Bäumen, die beim Fallen Fußgänger gefährden könnten (sodass sie von den Stadtförstern gefällt werden müssen), ebenso wie alltägliche Klagen über die generelle Unordnung, die dieses Wildtier macht.
„Als Förster freut es mich grundsätzlich sehr, dass die Menschen sich so große Sorgen um Bäume machen“, sagt Januskovecz.
Der Mensch liebt Bäume, und das ist gut so. Wie aber kommt es, dass er an einem gefällten Baum, an dem der klare Schnitt einer Motorsäge zu erkennen ist, ohne das geringste Unruhegefühl vorbeigehen kann, aber bei den Spuren eines Wildtieres, das seit Jahrmillionen erfolgreich mit seinem Lebensraum interagiert, den Eindruck hat, dass hier etwas ganz Fürchterliches passiert?

Zwar gibt es auch bei menschlichen Eingriffen vereinzelt Proteste oder gar Bürgerinitiativen, vor allem wenn ein geliebter alter Baum einem Bauvorhaben weichen soll, aber grundsätzlich können die meisten selbst an einem größeren Kahlschlag mit dem Gefühl vorübergehen, hier sei von rationalen Mächten mit gutem Grund der Wald abgeholzt worden. Millionen Festmeter Holz werden für unsere eigene Nutzung gefällt? Tausende Hektar Wald werden für Schilifte, Kraftwerke, Industriegebiete, Wohnsiedlungen, Einkaufszentren und Straßen vernichtet? Nun, das muss halt so sein, da wird schon jemand ausgiebig darüber nachgedacht haben und nach sorgfältiger Abwägung zu einem Entschluss gekommen sein. Aber der Biber denkt nicht nach, er handelt wüst, instinktiv und chaotisch. Oder?
Tatsächlich besiedelt und benagt der Biber nur einen sehr schmalen Uferstreifen, zwischen zehn und zwanzig Meter vom Wasser entfernt. Allein dieses Wissen hilft schon, um einen guten Teil der Ängste auszuräumen. Wird er am Ende den ganzen Wienerwald abholzen? Nein, auf gar keinen Fall. Wirkliche Schäden, erklärt Forstdirektor Januskovecz, kommen in Wien, wo es im unmittelbaren Wirkungsfeld des Bibers keine landwirtschaftlichen Flächen und auch kaum Obstbäume gibt, praktisch nicht vor. An einen einzigen Fall kann er sich erinnern, wo ein Biber sich ungewöhnlicherweise über hundert Meter vom schützenden Wasser entfernte, um – sozusagen im Fruchtrausch – einen Obstgarten zu zerstören. Hier würde er gerne eine finanzielle Entschädigung auszahlen, die aktuelle Rechtslage ermöglicht dies jedoch nicht.
Warum aber ist es kein Schaden, was der Biber macht? Zum einen würde man viele der Bäume und Sträucher, die unmittelbar an der Uferböschung stehen, aus Gründen des Hochwasserschutzes ohnehin fällen. Steigt nämlich der Wasserpegel an, verhindern sie, dass das Wasser möglichst schnell wieder abfließen kann. Auf der Donauinsel etwa kann man an manchen Stellen ein durchaus verwirrendes (oder harmonisches) Nebeneinander von Biberbiss und Menschenschnitt sehen. Nur große, schattengebende Bäume werden stehen gelassen und gegebenenfalls mit Ummantelungen aus Eisengitter vor dem Biber geschützt. Andere Bäume überlässt man ihm bewusst, schließlich kann man ihn im Winter, wo er sich von Rinde ernährt, ja nicht verhungern lassen. Hat er sie so angenagt, dass ihr Fall Menschen gefährden würde, fällt man sie und lässt sie dann liegen, damit er sie abnagen, zerlegen und stückweise ins Wasser ziehen kann. Erst im Frühjahr, wenn es wieder andere Nahrungsquellen gibt, räumt man die Reste fort.

Baby Got Issues: Leseprobe aus „Potenziell furchtbare Tage“ von Bianca Jankovska

Mit Menstrual Health und Anti-Work die Arbeitswelt revolutionieren: Dieses Ziel verfolgt Bianca Jankovska in ihrem Buch „Potenziell furchtbare Tage“, auf ihrem Blog „Groschenphilosophin“, mit dem Kündigungsunternehmen „THX BYE“ und in ihrem Podcast „The Bleeding Overachiever. Sie hinterfragt unsere Leistungsgesellschaft, in der sich Arbeitnehmer*innen unter Schmerzen und Medikamenteneinfluss zur Arbeit schleppen müssen. Hinterfragt ein System, das uns permanent auslaugt und krank macht.
Die Lösung? Gibt es nicht. Dafür bietet Bianca Jankovska fundierte Fakten und unterhaltsame Utopien und ruft damit zum Beginn des Anti-Work-Feminismus auf! Einen ersten Vorgeschmack darauf bekommst du in dieser Leseprobe. 

Wenn Elon Musk eine Frau wäre

Wäre Elon Musk eine Frau – Essay-Ende. Denn es gibt bis heute keine Frau – von non-binären oder trans Personen gar nicht erst angefangen –, die annähernd so reich, einflussreich und mächtig ist oder war wie er. Und auch keine Frau, die das in naher Zukunft werden könnte. Wir stecken leider noch zu tief im Patriarchat, sorry gurls.
Ich finde trotzdem, der Essay-Titel klingt zu gut, um ihn nicht zu realisieren. Um nicht doch ein bisschen einzutauchen in das Was-wäre-wenn.
Ja, was wäre denn, wenn Elon Musk eine Frau wäre?
Zunächst mal: Nur sein Gender zu ändern, genügt vermutlich nicht. Wir wissen alle, dass es genügend Girlbosse da draußen gibt, die absolut nichts am regressiven Status quo ändern wollen würden. Auch nicht, obwohl es ihnen am Ende helfen könnte.
Was wäre also, wenn ich Elon Musk wäre?
Also: Als Allererstes würde ich Schwangerschaften abschaffen. Die neun Wochen, in denen ich schwanger war, waren mitunter die körperlich unangenehmsten meines Lebens. Davor kommt nur mein Parasiten-Befall, den ich aus Indien mitgenommen hatte, aber dazu gerne ein anderes Mal mehr. Nichts, aber auch rein gar nichts in dieser Zeit hatte etwas von der Romantik, die uns verkauft wird, wenn sich Mütter in der Werbung liebevoll über den prallen Bauch streicheln. Plötzlich sah ich sie ständig um mich, die anderen, watschelnden Schwangeren, die die Übelkeit weglächelten, und nein, ich empfand das nicht als nachahmenswert. Vielmehr fragte ich mich, wie es sein kann, dass wir in den 2020er Jahren immer noch manuell gebären. Literally jede andere Technologie auf der Welt hat sich trotz Einschränkungen weiterentwickelt. Wie kann es also sein, dass es da noch keine neuere Methode gibt und Gebärende immer noch bei einer „natürlichen Geburt“ unter massiven Schmerzen selbst pressen müssen? Stundenlang in den Wehen liegen, um dem Kind kein Trauma zuzufügen, während man selbst eines erleidet? Vagina- und Arschlochrisse in Kauf nehmen, nur, damit man hinterher damit angeben kann, „natürlich“ geboren zu haben?
Elon Musk möchte die Population auf den Mars umsiedeln, aber er sorgt sich nicht darum, wie diese Population aus den Frauen herauskommt, und das ist unfassbar ignorant. Wenn Elon Musk eine Frau wäre, da bin ich sicher, gäbe es bereits artificial wombs, die kein Internet-Gag sind.
Der Wissenschaftler Hashem Al-Ghaili publizierte Ende 2022 ein YouTube-Video über eine Welt, in der manuelles Gebären nicht mehr zwingend nötig ist. „Wir präsentieren: ‚Ectolife‘. Die weltweit erste Fabrikanlage mit künstlichen Gebärmüttern, vollständig mit erneuerbaren Energien betrieben“, hört man dabei ein Roboterstimmen-Voice-Over, während die Kamera durch die Fabrikhallen der Babyproduktion führt. Dort reiht sich Embryo-Kapsel an Embryo-Kapsel, alle vollausgelastet und befüllt mit glücklichen, weißen Babys, die mit allen benötigten Nährstoffen versorgt werden wie Fans im Fußball-Stadion. Die Gesundheit des Kindes kann dank zahlreicher Sensoren sekündlich überwacht werden, auch „genetische Abweichungen“ seien so leichter zu erkennen. Gedacht ist die Embryo-Kapsel übrigens für Paare, die auf natürlichem Weg keinen eigenen Nachwuchs produzieren können. Die „artificial womb facility“ sollte laut Al-Ghaili aber auch in Ländern zum Einsatz kommen, in denen die Geburtenrate (zu) niedrig ist – wie zum Beispiel in Japan, Bulgarien und Südkorea.

 

 

Und genau an dieser Stelle merkt man, dass hier ein Mann am Werk war. Denn die Kapseln stehen nicht allen Menstruierenden zur Verfügung, sondern sie sind strikt für eingeschränkt reproduktionsfähige Frauen reserviert oder werden für politische Zwecke instrumentalisiert. Das Wohl aller Gebärenden steht nicht im Fokus. Stattdessen werden ableistische Werte transportiert. Und das bei 2,6 Millionen Aufrufen auf YouTube.
Artifical wombs – für mich als Elon Musk klingt das prinzipiell großartig. Aber nur, wenn sie hinterher allen Menstruierenden zur Verfügung stehen. Statt mich zu übergeben, könnte ich mich während der neunmonatigen „Grow-Zeit“ auf andere Dinge konzentrieren. Zum Beispiel auf meine Freundschaften, eine schöne Inneneinrichtung, Reisen oder den Ruin großer Technologieplattformen.
Ich frage ChatGPT, ob es grundsätzlich möglich ist, Schwangerschaften und Geburten auszulagern. Das Programm warnt mich. „Die Idee von Gebärboxen, die die Schwangerschaft und Geburt auslagern, mag auf den ersten Blick faszinierend und futuristisch erscheinen, allerdings gibt es viele komplexe ethische, medizinische und soziale Aspekte, die bei der Realisierung einer solchen Technologie berücksichtigt werden müssen.“ Huch, welche denn? Ich als Elon Musk kann das ja bestimmt beurteilen, ob mich das in der Praxis tangiert. ChatGPT gibt mir fünf Gründe, die gegen Gebärboxen sprechen. Etwa, dass Schwangerschaft und Geburt nicht nur biologische Prozesse seien, sondern auch tief in der menschlichen Erfahrung und Kultur verwurzelt seien.

Ich bin keine Historikerin, aber haben wir nicht schon andere, zutiefst menschliche Erfahrungen überwunden? Zum Beispiel das Leben in Höhlen, oder die Pest in Europa? Der zweite Grund, den ChatGPT nennt, ist, dass eine Schwangerschaft verschiedene Gesundheitsrisiken und Komplikationen berge, die von Frau zu Frau unterschiedlich sein können. Ja, sag ich doch! Die Gefahren, die mit einer Schwangerschaft einhergehen, könnten mit artifical wombs sogar besser beobachtet und umgangen werden. Grund drei, den mir das Programm nennt, bezieht sich auf die besondere menschliche Bindung und Entwicklung, die angeblich während der Schwangerschaft entsteht. Das können vermutlich alle Adoptiveltern entkräften, die ihr nicht leibliches Kind uneingeschränkt lieben. Und Grund vier erscheint mir besonders unschlüssig: Die Einführung von Gebärboxen könne erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Verständnis von Elternschaft, Familie und Geschlechterrollen haben. Ja, der Feminismus könnte auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Verständnis von Elternschaft, Familie und Geschlechterrollen haben. Wo liegt das Problem? Nur ein Kritikpunkt ist meiner Meinung nach gerechtfertigt: Schwangerschaft und Geburt sind komplexe biologische Vorgänge, die weit über die bloße mechanische Bereitstellung einer physischen Umgebung hinausgehen. Deshalb gibt es bislang auch keine artifical wombs. Weil es kein Forschungsinstitut auf der Welt gibt, das ausreichend Mittel besitzt, um sich dieser komplexen medizinischen Herausforderung zu stellen.
Aber ganz ehrlich: Ist das wirklich komplizierter als die Besiedlung des Mars?
Wenn ich Elon Musk wäre, würde ich mein Geld in die Erforschung von artifical wombs stecken, sodass niemand jemals wieder bei der Geburt sterben müsste.
Tatsächlich gibt es sogar ein Projekt mit ähnlichem Fokus, das bereits heute finanziell unterstützt werden könnte. Es heißt „Juno Operational Healthcare“. Noch nie gehört? Na ja, Elon Musk ist kein Investor in diesem Fall. Deshalb kennt das Projekt aus den Niederlanden, das mit knapp drei Millionen Euro von der EU gefördert wurde, auch nur eine kleine Nischengruppe. Dabei leisten die Forschenden der Technischen Universität Eindhoven Unglaubliches für Frühgeborene. Jedes Jahr werden weltweit 800 000 Babys extrem früh, noch vor der 28. Woche, geboren. Diese Säuglinge werden normalerweise auf eine besondere Intensivstation für Neugeborene verlegt, um die Herz- und Lungenentwicklung zu unterstützen. Der Kontakt mit der Luft führt jedoch unweigerlich zu Komplikationen, da die Lungen noch nicht vollständig entwickelt sind. Das Juno-Team forscht deshalb an einer neuartigen, alternativen Umgebung, die dem Mutterleib ähnlich ist. Sehr früh geborene Babys könnten so direkt vom Geburtskanal in eine Art artificial womb gebracht werden, wobei die Lungen weiterhin mit Flüssigkeit gefüllt bleiben und die Nabelschnur an einer künstlichen Plazenta befestigt werden würde, um die Organentwicklung zu verbessern und den Übergang zum Neugeborenenleben zu erleichtern. Neben der dafür notwendigen Hardware gibt es auch Software, die hierbei eine wichtige Rolle spielt: Sensoren überwachen die Entwicklung des Frühgeborenen im „Incubator 2.0“. Die Forscher nutzen auch die Technologie der digitalen „twin technology“. Mathematische Modelle auf Basis von gemessenen und verfügbaren Daten sowie künstliche Intelligenz ahmen dabei das Neugeborene nach. Das wiederum ermöglicht es den Forschenden, Ärzte bei Entscheidungen in der Neugeborenenversorgung zu beraten und zu unterstützen.

Bücher in den Schützengräben – Andrej Kurkow über die Literatur in der Ukraine

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow schreibt über seine Landsleute und deren Schicksale, über die Ereignisse, die seine Heimat erschüttern – und das seit Jahren. Festgehalten sind seine Eindrücke unter anderem im „Tagebuch einer Invasion“ (Haymon, 2022), für das er im selben Jahr mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde. Im folgenden Beitrag geht der Autor auf die Literatur der Ukraine ein, weist auf aktuelle Phänomene während des Krieges hin und blickt, trotz allem, hoffnungsvoll in die Zukunft.

Es gibt wohl keine dramatischere Literaturgeschichte als die der ukrainischen Literatur.

Diese Aussage mag Sie überraschen, aber fragen Sie sich selbst: „Was weiß ich über klassische ukrainische Autor*innen?“
Sicherlich sind klassische russische Schriftsteller*innen wie Dostojewski, Tschechow und Tolstoi international bekannt. Aber nur sehr wenige Menschen in Europa oder einem anderen Teil der Welt können eine*n einzige*n ukrainische*n Schriftsteller*in des 18. oder 19. Jahrhunderts außer Mykola Gogol nennen. Diesem wird alles zugeschrieben, was die klassische russische Literatur ausmacht.
Viele russische Autor*innen, die sich einen Platz in den Reihen der Klassiker erarbeitet hatten, hatten ukrainische Wurzeln. Das ist nicht weiter wichtig, außer dass es auf einen Kontext hinweist, in dem Erfolg für jede*n Autor*in im russischen Reich bedeutete, nach St. Petersburg oder Moskau zu ziehen und auf Russisch zu schreiben. Zu der Zeit, als sie ihre Romane und Erzählungen schrieben, schrieben auch Dutzende von ukrainischen Autor*innen ihre Romane und Erzählungen in der Ukraine – auf Ukrainisch. Die Welt weiß so gut wie nichts über sie oder ihr Werk, obwohl sie in der Ukraine in Schulen und Universitäten besprochen werden, Romane und (Dokumentar-)Filme über sie geschrieben und gedreht werden.
Warum haben europäische Verlage die klassische ukrainische Literatur fast nie übersetzt oder veröffentlicht? Die Antwort ist einfach: Sie wussten nicht von ihrer Existenz. Sie glaubten, dass es auf dem Gebiet des Russischen Reiches und später auf dem Gebiet der UdSSR nichts Interessantes außer russischer Literatur gab.

Russland hat seine Kultur und seine Literatur stets gekonnt und beharrlich gefördert. Niemand bestreitet den Wert der Romane von Dostojewski und der Erzählungen von Tschechow – aber darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass die Literatur einer großen europäischen Nation in Europa nicht aus kulturellen, sondern aus geopolitischen Gründen unbekannt geblieben ist. Die Hauptbotschaft der russischen Politiker*innen in Bezug auf die Kultur war die Behauptung, dass in den riesigen Weiten des ehemaligen und heutigen Russischen Reiches den Leser*innen in aller Welt nichts Größeres als die russische Literatur geboten werden könne.
Die neue russische Aggression hat dazu geführt, dass die Welt die Ukraine mit Verspätung entdeckt hat. Erst jetzt erscheinen die Werke der ukrainischen Klassiker*innen – unter ihnen Lesya Ukrainka, Ivan Franko, Ivan Kotlyarevsky, Olga Kobylyanska, Mykola Khvylovy – in Übersetzungen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Sie erscheinen hauptsächlich in kleinen Auflagen, dank kleiner, unabhängiger Verlage. Es ist ein guter Anfang, besser als nichts, besser spät als nie … Trotzdem wäre es besser gewesen, dies wäre früher und vor allem ohne Krieg passiert.
Während Leser*innen weltweit versuchen, die Vergangenheit und Gegenwart der ukrainischen Literatur zu verstehen, verändert sich die Literatur erneut und versucht, sich an das Leben in Kriegszeiten anzupassen. Dieser Veränderungsprozess ist sehr schwierig, und ich muss zugeben, dass der Erfolg noch lückenhaft ist.
Nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, begann sich die ukrainische Literatur sofort von der russischen durch ihre Romantik, ihren unpolitischen Charakter und ihre Liebe zur postmodernen Literatur zu unterscheiden. Der prominenteste ukrainische Postmodernist der frühen Nach-Unabhängigkeitszeit war der Romancier Juri Andruchowytsch, der mit seinem witzigen und bitteren Roman „Moscoviada“ in der ganzen Ukraine Wellen schlug. Er ist nach wie vor einer unserer bekanntesten Schriftsteller*innen – ein Vorreiter der neuen ukrainischen Literatur.
In den späten 90er Jahren erschienen in der Ukraine viele Romane über „Sex, Drugs und Rock’n‘Roll”. Die Autor*innen dieser Romane, unter ihnen die Schriftstellerin und Sängerin Irena Karpa, versammelten Hunderte von jungen Leser*innen bei ihren Lesungen. Es schien, als sei eine wunderbare neue Ära der Freiheit angebrochen.
Nachdem sie die Nische für diese Art von Literatur gefüllt hatten, zogen die ukrainischen Schriftsteller*innen weiter und begannen Anfang der 2000er Jahre, Liebesromane, historische Romane und Abenteuerromane zu schreiben.
Die Orange Revolution von 2004-2005 war das erste Ereignis, das die ukrainische Literatur zu politischen und sozialen Themen hinführte. Die Euromaidan Proteste von 2014 gaben den Anstoß zu einer fast vollständigen Politisierung der ukrainischen Literatur, die sie militant machte und endgültig von ihrer traditionellen Poetik und Romantik löste. Die Poesie, für die die ukrainische Literatur berühmt war – für diejenigen, die überhaupt etwas von ihr wussten –, blieb ein wichtiges Merkmal, obwohl sie bürgerlicher und weniger lyrisch wurde.
Seit der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbass hat sich sehr viel verändert, und die russische Aggression von 2022 hat die ukrainische Literatur schließlich völlig neu reformiert. Nicht nur das geschriebene Wort wurde verändert. Die ukrainischen Schriftsteller*innen und Dichter*innen formierten sich selbst neu, mehr als 30 von ihnen wurden getötet. Dies zwang die ukrainischen Leser*innen sofort dazu, die toten Autor*innen „wiederzubeleben”, indem sie sich bemühten, herauszufinden, wer sie waren, was sie schrieben und wofür sie standen. Dies führte zur Entdeckung einer ganzen Generation ukrainischer Schriftsteller*innen – Hunderte von Namen –, die in der Sowjetzeit unter Stalin unterdrückt und getötet worden waren. In den 1930er Jahren beschloss das kommunistische Regime, die ukrainische Kultur ausbluten zu lassen – sie war zu intelligent und zu unabhängig, auch wenn die meisten Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Dramatiker*innen jener Zeit der „richtigen” kommunistischen Ideologie anhingen.

© Concreative

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis zum Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. Zuletzt erschien bei Haymon 2022 Andrej Kurkows Werk mit seinen Aufzeichnungen aus der Ukraine: „Tagebuch einer Invasion“ (aus dem Englischen von Rebecca DeWald), in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. In „Im täglichen Krieg“ (voraussichtlich 2024) schreibt Kurkow weiterhin gegen die Zerstörung an – und für die Zukunft der Ukraine.

Heute bitten Soldat*innen ihre Freund*innen, ihnen Bücher von Schriftsteller*innen dieser „hingerichteten Wiedergeburt“ zu schicken – ebendiese zerstörte Generation ukrainischer Autor*innen, deren Erwähnung zu Sowjetzeiten verboten war.
Neben Büchern hingerichteter Autor*innen fragen die Soldat*innen oft auch nach Büchern über die Geschichte der Ukraine und nach Büchern klassischer ukrainischer Schriftsteller*innen. Viele an der Front wollen die ukrainische Literatur früherer Epochen wiederentdecken, angefangen im 17. Jahrhundert mit Meletiy Smotrytsky, der auf Polnisch schrieb, und dem Philosophen, Schriftsteller und Dichter Grigory Skovoroda, der seine Werke auf Altukrainisch, Polnisch und Latein verfasste.
In überraschender Symmetrie entdecken Leser*innen weltweit die ukrainischen Klassiker gleichzeitig mit den ukrainischen Soldat*innen in den Schützengräben – Soldat*innen, die sich vor dem Krieg kaum für Literatur interessiert haben.
In der ukrainischen Literatur selbst tut sich unter dem Bombardement nicht viel. Es werden nur wenige Romane geschrieben. Die meisten Autor*innen sind zu Essays und Sachbüchern übergegangen oder haben ganz aufgehört zu schreiben und sind zu zivilen Aktivist*innen geworden.
Andriy Lyubka, ein Romanautor und Übersetzer von Balkanliteratur, begann gleich zu Beginn des Krieges, die ukrainischen Soldat*innen zu unterstützen. Er sammelt im Internet über Fundraising Spenden für den Kauf alter Jeeps und Pickups für die ukrainische Armee. Mit Gleichgesinnten reist er nach Europa, um die Fahrzeuge zu kaufen, sie durch den Zoll in die Ukraine zu transportieren und sie dann zusammen mit Freund*innen direkt an die Front zu fahren. Über seine Geschichte könnte ein Buch geschrieben werden. Vielleicht schreibt er es eines Tages selbst, aber jetzt hat er dafür keine Zeit. Seit dem 24. Februar 2022 hat er Millionen Griwna gesammelt und die Armee mit mehr als 200 Fahrzeugen versorgt.
„Während des Krieges ist es unmöglich, sich voll und ganz der Literatur zu widmen“, sagt Andriy Lyubka. „Aber gerade in diesen Monaten habe ich das Gefühl, dass die Menschen die Literatur mehr denn je brauchen. In der Ukraine besuchen heute so viele Menschen wie noch nie literarische Veranstaltungen und Vorträge. Sie brauchen diese Gelegenheiten, um sich im Raum umzusehen und Menschen zu sehen, um zu spüren, dass sie hier lebendig sind, dass sie nicht weglaufen oder aufgeben dürfen. Es ist eine Art Appell. Kürzlich traf ich mich mit Schriftstellerkolleg*innen auf dem Poesiefestival Meridian Czernowitz, das zum zweiten Mal seit der Invasion stattfand. Das Hauptthema unserer Gespräche war: Wie ist es möglich, dass die Auflage unserer Bücher im zweiten Jahr in Folge gestiegen ist, obwohl so viele Millionen Menschen das Land verlassen haben und so viele Druckereien und Buchläden bombardiert worden sind? Die Antwort ist einfach: Die Menschen brauchen Literatur in ukrainischer Sprache. Dies ist eine symbolische Art und Weise, ihre Zugehörigkeit zur ukrainischen Identität zu bekunden. Darüber hinaus kaufen viele Ukrainer*innen Bücher, um den Übergang vom Russischen zum Ukrainischen als Kommunikationssprache zu erleichtern. Dies ist ein Massenphänomen, und ein der Tat ist es ein großer Schock für uns alle“.
Vor dem Krieg hatten einige Leser*innen den Eindruck, dass Andriy Lyubka mit einem anderen ukrainischen Kultautor und Dichter, Serhiy Zhadan, um Popularität konkurrierte. Jetzt zeigt sich, dass die beiden auch in Sachen Fundraising im Wettbewerb zu stehen scheinen. Serhiy Zhadan unterstützt ebenfalls aktiv die ukrainische Armee und kauft Jeeps und Pickups für die Soldaten an der Front. Im Gegensatz zu Lyubka schreibt er weiterhin neue Gedichte und Prosa. Kürzlich sammelte der deutsche Verlag Suhrkamp Zhadans Facebook-Beiträge und veröffentlichte sie in Form eines Tagebuchs. Zhadan und seine Rockband „Zhadan and The Dogs“ reisen regelmäßig nach Europa und in die USA, wo sie Geld für die ukrainische Armee und ukrainische Flüchtlinge sammeln. Mit anderen Worten, er tut alles für den Sieg der Ukraine in diesem Krieg – genau wie Dutzende andere ukrainische Autor*innen, von denen nur sehr wenige gleichzeitig viel schreiben können. In der Geschichte der ukrainischen Literatur werden die Jahre 2022-2023 daher „mager“ sein.

Wird das literarische Leben in der Ukraine nach dem Krieg wieder an Fahrt aufnehmen? Ich denke ja. Aber es besteht die Gefahr, dass sich ein Großteil der neuen Literatur auf die russische Aggression konzentriert. Das bedeutet, dass wir das sowjetische Muster des „Siegeskults“ wiederholen würden, das in der UdSSR nach 1945 bestand. Damals ersetzten Bücher über den Krieg fast alle anderen Genres und dienten der patriotischen Erziehung der sowjetischen Jugend. Der Siegeskult des Zweiten Weltkriegs lebt in der russischen Kultur weiter und ist auch einer der Gründe für die aggressive Politik der Russischen Föderation. Heute lautet einer der beliebtesten russischen Slogans „Wir können es wieder schaffen“.
Dennoch bleibe ich optimistisch. Ich hoffe, dass die Liebesromane die Bücher über den Krieg am Ende besiegen oder zumindest dazu beitragen werden, ein Gleichgewicht und eine Harmonie in der ukrainischen Literatur zu schaffen, ohne die ein Vorankommen unmöglich ist.

Andrej Kurkow, im Herbst 2023

„Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot.“ – Aleš Šteger im Interview über sein Logbuch-Projekt und die schriftstellerische Arbeit

Je zwölf Stunden an zwölf Orten im Laufe von zwölf Jahren. So lange schrieb der slowenische Autor Aleš Šteger an seinem Projekt, das unter dem Titel „Logbuch der Gegenwart“ in drei Bänden im Haymon Verlag erschienen ist. Der letzte Band, „Aufgehen“, ist mit 7. März 2024 im Buchhandel erhältlich. Von Slowenien über China bis nach Chile und Somaliland reiste er, traf auf Kulturen, Schicksale, Geschichten, die er mit Stift und Papier sowie mit seiner Kamera für die Ewigkeit festhielt. Wir haben uns mit Aleš Šteger über die poetische Wahrnehmung der Welt, die Arroganz der Europäer*innen dem Fremden gegenüber und seine Logbücher unterhalten.

Ein im Voraus festgelegter, möglichst öffentlicher Ort, der eine lebendige, unvorhersehbare Geschichte erzählt. Ein ebenso festgelegtes Datum, das mit einer gewissen Menge an Erinnerungsgepäck beladen ist. Eine auf zwölf Stunden begrenzte Schreibzeit, innerhalb derer ein Text entstehen soll, der anschließend schnellstmöglich veröffentlicht wird. Das sind die Grundregeln, die alle drei Logbücher eint. Gehen wir kurz mal zurück ins Jahr 2012, als das alles anfing: Wie kam dir die Idee zum Logbuch-Projekt? Gab es einen konkreten Auslöser oder schlummerte diese Idee schon länger in dir?

Die Idee dazu entstand aus einer Lebens- und Schreibkrise. Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich dachte, der Dichter in mir wäre tot. Ich brauchte eine neue Herausforderung, eine Aufgabe, die mich in meiner Arbeit als Schriftsteller forderte.
Dann kam dieser Einfall, sich selbst ein paar sehr elementare, fast unmögliche Regeln aufzuerlegen, sich an einem Ort niederzulassen, wo jederzeit alles schiefgehen kann. Diese fehlende Planbarkeit und die Offenheit, die viel Vertrauen in sich selbst und in den Prozess erfordern, waren mein Weg zurück. Zurück zur Literatur, zur elementaren poetischen Wahrnehmung der Welt und der Menschen – und zum Logbuch.

Du bist ein unbestechlicher Beobachter, beschreibst deine Wahrnehmungen der Umwelt und die Stimmungen, die dich umgeben, so, dass ein klares Bild entsteht und gleichzeitig Raum bleibt für die literarische Wirkmacht deiner Texte. Siehst du die Welt und die Menschen darin nun nach deinen Reisen mit anderen Augen?

Ich muss mich selbst immer wieder dazu ermahnen, nicht zu genau zu sein und meiner Fantasie und Kreativität genug Raum zu lassen. Denn es geht ja nicht nur um das Gesehene, sondern vor allem um das Erahnte, Erträumte, um Assoziationen und die schwierige Frage dahinter: Warum? Das Reisen hat mich aber zum Menschen gemacht, der ich bin, mit oder ohne Logbuchprojekt im Rucksack. Es hat mich der Welt gegenüber geöffnet und mir gelehrt, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht verstehe. Immer aufs Neue die Welt zu hinterfragen – aber sanft, nie besserwisserisch. Arroganz ist uns Europäer*innen ja von klein auf mitgegeben und man muss sehr viel Selbstreflexion durchlaufen, um sie wieder loszuwerden. Arroganz dem Fremden gegenüber ist ja nichts anderes als die Rückseite der Angst, die Ungewissheit, der wir uns nicht stellen wollen, uns dem Neuen nicht öffnen können.

 

© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Aleš Šteger, geboren 1973 in Ptuj, ist ein slowenischer Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor. Er veröffentlichte bislang mehrere Lyrik- und Prosabände, zuletzt seine Erzählungen „Das Lachen der Götter” (2016). Für seine Gedichte und Essays erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1998 den Veronika-Preis, 2008 den Rožanc-Preis, 2011 den Best Translated Book Award für seinen Gedichtband „Buch der Dinge”, 2016 den Horst-Bienek-Preis. Zudem übersetzt er aus dem Deutschen, Englischen und Spanischen, u. a. Werke von Gottfried Benn, Peter Huchel und Ingeborg Bachmann.

Du berichtest von politischen Stimmungen, gesellschaftlichen Minderheiten, sozialen Ungerechtigkeiten, von Armut und Lebensfreude, Schicksalsschlägen und Hoffnungsschimmern – ganz gleich, wo du dich befindest. Was macht uns Menschen aus? Konntest du durch deine Reisen Verbindendes entdecken, das in uns allen ist, unabhängig von kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten?

Wir Menschen sind einander viel ähnlicher, als wir es uns eingestehen wollen. Gleichzeitig verbirgt sich in uns vieles, das verschüttet oder verstummt zu sein scheint, in gewissen Konstellationen aber sofort wieder zum Vorschein kommt. Zum Beispiel die Erfahrung der frappanten Möglichkeit, sehr lange Erzählungen nach dem Zuhören wortwörtlich wiederzugeben, was in Somaliland auch heute noch gang und gäbe zu sein scheint. Eine Erinnerungskunst, die bei uns fast gänzlich durch Technik ersetzt wurde. Wir können so vieles sein und sind auch so vieles, ohne es zu wissen.

Welche Begegnung auf deinen Reisen für das Logbuch ist dir besonders in Erinnerung geblieben, welches Bild hat sich in dein Gedächtnis eingebrannt?

Das ist vielleicht das Besondere an diesem Projekt. Da es mit einer im Vorhinein festgelegten Zeitstruktur, einem Zwölf-Stunden-Fenster operiert, in dem alles passiert (oder eben nichts), entsteht ein sehr großer Aufmerksamkeitsdruck. Alles, was ich erlebe, jede*r, dem*der ich begegne, brennt sich mit einer immensen Prägnanz in meine Erinnerung ein. Ich kann alle zwölf Orte, alle zwölf Schreibreisen in mir sofort wieder abrufen. Das gelingt mir sonst im Alltag nicht. Aber die Sprache macht das möglich, wie so vieles …

Du bist Dichter, Schriftsteller, Verleger und Lektor und bezeichnest dich selbst als „literarische Amphibie“ und „Grenzgänger zwischen verschiedenen Literaturwelten“. Ist Sprache für dich die beste Ausdrucksform, oder gibt es neben der Literatur auch noch andere für dich?

Sprache ist bestimmt das Medium, in dem ich mich am sichersten bewege. In den letzten Jahren hat sich meine Art des Ausdrückens erweitert, vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem Akkordeonisten Jure Tori auf eine Vortragsart, die wir „poetisch-musikalisches Ritual“ nennen.
Für das Logbuch habe ich mir etwas anderes einfallen lassen: eine Reiseperformance in Worten, Klängen und Bildern. Eine Reise um das Jetzt in zwölf Welten.
In all diesen Vortragsformen geht es aber um dasselbe, nämlich darum, eine Brücke zum Text zu bauen, damit dieser sich im Kontakt mit dem Unbekannten entfalten kann, so wie er sich in mir entfaltet. Das ist eine bereichernde Tätigkeit: die Leute in mein Geheimnis mit einzubeziehen und die Erfahrung der Wachheit des Textes zu teilen.

Wie geht es weiter für dich? Arbeitest du bereits an einem neuen Projekt?

Ich sitze gerade an einem Roman und einem Gedichtband. Es sind diesmal vor allem Reisen ins Innere, in Archive und in den Alltag. Es muss ja nicht immer eine Weltreise sein, um die Welt zu ertasten. Etwas Vergleichbares wie das Logbuch-Projekt nochmal zu machen, scheint für mich nicht realisierbar. Es erfordert schlicht und ergreifend sehr viel Lebenskraft – so etwas machen auch die größten literarischen Draufgänger*innen nur einmal.

„Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch“ – Gespräch mit Bernhard Schöpfer, Gründer von „Der Fährmann”

2013 gründete Bernhard Schöpfer die Bestattung „Der Fährmann“  und damit einen Raum für alternative Verabschiedungen von  Verstorbenen. Das Unternehmen ist seitdem Anlaufstelle für Trauernde; neben der Unterstützung bei der Organisation traditioneller und individueller Abschiedsfeiern und Bestattungen liegt ein großer Fokus auf der Trauerarbeit, denn: Diese ist für die Hinterbliebenen genauso wichtig. Wir haben uns mit ihm über seine Arbeit, Abschiedsrituale und den Stellenwert des Todes in der Gesellschaft unterhalten.

Bernhard, wie kam die Idee für die Bestattung „Der Fährmann“? Was hat dich dazu gebracht, dich beruflich mit Tod und Abschied zu beschäftigen?

Die Idee kam aus dem Bedürfnis heraus, etwas an unserem aktuellen System der Beerdigungen zu ändern. Ich habe gemerkt, ich bin nicht ganz zufrieden mit der Trauerkultur, die bei uns üblich ist – etwas fehlt. Beerdigungen und die damit zusammenhängenden Abläufe werden meistens nach einem bestimmten Muster abgewickelt und möglichst schnell erledigt. Übrig bleibt danach in der Regel nur der Partezettel – der Raum, wo die Trauer ihren Platz findet, wird nicht ausreichend geöffnet für die, die einen geliebten Menschen verloren haben. Genau hier wollte ich ansetzen und eine Lücke füllen, den Hinterbliebenen und ihren Gefühlen Platz geben.
Und nicht zuletzt ist unsere Trauerkultur sehr eng mit dem christlichen Glauben verbunden. Es gibt kaum Rituale in Bezug aufs Begräbnis außerhalb der Kirche, ohne dass ein Pfarrer dabei ist. Viele wissen gar nicht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, im Sinne des*der Verstorbenen einen angemessenen Abschied zu bereiten.

Was genau macht „Der Fährmann“? Was unterscheidet euch von anderen, „klassischen“ Bestattungsunternehmen?

Wir bemühen uns dahingehend, dass auch Beerdigungen außerhalb der Kirche, unabhängig vom Kulturkreis, in welchem (nicht)religiösen Kontext auch immer, würdevoll stattfinden; nicht nur für den*die Verstorbene*n, sondern vor allem für die Angehörigen. Es ist Teil der Trauerarbeit, die wir machen, und diese muss unserer Erfahrung nach möglichst bald losgehen und nicht erst nach dem Begräbnis. Wir versuchen, die Menschen einzubinden, Möglichkeiten zu bieten, sich handlungsfähig zu erleben in ihrer Ohnmacht und nicht alles fernhalten.
Wenn jemand stirbt, kann man als Angehörige*r gewisse Dinge nur zu einem bestimmten Zeitpunkt machen – danach ist es unwiederbringlich. Ich kann nach der Beerdigung dem*der Toten nicht mehr ein letztes Mal über die Wange streicheln, die Hand halten und vieles mehr. Als Bestatter ist es meine Verantwortung, Räume dafür zu öffnen, unwiederbringliche Momente zu ermöglichen. Das kann unterschiedlich aussehen: die Angehörigen fragen, ob sie etwas tun wollen, den*die Tote*n nochmal berühren, zu ihm*ihr sprechen. Oft nehmen sie das dankend an, sind im Nachhinein froh, das getan zu haben. Den Tod kann man nicht intellektuell begreifen, den begreift man haptisch. Deshalb sind Berührungen umso wichtiger in der Trauerarbeit. Beim Abschied von einem geliebten Menschen darf alles Platz haben, alles gesagt werden – auch, was nicht so gut war.

Auf der Homepage von „Der Fährmann“ ist immer wieder die Rede von „Abschiedsfeiern“ – das ist ungewöhnlich. Das Leben feiern – ja. Aber den Tod?

In der röm.-kath. Kirche gibt es einen Beerdigungsritus, der im Grunde immer gleich abläuft. Je nach Pfarrer hat daneben noch etwas Platz oder eben nicht. Wenn man sich für ein freies Begräbnis entscheidet, können Feiern sehr individuell gestaltet werden. Hier steht die verstorbene Person im Mittelpunkt und kann durch die zahlreichen Erinnerungen der Anwesenden noch einmal richtig aufblühen. Es entwickelt sich dadurch viel mehr Platz für Emotionalität, auch wenn man sich nicht bewusst dafür entscheidet, sich dem hinzugeben.
Rituale sind wichtig, um den Abschied zu begehen, ihn vor allem bewusst zu erleben, anstatt nur in starren Riten durchmanövriert zu werden. Trauern heißt auch aktiv zu sein, sich bewusst handlungsfähig zu machen und die Verabschiedung mit seinem Beitrag zu bereichern. Wenn sich der*die Verstorbene immer etwas Bestimmtes für das Begräbnis vorgestellt hat und ich setze mich dafür ein, dass dieser Wunsch erfüllt wird, dann habe ich etwas Schönes für sie*ihn getan. In meiner Erfahrung ist das ein sehr tröstlicher Gedanke für die Hinterbliebenen.
Im Vorfeld ist es natürlich hilfreich zu wissen: Wie will die Person beerdigt werden? Welche Rituale sind wichtig für sie? Das gehört ebenfalls zur Trauerarbeit: den Angehörigen aufzuzeigen, dass sie den Abschied aktiv mitgestalten können, um auch für sich einen Weg der Bewältigung des Verlusts zu finden.

Wie steht die heutige Gesellschaft deiner Einschätzung nach dem Tod gegenüber? Ist er Teil des Lebens oder immer noch ein schwieriges Thema?

Ich würde sagen, es ist nach wie vor schwierig. Die Art und Weise, mit der wir in der Gesellschaft mit dem Tod umgehen, ist geprägt davon, wie wir den Umgang damit erleben – eben meistens als schnelles Abwickeln der üblichen Abläufe ohne die Möglichkeit, angemessen zu trauern. In den letzten Jahrzehnten hat sich diesbezüglich viel getan. Früher war der Pfarrer zuständig, sich um das Seelenwohl des*der Sterbenden zu kümmern. Heute wird das ins Krankenhaus ausgelagert und es geht bis zum Schluss um Heilung. Mittlerweile wird durch Palliative Care versucht dem Sterbeprozess wieder Raum zu geben.
Noch ein kurzer Blick auf den Tod historisch gesehen: Wir haben eine Zeit der Weltkriege hinter uns, wo so viel Tod und Leid passiert ist, dass die Menschen wenig Möglichkeit hatten, die Trauer zuzulassen. Es herrschte eher das Motto „Jammer nicht, wir haben überlebt”. Mittlerweile ist das anders, da (zumindest in unserem unmittelbaren Umfeld) kein Krieg herrscht und der Abschied nun wieder besser möglich ist. Es zeigt sich auch eine erfreuliche Entwicklung in der jetzigen Zeit: Das Bedürfnis, zu trauern, wird wieder größer, die Menschen trauen sich wieder mehr, in diese Emotion reinzugehen.

Oft fällt es uns schwer, unser Beileid auszudrücken, die richtigen Worte zu finden. Wie kann man deiner Erfahrung nach auch ohne große Worte für Hinterbliebene da sein, ihnen Trost spenden?

Ich verstehe die Hilflosigkeit Außenstehender, wenn es um den Umgang mit Trauernden geht, gut. Worte bringen den Menschen nicht mehr zurück, machen die Situation nicht besser. Die Straßenseite zu wechseln, das Gespräch zu meiden, nichts zu sagen ist aber weit schlimmer. Es ist okay und wichtig, den Verlust feinfühlig anzusprechen und Beileid zu wünschen. Für die Trauernden kann diese Wertschätzung, die ihnen und dem*der Verstorbenen so entgegengebracht wird, sehr bereichernd sein. Und es braucht nicht unbedingt viele Worte – manchmal reicht ein feiner Händedruck, ein Blick, eine Berührung.

Du möchtest dich näher zum Angebot des „Fährmanns informieren? Hier geht es zur Website: https://www.der-faehrmann.at/home/ 

Eine Liebe, allen Hindernissen zum Trotz, festgehalten für die Ewigkeit

Eine Vielzahl an Briefen, jahrzehntelang auf einem Dachboden vergessen. Der Inhalt: voller Sehnsucht, Frustrationen, Alltagserlebnisse, Berichte und Liebesbekundungen. Die Verfasser: zwei Männer im England der 40er-Jahre, der eine Student, der andere Professor der Philosophie.

Ludwig Wittgenstein gilt als einer der führenden Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die Überlegungen in seinem Werk „Tractatus logico-philosophicus“ haben die Geschichte der modernen Philosophie grundlegend verändert.
Ben Richards war Student der Medizin an der Universität in Cambridge.

Was die beiden verbindet?
Eine innige Beziehung, festgehalten in mehr als 370 Briefen. Der Altersunterschied von 35 Jahren und die Ablehnung der Gesellschaft gegenüber homosexuellen Beziehungen rücken in den Hintergrund. Stattdessen erzählen die Briefe von den Leben zweier Männer, ihren Ängsten, Zukunftsträumen und einer tiefen Verbundenheit miteinander. Ergänzt durch Abbildungen beigelegter, getrockneter Pflanzen, Fotografien und Zeichnungen werden die Worte lebendig, lassen uns spüren, welche Zuneigung Wittgenstein und Richards füreinander empfinden.

Aus dem Englischen übersetzt, geben die Briefe einen erstmaligen, bisher unbekannten Einblick in diesen Teil des Privatlebens von Ludwig Wittgenstein und zeigen ihn von einer neuen Seite: als Liebenden und Geliebten, geplagt von Verlustängsten, Einsamkeit und dem Wunsch, alles mit Richards teilen zu wollen – bis zum letzten Brief kurz vor seinem Tod im April 1951.

>>I think of you constantly with love …<< Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards 1946-1951, herausgegeben und übersetzt von Alfred Schmidt

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 31.8.1946

2, Cwmdonkin Terrace
Swansea
31.8.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief! Du sagst, Du bist sehr geneigt, gedankenlos zu sein. Ich nehme an, das ist so. Aber ob das allein erklärt, dass Du mir einen Monat lang nicht geschrieben hast, obwohl Du wusstest, was Du wusstest – ich werde es nicht sagen. – Bitte urteile selbst. Du kannst es besser als ich. – Wenn Du nach Swansea kommst, möchte ich, dass Du eine gute Zeit hast. Und Du weißt natürlich, dass eine gute Zeit mit uns (egal ob wir ernst sind oder nur herumalbern) ganz auf der Tiefe und Wärme unserer Beziehung beruht. Wenn sie da ist, dann kann ich Dir eine gute Zeit versprechen. Wenn nicht, komm nicht. Wie auch immer – Gott segne Dich! Mögest Du im Laufe der Zeit ein bisschen weniger gedankenlos, weniger egoistisch, freundlicher und zuverlässiger werden. Und bitte vergib mir, wenn ich Dich verletzt habe, indem ich selbst dumm und gemein war!
Lass mich wissen, ob und wann Du kommst.
In Liebe, wie immer
Ludwig

Bitte lies diesen Brief noch einmal langsam durch. In Liebe Ludwig
Gott segne Dich! Noch einmal.

Ben Richards an Ludwig Wittgenstein, 1.9.1946

GREENOGE
40, SWAKELEYS ROAD
ICKENHAM
UXBRIDGE
RUISLIP 2114
1. September 1946

Lieber Ludwig,
ich hoffe, es geht Dir sehr gut und Du bist glücklich. Ich habe gerade zwei weitere Briefe von Dir bekommen, die aus Norwegen nachgeschickt wurden; einer datiert mit 3. August und mit etwas Minze, die
immer noch ziemlich stark riecht, und eine Postkarte vom 2. Juli vom Swansea Civic Center (das Du mir sicherlich unbedingt zeigen willst), die zuerst nach Langdale geschickt wurde, dann zum King’s College,
dann nach Ickenham, dann nach Turtagrö, dann zurück nach Ickenham und schließlich runter nach Cornwall. Ich habe mich sehr über beide gefreut – vielen Dank!
Das Wetter in Cornwall ist immer noch so schlecht wie zuvor. Am Dienstagabend wurden sieben von acht Dutzend Hummerfangkörben in einem Sturm zertrümmert, der auch die meisten unserer Zelte umgeweht hat. Am nächsten Tag haben wir alle unsere Campingsachen in Mr. Michells Scheune gebracht und Platz für alle gefunden, um drinnen zu schlafen. Einigen anderen Campern wurde in derselben Nacht zum zweiten Mal in drei Wochen die Zeltstange gebrochen, und sie haben aufgegeben und sind am Donnerstag nach Hause gefahren. Ich fahre jetzt für eine Woche nach Skye, wo es normalerweise ziemlich nass ist.
Ich hoffe, wir sehen uns am 12. Kannst Du mich bitte wissen lassen, welche Züge Du mir empfiehlst und was Deine Pläne sind? Ich kann den Schubert wieder mitbringen, und ich möchte mit Dir und allein etwas lesen und lange Spaziergänge machen. Kannst Du William James’ Buch noch einmal bekommen oder hast Du Vorschläge für Bücher, die ich mitbringen könnte?
Immer in Liebe,
Ben

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 6.9.1946

2 Cwmdonkin Terrace
Swansea
6.9.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief aus Uxbridge. Es tut mir sehr leid, dass Du in Cornwall so ein Pech mit dem Wetter hattest. Natürlich war es auch hier schlimm, nur hatte ich ein festes Dach über dem Kopf. Leider habe ich Dir am Sonntag, den 1., einen Brief nach Cornwall geschickt, der Dich nicht erreicht haben kann und vielleicht wieder auf eine wilde Gänsejagd geschickt wird. Das ist bedauerlich, denn der Brief war mir wichtig. Ich meinte jedes Wort, das ich schrieb, sehr ernst. Eine Sache, die ich geschrieben habe, möchte ich hier wiederholen, falls Du den Brief nicht erhältst. Ich sagte, ich möchte, dass Du eine wirklich gute Zeit hast, wenn Du nach Swansea kommst, und dass, wie Du weißt, eine gute Zeit für uns auf der Tiefe und auf der Wärme unserer Beziehung beruht; dass, wenn sie da sind, wir eine gute Zeit haben werden, wenn aber nicht, Du nicht kommen solltest; und dass, wie auch immer Du fühlst, Gott Dich segnen möge! Wenn Du am 12. kommst, ist es wunderbar. Dein bester Zug, denke ich, ist der 13:55 Uhr aus Paddington (vergewissere Dich aber). Er kommt hier gegen 19 Uhr an und ich werde am Bahnhof sein. – Ich habe keine psychologischen Bücher hier. Tatsächlich denke ich, es wäre vielleicht besser, wenn ich jetzt keine Psychologie mit Dir lese, weil mein Gehirn oft sehr müde ist. Ich habe ziemlich viel gearbeitet und tue es immer noch und ich muss mich vielleicht entspannen. Ich würde gerne Tolstoi mit Dir lesen, sagen wir „Hadschi Murat“ oder „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Könntest Du es mitbringen? (Und, wenn Du möchtest, auch etwas Psychologie, nur für den Fall?) Mein Geist fühlt sich, wie gesagt, manchmal etwas erschöpft an und ich werde viel von Deiner Nachsicht, Geduld und Freundlichkeit brauchen.
Lass mich wissen, ob Du kommst und, wenn ja, wann. Telegrafiere einfach. – Sollte ich aus unvorhergesehenen Gründen daran gehindert werden, Dich vom Zug abzuholen, nimm bitte am Bahnhof den Bus Nr. 74 (alle zeigen Dir, wo er hält) und sag dem Schaffner, dass Du an der Haltestelle „Uplands“ aussteigen möchtest. Von dort sind es 2 bis 3 Minuten zu Fuß (und jeder wird Dir den Weg weisen).
Nochmals: Gott segne Dich. Ich denke immer in Liebe an Dich.
Ludwig

Das Wetter war die letzten zwei Tage besser. Nicht weit von Swansea gibt es einen Ort, an dem viele Pferde und Fohlen grasen. Die Fohlen sind lieb und so zahm, dass man ihnen nahe kommen und sie streicheln
kann usw. Neulich, als ich mit einem von ihnen sprach, habe ich bemerkt, dass ich dieselben Worte verwende, die ich oft benutze, wenn ich mit Dir spreche. Das ist eine Tatsache, in Liebe Ludwig

Mehr Lyrik für die Welt

„Gedichte sind Wort gewordene Lieder der Seele”,

befand die österreichische Philosophin und Künstlerin Lisz Hirn und versuchte damit, eine geeignete Metapher für das zu finden, was Lyriker*innen erschaffen. Ihre Worte verschmelzen zu einer Melodie, die uns zum Tanzen bringt, wo wir gar nicht anders können, als lautstark einzustimmen und den Groove zu spüren. Reime, gepaart mit Rhythmus und Sprachtönen werden zu Symphonien, denen wir gebannt lauschen.

Wirf einen Blick durch sieben Fenster, die dich in die Lyrik-Klang-Welten unserer Autor*innen entführen:

Nachts wird mir wetter – Andreas Neeser


Wettermachen

Unverhofft

finde ich manchmal den eigenen Namen: Ich
rede mich rückwärts zum Anfang des Tages
und Silbe für Silbe verschluck ich den Hochnebel
Schauer, Gewitter und Graupel
verworte ich farbig
ins heitere Blau aber
sprech ich mich
frei
von Gespinst und Gehudel
und mache das Wetter zuinnerst
im Wortlaut
ganz luft.

Nachts wird mir wetter“ – Andreas Neeser schreibt von Sinnlichkeit, Zerfall, Augenzwinkerndem und Ungeheurem: Der Autor schafft eine schier unglaubliche Verflechtung literarischer Vielseitigkeiten; schafft Gedichte, die uns mit dem Außen verbinden, unser Innerstes zusammenbringen mit all dem, das um uns geschieht, das vorbeizieht, sich windet und erblasst.

 

weich werden – Anja Bachl

 

 

ich schaffe Webstücke aus Fetzen und nenne das Liebhaberinnen
nie nervenendende Linien und darauf slacklinen
glaube an Wiedergeburt nach acht Stunden Schlaf
zünde Fackeln an um Schlangen zu locken die sich als meine Schwestern verkleiden
ich habe Schlupflöcher gesammelt und Blickwinkel und heimlich auch Berechnungen
und deshalb werde ich anstatt Stufen zu steigen Almwiesen bewandern

weich werden“ – Anja Bachl: Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert – darüber, wie wir uns Narben körpereigen machen, welche Spuren wir nicht hinterlassen und die Gespenster, die bleiben. Der Rausch einer Sprache, wie wir ihn selten erreichen: Anja Bachls Gedichte fangen uns ein, pflanzen ihre Gedanken dort, wo wir schon längst das Saatbeet vorbereitet, aber keine Worte gefunden haben. Tief im Innersten schürfend, trägt sie ins Bild, was Menschwerdung, Menschsein bedeutet. Ein Gedichtband, der Verletzlichkeit als widerständigen Fluss im eigenen Ich freilegt.

STRAND DER VERSE LAUF – Ferdinand Schmatz

 

das, da

das
seichte,
wärmend ohne rand
umspielt es fuss wie auge
ausgelaugt die poren es sich traut
an zu tupfen, ein zu sickern sachte
im brand von oben scheu zu hauten
und zurück sich pfropfend
tropfen weise, um zu spülen
nahes weg zu weitendem hinaus

STRAND DER VERSE LAUF“ – Ferdinand Schmatz: Wo stehen wir, mittendrin im Drumherum? Wie fühlt sich der Sand unter unseren Füßen an, wie die feuchte Luft auf unserer Haut? Seine Lyrik lässt innehalten im alltäglichen Treiben, schärft unsere Sinne, lässt sie weich werden für die Feinheiten unserer Wahrnehmung. Ferdinand Schmatz’ Verse sind eine Aufforderung, stehenzubleiben und trotzdem weiterzugehen; die Augen zu öffnen und die unerwarteten Tiefen dessen zu beforschen, was Sprache vermag uns bewusst werden zu lassen.

birthmarks – Precious Chiebonam Nnebedum

 

it is
in the crushing and the breaking,
the uprooting and the shaking,
the pressing and the stressing,
that wine is made.
believe it or not, you are
a vineyard.

es passiert
im zerstampfen und im brechen
im entwurzeln und im schütteln
im drücken und im belasten,
dass wein gemacht wird.
glaube es oder nicht, du bist
ein weingarten.

birthmarks“ – Precious Chiebonam Nnebedum beweist: Sie ist die Kraft, mit der zu rechnen ist.
Wer sind wir, wenn uns die Worte fehlen?
 Wer, wenn wir sie kaum aufhalten können? Wenn wir in verschiedenen Sprachen leben, uns nicht nur aus ihnen bedienen wollen, sondern sie für uns selbst finden. Uns durch Sprache ermächtigen und gleichzeitig durch sie ermächtigt werden. Precious Chiebonam Nnebedums Gedichte sind eindringlich, schimmernd. Sie begibt sich mit ihrer Lyrik auf eine Suche: Nach einer Antwort auf die Frage, was wir uns nehmen dürfen und müssen, was wir für uns fordern.

[ anich.atmosphären.atlas ] – Barbara Hundegger

 

äquator zodiacus circulus horarius primum
mobile: sobald der äußerste himmels-kreis
bewegt wird trägt er alle anderen sanft mit
sich | am horizont das uhrwerk: es führt die
kugel | am nordpol: 8 zahnräder im stundenrund
| innen 3 zeiger: für die verschiedenheit
von zeit | miniatur-gemälde die 76 gestirne:
aus winzigsten punkten ergeben sie ihr bild |
von den sternen: nicht einer der nicht richtig
wär’ | mit der feder gerissen | gestochen auf
6 tafeln | dein werk-stück: tadellos | aus sich
selber zeigt es: welches meister-werk es ist

[ anich. atmosphären. atlas ]“ – Preisgekrönte Dichtkunst: Barbara Hundegger bietet einen einzigartigen Einblick in das Tirol des 18. Jahrhunderts. In ihrem Gedichtband zeichnet sie gleichermaßen poetisch wie gesellschaftspolitisch die inneren Konflikte einer zerrissenen Existenz nach. Sie erschafft einen Gedichte-Atlas über das Aufeinanderprallen verschiedener Welten und Wortlandschaften: eine poetische Topografie von Peter Anichs Leben und Werk.

an den hunden erkennst du die zeiten – Christoph W. Bauer

auf grauer straßen rand
was traten wir doch in die pedale
bloß weg von den kopfnüssen
dreißig jahre ist das her unsere
lehrer alt aber nicht alle von ihnen
nazis auch die linken pfiffen wie
finke uns hunde herbei zogen
uns an den ohren aus den bänken
wir verstanden die warnung
nicht lernten für die schule selbst
die lieder die wir sangen und
trauten auf den droben
an weihnachten waren wir noch
ein wenig andächtiger als sonst
und dankten dem christkind
im voraus für den osterhasen

an den hunden erkennst du die zeiten“ – Der Dichter kommt uns auf die Schliche.
Von Fußstapfen und Hundeleben, Spinnenblut und Frömmigkeit, faulem Zauber und Odysseen, von der Sehnsucht nach und der Furcht vor sprachlosen Momenten: Christoph W. Bauer setzt zu Zeit- und Raumsprüngen an, wittert und nimmt Fährte auf, sucht das Weite und die Zerstreuung. Macht sich ein Bild, liest in den Geschichten, die auf der Straße liegen, und findet mit Sätzen Schlupflöcher aus der Enge. Genussvoll gibt er sich den Widersprüchen hin. Enthüllt das alles mit Worten, trägt es mit Humor und fasst es in widerständige und schelmische Verse.

Am besten lebe ich ausgedacht – Sabine Gruber


Anfang März

Wien

In China sitzen die Schlangenzüchter
Auf ihrer Ware, als seien ihnen die
Diebe ausgegangen. Dantes Höllen
Verdammte können von gebratenem
Schlangenfleisch nur träumen. Die
Hände hat man den Nackten noch
Gelassen, sie kriegen aber nichts zu
Fassen, tragen sie doch Natterfesseln
Und Handschleichen, schreien und
Gellen im offenen Graben. Ich sehe
Den Erben an so viel Recht verderben
Den Erben in der Schlangengrube mit
Fremden Werken werben. Es gehörte
Ihm nichts.

Am besten lebe ich ausgedacht“ – Über Sehnsuchts- und Erinnerungsorte, die von Brüchen und wiedergewonnener Lebensfreude zeugen
In dem ihr eigenen, verblüffend lebensnahen Ton entlockt Sabine Gruber den Augenblicken des Alltags ihre poetische Kraft. In ihrem Gedichtband verknüpft sie Liebessterben und LiebeswerbenGelebtes und ErdachtesHistorisches und Eigenes zu einem faszinierenden poetischen Kalendarium.

„In der Medizin wird von männlichen Körpern ausgegangen” – Mag. Barbara Haid MSc im Interview

Mag. Barbara Haid MSc ist Psychotherapeutin am Landeskrankenhaus Hall, betreibt ihre eigene psychotherapeutische Praxis in Innsbruck und ist Präsidiumsmitglied des ÖBVP (Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie). Wir haben uns mit ihr darüber unterhalten, wieso die Covid-19-Pandemie zu einem erhöhten Bewusstsein für die psychische Gesundheit geführt hat und warum die Frauenquote bei medizinischen Studien steigen muss.

© Ricardo Gstrein

Wie sehen Sie die Entwicklungen in Bezug auf die psychische Gesundheit und deren Stellenwert in der heutigen Gesellschaft? Ist sie immer noch ein Tabuthema?

Psychische Gesundheit hat u.a. durch die Begrifflichkeit „Mental Health“ einen anderen Stellenwert bekommen. Es wird heute viel mehr über das Thema, auch über psychische Erkrankung, gesprochen als noch vor wenigen Jahren.
Viele Initiativen, die in den vergangenen drei Jahren entstanden sind, leisten hier einen wertvollen Beitrag. Als Beispiele seien die multiorganisationale Initiative „Gut, und selbst?“ mit dem „Mental Health Jugendvolksbegehren“, das demnächst im Familienausschuss behandelt wird, oder die Kampagnen „#darüberredenwir“ (PSD Wien*) und „#mehrpsychotherapiejetzt“ (ÖBVP*) erwähnt. Die Vielzahl an Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und über ihre psychischen Erkrankungen sprechen, durchbrechen dieses Tabu ebenso.
Aber von einer gänzlichen Enttabuisierung und vor allem Entstigmatisierung zu sprechen, wäre vermessen. Immer noch werden psychische Erkrankungen als Zeichen von Schwäche gesehen. Sehr eng einher gehen Begrifflichkeiten wie „Schuld“ und „Scham“.
Und leider ist das Thema psychische Gesundheit immer noch ein Randthema – vor allem, wenn es um die Finanzierung der Behandlung von psychischen Erkrankungen geht.

*PSD Wien – Psychosoziale Dienste Wien

*ÖBVP – Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie

Inwiefern hatte die Corona-Pandemie darauf Einfluss?

Die Corona-Pandemie und deren Maßnahmen, die vor allem unser soziales Gefüge massiv beeinflusst und verändert haben, haben sich wie ein Brennglas auf die mentale Verfassung von uns Menschen und die Gesellschaft im Allgemeinen gelegt. Vieles, das bereits vorher vorhanden war, ist dadurch stark in den Vordergrund getreten. Wir waren als Kollektiv davon betroffen. Die Ängste, die Sorgen, die Unsicherheiten – in unserer unsicher gewordenen Welt – betreffen uns alle. Diese allgegenwärtige Verunsicherung hat es aber auch ermöglicht, dass es heute leichter ist, zu sagen „es geht mir nicht gut, ich bin belastet, ich habe Sorgen, Ängste …“. Kurz gesagt: Ja, die Corona-Pandemie hat das Sprechen über das eigene psychische Wohlbefinden leichter gemacht!

Was genau ist der „Gender Health Gap“ und wie entsteht er? Welche Auswirkungen hat er auf die Medizin und daraus resultierend auf den Besuch beim Arzt?  

Unter „Gender Health Gap“ versteht man das Fehlen einer geschlechterspezifischen Medizin bzw. den Unterschied in Bezug auf den Gesundheitszustand bzw. die Gesundheitsversorgung zwischen Männern und Frauen*.
In der Medizin wird nach wie vor von männlichen Körpern ausgegangen. Obwohl Frauen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Fakt ist, dass Frauen und Männer biologisch unterschiedlich sind und dementsprechend auch medizinisch unterschiedlich behandelt werden müssten. Bei Versorgungsstudien, bei der Testung von Medikamenten und bei der Entwicklung von passenden Behandlungs- und Therapieformen wird primär der männliche Körper berücksichtigt.
Da dies bis heute nicht ausreichend geschehen ist, kommt es häufig zu Fehlbehandlungen bei Frauen.

*Wir sind uns bewusst, dass diese Thematik bisher nur auf der binären Geschlechterebene Mann-Frau erforscht wird – betroffen sind aber alle Personen und Lebensrealitäten, die nicht cis männlich sind.

Was sind Beispiele für sogenannte „Frauenkrankheiten“ und wieso werden diese nicht ausreichend ernst genommen? Woher kommt es, dass Frauen Schmerzen abgesprochen werden?

Auf psychischer Ebene kann hier die Depression genannt werden. Depressionen werden oft als Zeichen von Schwäche gesehen. Bei Männern wird häufig von „Burn-out“ gesprochen: das Ausgebranntsein wegen zu viel Arbeit. Hier wird die Arbeit (ein Faktor von außen) dafür verantwortlich gemacht, bei Depressionen ist die Ursache („die Schuld“) im Innen zu sehen. Aber auch psychosomatische und somatoforme Störungen, wie beispielsweise Essstörungen oder verschiedenste Schmerzerkrankungen, werden viel häufiger bei Frauen diagnostiziert.
Die Gründe dafür sind, dass diese Erkrankungen bei Männern ein anderes Gesicht haben. Essstörungen bei Männern werden oft nicht erkannt, da ein bulimisches Verhalten häufig mit extremem Sport (weniger mit Hungern oder Erbrechen) ausgeglichen wird. Sportlich zu sein ist ein „sozial erwünschtes“ Verhalten und wird nicht bzw. oft erst viel zu spät als pathologisches, dysfunktionales Bewältigungsmuster (Symptom) erkannt. Depressionen werden bei Männern oft nicht diagnostiziert, da sich das äußere Erscheinungsbild häufiger in aggressiven Verhaltensmustern, Substanzmittelkonsum usw. zeigt. Unerkannte und daher nicht behandelte Depressionen führen nicht selten zu Suiziden bei Männern.

Wie kann diesem Ungleichgewicht entgegengewirkt werden? Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass sich die Umstände verbessern?

Gesundheitskompetenz ist hier wohl das Mittel der Wahl. Je mehr alle Menschen über psychische Gesundheit und psychische Erkrankung wissen, desto besser kann man auch damit umgehen. Das Wissen über die unterschiedlichen Symptome bei physischen und psychischen Erkrankungen von Männern und Frauen ist dabei zentral.
Das Einrichten von Lehrstühlen an Universitäten und Kliniken zur Gendermedizin ist ein weiterer wichtiger Punkt. Die Gendermedizin beschäftigt sich mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden von Mann und Frau, wobei hier sowohl biologische als auch soziale und soziokulturelle Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
Und schließlich: die Gesundheitsversorgung als Ganzes. Die Gesundheitsversorgung muss so ausgerichtet sein, dass die bio-psycho-soziale Wirklichkeit der Menschen abgebildet wird. Gerade was die psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung der Menschen in Österreich betrifft, haben wir auch hier einen großen Gap. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von kassenfinanzierten Psychotherapieplätzen. Daher müssen sich viele Menschen einen Teil der Kosten selbst finanzieren. Da Frauen nach wie vor massiv weniger verdienen, können sich auch vermehrt Frauen die Psychotherapie nicht ausreichend leisten. Armut ist weiblich und Armut macht krank, vor allem auch psychisch krank!

Gibt es in der Wissenschaft mittlerweile eine Tendenz zu mehr Bewusstsein für den Gender Health Gap? In Großbritannien wurde 2022 eine „Women’s Health Strategy“ vorgestellt, die sich bemüht, die Frauenquote in medizinischen Studien zu heben und einen Schwerpunkt auf die Gesundheit von Frauen zu richten. Gibt es auch in Österreich neue Strategien dahingehend?

Ja, es gibt Tendenzen in diese Richtung. Es gibt den „Aktionsplan Frauengesundheit“. Es gibt den Frauengesundheitsdialog. Es gibt u.a. das Wiener Programm für Frauengesundheit. Es gibt das Fach Gendermedizin an den Medizinischen Universitäten und es gibt vereinzelt Lehrstühle für Gendermedizin. Aber es gibt vor allem noch sehr viel zu tun!

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Leseprobe aus „Wie rote Erde“ von Tara June Winch

Tara June Winch ist eine in Frankreich lebende Wiradjuri-Autorin und Teil einer jungen Generation selbstbewusster, indigener Kulturschaffender aus Australien. ⁠Mit „Wie rote Erde“ („The Yield“) erschien im Oktober 2022 erstmals ein Buch von Tara June Winch in deutscher Übersetzung. Darin setzt sie der Sprache ihrer Vorfahren ein Vermächtnis. 

Eins

Ich wurde geboren auf Ngurambang – hörst du das? – Nguram-bang. Wenn du es richtig aussprichst, schlägt es hinten im Mund an, und du solltest in deinen Worten Blut schmecken. Jeder Mensch in diesen Gegenden sollte das Wort für Land in der alten Sprache, der ersten Sprache, lernen – denn das ist der Weg, der zu allen Zeiten hinführt, zu mythischen Reisen! Ihr könnt euch ganz zum Anfang zurückbegeben.

Mein Daddy war Buddy Gondiwindi, er starb als junger Mann aufgrund einer inzwischen ausgerotteten Krankheit. Meine Mutter war Augustine, und sie starb als alte Frau – nun, auch an einer Krankheit der alten Welt.

Doch tatsächlich stirbt nichts, vielmehr gerät alles unter eure Füße, neben euch, wird Teil von euch selbst. Schaut hin – das Gras am Straßenrand, der Baum, der sich im Wind biegt, die Fische im Fluss, der Fisch auf eurem Teller, Fisch, der euch ernährt. Nichts verschwindet jemals. Wenn ich mich bald verändere, werde ich nicht tot sein. Stets habe ich Johannes 11:26 im Gedächtnis behalten: Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben, doch das Leben ist durch mich hindurch und an mir vorbeigeeilt, wie es jedem Menschen geschieht.

Bevor ich alles geglaubt habe, was man mich lehrte, dachte ich, wenn alle tot sind, dann wären alle nicht mehr da, und so versuchte ich als junger Bursche meinen Platz in diesem kurzen Leben zu finden. Ich war nur darauf aus, selbst zu entscheiden, wie ich leben würde, aber das war viel verlangt in einem Land, das einen Plan für mich bereithielt, der bereits vor der Geburt in meinen Adern angelegt war.

Was ich wenigstens beherrschen zu können glaubte, war mein eigener Verstand. Gut lesen zu lernen schien mir das Sinnvollste, was ich tun konnte. In einem Land, wo zu sein uns eigentlich nicht erlaubt war, beschloss ich also zu sein. Die Sterne vom Himmel zu holen, versteht ihr?

Später lernte ich meine schöne Frau kennen, wenn auch die Schönheit das Geringste an ihr war, weit größer war ihre Stärke und Furchtlosigkeit –, nun, sie brachte mir eine Menge bei. Das Größte, Beste, was sie mir beibrachte, war, die Wörter auch zu schreiben, sie brachte mir bei, dass ich nicht nur ein zweitklassiger Mann war, aufgezogen mit weißem Mehl und Christentum. Es war meine Frau Elsie, die mir das erste Wörterbuch kaufte. Ich glaube, sie wusste, dass sie damit einen Samen pflanzte, der in mir keimte. Was für ein treuer Gefährte das Wörterbuch ist. In diesem Buch stehen Geschichten, die euch glatt umhauen. Bis heute ist es mein wertvollster Besitz, und um nichts in der Welt würde ich es hergeben.

Wegen des Wörterbuchs von Elsie schreibe ich dies nieder – es führte mich an die Idee heran, ein Verzeichnis anzulegen, in schriftlicher Form, so wie der Reverend einst die Geburten und Taufen in der Mission erfasste, wie der Farmvorsteher die Zuteilungen notierte, wie die Dienstherrinnen und -herren unser gutes Benehmen im Jungenwohnheim zu Papier brachten – eine Liste von Wörtern, in der jeder Dummkopf nachschlagen und erfahren kann, was sie bedeuten. Ein Wörterbuch, selbst wenn diese Sprache nicht nur meine ist, selbst wenn wir nur in sie hineinwachsen und, wenn wir genug gelebt haben, uns von ihr entfernen. Ich schreibe, weil die Geister mich mahnen, dass ich mich erinnere, und weil die Stadt wissen muss, dass ich mich erinnere, mehr denn je müssen die Menschen das wissen.

Am Anfang – aber es gibt sehr viele Anfänge für uns Gondiwindi, damit wurden wir durch ein und dieselbe zwielichtige Magie beschenkt wie verflucht – war ein ewiges Es war einmal. Es heißt, die Kirche habe uns die Zeit gebracht, und die Kirche werde sie uns, wenn ihr es geschehen lasst, wieder nehmen. Ich schreibe jedoch über die andere Zeit, die abgrundtiefe Zeit. Dies hier ist eine große, große Geschichte. Die großen Dinge nehmen ihren ewigen Lauf, die Zeit zieht sich hin und windet sich, niemals verläuft sie geradlinig, das ist die wahre Geschichte der Zeit.

Das Problem, dem sich jetzt mein eigenes Es war einmal gegenüber sieht, besteht darin, dass mir Doktor Shah von der Praxis in der High Street ein lausiges Gesundheitszeugnis ausgestellt hat: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Demzufolge bin ich ein hoffnungsloser Fall.

Weil es also heißt, es sei dringend, und weil ich die Kirchenzeit gegen mich habe, greife ich zur Feder, um alles, was jemals jemandem im Gedächtnis war, weiterzugeben.

All die Wörter, die ich im Wind gefunden habe.

Dankesrede von Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis 2022

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow erhielt am 28. November 2022 den Geschwister-Scholl-Preis 2022 für sein „Tagebuch einer Invasion“. Das Buch sei zugleich als „eindringliche Chronik wie auch als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen, so die Jurybegründung. Die Auszeichnung wird jährlich an ein Buch verliehen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern.

Der Preis wird vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München vergeben.

Hier die berührende Dankesrede von Andrej Kurkow im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, den Sophie- und Hans-Scholl-Preis zu erhalten. Ich bin den Mitgliedern der Jury für diese Entscheidung dankbar und nehme diese Auszeichnung an, im Bewusstsein der großen Verantwortung für mein weiteres Handeln.

Wenn Sie heute Abend von oben aus dem Kosmos auf Europa blicken, werden Sie sehen, dass Europa hell erleuchtet ist. Aber es gibt auch einen dunklen, unbeleuchteten Flecken auf seinem Territorium. Das ist die Ukraine. Die Ukraine ist aber kein schwarzes Loch in Europa. Die Ukraine lebt heute wegen der russischen Aggression in Dunkelheit und Kälte. In den meisten ukrainischen Haushalten werden jetzt Kerzen statt Glühbirnen angezündet. Statt fernzusehen oder Radio zu hören, sitzen die Ukrainer jetzt an ihren Küchentischen. Sie trinken Tee und reden über die Zukunft.

Ja, in der Ost- und Südukraine finden schwere Kämpfe statt. Russische Truppen bereiten einen erneuten Versuch vor, Kyjiw von Belarus aus anzugreifen. Das Ende dieses Krieges ist vielleicht noch weit weg, aber viele Ukrainer sind bereits in Gedanken mit Plänen für die Zukunft beschäftigt. Und all diese Pläne beziehen sich auf den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Städte und Dörfer, die Wiederherstellung zerstörter Museen, Universitäten, Schulen und Kirchen.

Übrigens brennen jetzt in vielen ukrainischen Haushalten auch Kirchenkerzen. Aber nicht etwa vor Ikonen wie in Kirchen. Wenn einem Dorfladen die gewöhnlichen Kerzen ausgehen, gehen die Ukrainer nicht nur in die Kirche, um für Siege und für ihre Familien zu beten, sondern auch, um von dort Kerzen nach Hause zu bringen.

Leider wiederholt sich die Geschichte viel zu oft. Im Januar 1918 griff der General der Roten Armee, Michail Murawjow, Kyjiw an, die Hauptstadt der damals schon unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik. Er marschierte 1918 auch von Nordosten auf Kyjiw – so wie Putins Armee am 24. Februar dieses Jahres. Am 10. Oktober dieses Jahres feuerte Russland Raketen auf die Straßen des historischen Zentrums von Kyjiw, einschließlich der Wolodymyrska-Straße. Dieselben Straßen wurden im Januar 1918 vom bolschewistischen General Murawjow mit Kanonen beschossen, bevor er die Stadt stürmte. Nach der Eroberung Kyjiws durch die Bolschewiki gab General Murawjow die Stadt zur Plünderung frei, er erlaubte den Soldaten die Bevölkerung Kyjiws zu töten und auszuplündern [mit der Begründung, es handle sich um ukrainische Nationalisten!]. Die Gewalt von damals kann nur mit der Gewalt verglichen werden, die die Bewohner der Städte Bucha, Irpin, Hostomel und Worzel im Februar/März dieses Jahres ertragen mussten. Es sind diese Vororte in der Nähe von Kyjiw, die zu Symbolen des russischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine geworden sind. Dort werden noch immer Bürger der Ukraine gefunden, die von russischen Soldaten gefoltert und erschossen wurden. Dort, in Bucha, wurde Oleksandr Kisljuk, Professor an der Pädagogischen Universität Drahomanov und Übersetzer aus dem Altgriechischen, vor seinem Haus erschossen. Die Werke von Aristoteles in seiner Übersetzung ins Ukrainische werden immer noch in ukrainischen Buchhandlungen verkauft, zusammen mit Büchern anderer Autoren, die in diesem Krieg getötet wurden, wie Ilya Chernilewskyj, Ewgen Bal, Wolodymyr Wakulenko und drei Dutzend anderer ukrainischer Dichter und Schriftsteller.

Aber trotz der Opfer in diesem Krieg planen die Ukrainer weiterhin die Zukunft ihres Landes. Eines der bereits in Umsetzung befindlichen Projekte ist die Restaurierung des alten Gebäudes der Tschernihiwer Regionalbibliothek für Jugend, das von russischer Artillerie zerstört wurde. Dieses Gebäude überlebte den Krieg von 1918-1921, es überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber nicht die russische Aggression von 2022. Freunde der Bibliothek wollten anfangen, Geld für die Restaurierung der Bibliothek zu sammeln, aber dann entschieden sie, dass es jetzt wichtiger sei, die Armee mit Spenden zu unterstützen. Aber sie begannen, Bücher für die Bibliothek von Tschernihiw zu sammeln, und wenn das Gebäude nach dem Krieg restauriert wird, wird die Bibliothek neue ukrainische Bücher anstelle der verbrannten Bücher bekommen. Das gilt nicht nur für die Bibliothek von Tschernihiw, sondern auch für viele andere von der russischen Armee zerstörte Bibliotheken.

Auf dem Rückzug aus der Region Cherson plünderten russische Truppen und die Besatzungsverwaltung lokale Museen und nahmen mehr als 15.000 Gemälde und andere Artefakte mit. Aus Cherson wurden alle Archive, einschließlich der historischen, gestohlen. Russland will die Geschichte der Ukraine stehlen und zerstören. Aber das wird sie nicht können. Die Geschichte der Ukraine gehört der Ukraine.

Die Ukraine kennt und schätzt ihre Geschichte. Die Ukraine bewahrt ihr historisches Gedächtnis. Und nur eines kann bei den Ukrainern wie bei den Einwohnern jedes anderen demokratischen Landes Bedauern hervorrufen: dass sich die Geschichte wiederholt. Dass Putin glaubt, das Ergebnis des bolschewistischen Generals Murawjow wiederholen und Kyjiw erobern zu können, ist sein persönlicher Irrglaube. Die Tatsache, dass sein Wunsch, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören, von der großen Mehrheit der russischen Bürger unterstützt wird, ist eine russische Entscheidung und russische Verantwortung. Eines Tages werden ihre Kinder und Enkel das verstehen und für ihre Sünden büßen, aber heute stehen die Russen auf der Seite des Bösen, auf der Seite von Gewalt und Aggression.

Aber die Ukrainer sind heute anders als 1918. Die Ukrainer sind heute bereit, die Unabhängigkeit ihres Landes zu verteidigen, und tun dies erfolgreich. Auch während der Okkupation.

Während der gesamten 9 Monate der Besetzung Chersons operierte in der Stadt die patriotische Untergrundorganisation „Gelbes Band“, deren Mitglieder jeden Tag patriotische Flugblätter und Plakate in der Stadt aufhängten. Sie haben unter hohem persönlichem Risiko russische Fahnen abgehängt und ukrainische aufgehängt. Unter den Aktivistinnen dieser Organisation sind viele Frauen. Eine von ihnen, die 50-jährige Swetlana, erzählte nach der Befreiung der Stadt, dass sie das Haus während der Besetzung nie ohne ein gelb-blaues Band in der Tasche oder versteckt in ihrer Kleidung verlassen habe. Während der Besetzung verbrannte das „Gelbe Band“ Auflagen russischer Propagandazeitungen und zerstörte Bestände an SIM-Karten für Mobiltelefone, die aus Russland mitgebracht worden waren. Sie führten sogar illegale Importe von Sprühdosen mit Graffiti-Farbe durch, und nachts bemalten Cherson-Teenager die Wände von Häusern mit der Erinnerung, dass Cherson Teil der Ukraine ist. All dies geschah während der vollständigen Informationsblockade der Stadt, als es nicht möglich war, mit dem freien Territorium der Ukraine zu kommunizieren. Und das zu einem Zeitpunkt als die russischen Invasoren ständig und immerzu wiederholten: „Die Ukraine hat dich vergessen. Russland wird für immer hier sein!“

Am meisten beeindruckten mich die Flugblätter des Gelben Bandes, auf denen ein einzelner Buchstabe „Ї“ abgebildet war, ein Buchstabe, der zum Symbol des Widerstands wurde, ein Buchstabe, der die Besatzer wütend machte, in Rage brachte. Er wurde auf Wände und auf Säulen gemalt. Der Buchstabe „Ji“ ist ebenso zu einem Symbol des Widerstands geworden wie die gelb-blauen Bänder, die die Bewohner Chersons abends heimlich an Äste banden.

Die Verleihung dieses Ehrenpreises hat mich in die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs zurückversetzt. Sophie und Hans Scholl und ihre Mitstreiter liebten ihr Land, liebten Deutschland und wollten das Beste für ihre Heimat. Sie wollten in einem anderen Deutschland leben, ohne Antisemitismus, ohne Nazi-Ideologie. Sie hatten die Wahl zwischen Konformismus und dem Kampf für ein anderes, demokratisches, vor allem freies Deutschland. Sie entschieden sich für den Kampf. Mit friedlichen Mitteln versuchten sie, die deutsche Gesellschaft mit Worten zu erreichen.

„Man darf nicht nur dagegen sein, man muss etwas tun,“ sagte Sophie Scholl.

Die Ukrainer lernen heute zu gewinnen. Sie kennen den Preis, der für die Freiheit und eine glückliche Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu zahlen ist. Sie lernen, dem Bösen und Unrecht zu widerstehen, unter anderem von der Weißen Rose, von Sophie und Hans Scholl und ihren Gleichgesinnten.

„Die Sonne scheint noch,“ sagte Sophie Scholl vor ihrem Tod.

Die Sonne scheint immer noch und wird immer scheinen. Auch im Dunkeln. Sonne der Hoffnung. Die Sonne, die täglich die Dunkelheit besiegt.

Das Engagement und die Aufopferungsbereitschaft von Hans und Sophie Scholl, 80 Jahre nach ihrem Tod, ist ein Beispiel für staatsbürgerliche Verantwortung. Ihr Kampf und ihr Schicksal werden zukünftige Generationen immer inspirieren.

Ja, die Geschichte wiederholt sich. Aber sie wird sich auf beiden Seiten der Front wiederholen. Und wenn eine Seite das alte Böse wiederholt, dann wiederholt sich auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen dieses Böse. Und am Ende besiegt stets das Gute das Böse, so wie die Sonne immer die Dunkelheit besiegt.

 

Herzlichen Glückwunsch, Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis!