„Viel zu lange, viel zu oft waren literarische Frauenfiguren auf wenige Teilaspekte und Klischees reduziert“ – Interview mit Ellen Dunne und Gudrun Lerchbaum

Ellen Dunne und Gudrun Lerchbaum schreiben über gesellschaftliche Missstände, kratzen an Tabus, stellen unangenehme Fragen. Ihre Geschichten zeigen das Leben in seiner Vielschichtigkeit, oft mit einer guten Portion schwarzem Humor. In Ellen Dunnes „Boom Town Blues“ blickt Ermittlerin Patsy Logan in die hässliche Fratze von Ausbeutung und Kapitalismus. Gudrun Lerchbaums „Das giftige Glück“ stellt uns vor die Frage, ob zu einem selbstbestimmten Leben nicht auch ein selbstbestimmtes Sterben gehört. Wir haben mit den beiden Autorinnen über das Schreiben und ihre Sicht auf die (Krimi-)Literaturwelt gesprochen.

Ellen Dunne, Foto: © Orla Conolly

Ihr seid beide Schriftstellerinnen – und miteinander befreundet. Unterhaltet ihr euch übers Schreiben, fragt ihr die andere um Rat während des Schreibens bzw. gebt ihr euch Tipps?

Ellen Dunne: Übers Schreiben allgemein unterhalten wir uns immer wieder. Meine Manuskripte teile ich aber selten, bevor ich fertig bin, auch nicht mit befreundeten Kolleg*innen. Bin da etwas eigenbrötlerisch veranlagt, aber meist auch spät dran in meinem Zeitplan und habe deshalb nur noch wenig Zeit für Feedback-Schleifen. Schade eigentlich, weil ich empfinde den Austausch gerade mit Gudrun sehr positiv. Sie hat „Boom Town Blues“ erst als fertiges Manuskript gelesen, aber das Exposé des Nachfolgers, den ich derzeit in Arbeit habe, hat sie ebenfalls schon gesehen. Und bei einer Kurzgeschichte, die sie ebenfalls vorab von mir zu lesen bekam, verdanke ich ihrer Anregung einen viel besseren Titel. Ich lerne also langsam dazu, haha.

Gudrun Lerchbaum: Wir reden schon auch übers Schreiben, aber vor allem immer wieder über die Eigenheiten des Literaturbetriebs. Den auch nur ansatzweise zu durchschauen, wäre wohl eine Lebensaufgabe, der wir uns mit aller gebotenen Unernsthaftigkeit widmen.

Wir haben beide schon Texte der anderen vor der Veröffentlichung gelesen. Dabei geht es aber in meinen Augen weniger um ein Kolleginnenlektorat oder gute Tipps im Prozess als um den Blick, ob am Ende alles da ist, was die Geschichte braucht. Es bestehen, denke ich, einige Ähnlichkeiten in unserem Schreiben, die mir das Vertrauen geben, dass wir sehen, worauf es der anderen ankommt.

In euren Büchern spielen starke Frauenfiguren eine sehr wichtige Rolle. Findet ihr, dass es genug solcher Charaktere in der (Krimi-)Literatur gibt?

Ellen Dunne: Ich finde es schön und vor allem wichtig, dass es (endlich) immer mehr spannende und facettenreiche Frauenfiguren gibt bzw. der Boden dafür dank toller Kolleginnen bereitet wurde. Und es gibt noch ausreichend Platz für viele, viele mehr von ihnen.

Gudrun Lerchbaum, Foto: © Martin Jordan

Gudrun Lerchbaum: „Stark“ würde ich hier nur im Sinn von „vielschichtig“ gelten lassen. Vielschichtig kann eine Figur nur sein, wenn sie sowohl Stärken als auch Schwächen hat. Da facettenreiche Charaktere, gleich welchen Geschlechts, unerlässlich für gute Literatur sind, kann es nie genug von ihnen geben.

Ja, viel zu lange, viel zu oft waren literarische Frauenfiguren auf wenige Teilaspekte und Klischees reduziert. Doch das liegt nicht daran, dass keine besseren und realistischeren Charaktere erdacht wurden, sondern daran, dass zu wenige der patriarchal gestimmten Verlage deren Geschichten veröffentlichen und zu wenige Kritiker sie wahrnehmen wollten, da sie dem „männlichen Blick“ nicht relevant erschienen. Schön, dass sich das langsam ändert!

Was würdet ihr euch von der Krimiszene in Zukunft wünschen?

Ellen Dunne: Dass endlich diese Unterscheidungen von E und U fallen, allgemein in der Literatur, als auch im Bereich Krimi. Dieses Kategoriendenken in „wertvoll“ versus „nur Unterhaltung“ engt unnötig ein und findet sich beispielsweise im englischen Raum nicht. Da sind die Grenzen zwischen Krimi und Literatur fließend, und beide werden ernst genommen. Gerade dadurch sind diese Bücher oft so spannend und wirken weniger schablonenhaft. Da fehlt vielen deutschen Verlagen (oder auch dem Buchhandel?) zu oft der Mut und das Zutrauen in die Leserschaft. Stattdessen kaufen sie dann die Übersetzungen von englischsprachigen Autor*innen. Das finde ich schade.

Gudrun Lerchbaum: Was Ellen sagt! Außerdem müssen die – meinetwegen unbewussten – patriarchalen Denkmuster noch weiter aufgebrochen werden. Es kann doch nicht sein, dass bei großen Krimipreisen wie dem GLAUSER in den letzten zehn Jahren lediglich zweimal eine Autorin in der Hauptkategorie ausgezeichnet wurde. Stilbildende Kolleginnen wie Simone Buchholz gehen hier regelmäßig leer aus – und nein, es liegt nicht an der Qualität! Wer schon einmal in einer Jury mitgewirkt hat, weiß, dass auf einer Shortlist wohl seltenst tatsächliche Niveauunterschiede bestehen. Es geht letztlich meist um unterschiedliche Vorlieben und den Kompromiss darüber. Und wenn ich, wie schon geschehen, von einem weiblichen Jurymitglied einer wichtigen Auszeichnung schon vorab höre, dass die Autorin ihrer Wahl leider nicht durchsetzbar sein wird, weil da halt auch „richtige Männer“ im Gremium säßen, dann laufe ich heiß.

Habt ihr ein Vorbild, was das Schreiben betrifft?

Ellen Dunne: Beim Schreiben bin ich inzwischen sehr stark von meiner irischen Wahlheimat beeinflusst. Ich lebe seit 18 Jahren nicht mehr im deutschsprachigen Umfeld, lese viel und unterhalte mich auf Englisch, schaue Serien, habe den eigenen Humor und das Lebensgefühl von Irland und seinen kulturellen angelsächsischen Einflüssen in mir aufgenommen. Das prägt ganz sicher meine Stories und die Art, sie zu schreiben, auch wenn mir das oft erst bewusst wird, wenn es Leser*innen erwähnen.

Gudrun Lerchbaum: Ein Vorbild in Bezug auf meinen Schreibstil oder die Themen habe ich nicht. Was aber den Mut angeht, meine Geschichten unabhängig von Genregrenzen oder anderen Schubladen zu denken, bin ich sicher geprägt durch Autor*innen wie Margaret Atwood, Ian McEwan, Jennifer Egan oder Kazuo Ishiguro, ohne mich mit ihnen vergleichen zu wollen. Warum mir auf Anhieb nur Englischsprachige einfallen? S.o. bei Ellens Antwort.

Was gefällt euch am neuesten Buch der jeweils anderen am besten, an „Boom Town Blues“ bzw. „Das giftige Glück“?

Ellen Dunne: Allein die Idee von „Das giftige Glück“ fand ich sofort spannend, als mir Gudrun vor zirka zwei Jahren bei einem Treffen in Wien davon erzählt hat. Sich mit einem gesellschaftlich relevanten Thema wie z.B. dem selbstbestimmten Sterben auseinanderzusetzen, macht mich einfach noch neugieriger auf Romane. Gudruns Schreibstil spricht mich allgemein sehr an, und ich finde, er gewinnt mit jedem Buch dazu. Und ja, ich geb’s zu – den Myko von der Sporenwelt finde ich nerdig genial. Okay, das waren jetzt gleich drei beste Dinge, aber ich bin eben Fan!

Gudrun Lerchbaum: Da mag ich jetzt gar kein Ranking erstellen. „Boom Town Blues“ hat einfach alles, was ein richtig guter Krimi braucht: vielschichtige Figuren, eine spannende Geschichte, die den Blick auf gesellschaftliche Missstände richtet, und originelle Sprache. Und mit Patsy Logan ginge ich jederzeit auf einen Drink.

In memoriam Joseph Zoderer (1935–2022)

Joachim Leitner sprach in seiner Gedenkrede bei der Verabschiedung von Joseph Zoderer am 11. Juni 2022 in Terenten/Südtirol über Komplizen, Kopfheimaten, Auswege und Irrwege.

Joseph Zoderer

Der Schriftsteller Joseph Zoderer;
© Tito Bertoni, 2019

Vor einer Woche überfiel mich Norbert Gstrein mit der Frage, ob ich heute etwas über Joseph sagen könnte. Aus dem Bauch heraus habe ich zugesagt.

Seither zweifle ich.

Ganz ohne Zweifel gibt es Berufenere, um von Joseph zu erzählen. Ganz ohne Zweifel gibt es Geübtere um „den Zoderer“ zu erzählen:

Forschende, die sich in die Wirklichkeiten seines Werkes eingearbeitet haben;

Fraglos auch solche, die sich daran, an Werk und Wirklichkeiten, an den Werkwirklichkeiten und den Welten dahinter, abgearbeitet haben.

Weggefährten. Joseph würde – vielleicht – von Komplizen sprechen.

Von Komplizen, die Etappen seines Weges mitgegangen sind – und die Zeugnis davon ablegen könnten, was war, was einmal wahr war, was wahrscheinlich ist und was höchstwahrscheinlich erfunden ist.

Diese Komplizen könnten vielleicht vom Bock erzählen, den Josephs Vater einst schoss, oder vom „Haus der Regeln“, oder wie man in 30 Tagen maturataugliches Italienisch lernt.

Den politischen Zoderer könnten sie erzählen.

Vom „Roten Peppin“ reden, von RAI und „Roter Zeitung“, von den Wiener Jahren, von den Auf- und Ausbruchsversuchen, von den Ausbrüchen. Davon, wie eng es hier und anderswo sein kann – und davon wie beklemmend es ist, wenn das Lob plötzlich von der vermeintlich falschen Seite kommt.

Sie könnten erzählen, wie man sich an den Rand des Schweigens schreibt;

Und vom Trotzdem-Weiterschreiben, vom trotzigen Weiterschreiben, vom Weiterschreiben aus Trotz, von Zorn und Zauberei, von Sprachartistik, von der Frage „Wozu schreiben“ und davon, dass es auch und gerade in Südtirol, Themen und Zustände gab und gibt, die Literatur werden wollen.

Nicht weil Literatur Probleme lösen könnte, nicht weil sie Antworten anbieten könnte. Angebote kann sie machen; Möglichkeitsräume auftun – „Kopfheimaten“, hätte Joseph hier wohl eingeworfen;

Und wahrscheinlich hätte Joseph sowieso schon viel früher protestiert. Weil ich hier nicht von mir reden soll. Und weil ich davor so leichtfertig von Erfindung geredet habe.

Auch im Erfundenen steckt Wahrheit. Auch Erfundenes lässt sich in eine Wahrhaftigkeit hinein verdichten. Auch Wahrhaftigkeit ist, nicht nur wenn von Literatur die Rede ist, Konstruktion und Komposition.

 

„Der, der hier so herzlich und feierlich gelobt wird, bin gar nicht ich. Dieses ‚Ich‘ ist eine Erfindung“. Das hat Joseph 2010 gesagt, als sein 75. Geburtstag groß gefeiert wurde.

Kurz davor habe ich Joseph kennengelernt.

Ich habe diese Sätze so beiläufig notiert, wie Joseph sie damals – nach einer für beinahe alle Anwesenden viel zu kurzen Nacht – gesagt hat.

„Dieses ‚Ich‘ ist eine Erfindung.“

 

Inzwischen scheint mir dieser Satz ein möglicher Schlüssel zu Josephs Literatur zu sein.

Kein ganz legitimer Schlüssel.

Ein Dietrich vielleicht. Oder eher ein Stemmeisen, das etwas aufmachen könnte.

Und vielleicht erlaubt dieses „Etwas“, das von mir behauptete Projekt einer „Ich-Erfindung“, tatsächlich auch Rückschlüsse auf den Autor hinter dem Werk, der sich irgendwann aus der „falsch verstandenen Fiktionalitäts-Zwangsjacke“ befreite.

„Man kann es sich auch einfach machen, indem man die Dinge verkompliziert“, würde Joseph spätestens jetzt sagen. Er würde vielleicht sogar laut werden. Und er hätte natürlich recht.

Eine unausgegorene Theorie ist weder Schlüssel noch Stemmeisen. Eintritt verschafft man sich damit nicht.

Aber vielleicht lässt sich damit ein Ausweg öffnen.

Wenn ich aus der Lektüre von Joseph Zoderers Büchern etwas ganz sicher gelernt habe, dann, dass jeder Ausweg auch zum Irrweg werden kann.

In „Lontano“ (1984) zum Beispiel, dem Buch nach dem Erfolg der „Walschen“, sucht einer in Amerika nicht nur die Ferne, sondern das Weite.

„Hinter mir ist Ferne und vor mir ist Ferne, ich freue mich, weil ich mich freuen muss“, sagt er sich.

Und er irrt: Ferne mag Freiheit versprechen, aber „Lontano“ ist eine Fluchtgeschichte. Sie erzählt von der Flucht, vor dem was war, vor dem was droht, vor sich selbst.

Da stiehlt sich einer davon – und wird sich doch nicht los.

Er wähnt sich „mitten in der Welt“ – und kriegt von dieser Welt wenig mit.

„Ich könnte, sagt er, genausogut tagelang, nächtelang von Island nach Sizilien fahren. In Wirklichkeit war für ihn nur das Fahren wichtig, fahrend wurde ihm bewusst, dass er diese Fahrt, die möglichst lange dauern und weit weg von zu Hause ablaufen musste, hinter sich zu bringen hatte, er wünschte nichts so sehr wie das Ende dieser Fahrt.“

Dass Literatur nicht antwortet, sondern Gewissheiten in Frage stellt, ist eine Binsenweisheit.

Wie alle Binsen ist sie vielleicht wichtig, aber nie ganz richtig: Literatur sucht eine Form. Sie formt das Ungewisse. Sie deutet das Uneindeutige aus.

Sie macht die, die sich ihr aussetzen, die, die sich zu ihr ins Verhältnis setzen nicht wirklich klüger, aber im besten Fall ein bisschen aufmerksamer und vielleicht auch ein bisschen vorsichtiger.

Josephs Texte verlangen nach genauer Lektüre. Wenn man nur der Handlung folgt – nur das, was erzählt wird, verfolgt, bleibt ihr Geheimnis Geheimnis. Auch dafür ist „Lontano“ ein gutes Beispiel: Die Komposition, der Perspektivwechsel in einem Satz; die indirekte Rede; Erzählung, Schilderung, Reflexion. Nur durch einen Beistrich getrennt.

Aber auch davon müssten Josephs Komplizen erzählen.

 

„Das nützlichste Unnütze, das ist Literatur“, hat Joseph in einem Gespräch mit Sigurd Paul Scheichl einmal gesagt – und „was die Menschheit rettet, ist letzten Endes das wichtige Unnützliche“.

Das war um 2010.

Gut 40 Jahre davor tönte das nützlich Unnütze noch in dialektaler Wucht:

„Uamol tat i gern inibelfern
Nit long Kopf n
Schnölln losen
A wenn mir di mufln geht
Uamol tat i gern in ganzn pichel
Aulupfn“

 

„Inigebelfert“ hat Joseph nicht nur einmal. Manchmal weil er musste. Manchmal weil er nicht anders konnte. Manchmal weil und manchmal, obwohl er es besser wusste. Manchmal lupfte er den ganzn Pichl. Mitunter hat er sich überlupft. Nicht immer war es leicht mit ihm. Auch für solche Geschichten gibt es Berufenere.

Langweilig war es nie.

 

Zum ersten Mal gesehen habe ich „den Zoderer“ an einem furchtbar heißen Sommertag am Bahnhof von Bozen. Da hatte ich noch keine Zeile Zoderer gelesen, weil – so hielt ich es damals –, wenn man schon Südtiroler ist, muss man nicht auch noch das lesen, was als „Südtiroler Literatur“ wegestempelt wurde.

Erkannt habe ich ihn natürlich trotzdem. So wie man einen Landeshauptmann erkennt oder den Bischof.

Jahre später, man hatte mich nach einer gemeinsamen Veranstaltung in der Tessmann-Bibliothek in Bahnhofsnähe einquartiert, habe ich Joseph davon erzählt – und versucht mich etwas ungelenk für was auch immer zu entschuldigen.

„Warum sollte es dir anders gehen“, hat er gesagt.

Präsentiert haben wir damals in Bozen, am 17. August 2012 – in der Erinnerung ist es wieder furchtbar heiß – Josephs Erzählungen „Konrad“ und „Mein Bruder schiebt sein Ende auf“.

Zwei Texte, die für mich zum Besten zählen, das Joseph geschrieben hat. Zwei zarte Texte. Makellos. Kein Wort zu viel. Alles da. Nichts darf eins zu eins genommen werden. Gerade deshalb sind sie so wahrhaftig, vielleicht sogar wahr.

Zwei Texte, die auf den, der darin „Ich“ sagt, aber eben nicht der Protagonist und schon gar kein Held ist, keine Rücksicht nehmen. „Rückschau ohne Rücksicht“, sagt der Überschriftenschreiber in mir.

Bei einem unserer letzten Telefonate, haben wir lose vereinbart, möglichst bald ein paar Schritte miteinander zu gehen.

„Vielleicht ist Ankommen
Auch Abschied“

 

Das schreibst Du in Deinem erst vor kurzem erschienen Gedichtband „Bäume im Zimmer“.

Vielleicht.

 

Joachim Leitner
– Terenten, 11. Juni 2022

„Für uns ist die Endlichkeit einfach ganz normal und gehört zum Leben dazu.“ Interview mit Barbara und Alexandra von The Funeralists

Eines ist klar: In Krimis geht es ganz schön viel ums Sterben. In unserem Alltag hingegen scheint das Thema Tod oft ein Tabu zu sein – dabei betrifft es uns natürlich alle. Wir haben uns mit Barbara und Alexandra von The Funeralists unterhalten: Die beiden organisieren Bestattungen, persönliche Abschiede und Feiern jeder Art und stehen Menschen auch nach der Beisetzung mit Trauercoaching, Einzelbegleitungen, Workshops und Events bei. Im Interview erzählen sie, wie es zu ihrer Berufswahl kam und wie es ihnen mit der tagtäglichen Beschäftigung mit dem Thema Tod geht.

Die Frage wird euch vermutlich ständig gestellt – aber wie kommt man darauf, Bestatterin werden zu wollen?

Barbara (Bestatterin): Ursprünglich wollte ich Gastwirtin sein und mich um das seelische und leibliche Wohl meiner Gäste kümmern. Heute bin ich Bestatterin und mache quasi genau das, nur auf einer anderen Ebene. Die Entscheidung für den Beruf habe ich vor einigen Jahren getroffen, als ich einen Bestatter in sein Bestattungsinstitut gehen sah. Da hat es mich regelrecht überkommen, dass das genau mein Beruf ist. Darüber war ich selbst überrascht. Dann habe ich viel Zeit damit verbracht, alles über diesen Beruf zu lernen, und mich um eine Praktikumsstelle beworben. Als das geklappt hat und ich meine ersten Schritte als Bestatterin machen durfte, hat es sich für mich bestätigt: Das ist meine Berufung. Heute bin ich dankbar, mit meiner Arbeit Menschen in einer sehr sensiblen, intensiven Zeit begleiten zu dürfen und sie dabei zu unterstützen, ganz persönliche Wege des Abschieds zu gestalten, selbstbestimmt und individuell. Das schenkt bei all der Trauer doch sehr viel Trost und Wärme.

Alexandra (Trauerbegleiterin): Ich habe damals von einer Freundin erfahren, dass sie ehrenamtlich im Hospiz arbeiten wird und wusste erst gar nicht, was das ist, fand es dann aber total spannend. Schon als Jugendliche interessierte ich mich für Spiritualität, Tabuthemen und hätte am liebsten ein Schülerpraktikum in der Pathologie gemacht. Für mich ist es eher die psychologische Seite, die mich fasziniert: Wie gehe ich mit dem Tod um und der Endlichkeit, etwas, dass sich Trauernde ja immer fragen müssen. Ich arbeitete dann auch ehrenamtlich im Hospiz und wusste einfach, das ist die sinnvolle Aufgabe, die ich immer gesucht hatte: mit Trauernden zu arbeiten als Trauerbegleiterin.

Ihr habt jeden Tag mit dem Tod zu tun – ist er für euch ein ganz normaler Bestandteil des Lebens?

Barbara & Alexandra: Ja, total. Für uns ist die Endlichkeit einfach ganz normal und gehört zum Leben dazu. Wir kommen alle nicht drum herum: als Trauernde, wenn andere Menschen sterben und letztendlich selbst, wenn wir sterben werden. Der Tod hat für uns aber auch schöne, warme, spannende, lustige Seiten. Das heißt nicht, dass wir nicht traurig sind oder uns der Verlust unserer lieben Menschen nicht schmerzt. Im Gegenteil, wir fühlen sehr viel mit. Aber wir finden, dass es uns eher bereichert als mitnimmt. Durch die Gegenwart des Todes bekommt das Leben an sich nochmal eine besondere Tiefe.

Bekommt ihr manchmal auch sehr außergewöhnliche Wünsche für eine Bestattung?

Barbara: Kommt darauf an, wie man „außergewöhnlich“ definiert. Generell ermutigen wir alle, individuelle Wünsche zu äußern oder auch selbst umzusetzen. Durch die nahe und zugewandte Begleitung in der Zeit der Bestattung lernen wir die Menschen sehr gut kennen und da machen wir uns auch viele Gedanken, was zu ihnen passen könnte. Gemeinsam findet man dann den Abschied, der sich nach „genau so“ anfühlt. Ich habe z. B. mal ein Lastenfahrrad gemietet, um einen begeisterten Fahrradfan, der verstorben war, im Sarg von der Friedhofskapelle zum Grab zu fahren. Das Fahrrad hatten wir mit Blumen geschmückt. Hauptsache, es passt zum*r Verstorbenen und zu den Zugehörigen.

Wie würdet ihr unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod beschreiben? Ist das Sterben ein Tabuthema, das mehr Raum bekommen sollte?

Alexandra: Definitiv. Sicherlich es ist unangenehm, sich mit dem eigenen Ende zu beschäftigen, aber die meisten Menschen möchten z. B. zuhause sterben. Tatsächlich sterben aber die meisten in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Manchmal ist das nicht unumgänglich, aber wir haben einerseits verlernt, dem Sterben seinen natürlichen Lauf zu lassen, und andererseits drücken wir unsere Wünsche nicht klar genug aus bzw. legen sie nicht richtig fest, z. B. indem wir Vollmachten erteilen oder Patientenverfügungen erstellen. Es wandelt sich aber langsam und alleine in den letzten Jahren – auch durch Corona – ist das Thema ein wenig mehr in den Mainstream gerückt. Es gibt nun z. B. immer am 8. August den „Memento Tag“, einen nationalen Aktionstag, der sich mit Endlichkeit, Tod und Sterben beschäftigt, und bei dem jede*r mitmachen kann.

Eure Meinung zum Thema Tod und Humor: Hilft Humor bei der Trauer? Ist er fehl am Platz?

Barbara: Auch in der Trauer und in der Bestattung wird oft gemeinsam gelacht, nie respektlos natürlich, aber Freude oder lustige Erinnerungen sind ein ganz natürlicher Bestandteil des Abschieds. Es ist wichtig zu spüren, wann es passt und wann nicht. Aber bisher haben wir mit jeder Familie, die wir begleitet haben, auch viele humorvolle Momente erlebt. Das hilft in all der Schwere und schafft Verbindung zu dem verstorbenen Menschen, aber auch zu den Lebenden. Letztendlich zeichnet der Tod, wie auch das Leben, ein Mosaik aller Emotionen, da ist Humor auch ein wichtiger Teil.

Alexandra: Ich sehe das genauso. Ich habe einen sehr schwarzen Humor, da muss man vielleicht mal aufpassen, dass nichts falsch verstanden wird. Aber wir entwickeln schnell ein Gefühl dafür, wie weit wir denselben Humor mit Trauernden teilen. Wir lachen doch im Leben auch gerne, warum nicht am Lebensende? In meiner Geburtsstadt heißt es immer „Ein Leichenschmaus, der nicht lustig war, war kein guter …“

Lest oder schaut ihr euch in eurer Freizeit gern Krimis an – oder braucht ihr da eine Pause vom Thema Tod?

Barbara & Alexandra: Wir persönlich lesen eigentlich nur Sachbücher rund um die Themen Tod, Trauer und Sterben. Das Leben ist uns manchmal Krimi genug. 🙂 Den Hype um diese ganzen Mordserien können wir teilweise nachvollziehen, teilweise nicht. Wahrscheinlich ist es genau deshalb so spannend für viele, da der Tod im Alltag doch noch in Teilen ein Tabu ist. Da hilft die Fiktion, mal auf sicherer Distanz in diese Richtung zu schauen, ohne selbst betroffen zu sein. Spannend ist das natürlich …

„Mir geht es darum, die Zukunft offener, bunter und vielleicht sogar mit mehr Liebe zu gestalten.“ – Jacky-Oh Weinhaus im Interview

Jacky-Oh Weinhaus ist Teilzeit-Mädchen, Vorsitzende von TfD – Travestie für Deutschland, Podcasterin, Veranstalterin im Berliner SchwuZ und Showgirl im BKA Theater, der Berliner Kabarett Anstalt. Bei der Late-Night-Show „Süß und deftig“ kann man Jurassica Parka und ihr an den Lippen hängen. Jacky-Oh Weinhaus hat Nina Gruber von sich und ihrem Engagement erzählt. Die beiden haben sich über queere Safe Spaces, über Blasen und Provinz, über Jackys politischen Erweckungsmoment und ihren Appell an die Eltern queerer Kinder unterhalten.

Erzähl doch mal unseren Leser*innen etwas über dich, wer bist du?

Multi-Künstlerin Jacky-Oh Weinhaus. Eine volle Dosis Jacky gibt’s auf ihrem YouTube-Kanal. Besonders reinschauenswert: ihr Besuch bei „Chez Krömer“! – Foto © Dror Pinto

Wer bin ich? Oh, ich hoffe, ihr habt Zeit mitgebracht. Mein Name ist Jacky-Oh Weinhaus. Landesüblich würde man mich, glaube ich, als Dragqueen bezeichnen, ich sag aber immer lieber zu mir: Ich bin Teilzeit-Mädchen. Was ich auch ganz süß finde ist „Pimmelpuppe“. Optisch werde ich als Mann gelesen. Ich bin mit einem Penis auf die Welt gekommen, wurde auch immer als Junge wahrgenommen, aber tief in mir drin, war ich schon immer ein Mädchen, eine Frau.
Über die Jahre der Entwicklung hinweg habe ich mich dazu durchgerungen, das anzunehmen. Ich sehe halt aus wie ein Junge, bin aber innen drin ein Mädchen. Die Wandlung, die ich durchgemacht habe, war so: Zuerst redete ich mir selbst ein, ich sei hetero; dann habe ich mir eingeredet, ich sei bisexuell. Irgendwann habe ich das Outing durchlebt und rausgefunden: Ich bin wirklich schwul. Damals kannte ich noch nicht mehr als schwul, lesbisch und bisexuell. Durch meine eigene Bildung und durch die Entwicklung der Gesellschaft hat sich so viel mehr für mich eröffnet, was Geschlechtsidentitäten und Sexualitäten angeht. Nun bin ich wieder zurück zu meinen Wurzeln gekommen und fühle mich tatsächlich weiblich.
Schon als Kind habe ich mich als Mädchen gesehen – da bin ich jetzt wieder. Und ich sage das mit Stolz, ohne mich verstecken zu müssen, denn der Weg dahin war lang und schwer, aber ich habe ihn gemeistert. Und ich glaube, es war die beste Entscheidung, das so durchzuexerzieren, auch wenn es nicht immer einfach war.
Abgesehen davon, dass ich nicht dem heteronormativen Mainstream folge, bin ich von Berufswegen her Künstlerin. Ich habe einen sehr populären Podcast bei Audible – Queer einsteigen. Ich bin auch Veranstalterin im besten Schwulenclub Berlins, dem SchwuZ. Ich mache ein Kunstprojekt gegen Nazis. Ich bin Moderatorin auf verschiedenen Demonstrationen. Man könnte meinen, ich bin Multi-Künstlerin, weil ich meine Hände in vielen unterschiedlichen Torten habe. Ich bin praktisch Jacky-Oh Tortenhaus. I have my hands in many different pies.

Du bist offenbar eine sehr engagierte Person. In welcher Form und wofür engagierst du dich konkret politisch und gesellschaftlich? Was sind deine großen Themen?

Politisch betrachtet bzw. was das politische Engagement oder das Engagement für die Gesellschaft und für dieses Erden-Uns betrifft, geht es mir darum, die Zukunft offener, bunter und vielleicht sogar mit mehr Liebe zu gestalten. Das heißt, Leuten die Scheuklappen tragen, diese etwas aufzuklappen oder vielleicht sogar erstmal ganz abzunehmen, um denen zu zeigen, dass es neben Frau und Mann und heteronormativen Familien mit zwei Kindern und Hund und Volvo noch so viel mehr gibt, was uns die letzten Jahrhunderte von der Gesellschaft versagt wurde bzw. abtrainiert wurde, aber davor bereits seit Jahrtausenden existiert hat.
Wenn man so möchte, gehe ich auch in diesem Bereich wieder back to the roots und versuche, der Welt zu zeigen, dass es, wie gesagt, mehr als nur Männlein und Weiblein und heterosexuelle Liebe gibt. Weil das, was von vielen Leuten immer als Problem gelesen wird, nämlich lesbische Frauen, transidente Menschen, schwule Männer, pansexuelle Menschen – das ist etwas von der Natur Vorgegebenes. Wir Menschen sind auch nicht die Einzigen, bei denen es queeres Leben gibt. Das gibt es bei allen Tierarten, und bei den Tieren ist es sogar noch ein bisschen schöner ausgeprägt. Denken wir zum Beispiel an Seepferdchen, da trägt der Mann die Babys im Bauch herum. Weinbergschnecken sind Zwitterwesen, sie können zwischen den Geschlechtern wechseln, genauso wie der allseits bekannte und beliebte Clownfisch. Also Findet Nemo könnte genauso in 5 Jahren Findet Barbara heißen, weil der Clownfisch das Geschlecht auch wechseln kann. Und deswegen finde ich Aussagen wie, schwule Männer wären so widernatürlich, tatsächlich einfach Quatsch. Genau das möchte ich der Welt zeigen: Dass das ganz oft Quatsch ist, was erzählt wird.

Du bist Teil und Gründerin von TfD – Travestie für Deutschland. Bitte erzähl uns von der Geschichte, die hinter Travestie für Deutschland steht, und welche Anliegen ihr habt.

Jacky-Oh Weinhaus auf einem der Plakate der Kampagne anlässlich der Bundestagswahl in Deutschland 2017 – Plakat © Travestie für Deutschland – Foto © Steven P. Carnarius

Wer die Gehirnzellen etwas anstrengt, erkennt bei TfD – Travestie für Deutschland – vom Namen her schon Parallelen zu einer gewissen, mit rassistischen Tendenzen versehenen, deutschen Partei. Und genau daher rührt der Name auch.
Als vor einigen Jahren die AfD so populär wurde, dachte ich mir, das kann so nicht sein, da muss ich etwas dagegen machen. Kurz darauf habe ich in einem Interview mit Nora Tschirner gelesen – ich hoffe, ich zitiere sie jetzt richtig: „Was sage ich eigentlich meinen Kindern, wenn die mich irgendwann fragen, was hast du eigentlich damals gemacht, als die braune Scheiße wieder hochkam?“ – Das ist die perfekte Frage, dachte ich mir. Das Einzige, was ich bisher gemacht habe, war, beim Wählen etwas anderes anzukreuzen. Das war’s aber auch. Aber das war mir nicht mehr genug und ich habe versucht, mit meiner Popularität und meiner großen Schnauze, etwas dagegen zu machen.
Zwei gute Freunde von mir und ich begannen erstmal mit einer Plakataktion, die Wahlplakate der AfD aufs Korn zu nehmen. Auf den Plakaten war ich mit fetzigen Sprüchen abgebildet. Diese Plakate wurden online als Druckversionen verteilt. Das kam so dermaßen gut an, wir mussten einen Nerv getroffen haben. Das war für uns der Ansporn weiterzumachen. Wir haben anschließend viele weitere unterschiedliche Plakatkampagnen gemacht, nicht nur mit Einzelaufnahmen, sondern auch mit Gruppenbildern. Wir haben bekannte Gemälde wie „Die Freiheit führt das Volk“ von Delacroix nachgestellt oder „Das letzte Abendmahl“ von da Vinci, um damit bei Leuten Aufmerksamkeit zu erregen, die mit Politik oder Travestie an sich wenig zu tun haben, aber die Bildsprache verstehen.

 

Wie ging es dann weiter mit TfD?

Aus reinen Foto- oder Plakataktionen wurden irgendwann auch Videoaktionen. Wir haben begonnen, Veranstaltungen zu machen, haben Geld gesammelt für ein lesbisches Wohnprojekt in Berlin, für queere Geflüchtete und so weiter und so fort. Und darin liegt auch unser Augenmerk, der viel mit meinem eigenen zu tun hat: mehr für die Gesellschaft machen, die Gesellschaft öffnen und queeres Leben aus dieser schmuddeligen, dunklen Igitt-Schublade holen. Wir wollen zeigen, dass queere Menschen genauso ein Herz haben und eine Seele. Wir gehen genauso Essen und aufs Klo wie nicht-queere Menschen auch.
Natürlich bin ich bei dem Ganzen nicht allein, wir sind ein wundervolles, ziemlich irres Team. Ich bin die Vorsitzende, aber wir arbeiten alle gleichwertig zusammen. Ohne mein Team hätte ich das nie geschafft, und deswegen möchte ich ein ganz großes Danke und auch ein Lob an meine wundervolle Travestie für Deutschland in die Welt hinausgrölen. Danke, ihr Hasen!

Eingangs hast du das SchwuZ erwähnt. Kannst du unseren Leser*innen davon erzählen, welche Bedeutung Örtlichkeiten wie das SchwuZ für die queere Community aus deiner Perspektive haben?

Aus meiner Perspektive muss ich sagen: Ohne das SchwuZ wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Ich habe dort vor 15 Jahren als Flyer-Boy begonnen. Das heißt, ich war nachts in anderen Homo-Clubs, um Flyer für das SchwuZ zu verteilen. Danach begann ich, als Dekorateurin im SchwuZ zu arbeiten, habe Veranstaltungen aufgebaut und gestaltet. Dadurch hatte ich schon sehr früh einen intensiven Zugang zu Szenegrößen wie Biggy van Blond, Ades Zabel, Gloria Viagra, Peaches, Sherry Vine aus New York. Die sind halt da tagein, tagaus durchs Backstage gelatscht, dadurch konnte ich das Nachtleben viel einfacher und problemloser kennenlernen als andere Leute.
Ich hatte gleich eine feste base, auf die ich immer zurückgreifen konnte, habe das Auflegen gelernt. Deshalb bin ich auch dem SchwuZ gegenüber zu sämtlichem Dank verpflichtet, aber nicht nur ich, sondern ganz viele andere Menschen auch. Das SchwuZ ist, wie man so schön auf modern sagt, ein queerer Safe Space. Das heißt, da können Leute, die normalerweise für ihren Klamottenstil oder wie sie sich bewegen oder wen sie küssen, immer beäugt, beschimpft, bespuckt und geschlagen werden, ganz offen und frei sein, wie sie sind. Da können Frauen mit Frauen auf der Tanzfläche tanzen und knutschen, da können Männer mit Männern knutschen und transidente Menschen können mit intergeschlechtlichen Händchen halten und auch rumknutschen und das ist an vielen anderen Orten nicht möglich.
Vor allem bei queeren geflüchteten Personen ist mir das so oft aufgefallen: Beim ersten Besuch in einem Schwulenclub können sie zum ersten Mal in ihrem Leben ganz offen und frei zu der Musik tanzen, die sie mögen, weil sie in ihrer Heimat bisher dafür verfolgt oder vielleicht sogar mit dem Tod bedroht wurden. Und wenn die Leute dann vor Glück zu heulen anfangen, weil sie endlich mal zu Madonna tanzen können – so abgedroschen es klingt –, dann ist es alles wert. Solche Orte braucht es nicht nur in diesem Land, sondern weltweit, viel mehr. Orte, wo alle Menschen so sein können wie sie sind, ohne dabei verurteilt oder beleidigt zu werden.

Travestie für Deutschland Plakatkampagne zur Bundestagswahl in Deutschland 2021 – Plakat © Travestie für Deutschland – Foto © Sven Serkis

Wie sieht das aus, wenn man als queere Person in der Provinz lebt?

Das kann ich nur sehr einseitig beurteilen, denn ich persönlich lebe, seit ich 20 bin, nicht mehr auf dem Land. Ich bin aus Bayern und es war als Kind nie ein Zuckerschlecken, praktisch der einzige Schwule im Dorf zu sein, wenn man das so plakativ sagen möchte. Ich glaube, dass sich da mittlerweile in ganz, ganz vielen Bereichen vieles getan hat. Dass die Gesellschaft auch am Land offener und liberaler geworden ist und Mitbewohner*innen und Nachbar*innen so sein lässt, wie sie nun mal sind.
Aber: Ich kenne auch ganz andere Beispiele von Leuten, mit denen ich in Kontakt stehe. Die wohnen – wenn man das so sagen darf – in Braun-Deutschland. Da hast du nichts zu lachen, wenn du offen schwul oder lesbisch bist, weil die Leute dort noch so in ihren Mustern verfahren sind und eine Ablehnung gegenüber queerem Leben haben. Und ich spreche jetzt nur von Deutschland. Es gibt so viele Länder auf der Welt, in denen queere Menschen immer noch für ihre Liebe, die sie einfach spüren, bestraft oder auch ermordet werden. Ich lebe hier in Berlin in einer Blase, die Berliner Blase ist wundervoll. Hier ist zwar auch nicht alles mit Weichspüler gewaschen, aber die Freiheiten, die ich hier habe, habe ich sonst kaum woanders in Deutschland.

Gibt es etwas, das du den Leser*innen noch mitgeben möchtest?

Ihr alle da draußen, wir wissen alle: Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Vor allem jetzt, wo wir von einer Seuche und einem Krieg nicht nur bedroht werden, sondern wo Menschen daran zu Grunde gehen. Das setzt uns alle unter wahnsinnig viel Druck. Man ist sehr dünnhäutig und es kommt immer zu Knatsch und alle fahren ihre Krallen aus. Aber dennoch denke ich, dass wir – sofern wir das überleben – gestärkt aus dieser Situation herausgehen und diese Stärke für die Zukunft nutzen können, um das Leben ein bisschen schöner zu gestalten.
Damit richte ich mich vor allem an die Eltern von queeren Kindern: Es sind schon immer eure Kinder gewesen. Die können nix für ihr Geschlecht und die können auch nix für ihre Sexualität, die wurden so geboren. Und bloß, weil euch das vielleicht nicht in den Kram passt, weil ihr euch etwas anderes gewünscht habt, ist euer Kind deswegen – außer es wird vielleicht ein Nazi – immer noch liebenswert. Und es geht nicht nur um eure Kinder, es geht auch um eure Nachbar*innen, es geht vielleicht um eure Schwestern und Brüder. Nur, weil diese Menschen zu sich selbst finden und ihre Sexualität und ihr Geschlecht annehmen, ändert das nichts an deren Seele. Und so schwer und hart es manchmal wirkt – liebt sie trotzdem einfach weiter. Ihr werdet euch keinen Zacken aus der Krone brechen, sondern viele weitere Kronen dadurch dazugewinnen. Auch wenn es erstmal hart ist: Das Leben danach wird besser sein. Ihr schafft das!

„Ich wusste sofort, dass Krieg ist, aber Angst hatte ich keine.“ – Andrej Kurkow

„Am 24. Februar 2022 wurden meine Frau und ich von Explosionsgeräuschen geweckt, daran erinnere ich mich ganz genau. Ich wusste sofort, dass Krieg ist, aber Angst hatte ich keine. Ich war schockiert und konnte keinen Gedanken fassen.“ – Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow berichtet vom Beginn des Angriffskrieges der russländischen Truppen mit dem die schlimmsten Befürchtungen Realität wurden, von Angst und Zerstörung, vom Gestern und Heute und betont, wie wichtig es ist, ukrainische Literatur zu lesen. Übersetzung aus dem Russischen von Claudia Dathe.

 

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler.

Ich versuchte auszublenden, was geschah.

Ich musste an meine eigenen Prognosen denken, ich hatte schon angenommen, dass der Krieg kommen würde, aber vermutet, er würde sich auf den Donbas beschränken. Ja, ich war schockiert. Ich tigerte durch die Wohnung, lief von den Fenstern, die auf die Straße hinausgingen, zu den Fenstern zum Hof. Ich schaute auf die Welt, deren Ruhe und Normalität trügerisch war. Gegen sechs Uhr schlugen zwei weitere Raketen in Kyjiw ein. Leute kamen auf die Straße: die Hausmeister und zwei Frauen mit Hunden. Es war der erste Tag des Krieges, der erste Tag der russländischen Invasion.

Seitdem haben meine Frau und ich viermal den Wohnort gewechselt. Wir haben unsere Kyjiwer Wohnung und unser Landhaus im Gebiet Schytomyr verlassen. Wir waren in Lwiw, in den Karpaten, sind bei Freunden untergekommen und haben in einer Wanderhütte übernachtet. Jetzt sind wir in Transkarpatien und leben in der Wohnung einer betagten Dame, die wir vorher gar nicht kannten. Sie ist die Verwandte eines unserer Bekannten. Sie hat uns den Wohnungsschlüssel gegeben und ist zu ihrer Tochter gezogen. Jetzt wohnen wir hier zu viert, aber wir haben ständig Übernachtungsgäste. Manche von ihnen kennen wir überhaupt nicht.

 

Unsere Söhne tun an der ukrainischen Grenze Dienst und helfen Flüchtlingen. Wenn jemandem die Ausreise verwehrt wird, weil irgendwelche Dokumente fehlen, bringen sie ihn zu uns zum Übernachten. Unser letzter fremder Gast war Wladimir aus Charkiw. Mit anderen Dialysepatienten wurde er aus einem Charkiwer Krankenhaus evakuiert. Alle anderen ließ man ausreisen, ihn nicht. Er ist 46 Jahre alt, und die Grenzbeamten verlangten von ihm eine Bescheinigung der Wehrbehörde, dass er nicht wehrpflichtig ist.

Er musste auf dem Boden schlafen, wie auch unsere Söhne. Am nächsten Morgen fuhr Theo, unser Ältester, mit ihm zur Wehrbehörde, und dort wurde Wladimir die entsprechende Bescheinigung ausgestellt. Jetzt ist er in Deutschland, er hat die anderen chronisch Kranken aus Charkiw eingeholt. Sie werden in ein deutsches Krankenhaus gebracht, das sich bereit erklärt hat, ihre weitere Behandlung zu übernehmen.

Als ein Monat seit Kriegsbeginn vergangen war, dachte ich noch einmal über die Angst nach.

Ehrlich gesagt mache ich mir meistens nicht so viele Gedanken über mein persönliches Leben. Aber dann fiel mir die Angst wieder ein. Das einzige Mal, dass ich Angst hatte, war Anfang März 2014, als das Russländische Parlament Auslandseinsätzen der russländischen Armee zustimmte.

Ich holte mein Majdan-Tagebuch („Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests“, Erstveröffentlichung im Mai 2014) hervor und fand den entsprechenden Eintrag. Und tatsächlich sah ich in meinem Tagebuch Angst. Angst um die unmittelbare Zukunft, Angst, dass es jetzt zu einem großen Krieg kommen könnte.

Der große Krieg begann acht Jahre später. Doch gekämpft hat die russländische Armee in der Ukraine schon seit acht Jahren. Inkognito, ohne Siege oder Niederlagen zu melden.

„Tagebuch einer Invasion“ erscheint am 13. Oktober 2022 und ist schon jetzt vorbestellbar.

Heute schreibe ich wieder mehr über die aktuellen Ereignisse.

Jeden Morgen rufe ich Freunde und Bekannte in verschiedenen Städten an. Ich bekomme Nachrichten aus den besetzten Städten. Aus lauter kleinen Puzzleteilen setze ich das aktuelle Bild zusammen und dokumentiere es. Zwar schreibe ich jetzt mehr Essays und Reportagen, aber das ist auch so etwas wie ein Tagebuch.

Alles, was jetzt passiert, ist eine Fortsetzung des Donbas-Krieges, der im Frühjahr 2014 begonnen hat. Es ist die Fortsetzung der Annexion der Krym, korrekterweise müsste man diese Ereignisse als Versuch meiner Annexion der Ukraine bezeichnen.

Putin ist sichtlich gealtert. Er schickt sich an, diese Welt zu verlassen. Doch ehe er sie verlässt, will er möglichst viele schreckliche Erinnerungen an sich selbst prägen. Er möchte als der russländische Führer in die Schulbücher eingehen, dem es gelungen ist, das Russländische Imperium wiederherzustellen beziehungsweise eine neue Sowjetunion zu schaffen. Bereitwillig opfert er dafür hunderttausende russländische Menschenleben und treibt die russländische Wirtschaft in den Ruin.

Die Ukraine macht derzeit Schweres durch. Und was uns bevorsteht, wird noch schwerer sein.

Aber ich bin froh, dass die ukrainische Armee der russländischen Invasion widersteht. Ich bin begeistert von den Ukrainern, die sich weigern, aufs Neue sowjetische Sklaven oder Sklaven der Russländischen Föderation zu werden. Die Arbeit der Regierung und des Parlaments flößen mir Vertrauen ein, obwohl ich sie immer kritisiert habe und sie nach dem Krieg wieder kritisieren werde. Für mich ist jetzt das Wichtigste, dass dieses „nach dem Krieg“ Wirklichkeit wird, damit wir die von Russland zerstörten Städte und Dörfer wieder aufbauen, alle getöteten Ukrainer begraben, die Verwundeten heilen und das Trauma des Krieges überwinden können.

Um die Gründe zu verstehen, warum Russland die Ukraine überfallen hat, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. In die fernere und in die unmittelbare Vergangenheit. Ich habe selbst schon mehrmals in mein Majdan-Tagebuch geschaut und dort etliche Antworten gefunden.

Während ich die Einträge gelesen habe, beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl: als läse ich etwas, das ein anderer geschrieben hat, nicht ich.

We #standwithukraine! Menschen in und aus der Ukraine brauchen unsere Solidarität. Es gibt wichtige Initiativen, die sich mit aller Kraft für die Menschen in Notlage einsetzen. Wir haben hier ein paar davon versammelt.

Ich weiß inzwischen, woher dieser Eindruck kommt. Ich habe mich in den letzten sieben, acht Jahren sehr verändert. Ich bin älter geworden und habe vieles von dem verstanden, was mir früher nicht ganz klar war. Ich lese das Tagebuch als anderer Mensch, als jemand, den der Krieg traumatisiert hat und der viel mehr von Leben und Tod weiß als das andere Ich, das in den Jahren 2013/14 das Tagebuch verfasst hat.

Liebe Leserin, lieber Leser. Es ist mir sehr wichtig, dass Sie heute dieses Tagebuch lesen oder Dinge darin nachlesen, während russländische Bomben auf ukrainische Städte fallen.

 

Lesen ist auch eine Unterstützung für die Ukraine.

Je mehr Sie über die Ukraine und die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen, desto schneller findet die Ukraine zu einem normalen Leben zurück, desto besser verstehen Sie die ukrainische Geschichte, die ukrainische Kultur und können darüber sprechen. Desto mehr Freunde werden wir überall in der Welt haben. Und Freunde braucht die Ukraine heute mehr denn je. Ohne Freunde geht die Ukraine zugrunde.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Andrej Kurkow haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Natalka Sniadanko, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

Ein Gespräch mit der Autorin und Aktivistin Phenix Kühnert

Phenix Kühnert schreibt, als würde sie eine Nacht lang erzählen … Dieser Satz trifft so sehr zu, denke ich, während ich an diesem Magazinbeitrag sitze – aber ganz allgemein bringt diese Formulierung die Gespräche und Arbeit mit Phenix Kühnert auf den Punkt (im allerbesten Sinne). Und so erleben auch sehr viele Leser*innen ihren Text. Phenix Kühnert ist trans, und sie ist ein Mensch, der sich öffnet, der für mehr Empathie kämpft, der sich selbst und die eigene Geschichte „bloßlegt“, um zu zeigen, wie wichtig es ist, dass wir alle gemeinsam für trans* Rechte einstehen. Denn letzten Endes geht es um uns alle, geht es um Gleichberechtigung, um Akzeptanz und eine klare Positionierung gegen Diskriminierung.

Katharina Schaller hat sich mit der Autorin über Sprache, den Drang nach Kategorisierung und das Erfüllen von Erwartungen unterhalten.

Inklusive Sprache ist eines der Themen, mit denen du dich auseinandersetzt. In deinen Videos und Beiträgen auf Social Media erklärst du auf zugängliche Weise, wie wir uns möglichst diskriminierungsfrei ausdrücken können. Ich war vom ersten Moment an begeistert davon, wie einfach und verständlich du Informationen aufbereitest, wie du die Menschen abholst, ohne unnötige Verkomplizierung. In deinem gesamten Buch nutzt du kein Gendersternchen – aber nicht, weil du nicht durchgängig inklusiv formulieren würdest. So zeigst du mit deinem Text, dass es möglich ist, geschlechtsbezogene durch genderneutrale Begriffe zu ersetzen. Und schaffst damit praktische Beweise – eine Antwort an die Personen, die die Genderdebatte nicht abflauen lassen wollen, weil sie gegen den Wandel, gegen das Gendern, gegen [beliebig einfüllbar] sind.

Phenix Kühnert will mehr. Mehr Rechte, mehr Stimmen, mehr Inklusivität. Sie ist Aktivistin, Model und seit 2018 Host des Podcasts „FREITAGABEND“.

Phenix, was glaubst du, inwiefern du selbst davon beeinflusst wirst – und vor allem: Wie möchtest du Sprache prägen?

„Ich versuche, Prägung von Sprache und der Gesellschaft allgemein immer mehr abzulegen. In den letzten Jahren habe ich viele Strukturen, in denen wir leben, hinterfragt. Und wenn ich selbst sprachlich etwas weitergeben kann, dann, dass mit mehr Wissen und Umsicht inklusive Sprache gar nicht so schwer ist. Einmal den Horizont erweitert, kommt es wie von selbst. Meine Erfahrung ist zudem, dass die Diskussion eigentlich nur von Gegner*innen aufrechterhalten wird, denn wer sich offen mit sprachlichem Fortschritt auseinandersetzt, versteht schnell, dass diese Thematik keines Aufruhrs bedarf.“

In deinem Buch legst du eindringlich dar, wie sehr unsere Gesellschaft auf Kategorisierung aufbaut. Alles soll „einfach“ sein, in dem Sinne, dass es klare Regeln, ein klares Falsch oder Richtig gibt. Oder anders gesagt: Menschen mögen es, alles in Schubladen zu ordnen. Passt man nicht in den vorgegebenen Rahmen, bekommt man das schnell zu spüren. Was ich so schön an deinem Blick auf die Gesellschaft, auf deine Umwelt empfinde, ist die Empathie, die du aufbringst. Gleichzeitig bist du bestimmt, benennst Probleme und diskriminierende Verhaltensweisen. Du kämpfst dafür, dass wir starre Vorgaben, wie Menschen zu sein haben, anders betrachten, aufweichen, verändern.

Welche Schubladen würdest du gern aus den Schienen reißen?

„Es ist irgendwie auch menschlich, eine Zugehörigkeit finden zu wollen. Auch ich tu’ dies sicher nach wie vor, egal wie sehr ich versuche, es nicht zu tun. Die Frage ist, ob wir es überhaupt irgendwann schaffen, dieses Schubladendenken abzulegen und was das für unsere Gesellschaft bedeuten würde. Ich glaube, letztendlich ist das Wichtigste, zu verstehen, dass die Wände dieser Schubladen offen sind. Wir sind Menschen und nichts zu 100 %, wir entwickeln uns weiter, wir verändern uns, wir wachsen.“

Eng zusammenhängend mit Kategorisierungen sind die Erwartungen, die wir an Menschen, an ihre Rollen stellen. Wir wurden ähnlich sozialisiert, wir haben bestimmte Bilder davon in unseren Köpfen, was als „männlich“, was als „weiblich“ gilt. Das binäre System – Frau und Mann – ist vorherrschend. Aus diesen Vorstellungen ergeben sich ganz konkrete Regeln und Vorgaben, die eingehalten werden, Erwartungen, die erfüllt werden müssen. Ansonsten fallen wir aus der Normativität. Wir fallen auf.

Oft verbiegen wir uns also, um einer Rolle, einer Erwartung zu entsprechen. Wie schaffst du es, einfach du zu sein?

„Letztendlich war es ein kitschiger Kalenderspruch, der einiges in mir bewegt hat: Sei die Version von dir, die du bist, wenn keine*r hinschaut. Es gab viele Gedanken und Gefühle, die ich versuchte, in meinen eigenen vier Wänden zu halten. Aber was bringt mir das? Ich möchte glücklich sein, das ist meine Priorität. Und für mich gehört dazu, mein authentisches Selbst zu leben. Ich hatte keine Wahl: Vor der Transition sah ich keine Zukunft für mich. Lieber eine Zukunft mit Hürden als gar keine.“

„Wenn ich alles immer nur bierernst nehmen würde, könnte ich nur noch weinen.“ Interview mit Franziska Singer und Amrei Baumgartl vom Podcast „Darf’s ein bisserl Mord sein?“

„Darf’s ein bisserl Mord sein?“ fragen Franziska Singer und Amrei Baumgartl ihre Hörer*innen jeden Montag in ihrem gleichnamigen True-Crime-Podcast. Mit viel Wiener Schmäh sprechen die beiden über kuriose, ungelöste und längst vergessene Kriminalfälle aus der ganzen Welt und quer durch die Geschichte. Alles, was in den Montagsfolgen keinen Platz findet, wird am Donnerstag im „Extrablatt“ besprochen: Skurriles, Lustiges und Brandaktuelles – Hauptsache mit Bezug zu Verbrechen und Kriminalität.

Franziska, wie und wo findest du die Fälle, über die ihr im Podcast sprecht?

Franziska: Ich habe 2018 begonnen, eine Liste von Fällen anzulegen, über die ich gerne mehr erfahren möchte. Diese Liste besteht nun aus etwa 300 Kriminalfällen aus der ganzen Welt, nach Ländern geordnet. Die sehe ich durch, und schau dann, was mich gerade besonders interessiert. Das sind zwar hauptsächlich Mordfälle, aber auch andere Verbrechen befinden sich darunter, wie der eine oder andere Bankraub. Ich versuche immer, etwas zu finden, das man noch nicht 1000-mal gehört hat.

 

Welche Fälle gehen euch besonders nahe?

Franziska: Fälle von schwerer Folter, oder wenn Kinder betroffen sind – das ist für mich schwer zu ertragen. In einem Fall, wo beides zusammenkam, habe ich bei der Recherche auch abgebrochen, und mir einen anderen Fall ausgesucht.

Amrei: Fälle, wo Kinder die Leidtragenden sind, sind für mich besonders schwer auszuhalten. Und Fälle, wo Täter*innen über einen langen Zeitraum ihre Verbrechen akribisch geplant und durchgeführt haben – diese eiskalte Berechnung und Vorgehensweise schockiert mich immer wieder.

 

Gibt es manchmal Täter*innen, für die ihr Sympathie empfindet?

Franziska: Das ist schwer zu sagen, finde ich. Jede*r hat die Möglichkeit, sich für oder gegen die Kriminalität zu entscheiden. In ganz seltenen Fällen kommt dann aber schon so ein Funke Mitleid bei mir auf. Oder ab und an sagen wir auch: Ja, das kann ich verstehen. Da geht es aber eher darum, dass sich jemand, der selbst Opfer wurde, beginnt, zu wehren.

Amrei: Sympathie für Täter*innen und deren Taten definitiv nicht – es kann sich aber durchaus eine gewisse Form von Empathie einschleichen bei manchen Fällen. Wenn z.B. aus verzweifelter Ohnmacht oder Notwehr gehandelt wird, oder wenn die Biografie der Täter*innen eine sehr traurige ist. Das entschuldet dann zwar noch immer keine Form von Gewalt (Notwehr ausgenommen), zeigt aber auch ganz deutlich, dass eine simple Unterteilung in „Gut“ und „Böse“ nicht wirklich ausreicht.

 

Ihr beschäftigt euch mit so vielen realen Kriminalfällen. Habt ihr das Gefühl, dass das Justizsystem gut funktioniert, was den Umgang mit Täter*innen oder den Umgang mit Opfern betrifft?

Franziska: Was ich gar nicht nachvollziehen kann, ist, wie immer noch mit Stalkern oder in Fällen sogenannter häuslicher Gewalt umgegangen wird. Hier gibt es anscheinend immer noch keinen ausreichenden Schutz für die Opfer! Auch für Straftaten, die über das Internet begangen werden, gibt es oft noch nicht ausreichende Möglichkeiten der Verfolgung, weil es kein Rechtssystem gibt, das in jedem Land dasselbe ist. Und so seltsam es klingt, aber wenn wir das All bereisen, müssen wir auch einen Weg finden, Straftaten, die dort geschehen, zu verfolgen …

Amrei: Wo es auf jeden Fall Nachbesserungsbedarf gibt, ist der Umgang mit Opfern von häuslicher Gewalt. Ein ausgesprochenes Betretungs- oder Annäherungsverbot, zum Beispiel, hindert Täter*innen ja oftmals nicht an weiterer Gewaltausübung und bietet den Opfern definitiv zu wenig Schutz.

 

Braucht ihr einen Ausgleich zum Thema True Crime? Wird euch die Beschäftigung mit Mord und Kriminalität manchmal zu viel?

Franziska: Mir hilft es sehr, wenn wir nach der Podcast-Aufnahme miteinander spazieren gehen, oder gemeinsam etwas essen, und den Fall noch einmal Revue passieren lassen. Und dann über etwas ganz anderes sprechen, um wieder auf andere Gedanken zu kommen! Darum haben wir auch das „Darf’s ein bisserl Mord sein? – Extrablatt“, das jeden Donnerstag erscheint, wo wir durchaus auch über lustige Fälle sprechen – wie z.B. eine Ratte, die jemandem das Frühstück gestohlen hat.

Amrei: Ein Ausgleich ist durchaus sehr wichtig und auch notwendig. Deswegen schließen wir ja auch jede Episode mit „Was Schönes zum Schluss“ ab, wo wir uns und unsere Hörer*innen auf ganz andere und leichtere Gedanken bringen. Ganz wichtig ist auch der gemeinsame Austausch mit Franziska – und natürlich ein achtsamer Umgang mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen. Manchmal braucht man dann einfach ein Stückchen Schokolade mehr. 😉

 

Passen Tod und Humor zusammen?

Franziska: Auf jeden Fall. Eine schreckliche Sache wird nicht weniger schlimm dadurch, dass man keine Witze darüber macht. Wenn ich alles immer nur bierernst nehmen würde, könnte ich nur noch weinen. Beim Podcast ist es uns aber wichtig, uns nie auf Kosten der Opfer lustig zu machen. Wir können aber durchaus mal über das Versagen der Ermittler einen Scherz machen – oder, wenn ein Täter sich besonders tollpatschig angestellt hat.

Amrei: Das eine schließt das andere ja nicht aus. Wir legen bei unserem Podcast großen Wert auf respektvollen Umgang mit den Opfern und deren Angehörigen. Humor und eine gewisse Form von Leichtigkeit sind meiner Meinung nach allerdings äußerst wichtige Blickwinkel, um sich nicht ausschließlich auf Tragik und Tristesse zu fokussieren.

 

Mehr von Franziska und Amrei kannst du auf allen gängigen Podcastplattformen und natürlich auf ihrer Webseite hören: www.darfseinbisserlmordsein.com/podcast

Bei Instagram findest du sie unter @darfseinbisserlpodcast.

Kriminalbiologe Mark Benecke im Interview zum Spurenlesen, zu genialen Ermittler:innen und Zombies

Diesen Mann hätten viele Ermittler:innen in Krimis gerne an ihrer Seite: Mark Benecke. Klingelt da was? Ja genau, das ist der Kriminalbiologe, der mit seinen forensischen Forschungen international Furore macht. Vielen ist er durch seine Zusammenarbeit mit diversen Tierchen bekannt. Nicht umsonst nennt man ihn auch „Herr der Maden“. Die finden manche possierlich, die anderen eher … nun ja, krabbelig-gruselig. Andere wiederum finden am gruseligsten, dass Mark Benecke auch mal Adolf Hitlers Schädel auf dem Tisch hatte. Interessant und faszinierend ist seine Arbeit allemal. Doch Marks Expertenwissen reicht weit über den Seziertisch hinaus: Er ist auch Donaldist, Mitglied der Deutschen Sherlock-Holmes-Gesellschaft und der Transylvanian Society of Dracula. Nina Gruber hat sich mit ihm über Sherlock Holmes, das verkorkste menschliche Verhältnis zum Tod, über Zombies und Bücherskorpione unterhalten.

Mark, Sherlock Holmes und du, ihr seid praktisch Berufskollegen. Du bist Mitglied in der Deutschen Sherlock-Holmes-Gesellschaft. Was an seiner Herangehensweise gefällt dir besonders gut?

Alle kriminalistischen Regeln, die ich anwende, finden sich bei Sherlock Holmes. Das fand ich, als ich es bemerkte, zunächst seltsam und irgendwie gruselig, jetzt aber saucool. Während in Krimis oft das Einschluss-Verfahren verwendet wird, ist es bei Holmes oft andersrum, er schließt also aus, was nicht sein kann. Das ist wichtig, da es so rum genauso beweiskräftig ist: Erst wenn man alles ausgeschlossen hat, was nicht sein kann, muss das, was übrigbleibt, stimmen — und jetzt kommt’s: egal, wie unwahrscheinlich es ist.

In Krimiserien siehst du meistens nur Einschlüsse. Detektiv:innen oder Polizistin:innen laufen rum und kommen nach und nach durch Spuren, die sie finden, oder durch Zeug:innenaussagen der Sache näher. So funktionieren Krimis. Aber das Ausschlussverfahren bedeutet, dass man erst mal ausschließen muss, was nicht sein kann. Und zwar nicht durch Denken, sondern durch echtes Untersuchen.

Wenn zum Beispiel hier in der Wohnung eine Leiche gefunden wird, kann ich fragen, von wem die Erbsubstanz unter den Fingernägeln der Leiche ist, aber ich könnte auch genauso gut fragen: Wer kann es nicht gewesen sein? Es ist egal, wie naheliegend, lebensnah, vernünftig, logisch, planbar oder sonst etwas die Lösung ist. Deswegen sind die Sherlock-Holmes-Geschichten wirklich gut. Es gibt ja moderne Krimiautor:innen und dicke Anmerkungs-Bücher dazu, die kritisieren die Brüche in den Geschichten. Das finde ich aber nicht so schlimm. Ich glaube eher, dass die modernen Krimiautor:innen nicht raffen, welche Regeln dahinterstecken, denn Sherlock Holmes ist ja Chemiker.

Das bringt mich auf die Frage, ob sich manchmal Krimi- oder Drehbuchautor:innen bei dir melden, um sich Rat zu holen zur Plausibilität der Abläufe in ihren Büchern und Filmen?

Ja, sehr oft. Das ist aber meist ein einseitiges Vergnügen, weil ich erstens wirklich immer gratis arbeiten soll und zweitens letztlich immer die gute Geschichte entscheidet: Liebe, Hass, Rache, solche Sachen, die mich nicht interessieren. Die kriminalbiologischen Spuren sind nur die Kirsche auf der Sahne auf dem Eis auf den bunten Streuseln, also eigentlich verzichtbar. Mit manchen Autor:innen mache ich daher einfach Quatsch, der zu deren Handlungsgerüst passt. Fürs Fernsehen habe ich beispielsweise mal einen Käfer, dessen Gift nach einer bestimmten Zeit einen Herzinfarkt auslöst, erfunden: Das sah das Drehbuch ohnehin vor. Den lateinischen Namen habe ich dann ganz korrekt erfunden. Fanden alle gut, nachdem sie eingesehen haben, dass sie sich eh kein bisschen für die Tatsachen interessieren, sondern für eine gute Geschichte.

Dein Team besteht nicht nur aus Menschen, auch andere Tiere helfen mit bei eurer Arbeit. Welches Tier sollten sich Ermittler:innen in Kriminalromanen an ihre Seite wünschen?

Hängt von der Figur ab. Kauzigen Menschen würde ich vielleicht einen Papagei empfehlen, mit dem sie „sprechen“ können, Vielreisenden eher was Kleineres und Transportables, etwa Fauchschaben. Artgerecht ist aber beides nicht, daher

Dipl.-Biol. Dr. rer. medic., M.Sc., Ph.D. Mark Benecke ist seit über 20 Jahren als Kriminalbiologe im Einsatz und Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren. Darüber hinaus publiziert Mark Benecke wissenschaftliche Artikel, Sachbücher und Experimentierkästen, ist Landesvorsitzender von DIE PARTEI in Nordrheinwestfalen, Mitglied des Vereins Pro Tattoo und hat verschiedene musikalische Projekte am Laufen. – Foto: Thomas van de Scheck

Viele von uns haben Angst, dass mit dem Tod alles zu Ende ist: nie mehr Popcorn essen, nie mehr dies, nie mehr das. Dabei wird’s körperlich nach dem „Ende“ ja erst so richtig interessant: Da finden körperliche Veränderungen in einem beachtlichen Tempo statt. Da verändern sich Form und Farbe, Bakterien feiern Partys, die verschiedensten Tiere tun sich gütlich an unserem Körper, da entstehen Gase und Gerüche. Rückwärts und im Zeitraffer vom lebenden Körper zum Humus, der dann wieder zu was anderem wird. Ziemlich cool eigentlich. Was man aus der Abfolge und den Gesetzmäßigkeiten dieser Vorgänge für die Zeit vor dem Tod ablesen kann, damit beschäftigst du dich in deinem Berufsalltag. Die körperliche Ebene des Sterbens und des Todes ist für dich eine ganz natürliche. Keine, vor der man Angst oder Ekel empfinden muss. Wie aber schaut es mit der „menschlichen“ Komponente dahinter aus? Mit den Geschichten und Angehörigen hinter den Körpern auf dem Seziertisch? Welchen Umgang hast du dabei für dich gefunden?

Sehr offen reden und sehr genau hinschauen, was die Menschen wirklich wollen. Nicht über Gefühle reden, aber sie erkennen. Beispiele: Manche haben einen schlimmen Ehekrach, wenn ihr Kind stirbt („wäre es auf eine andere Schule gegangen, wäre alles anderes gewesen, aber Du wolltest ja unbedingt …“), manche wollen nach einem Sexualdelikt nicht die „Dummen“ oder Schwachen sein, manche wollen im Knast einfach nur weiter von ihrer Mutter oder Familie besucht werden.

Diesen Menschen sind die Spuren weniger wichtig, hier reichen oft schon Gespräche, um den Verlauf des bisher bekannten sachlich einzuordnen. Wie aussagekräftig ist der genetische Fingerabdruck in diesem Fall? Warum interessierte sich niemand für die Kleidungsfasern?

Andere hingegen möchten wirklich untersuchen lassen, ob die Erbsubstanz auf diesem neu aufgetauchten Gegenstand vom vor Jahren verschwundenen Enkel stammen kann und ob das Kind folglich vielleicht doch noch lebt. Manche streben eine Wiederaufnahme ihrer Gerichtsverhandlung an, aber dazu müssen neue Spuren her, und was „neu“ ist, entscheidet das Gericht, nicht der Verstand. Welche Spuren gibt es also überhaupt noch, die nicht schon rechtlich „verbraucht“ sind? Es gibt auch Täter:innen, die einfach nur reden wollen, weil alle sie für Monster halten.

Daher: Immer bei der Sache bleiben, immer „eindampfen“, um was es wirklich geht und was an Spuren vorhanden ist und nützt. Die Gefühle dürfen ruhig zu uns überspringen, aber sie dürfen keine fachlichen oder sachlichen Entscheidungen beeinflussen. Niemals, egal, warum und wie.

Wir Menschen schwimmen doch eh in Ozeanen aus Scheiße: Kriege, Völkervernichtungen, Ausgrenzung, Machtspielchen, Wichtigtuerei zu Lasten anderer … Wenn wir das alles an uns ran lassen würden, würde nichts mehr funktionieren. Wer noch nie die Aussagen der Menschen im Auschwitz-Prozess in Frankfurt/Main oder von Eichmann selbst und den Zeuginnen und Zeugen 1961 in Jerusalem gehört hat: bitte schön. Mal in Ruhe und ganz lange anhören. Ist alles gratis online. Dann nach vierzig Stunden, das würde ich mal als untere Grenze ansehen, prüfen, welche messbaren, prüfbaren Spuren sich außerhalb der sehr starken Gefühle ergeben und welche nicht. Wer das kann, hat verstanden, was ich meine.

Ich hab gesehen, dass es eine Totenmaske von dir gibt, die man vergoldet und signiert erwerben kann. Ist das für dich eine humorvolle Art, mit dem Tod umzugehen? Ist das die shiny, sexy Seite des Todes? Ist tot das neue lebendig?

Wüsste ich auch gerne, ist das totale Herzensprojekt unserer Grafik-Nerdin Satanka. Sie hat mir monatelang damit in den Ohren gelegen und die Maskenform professionell fertigen lassen, bemalt sie dann selbst und gießt sie auch selbst mit Spezialgips aus. Was die daran so liebt, weiß nur sie. Es gibt übrigens noch eine schöne Geschichte zu Totenmasken, einfach mal nach der Unbekannten aus der Seine (dem Fluss) googeln

Ich fand die Bilder vom Abdruckmachen witzig. Das sah aus, als hättest du warme Käsesauce mit Minzfrosting im Gesicht. Wie hat es sich angefühlt?

Nun, die Damen — Tina, meine Kollegin, Ines, meine Frau und ebenfalls Mitarbeiterin, sowie Satanka, die Grafikerin — haben nur Faxen gemacht. Ich bestimme ja sonst, was passiert. Mit einer dicken Schicht im Gesicht, blind und darauf angewiesen, dass das Atemloch nicht verschlossen wird, hatten sie mit mir ihren Spaß.

Du bist Mitglied der Transylvanian Society of Darcula, beschäftigst dich mit den Verwesungserscheinungen und der Kulturgeschichte, die hinter den Phänomenen Vampir und Zombie stecken. (Wer wissen möchte, woran man einen echten Zombie erkennt oder warum manche Tote einfach nicht still liegen bleiben können, sollte sich mal hier und hier umsehen.) Und du zeigst: Eigentlich sind das ganz harmlose Zeitgenoss:innen. Doch wir Menschen haben ein gespaltenes Verhältnis zu Zombies, Geistern und Vampiren: Wir fürchten sie, wir finden sie faszinierend, manchmal auch absurd und komisch, wir ekeln uns vor ihnen, gleichzeitig üben sie Anziehungskraft aus. Woher, glaubst du, kommt unsere komplizierte Beziehung zu ihnen?

Ich bin sogar Weltpräsident der Transsylvanian Society seit unser geliebter Chef gestorben ist. Die komischen Beziehungen sind vielfältig und ändern sich. Zombies waren zwischendurch mal ein Auffanggefäß für die Angst vor Migrant:innen, die ja angeblich auch gefährlich sind und langsam, aber sicher anrücken. Früher standen sie auch mal für psychisch Kranke, die wir oft nicht verstehen wollen, oder einfach die Angst vor Pandemien oder Epidemien. Bei Geistern schwingt oft der Jenseitsglaube mit, aber je nach Kultur verschieden: Im angloamerikanischen Raum haben die Seelen oft noch eine Rechnung offen, in Deutschland geistern sie eher ziellos herum und machen lieber ungestört im Jenseits ihr Ding. Zu Vampiren habe ich schon mehrere Fachbücher geschrieben, das ist unerschöpflich, ich sage nur Liebe, Schmerz, Hoffnung und ewige Bindung.

Noch eine letzte Frage zum Schluss: Was hat es mit dem Bücherskorpion auf sich? Ist der cool? Sollten wir Verlagsmenschen uns T-Shirts mit ihm drucken lassen?

Jawohl! Er ist supercool, und alle Menschen sollten die hübschen Tiere nicht nur auf Shirts, sondern auch lebend in ihren hoffentlich alten und verstaubten Bibliotheken haben. Die Tiere brauchen was zu fressen …

„In meinen Augen ist Humor auf jeden Fall ein besserer Ratgeber als Angst.“ – Tatjana Scheel im Interview zu ihrem Roman

Wo hört Liebe auf? Und wo beginnt die Selbstaufgabe? – Diese Fragen stehen im Zentrum von Tatjana Scheels Roman „Vielleicht habe ich dich nur erfunden“. Darin treffen die beiden jungen Frauen Alex und Sheela unter der Sonne Siziliens zufällig aufeinander. Die beiden sind wie zwei Planeten, die sich auf ihren Umlaufbahnen näherkommen, aber doch immer wieder voneinander entfernen. Die nicht ohne, aber auch nicht miteinander können. Nina Gruber hat sich mit der Autorin über Formen von und Mut zur Liebe, über Sehnsucht, Projektion und Humor unterhalten.

Im Zentrum von „Vielleicht habe ich dich nur erfunden“ steht Alex. Wer ist sie?

Alex geht es wie vielen: Da sie selbst nicht weiß, wer sie ist, versucht sie es herauszufinden, indem sie alles Mögliche ausprobiert und in die Extreme geht, um zu verstehen, was sich für sie richtig und authentisch anfühlt. Wenn ich an sie denke, fällt mir sofort das Wort Ambivalenz ein.

Tatjana Scheel lebt als Drehbuchautorin und Schriftstellerin in Berlin und wird von dem Wunsch angetrieben, komplexe Themen mit Leichtigkeit zu erzählen. In ihrem Debütroman „Vielleicht habe ich dich nur erfunden“ erzählt Tatjana Scheel von den Unwägbarkeiten menschlicher Beziehungen. – Foto: Mike Auerbach

Alex ist in fast allen Bereichen ihres Lebens ambivalent. Einerseits sehnt sie sich nach Liebe und Nähe, andererseits hat sie genau davor die größte Angst. Auf der einen Seite ist sie schüchtern und extrem (selbst-)unsicher, auf der anderen Seite ist sie aber auch abenteuerlustig, temperamentvoll und sehr offen. Im Laufe ihres Lebens wird ihr jedoch immer klarer, wer sie wirklich ist, wer sie sein möchte und worauf es für sie ankommt.

In deinem Roman geht es um vieles, ganz intensiv aber setzt du dich darin mit der Liebe auseinander. Mit ihrer schöpferischen und zerstörerischen Kraft, mit den Sehnsüchten, die wir mit diesem Begriff und diesem Gefühl verbinden. Welche Farben der Liebe finden die Leser*innen in deinem Roman vor?

Alex fehlt es, wie meiner Meinung nach den meisten Menschen, an Selbstliebe (im Sinne von Selbstwertschätzung und Selbstakzeptanz), weshalb sie auch nicht in der Lage ist, eine andere Person wirklich zu lieben. Bei dem, was sie für Sheela empfindet, geht es vor allem um eine starke Anziehung, um Leidenschaft, Abhängigkeit und um das Verliebtsein, nach dem Alex so süchtig ist. Sie liebt nicht unbedingt Sheela, sondern das Gefühl, das diese in ihr auslöst. Das Gefühl, gesehen zu werden und endlich sie selbst sein zu können. In Sheelas Anwesenheit fühlt Alex sich schöner, stärker, größer und mutiger als sonst. So ist das doch meistens, wenn wir uns verlieben. Wenn wir ehrlich sind, geht es uns dabei viel mehr um uns selbst als um die andere Person, die wir kaum kennen und auf die wir alle möglichen wunderbaren Dinge projizieren, die mit der Realität wahrscheinlich nur wenig zu tun haben. Trotzdem ein tolles Gefühl …

Welche Rolle spielt „Familie“ in deinem Buch?

Die Figuren in meinem Roman haben alle keine Familien, die ihnen großen Halt geben, weshalb sie alle in irgendeiner Form auf der Suche nach Ersatzfamilien sind. Vor allem natürlich Alex, über deren Eltern wir wenig bis gar nichts erfahren und von der wir nur ihren exzentrischen Onkel kennenlernen. In dieser Geschichte geht es also eher um die Abwesenheit von Familie und darum, wie sich das auf die Heranwachsenden auswirkt. Es geht um bestimmte Bindungsmuster, die meistens von einer Generation auf die nächste übertragen werden – wenn es dieser nicht gelingt, sie bewusst zu durchbrechen.

In deinem Roman liegen Spannung, Verzweiflung und Witz so nah beieinander, wie Liebe und Obsession in Alex’ und Sheelas Geschichte. Es gibt einiges, worüber die Figuren verzweifeln können, aber beim Lesen selbst gerät man als Leser*in ziemlich oft ins Schmunzeln. Welche Rolle spielt der Humor in deinem Schreiben?

Wenn ich meinen Fokus darauf richte, wie grausam Menschen sein können, entsteht bei mir eine ziemlich pessimistische Weltsicht, die mich in erster Linie lähmt. Daher bin ich nur selten in der Stimmung, Bücher zu lesen (oder zu schreiben), die so schwer und melodramatisch sind, dass ich danach tagelang traurig bin. Wenn ich mir hingegen bewusst vor Augen führe, wie seltsam, absurd und komisch die Menschen sich teilweise benehmen, entsteht automatisch ein humorvoller Blick, der mir hilft, hoffnungsvoll zu bleiben. Und ich brauche diese Hoffnung!

Humor lässt mich erkennen: meine Wahrheit ist nicht die Wahrheit, sondern nur eine Wahrheit, und ihr Gegenteil ist oft ebenso wahr. In meinen Augen ist Humor auf jeden Fall ein besserer Ratgeber als Angst, da er uns hilft, die Dinge mit etwas Abstand zu betrachten. Das bedeutet nicht, dass man sie nicht ernst nimmt, sondern dass man sich um einen umfassenderen Blick bemüht und sich dadurch weniger mit den eigenen Ansichten identifiziert. Ich denke, wenn wir über uns selbst lachen können (was mir bisher noch zu selten gelingt), macht uns das innerlich frei, und genau diese innere Freiheit brauchen wir, um glückliche und dadurch bessere Menschen zu sein.

„Vielleicht habe ich dich nur erfunden“ ist dein Debütroman, aber keinesfalls die erste Geschichte, die du erzählst. Du bist Drehbuchautorin. Wie hat sich das Schreiben eines Romans für dich angefühlt?

Sehr gut. Ich habe mich köstlich amüsiert. Außerdem habe ich es extrem genossen, endlich mal das schreiben zu können, was ich schreiben will, ohne dass mir permanent und von allen Seiten reingeredet wird.

Eine der zentralen Fragen des Romans lautet: „What is love?“ – Wie würdest du selbst diese Frage beantworten?

Liebe, oh je, ich könnte mir kein größeres Wort vorstellen! Liebe kann so vieles sein. Anziehung und Leidenschaft wie in Alex’ und Sheelas Fall, Vereinigung, aber auch Freundschaft, Mitgefühl und Fürsorge. Liebe kann eine Entscheidung sein.

Meine Idealvorstellung von der wahren Liebe kommt in unserer Gesellschaft eher selten vor, ist aber genau das, was ich mir für unsere Welt wünschen würde: eine Liebe, die bei sich selbst anfängt und dennoch selbstlos ist. Die an keine Bedingungen geknüpft ist und sich auf alle bezieht, nicht bloß auf ein paar wenige Auserwählte, die so sind wie wir und die die gleiche Meinung vertreten wie wir. Eine solche Liebe schließt auch die Tiere, den Planeten und die gesamte Schöpfung mit ein. Eine schöne Vorstellung …

Ist das Liebe? Oder kann das weg? – Tatjana Scheel schreibt über das überwältigende Gefühl, verführt und geführt zu werden. Sie schreibt über Projektion und Begehren, Kontrolle und Macht. Über die Notwendigkeit, die eigenen Bedürfnisse zu definieren und auszusprechen, über das Schälen aus der Abhängigkeit. Und über das Glück, nackt im Wald zu tanzen. – Hier gelangst du zu Tatjana Scheels Roman „Vielleicht habe ich dich nur erfunden“.

Die Menschen in der Ukraine brauchen jetzt unsere Hilfe!

Für die Menschen in der Ukraine, für unsere Autor*innen und Freund*innen dort, herrscht seit acht Jahren Ausnahmezustand. Protest, Krieg, Krise. Ermüdung und Enttäuschung, aber auch immer wieder Hoffnungsschimmer. ⁠Die Belastung, das Leid und die Trauer haben mit dem Einmarsch der Truppen Russlands einen neuen, einen schrecklichen Höhepunkt erreicht.⁠

Wir stehen in Solidarität mit den Menschen in der Ukraine.

Wir stehen in Solidarität mit unseren Autor*innen:⁠
Kateryna Babkina
Oleksandr Irwanez⁠
Andrej Kurkow⁠
Maria Matios⁠
Natalka Sniadanko⁠
Oleksij Tschupa⁠
Jurij Wynnytschuk⁠
Serhij Zhadan

 

Es gibt sehr viele wichtige Initiativen und Organisationen, die sich – teils vor Ort, teils von außerhalb – mit aller Kraft für die Menschen in der Ukraine einsetzen. Wir haben hier ein paar davon gesammelt. Schließe dich uns an und unterstütze sie, wenn du kannst.

Was du sonst noch tun kannst, teilen wir in unseren Stories auf Instagram. Das Story-Highlight aktualisieren wir laufend. Schreib uns und kommentiere gerne, wenn du weitere Initiativen kennst. Wir sind für jeden Hinweis dankbar.

Spendenmöglichkeiten für die Ukraine

Für medizinische Akuthilfe:
Pirogov First Volunteer Mobile Hospital (PFVMH) ist das größte nichtstaatliche Projekt, das zivile medizinische Fachkräfte bei der Bereitstellung von medizinischer Hilfe koordiniert.
Zur Spendenseite von PFVMH

 

Für Schriftsteller*innen aus der Ukraine:
#artistsinshelter ist eine Initiative von deutschsprachigen Kulturschaffenden und Kulturinstitutionen. #artistsinshelter sammelt Geld, das die ausbleibenden Honorare für Projekte abfedern und die Zukunft künstlerischer Tätigkeiten garantieren soll. Die Verteilung der Gelder organisieren der PEN Ukraine und das Ukrainian Book Institute in Zusammenarbeit mit dem Verein translit e.V.
Zur Spendenseite von #artistsinshelter über translit e. V.

 

Serhij Zhadans Wohltätigkeitsfonds „Blahodijnyj Fond Serhija Zhadana“:
Unser Autor Serhij Zhadan hat diese Stiftung vor einigen Jahren gegründet, um Initiativen für Bildung, Kultur und Gesundheit zu unterstützen, die der Bevölkerung in der vom Krieg betroffenen Ostukraine direkt helfen. Auf dieser Seite wird Serhij Zhadans Stiftung vorgestellt.
Zur Spendenseite von Blahodijnyj Fond Serhija Zhadana

 

Für Schwangere und Neugeborene im Krieg:
Die Aktion „280 Days“ kümmert sich darum, dass Schwangere und Neugeborene auch in Kriegszeiten die Versorgung bekommen, die sie benötigen. Die Organisation wird von unserer Autorin Kateryna Babkina unterstützt.
Zur Spendenseite von „280 Days“

 

Queere Nothilfe:
Insight Ukraine ist eine ukrainische öffentliche Organisation, deren Hauptwerte Gleichheit, Feminismus, Freiheit, Inklusivität und Vielfalt sind.
Zur Spendenseite von Insight Ukraine

 

Hilfe für queere Afrikaner*innen:
Afro Rainbow Austria (ARA) ist die erste Organisation von und für LGBTQI+ Migrant*innen aus afrikanischen Ländern in Österreich. Aktuell organisiert ARA gemeinsam mit dem House of Guramayle Hilfe für queere Afrikaner*innen, die aus der Ukraine fliehen oder noch dort sind.
Zur Supportlist von ARA
Zur Spendenseite von ARA

 

Hilfe für Menschen mit Behinderung:
Fight for right ist eine NGO, die barrierefreie Unterkünfte, Evakuierungen und Notdienste für ältere und behinderte Menschen koordiniert.
Zur Spendenseite von FFR

 

Hilfe für ukrainische Journalist*innen:
n-ost organisiert logistische und psychologische Unterstützung für Journalist*innen in der Ukraine.
Zur Spendenseite von n-ost

 

Hilfe für Sinti*zze und Roma*nja:
ERGO Network mobilisiert und verbindet auf nationaler und internationaler Ebene und leistet Akuthilfe für Betroffene.
Zur Spendenseite von ERGO

 

Notunterkünfte:
Homes for Ukraine ist eine Initiative der gemeinnützigen Organisationen Barbareum, Unlimited Democracy und TUMA mit dem Ziel, aus der Ukraine geflohenen Menschen kostenlose, vorübergehende Unterkünfte in Europa zur Verfügung zu stellen.
Zur Spendenseite von Homes for Ukraine

 

Psychologische Hilfe für Betroffene:
Hemayat ist ein gemeinnütziger Verein und ein Zentrum für dolmetschgestützte medizinische, psychologische, psychotherapeutische Betreuung von Folter- und Kriegsüberlebenden in Wien.
Zur Spendenseite von Hemayat

 

Hilfe für (kranke) Kinder:
Tabletochki trägt dazu bei, die Behandlung krebskranker Kinder in der Ukraine aufrechtzuerhalten.
Zur Spendenseite von Tabletochki

Voices of Children bietet psychologische und psychosoziale Hilfe für vom Krieg betroffene Kinder.
Zur Spendenseite von Voices of Children